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Hansjörg Schneider

Tod einer Ärztin

Hunkelers vierter Fall

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2001 im Ammann Verlag, Zürich
Eine erste Ausgabe im Diogenes Verlag ist 2011 im Taschenbuch erschienen

Covermotiv: Foto (Ausschnitt): Copyright © Millennium Images/LOOK-foto

 

 

Der Autor dankt Pro Helvetia
für die finanzielle Unterstützung.

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24004 7 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60293 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Peter Hunkeler, Kommissär des Kriminalkommissariats Basel, früherer Familienvater, jetzt geschieden, saß in seinem Bureau des Waaghofs und schwitzte. Es war der 3. Juli, ein Montagmorgen, eine Gluthitze lastete über Basel. Es war so heiß, dass die Luft in der Nacht nicht mehr abkühlte.

Der Waaghof, in dem sich Staatsanwaltschaft, Kriminalkommissariat und Untersuchungsgefängnis befanden, war erst vor wenigen Jahren gebaut worden und enthielt, gemäß den neuen Vorschriften für öffentliche Bauten, keine Klimaanlage, da die Regierung offenbar der Meinung war, Basels Beamtenschaft könne wenigstens im Sommer ruhig ein bisschen schwitzen.

Hunkeler erinnerte sich mit Wehmut an sein altes Bureau im Lohnhof, dessen altes Gemäuer selbst in der größten Sommerhitze eine wohltuende Kühle ausgestrahlt hatte. Er hatte schlecht geschlafen in der vergangenen Nacht. Er hatte abgedeckt gelegen, hatte sich hin- und hergewälzt, wartend auf einen frischen Luftzug, der durch die offene Balkontür hereinkam. Nichts war zu spüren gewesen, nur Schwüle. Warum war er nicht ins Elsass gefahren, wozu hatte er denn diese Sommerfrische?

Er hatte den Computer eingeschaltet, der fortan unabdingbar zu seinen Arbeitsgeräten gehörte, wie ihm Staatsanwalt Suter vor dem Umzug in den Waaghof erklärt hatte. Entweder Sie arbeiten sich ein in die neue [6] Informationstechnik, hatte er gedroht, oder Sie haben bei der Basler Polizei nichts mehr verloren.

Hunkeler versuchte, die Sportresultate abzurufen. Es war zwar nicht viel los gewesen übers Wochenende, außer dem EM-Final Frankreich–Italien natürlich, den er live am Bildschirm mitverfolgt hatte. Aber an irgendeinem Thema musste er seine Computerfähigkeiten üben. Und Sport war immer gut.

Da klingelte das Telefon, er hob ab. Es war Kollege Madörin. »Hör mal, da ist eine Frau Schwaab. Aus der Praxis von Frau Dr. Erni. Kennst du die?«

»Ja«, sagte Hunkeler. »Frau Erni ist meine Hausärztin. Was will sie denn?«

»Sie will dich. Sie will mit niemandem sonst reden. Sie faselt etwas von Blut, von Mord. Ziemlich abstrus.«

»Wie bitte? Sag das noch einmal.«

»Nein«, grinste Madörin. »Ich verbinde dich lieber.«

Er stellte durch, und Hunkeler hörte ein schnelles Atmen. Er wartete einen Moment und sagte dann so freundlich, wie es ihm möglich war: »Guten Tag, Frau Schwaab. Was gibt es denn schon am frühen Morgen?«

»Ach so, Herr Hunkeler, endlich«, hörte er Frau Schwaab sagen. »Hören Sie, es ist etwas Schreckliches passiert, ganz entsetzlich. Ich fürchte mich so. Ich habe kaum gewagt, Sie anzurufen. Aber jetzt habe ich Sie ja erreicht, Gott sei Dank.«

Hunkeler grapschte sich eine Zigarette aus der Schachtel, einhändig, was nicht einfach war. Er steckte sie an, nahm einen Zug und hustete.

»Sind Sie noch da? Hallo?«, hörte er Frau Schwaab sagen, mit zittriger Stimme.

[7] »Ja. Ich habe bloß eine Zigarette angezündet. Wo sind Sie jetzt?«

»Im Empfangsraum, gleich hinter der Theke. Ich sitze, weil ich nicht stehen kann. Ich habe schon viel Schlimmes gesehen, ich habe geglaubt, mich könne nichts mehr erschüttern. Aber jetzt zittern mir die Knie. Sie müssen kommen, Sie müssen mich retten, hören Sie? Sofort, sonst kippe ich um.«

»Was gibt’s denn? Sagen Sie endlich, was los ist. Und bleiben Sie ruhig.«

»Ruhig? Draußen lauern diese Drögeler, und ich soll ruhig bleiben? Die können jederzeit hereinkommen und auch mich ermorden.«

Hunkeler spürte, wie sein Nacken kalt wurde, eine eisige Hand legte sich auf seinen Rücken.

»Mord? Ist jemand ermordet worden?«

Stille, nur schnelles Atmen. Von irgendwoher war das Geräusch eines Autos zu hören.

