Die
Europasaga

Michelangelo Buonarroti, Die Delphische Sibylle, 1508–1512, Sixtinische Kapelle, Vatikan, Rom. Foto: picture alliance/Heritage Images/Fine Art Images

Peter Arens

Stefan Brauburger

links: Kundgebung der proeuropäischen Bewegung Pulse of Europe auf dem Goetheplatz in Frankfurt, 9.4.2017. Foto: picture alliance/dpa/Andreas Arnold | mitte: Flaschenverschlüsse mit Europa-Flaggen. Foto: iStockphoto/DaveLongMedia | rechts: Louvre bei Sonnenuntergang, Paris. Foto: picture alliance/All Canada Photos/Kurt Werby

Die
Europasaga

Woher wir kommen – Was uns eint –
Wohin wir wollen

Von
Peter Arens und Stefan Brauburger

In Zusammenarbeit mit Werner von Bergen, Bernhard von Dadelsen, Anja Greulich, Friederike Haedecke, Thomas Hagedorn, Peter Hartl, Oliver Heidemann, Wolfgang Horn, Mario Sporn

C. Bertelsmann

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1. Auflage 2017

© C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Grafische Gestaltung und Satz: Nadine Clemens, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildungen © akg-images; bpk; Bridgeman Images; Getty Images; Mauritius Images; Picture Alliance

Lektorat: Eckard Schuster, Dr. Brigitte Wormer, beide München

Register: Dieter Löbbert, München

Kartografie: Peter Palm, Berlin

Bildredaktion: Annette Mayer

Herstellung: Inka Hagen

Druckvorstufe: Lorenz & Zeller, Inning a. A.

ISBN 978-3-641-19406-2
V002

www.cbertelsmann.de

Inhalt

Vorwort

Woher wir kommen – wer wir sind

Was uns eint – was uns teilt

Woran wir glauben – was wir denken

Was uns antreibt – was wir uns nehmen

Was wir erschaffen – was wir beherrschen

Wo wir stehen – was uns bleibt

Anhang

Literatur

Register

Abbildungsnachweis

Europa bei Nacht, Satellitenaufnahme.

Foto: Shutterstock/Anton Balazh (Quelle: NASA)

Vorwort

Der Kontinent des Widerspruchs

»Das übernationale Gemeinschaftsgefühl der Europäer ist reine Erfindung der Dichter« – was Heinrich Mann zur Befindlichkeit unseres Kontinents anmerkte, scheint von zeitloser Aktualität zu sein. Denn das Thema, ob Europa den Weg zur Einigung oder zur Spaltung einschlägt, begleitet unsere Geschichte seit über 1000 Jahren und dringt mit neuem Schub in die gegenwärtigen Debatten. Und wem nicht gleichgültig ist, auf welchen Ebenen über wesentliche Aspekte unseres Lebens entschieden wird, kann sich der zentralen europäischen Frage wohl kaum entziehen, ob es auf dem Weg der Einigung vorwärts oder rückwärts geht.

Gibt es noch die Hoffnung, er könne doch eines Tages kommen, der große übergreifende Superstaat, der es allen recht macht, die Vereinigten Staaten von Europa? Oder haben wir uns längst von solchen Visionen verabschiedet, schon gar im Angesicht der Zerreißproben der Europäischen Union, zwischen Brexit, Finanz- und Flüchtlingskrisen und Rückfällen in nationale Denkmuster?

Am Ende entscheidet wohl die Kraft des Zusammenhalts: Was verbindet uns? Welche Leitbilder und Erfahrungen prägen uns? Um welche Räume, Werte, Menschen geht es, wenn wir von Europa sprechen? Und mit welchen Erwartungen blicken wir in die gemeinsame Zukunft?

Im Buch zur Europasaga gehen wir solchen Fragen auf den Grund, es dient der Vertiefung der gleichnamigen sechsteiligen ZDF-Dokureihe, die wir zusammen mit dem Cambridge-Historiker Christopher Clark gestaltet haben. Das Projekt entstand in der Erwartung, Europa irgendwie zu fassen zu bekommen, es auf einen Nenner zu bringen. Mit einigen Leitfragen im Gepäck ging Clark auf Zeitreise und brachte eine ganze Reihe persönlicher Erfahrungen und Erkenntnisse mit. Doch waren unsere Befunde und Beobachtungen vor allem eines: widersprüchlich!

Es gibt ja das bekannte Erklärmuster, Europa sei eben die »Einheit in der Vielfalt«. Aber dieser Ansatz spart vieles aus. Zu groß sind die Gegensätze, die diesen Erdteil prägten und immer noch prägen – vielleicht kommen wir der Sache mit einer anderen Formel näher: Der DNA-Schlüssel des Kontinents liegt im Widerspruch! Und seine Triebkraft in der Suche nach einem Ausweg, nach einer Lösung …

Alle Kontraste dieser Welt scheinen in Europa auf engstem Raum gewirkt zu haben. Es ist der Erdteil der schlimmsten Kriege, aber auch der intensivsten Friedensbemühungen, der totalitären Diktaturen wie der freiheitlichen Demokratie, der Ursprungsort extremer Ideologien, aber auch des Pluralismus, ein Raum des Glaubens wie des Atheismus. Die europäische Geschichte kennt schlimmste Barbarei, aber auch Höhenflüge in Kunst, Literatur, Architektur und Musik. Europa bietet ein Laboratorium atemberaubender technischer Neuerungen, aber auch der industriellen Zerstörungsgewalt.

Die philosophische Dialektik ist wohl nicht von ungefähr eine europäische Erfindung: die Triade von These, Antithese, Synthese. Und so ist es vielleicht auch typisch europäisch, wenn aus den Widersprüchen heraus etwas Neues, etwas Gemeinsames erwächst, aus dem Gegeneinander ein Miteinander.

60 Jahre Römische Verträge. Das Jubiläum fand in einer Zeit größter Herausforderungen an die Europäische Union statt, es gab Proteste, aber auch Jubel.
Foto: Bauer, Hans-Jürgen

So geschah es auch vor 60 Jahren. Nach zwei Weltkriegen, Diktatur und