»Reden Sie endlich. Sagen Sie mir, was geschehen ist. Sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«

Das Atmen hörte auf, er vernahm unterdrücktes Schluchzen. Dann hatte sich Frau Schwaab wieder gefasst.

»Frau Dr. Erni ist tot. Sie liegt auf dem Rücken am Boden ihres Praxiszimmers. Ihre Brust ist voll Blut.«

Hunkeler drückte die Zigarette aus, seine Finger vibrierten.

»Sind Sie ganz sicher? Haben Sie das nicht geträumt? Wollen Sie nicht noch einmal hineingehen in den Praxisraum und nachsehen, ob wirklich Frau Erni am Boden liegt? Es ist ja erst kurz nach acht.«

[8] »Was stellen Sie sich eigentlich vor, Herr Hunkeler?« Das kam überraschend scharf. »Ich arbeite jetzt schon über dreißig Jahre in diesem Beruf, und meine Augen sind immer noch gut. Das Fenster ist eingedrückt, von außen, die Scherben liegen im Raum. Der Giftschrank ist aufgebrochen, die Opiate fehlen. Ich habe es gleich bemerkt, mich führt man nicht hinters Licht. Es waren die Drögeler von der Bocciabahn, die übernachten dort in der Hütte. Frau Dr. Erni ist immer so gut gewesen zu ihnen. Und jetzt das. Ich habe sie stets gewarnt. Ich habe ihr gesagt, dass sie sich ein Otterngezücht heranziehe, das früher oder später über sie herfallen werde. Sie hat nicht auf mich gehört. Jetzt liegt sie da, von vorne erstochen, von Angesicht zu Angesicht. Sind das überhaupt noch Menschen, frage ich Sie?«

»Gut«, sagte Hunkeler, »wir sind in spätestens einer Viertelstunde da. Gehen Sie nicht mehr hinein, rühren Sie nichts an. Warten Sie meinetwegen auf der Straße, wenn Sie sich drinnen fürchten.«

»Auf keinen Fall. Ich verlasse diesen Raum nicht. Ich verbarrikadiere mich. Mich erwischen sie nicht.«

Der Polizeiwagen war in zwölf Minuten an der Titlisstraße 13, wo sich die Arztpraxis von Frau Dr. Christa Erni befand. Eine Wohngegend gegen Allschwil und das nahe Elsass hin, Einfamilienhäuser mit Gärten, ruhig und friedlich. Es war eine Doppelpraxis im Parterre eines zehnstöckigen Gebäudes, das zu einer Alterssiedlung mit Zweizimmerwohnungen und einer Pflegeabteilung gehörte.

[9] Im Auto saßen Korporal Lüdi, abweisend und hässig, er hätte wohl lieber im Fahndungscomputer herumgesurft. Detektivwachtmeister Madörin, voller Ärger über den hektischen Wochenbeginn, er mochte es eher ruhig. Am Steuer Haller mit der Luzerner Pfeife zwischen den Zähnen. Sie brannte nicht, denn Madörin hatte ihm ein für alle Mal verboten, auf Dienstfahrten zu rauchen.

Hunkeler hatte seinen Kollegen kurz erzählt, was er über Frau Erni wusste. Sie war gegen sechzig, hatte 1968 während der Studentenrevolte eine bewegte Zeit gehabt, war Mitbegründerin der Progressiven Organisation Basel, kurz POB, gewesen, die neuen Wind in die Stadt gebracht hatte, war nach deren Niedergang der Liberaldemokratischen Partei beigetreten und Großrätin mit dem Spezialgebiet Kultur und Theater geworden. Soviel Hunkeler wusste, hatte sie nie geheiratet. Sie führte die Praxis zusammen mit Dr. Friedrich Knecht. Von ihm wusste er bloß, dass er oft in die Ägäis auf Segeltörn fuhr und jeweils braungebrannt zurückkehrte. Gemeinsamer Röntgenraum, gemeinsames Labor, die Laborantin hieß Ruth Zbinden und war noch nicht ganz dreißig.

»Schlau«, meinte Haller, als er vor dem mit Backstein verkleideten Neubau parkte, »die haben das Patientengut direkt vor der Nase.«

Es war wie meist bei solchen Fällen. Befehle im harten Offizierston, Hektik und Nervosität, besonders als die kriminaltechnische Abteilung eintraf. Der bekannte Leerlauf eines ausgeklügelten, aber sinnlosen Polizeiapparates, der Hunkeler auf die Nerven ging. Er war nur kurz unter die Tür des Praxiszimmers von Frau Erni getreten und hatte sie [10] auf dem Boden liegen sehen, mit noch offenen Augen. Seltsam hübsch war sie anzuschauen, nicht wirklich schön, aber von befremdender Jugendlichkeit. Das breite Fenster auf den Park hinaus war eingeschlagen, die Scherben lagen tatsächlich im Raum. Die Store war hochgezogen. Der Giftschrank aufgebrochen, jemand hatte ein paar Fläschchen heruntergefegt auf den blassblauen Spannteppich. An der Wand hing das bekannte Foto von Che Guevara. Hunkeler hatte sich bei seinen Besuchen immer wieder gewundert, warum sich Frau Erni nicht vom Idol ihrer Jugend getrennt hatte.

Er wandte sich zu Frau Schwaab, die hinter der Theke saß. Davor stand Haller, im Begriff, sich die Pfeife anzuzünden.

»Sie dürfen hier nicht rauchen«, sagte Frau Schwaab. »Das hier ist eine Arztpraxis und keine Opiumhöhle.«

»Geh mal zur Siedlung hinüber«, sagte Hunkeler. »Dort gibt’s Bänke, und auf den Bänken sitzen alte Frauen und Männer und glotzen herüber. Setz dich zu ihnen, rauch deine Pfeife, plaudere mit ihnen und hör zu, was sie erzählen.«

Haller nickte und ging hinaus.

»Ist Dr. Knecht nicht da?«, fragte Hunkeler.

»Nein«, sagte Frau Schwaab, die die Hände verkrampft im Schoß liegen hatte. »Es war ihm in Basel zu heiß, er segelt vor dem Peleponnes.«

»Können Sie ihn erreichen?«

»Ich nicht. Aber seine Frau.«

»Rufen Sie sie an und sagen Sie ihr, sie solle ihn zurückholen.«

[11] »Jetzt gleich?«

»Nein. Erst will ich mit Ihnen reden. Gibt es hier Kaffee?«

Sie zeigte auf die Tür zum Labor. »Dort drin gibt’s eine Espressomaschine. Frau Zbinden besorgt das in der Regel.«

»Wann kommt sie in die Praxis?«

»Am Montag jeweils erst um neun. Sie hat einen Wohnwagen im Schwarzwald stehen, in Schönau an der Wiese. Ihr Freund ist Sportfischer, er fängt Forellen.«

Offenbar war Frau Schwaab froh, über Alltäglichkeiten reden zu können. Ihre Hände hatten sich entkrampft.

Sie gingen in den Laborraum. Reagenzgläser standen hier in Reih und Glied, mit Blut drin und Urin. Mehrere Apparate an den Wänden, auf einem Tischchen die Espressomaschine. Frau Schwaab stellte zwei Tassen hin. Der Kaffee rann hinein.

Hunkeler trat ans Fenster und schaute hinaus auf die Bocciabahn, aus der dunkelgrünes Unkraut wuchs. Bei der Hütte, die gegen die Bahn hin offen war, standen Lüdi und Madörin mit einem halben Dutzend junger Menschen, vier Burschen und zwei Frauen. Daneben wedelte ein kleiner, weißschwarz gefleckter Baster.

»Das sind die Drögeler«, sagte Frau Schwaab und reichte ihm eine Tasse. »Geschieht ihnen recht, dass sie hinter Gitter kommen.«

Sie schauten zu, wie Madörin zwei Paar Handschellen aus seiner Jackentasche herausnahm und die Burschen zusammenkettete.

»Warum verpasst er den beiden Metzen nicht auch [12] Handschellen?«, fragte Frau Schwaab empört. »Die sind nämlich stinkfrech, und sie sind erst noch unglaublich schnell.«

»Ich nehme an, er hat nur zwei Paar bei sich. Wie heißt der Hund?«

»Das ist Buddha. Ein armes Tier, sie geben ihm zu wenig zu fressen.«

»Warum wird eigentlich die Bocciabahn nicht benutzt?«, fragte Hunkeler, während er zuschaute, wie die sechs jungen Menschen samt Hund abgeführt wurden. »Es müsste doch angenehm sein, an einem warmen Juliabend die Kugel rollen zu lassen.«

»Warum wohl. Denk der Drögeler wegen. Die vergiften das ganze Klima.«

»Ist denn vorher, ich meine, bevor die Drögeler aufgetaucht sind, Boccia gespielt worden?«

Frau Schwaab zog eine Schnute, so dass ihre oberen Schaufelzähne hervorstanden. Die Frage schien ihr nicht zu passen.

»Ich kann mich nicht genau erinnern. Die waren schon früh da. Und erst die Alkis. Die sind noch schlimmer. Die verrichten ihre Notdurft unter den Bäumen, obschon es dort eine Toilette gibt.«

Hunkeler steckte sich eine Zigarette in den Mund, getraute sich aber nicht, sie anzuzünden, und schob sie in die Schachtel zurück.

»Was für Alkis?«

»Albin und Konrad. Alte, kaputte Typen.«

»Wo sind die jetzt?«

»Keine Ahnung. Am Samstagmorgen waren sie noch da, ich habe sie herumgrölen hören.«

[13] »Haben sie gesungen?«, fragte er interessiert.

»Ja, Lieder von der Südsee und so. Konrad hat eine Gitarre. Er singt manchmal in den Kneipen Kleinbasels.«

»Steig in das Traumboot der Liebe, fahre mit mir nach Hawaii«, sagte Hunkeler und wischte sich den Schweiß weg, der ihm in den Nacken rann.

»Wie bitte?«

»Ach, nur so. Bloß eine Erinnerung. Sind denn die Fenster der Praxis nicht gesichert in der Nacht?«

»Doch, mit einbruchsicheren Storen.«

»War die Store in Frau Ernis Praxisraum unten, als Sie heute Morgen hereinkamen?«

Frau Schwaab zögerte, überlegte, aber dann schüttelte sie entschlossen den Kopf.

»Natürlich nicht. Ich habe nichts verändert.«

»Aber am Samstagmorgen, als Sie die Praxis verließen, war sie unten?«

»Die Storen sind immer unten übers Wochenende. Am Samstagnachmittag kommt jeweils eine Putzfrau. Sie hat die Anweisung, die Storen unten zu lassen, auch wenn sie die Fenster putzt.«

»Wer hat sie dann hochgezogen?«

Frau Schwaab dachte nach, scharf und konzentriert.

»Von außen geht das nicht«, sagte sie dann. »Das geht nur mit der Kurbel von innen. Der Mörder muss also durch die Tür gekommen sein.«

[14] Der Chef der kriminaltechnischen Abteilung, Dr. Gustaf de Ville, traf wie üblich mit einer halben Stunde Verspätung ein. Er war Elsässer und Lebemann, was man seinem rot gedunsenen Gesicht ansah. Aber sein Blick war hell wie immer.

»Was gibt’s denn schon wieder in unserem friedlichen Basel«, fragte er. »Het wiider epper e Fröi umbroocht?«

Er besah sich die Leiche nur kurz, wischte sich dann mit einem schneeweißen Taschentuch übers Gesicht und trat zurück, um den Fotografen nicht zu stören. »Sie scheint sich nicht gewehrt zu haben. Eine schöne Frau übrigens.«

Er schaute zu Che Guevara hinüber.

»Erstaunlich, der ist doch schon längst passé.«

Er trat zum Fenster, betrachtete die Kurbel.

»Warum ist die Store nicht unten? Funktioniert sie nicht mehr?«

Hunkeler ging durch den Empfangsraum hinaus. Er spürte sogleich die Hitze, die ihn wie ein feuchtes Tuch umhüllte. Jenseits der Straße, unter zwei Platanen, die ihre Äste waagrecht ineinanderschoben, saßen an die zwanzig alte Menschen, die Frauen in luftigen Blumenkleidern, die Männer in kurzärmligen Hemden. Einer trug einen Strohhut und rauchte eine Brissago. Neben ihm saß Haller, stopfte seine Pfeife und hörte dem Alten zu.

Hunkeler ging zur jungen Frau, die gleich neben dem Eingang auf einer Bank saß. Sie hatte kurzes, rötlich gefärbtes Haar, wie es offenbar der Mode dieses Sommers entsprach.

»Darf ich, Frau Zbinden?«

[15] »Gern«, sagte sie und rutschte überflüssigerweise zur Seite.

»Diesen Geruch«, sagte er, »den ertrage ich nur noch mit Mühe. Man kann ihn zwar kaum wahrnehmen, aber ich habe ihn sogleich bemerkt.«

»Ich gehe nicht hinein«, sagte sie und schaute ihn aus traurigen, müden Augen an, »ich mag keine Leichen sehen. Ich habe ein wunderschönes Wochenende im Schwarzwald gehabt. Und jetzt ist Frau Erni tot.«

»Kühl ist es dort, nicht wahr?«

»Ja, und man riecht die Tannen.«

Sie schauten zu, wie Madörin und Lüdi die sechs Drögeler in einen Kleinbus stießen. Der Hund sprang als Letzter hinein. Dann fuhr der Wagen weg.

»Die waren es nicht«, sagte Frau Zbinden, »die sind harmlos.«

»Wer weiß das schon, wer harmlos ist«, sagte Hunkeler.

»Was geschieht mit ihnen? Werden sie eingesperrt?«

»Nein, vermutlich nicht. Sie werden erkennungsdienstlich behandelt. Dann lassen wir sie laufen.«

»Sie werden also am Abend wieder hier sein«, sagte sie zufrieden.

»Vielleicht, wenn sie keine andere Unterkunft haben.«

»Die kommen zurück, weil es ihnen hier gutgeht. Die kriegen hier ihr Methadon. Und zwei Schwestern von drüben schauen zu ihnen.«

»Krankenschwestern?«

»Nein, die Schwestern Bühler, die drüben eine Zweizimmerwohnung haben. Sie sind über achtzig und streiten sich immer. Aber sie haben ein goldenes Herz.«

[16] »Und die beiden Alkis?«

»Ach so, Sie meinen Albin und Konrad.« Sie lachte, schüttelte den Kopf. »Das sind keine richtigen Alkis. Sie haben zwar immer eine Weinflasche bei sich, aber wenn sie etwas zu essen bekommen, essen sie mit Lust. Salami und Mortadella zum Beispiel. Dann singen sie Tessiner Lieder. Die sind okay.«

»Irgendjemand hat Frau Erni umgebracht. Vielleicht ein harmloser Alki, der sonst okay ist.«

»Es übernachten auch andere Leute in der Bocciahütte«, sagte sie.

»Kennen Sie die Namen?«

»Nein. Das war in den letzten Jahren eine Art inoffizielle Notschlafstelle, geduldet von den Leuten der Alterssiedlung und auch von der Polizei.«

Sie strich sich übers Gesicht, als hätte sie sich eine Strähne wegwischen wollen.

»Ich mag diese Menschen. Es gefällt mir, dass es Leute gibt, die sich nicht an die normale Ordnung halten. Einer ist darunter, der muss über siebzig sein. Groß, brandmager, mit einem weißen, langen Bart. Wir nennen ihn Abraham. Der kommt aber nur selten. Und eine kleine, runde Frau. Die habe ich aber schon lange nicht mehr gesehen.«

»Wie alt?«

»Ungefähr sechzig. Wir nennen sie Rumpelstilzchen. Die hat jeweils gezetert, es herrsche eine Sauordnung in der Hütte. Ab Oktober bleiben die meistens weg, es wird dann wohl zu kalt. Nur die Drögeler sind noch da.«

Er schaute sie an, ihre feinen Hände mit dem Rubinring, die braunen Knie, die graugelben Augen.

[17] »Ehrlich«, sagte er, »diese Hitze und dieser Leichenduft. Es ist Zeit, dass ich pensioniert werde.«

»Was tun Sie dann?«

»Vielleicht gehe ich segeln vor dem Peloponnes.«

Sie grinste, strich sich über das kurze Haar.

»Und Ihre Prostata, wie geht’s der?«

»Der wird es gutgehen«, sagte er. »Übrigens, etwas möchte ich Sie fragen, wenn Sie gestatten. Frau Erni war doch eine hübsche Frau. Hat sie keinen Liebhaber gehabt?«

Er sah, wie sich ein Schleier über ihre Augen legte, das ging ganz schnell.

»Vielleicht, aber davon weiß ich nichts. Ich glaube, sie hat keine Zeit gehabt für Liebe. Sie hat ihren Beruf unglaublich ernst genommen und bis Mitternacht noch Hausbesuche gemacht, nachdem sie den ganzen Tag in der Praxis gearbeitet hat. Hinzu kam ihre politische Tätigkeit. Sie hat alle Theateraufführungen und Ausstellungen besucht, sie hat sich auf dem Laufenden gehalten. Und sie hatte früher eine unglückliche Liebe. Darüber ist sie nie hinweggekommen.«

»Wer war das?«

Sie zögerte, aber dann sagte sie es doch.

»Stefan Heller.«

»Der frühere PDA-Mann?«

»Ja. Sie hat ihn geliebt, bis zuletzt.«

»Aber der ist doch verheiratet.«

Sie zupfte ein Papiertuch aus der Tasche und tupfte sich die Augen ab.

»Das war ja die Tragödie«, sagte sie. »Er hat nicht zu ihr gehalten, als es drauf angekommen wäre. Er hat sie sitzenlassen.«

[18] »Woher wissen Sie das?«

»Sie hat es mir erzählt.«

»Ich kenne Stefan Heller ein bisschen«, sagte er, »aus meiner politischen Zeit Ende der sechziger Jahre. Aber davon habe ich nie etwas gehört.«

»Sie hat versucht, es geheim zu halten. Erst wollte sie seiner politischen Laufbahn nicht schaden. Dann wollte sie der eigenen Laufbahn nicht schaden. Sie hat ja ins andere Lager gewechselt. Ein Kommunist als Geliebter hätte ihre Karriere ruiniert.«

»Was macht Stefan Heller eigentlich im Moment?«

Sie schaute ihn an, ungläubig.

»Wissen Sie das nicht? Er ist vor zehn Tagen gestorben.«

Nein, das wusste er nicht. Er erinnerte sich gut an den schlanken Mann mit den schlohweißen Haaren, eine stadtbekannte Persönlichkeit. Er wunderte sich, warum ihm dieser Tod entgangen war. Wahrscheinlich, weil er kaum mehr Zeitung las.

»Sie haben vorhin gesagt, dass er sie habe sitzenlassen, als es drauf angekommen wäre. Was haben Sie damit gemeint?«

»Den Sohn, den sie von ihm hatte.«

»Ach so?«

»Es ist ein offenes Geheimnis, man redet nur nicht darüber.«

»Wie heißt er denn?«

»Hiob Heller.«

[19] Kurz vor zehn fuhr Staatsanwalt Suters Limousine vor. Er stieß die Tür auf, federte heraus und warf sie mit präzisem Schwung zu. Er trug einen hellblauen Seidenanzug mit karminroter Krawatte, denn er hatte übers verlängerte Wochenende in Venedig an einem Kongress über sozialpsychologische Segmente des Täterbildes unter besonderer Berücksichtigung des massenpsychotischen Triebschubes moderner Großstadtballungen teilgenommen. Offenbar hatte er gut eingekauft beim italienischen Schneider. Er war umgeben von einer Aura der Unerbittlichkeit, ein Mann, mit dem unbedingt zu rechnen war.

»Das ist unerhört«, sagte er, »jetzt sind selbst unsere besten Köpfe aus Politik und Kultur nicht mehr sicher vor Verbrechen. Ein Skandal ist dies, in der Tat. Jetzt heißt es alle Mann an Bord, mit voller Kraft voraus. Ich erkläre diesen Fall zur Chefsache, ich übernehme die Leitung persönlich.«

Er steckte sich den Zeigefinger zwischen Kragen und Hals, um sich ein bisschen Luft zu schaffen. Dann fasste er Frau Zbinden ins Auge, leicht indigniert über ihre Schönheit.

»Wer sind denn Sie, wenn ich fragen darf?«

Hunkeler erhob sich und stellte Frau Zbinden vor.

»Freut mich«, sagte Suter. »Sie werden uns zur Verfügung stehen, hoffe ich, rund um die Uhr. Aber was tun denn Sie hier draußen, Herr Kommissär Hunkeler? Was verplempern Sie Zeit? Gehen Sie hinein, nehmen Sie die Fährte auf. Jetzt schlagen wir zu.«

Er wandte sich ab und stolzierte hinein.

Hunkeler verabschiedete sich und machte sich auf den [20] Weg zurück in die Stadt. Er ging zwischen den langsam rollenden Lastwagen hindurch über die Ringstraße. Er folgte der Tramlinie, die mit dunkelblättrigen Bäumen bestanden war, und kam auf die Schützenmatte. Harter, ausgedörrter Grasboden, auf einer Bank im Schatten drei alte Frauen, die auf den Abend warteten. Der Pavillon in der Mitte, im Frühjahr von Nachtbuben niedergebrannt, war noch immer eine Ruine. Er betrat den Garten der Wirtschaft zum Schützenhaus, setzte sich unter einen Kastanienbaum und bestellte Mineralwasser mit Eis.

Die Linde am Eingang vorn war am Verblühen, aber noch immer hing ihr Duft über den Tischchen. Der stimmte ihn etwas heiterer, obschon es auch hier viel zu heiß war. Lindenblüten, das hieß Jugend, Sommer, Mädchenhaar. Er grinste bitter, er kam sich blöd vor mit dieser Erinnerung. Dann fiel ihm der andere Geruch ein, der aus dem Praxisraum.

Er hatte sich gefreut auf die Zeit, die vor ihm lag. Am Wochenende war Ferienbeginn gewesen, die Stadt hatte sich geleert, und die wenigen Leute, die hierblieben, hatten anderes im Sinn, als einzubrechen, zu stehlen und zu töten. Die Julihitze machte Basel jeweils friedlich, das wusste er aus jahrzehntelanger Erfahrung. Offenbar fehlte in der leeren Stadt der Triebschub moderner Großstadtballungen, da hatten die Kriminalpsychologen schon recht. Zudem hatte Staatsanwalt Suter versprochen, er wolle Mitte des Monats zwei Wochen nach Sils im Engadin fahren, um dort zu wandern. Also wäre auch dieses Problem gelöst gewesen.

Hunkeler hatte vorgehabt, eine ruhige Sommerkugel zu [21] schieben. Das stand ihm zu, er war wenige Jahre vor der Pensionierung. Und alte Spürhunde jagt man nicht in der Sommerhitze herum. Seine Freundin Hedwig, die Kindergärtnerin war, war bereits gestern, Sonntag, ins Elsass gefahren. Sie wollte drei Wochen im alten, kühlen Riegelhaus bleiben und sich nicht rühren, nicht einmal die kleine Zehe, wie sie erklärt hatte. Dann wollte sie weitersehen.

Das passte Hunkeler ganz gut. Er hatte vor, jeden Abend hinauszufahren, um neben Hedwig zu schlafen.

Und jetzt diese Leiche. Frau Dr. Christa Erni mit einer Stichwunde in der Brust. Wer hatte das getan? Wer bringt eine Frau um, überlegte Hunkeler im Garten des Schützenhauses, während er den Duft der Linde einatmete, wer tötet eine Ärztin? Eine Ärztin hat nur Freundinnen und Freunde, weil sie den Leuten hilft. Dazu ist sie da. Eine Ärztin steht außerhalb der Gesellschaft, sie unterliegt dem Arztgeheimnis. Eine Ärztin ist eine angesehene, allseits geachtete Person, auch von Verbrechern, denn auch diese brauchen Hilfe, wenn sie krank sind.

Eine Ärztin hilft den Drögelern, den Drückern und den Alkis. Sie gibt den Fixern das Methadon. Sie stellt ihnen ein Testat aus, damit sie finanzielle Unterstützung erhalten. Kein Drögeler wird eine Ärztin umbringen, um an ein paar Opiate heranzukommen.

Und die Leute aus dem Altersheim, hatte jemand von ihnen Frau Erni erstochen? War es möglich, dass sie die Frau, die zu ihnen schaute, wenn sie Grippe hatten oder Lungenentzündung, aus dem Wege räumten? Wohl kaum. Eher hätten sie sich für sie gewehrt.

Oder war es ein Verbrechen aus politischen Motiven? [22] Frau Erni war ja eine Renegatin. Niemanden hassen die Rechtgläubigen so wie eine Abtrünnige. Hatten sich die alten, linken Betonköpfe gerächt, hatten sie ein Exempel statuiert? Nein. Denn sie selber waren sich ihrer alten Heilslehre auch nicht mehr sicher. Sie drehten zwar ab und zu noch ihre ausgeleierten Gebetsmühlen, um sich selber Mut zu machen. Aber richtig dran zu glauben vermochten auch sie nicht mehr. Frau Erni war wohl ins bürgerliche Lager hinübergewechselt, und zwar ins noble, feine der alten Basler Art. Aber gesamtschweizerisch war die Partei der Liberaldemokraten nichts weiter als eine Splittergruppe, die bloß bewies, dass in der Stadt am Rheinknie alles ein bisschen anders war.

Frau Christa Erni war nicht als Realpolitikerin bekannt geworden, sondern als Kulturpolitikerin. Sie bedeutete also keine Gefahr für Klassenkämpfer. Sie hatte ein paar feurige Reden im Großen Rat gehalten, wenn das Stadttheater wieder einmal zur Debatte stand. Sie konnte hervorragend reden, sie hatte das 1968 gelernt. Sie hatte mehrmals den Standpunkt vertreten, dass das Theater, das von Stadt und Landschaft mit über dreißig Millionen jährlich subventioniert wurde, keine Spielwiese für junge Besserwisser sein dürfe, kein Selbstbedienungsladen für selbsternannte Genies, die Shakespeare nach ihrem Gusto umschrieben und nur noch Blut, Sperma und Gähnen darboten. Vielmehr sei das Theater ein Dienstleistungsbetrieb. Der Dienst, der geleistet werden müsse, bestehe darin, dass die Theaterleute dem interessierten und zahlenden Publikum die Werke der Weltliteratur in angemessener Form darzubieten hätten, und zwar Wort für Wort so, wie sie geschrieben worden [23] seien. In diesem Punkt traf sie sich übrigens mit der Meinung der wenigen Altlinken im Rat.

Bringt jemand eine Frau um, überlegte Hunkeler, weil sie eine dezidierte Meinung zum Stadttheater äußert? Nein, gewiss nicht. Das Theater spielte keine Rolle mehr in dieser Stadt, es kostete nur noch Geld. Niemand würde deswegen ein Messer zücken.

Hunkeler wusste, was auf ihn zukam in den nächsten Tagen und Wochen. Die Polizeimaschine würde zu drehen beginnen bis zur Weißglut und nichts produzieren als heiße Luft. Sitzung um Sitzung würde stattfinden mit den üblichen Hässigkeiten und Anfeindungen. Und das Schlimmste: Staatsanwalt Suter würde seine Wanderferien verschieben und jeden zweiten Tag eine Pressekonferenz abhalten, denn er wollte Karriere machen.

Selbstverständlich war es ein Beziehungsdelikt. Das war Hunkeler sogleich klargeworden. Es gab keine Spuren eines Kampfes. Folglich musste die Frau die Täterschaft gekannt haben. Im Weiteren war klar, dass mit der Store etwas nicht stimmte. Der Täter oder die Täterin war keineswegs durch das Fenster eingedrungen, obschon die Scherben im Raum lagen. Es sei denn, die Store wäre nicht heruntergelassen gewesen. Aber in diesem Fall, wenn also jemand von außen die Scheibe eingedrückt hätte, hätte wohl jemand das Scherbeln hören müssen.

Wer es gewesen war, interessierte Hunkeler im Moment noch nicht. Es gab zu viele Möglichkeiten im Umfeld der Praxis. Frau Zbinden hatte einige erwähnt, weitere würden hinzukommen. Es würden viele Theorien aufgestellt werden, im Laufe der Untersuchung würden sich fast alle [24] selber widerlegen. Irgendeinmal musste sich ein handfester Verdacht ergeben, er hoffte es wenigstens.

Es hatte keinen Sinn, aggressiv vorzugehen. So würde man bloß das feine Geflecht von Beziehungen, das sich langsam abzeichnen würde, zerstören. Es galt zu warten, bedächtig und ausdauernd, zu lauschen und zu schauen.

Jetzt ging es ihm wieder etwas besser. Er wusste, welchen Weg er einschlagen würde. Er hatte nicht vor, sich den Sommer vermiesen zu lassen. Er war sich sicher, dass er im richtigen Moment da sein würde.

Er atmete noch einmal den Lindenduft ein, bezahlte und machte sich auf den Weg durch die heiße Stadt Richtung Rhein.

Es ging gegen Mittag, als er das Badehaus St. Johann betrat. Ein hundertjähriges Gebäude, auf Eisenpfosten in den Rhein gestellt, mit Kabinen, Liegeflächen und Tischen, an denen man Kaffee trinken und Würstchen mit Kartoffelsalat essen konnte. Er war Stammgast hier, er hatte ein eigenes Kästchen mit Schlüssel.

Er zog die Badehose an und trat hinaus auf die Straße. Seine Fußsohlen schmerzten, als er flussaufwärts ging, so heiß war der Asphalt. Aber er war das gewohnt. Er liebte das Gehen am Flussufer, rechts die alten Häuser der St. Johanns-Vorstadt, links das abfallende Bord, aus dessen Fugen Margeriten und Malven wuchsen. Die Oberfläche des Rheins, der grün talwärts trieb, am andern Ufer die dunklen Bäume. Ein Stück Wildnis mitten in der Stadt und er [25] mittendrin ein Wilder, halbnackt in freier Wildbahn, wenn auch dünnbeinig und mit ziemlichem Wanst.

Er ging an der Mittleren Brücke vorbei, über die der Mittagsverkehr rollte, und stieg den Rheinsprung hinauf, an einer japanischen Touristenschar vorbei, die ihn mit höflicher Zurückhaltung anschaute. Er kam sich wie eine touristische Sehenswürdigkeit vor.

Beim Münster oben schaute er kurz auf das Lebensrad über der Galluspforte. Die einen wurden nach oben gedreht ins Glück, die anderen fielen herunter ins Unglück. Mir geht es gut, dachte er, ich habe genug Geld, eine Frau, die ich liebe, und ein Haus im Elsass, in dem es kühl ist. Schlecht ist es Christa Erni gegangen. Und er erinnerte sich an ihre offenen, toten Augen.

Er stieg hinunter zum Fährsteg und sprang ins Wasser. Der Sprung war überraschend, wie immer. Aber kaum war er eingetaucht, fühlte er sich heimisch. Er ließ den Sprung unter Wasser auslaufen, so weit er trug. Er hörte die Kiesel auf dem Grund, die talwärts geschoben wurden, er vernahm das Surren einer Schiffsschraube. Dann lag er auf dem Rücken, reglos, und schaute zur Sonne hinauf, die über dem Chor des Münsters glänzte.

Nach zwei fuhr er mit dem Tram zur Heuwaage und betrat den Waaghof. Er grüßte kurz zu Frau Held hinüber, die hinter dem Schalter saß. Als sie vorwurfsvoll einen Finger hob, blieb er stehen. Frau Held war ihm wohlgesinnt.

»Wo brennt’s?«, fragte er.

[26] »Das fragen Sie mich? Das sollten Sie sich selber fragen. Suter hat herumgeschrien, wo denn dieses Arschloch Hunkeler sei.«

»Das Arschloch hat sich im Rhein abgekühlt, damit es besser denken kann.«

Sie lachte hell auf, es war eher ein Glucksen.

»Das sagen Sie dem Chef besser nicht«, riet sie, »sonst beißt er Ihnen den Kopf ab. Um zwei hat übrigens der Rapport begonnen. Um 18 Uhr findet die Pressekonferenz statt, in Anwesenheit des Ersten Staatsanwaltes.«

»Ich habe gemeint, der sei in Zermatt?«

»Sie werden doch nicht meinen, der lasse sich einen solchen Auftritt entgehen? Der hat sich gleich ans Steuer gesetzt, als er vom Mord hörte.«

»Mord? Warum nicht Totschlag?«

»Weil es ein geiles Thema ist. Alle reden bereits vom Praxismord.«

Er betrat die Cafeteria und holte sich am Automaten einen Pappbecher Kaffee. Es war niemand im Raum außer dem Italiener, der hinter der Theke traurig die Gazzetta dello Sport studierte.

Im Sitzungsraum war die ganze Mannschaft versammelt, samt Dr. de Ville und Dr. Ryhiner, dem Gerichtsarzt, der offenbar im Begriffe war, eine Rede zu halten. Kein schlechter Typ, fand Hunkeler, ein bisschen zu hochnäsig vielleicht, aber durchaus für ein Späßchen zu haben.

Hunkeler ging wortlos zum Tisch und setzte sich auf einen freien Stuhl. Er nahm einen Schluck Kaffee, er schmeckte bitter.

»Und?«, fragte Suter und trommelte nervös auf das [27] Tischblatt, furniertes Tropenholz, auf Hochglanz poliert. »Haben Sie eine Erklärung für Ihr Wegbleiben?«

»Ich habe Christa Erni gut gekannt«, sagte Hunkeler, »früher, als wir studiert haben. Sie Medizin, ich Jus und Phil. 1. Sie hat Examen gemacht, ich nicht. Sie war eine Führerin der Studentenbewegung, sie war die beste Rednerin. Ich war nur Mitläufer. Jetzt ist sie tot. Meinen Sie denn, das kann ich einfach so wegstecken?«

»Das ist keine Erklärung, das ist sentimentaler Kitsch. Wir haben Frau Dr. Erni alle gekannt und geliebt, sie war einer unserer besten Köpfe. Das ist stadtbekannt. Und gerade deshalb müssen wir alle Mittel einsetzen, um diese Untat aufzuklären. Wo sind Sie über Mittag gewesen?«

»Im Rhein. Anschließend habe ich Würstchen mit Kartoffelsalat gegessen.«

»Wie bitte?«

»Ja. Ich habe über Basel nachgedacht, über meine Jugend, auch über Stefan Heller, der vor zehn Tagen gestorben ist. Ich kann besser denken, wenn ich im Wasser liege.«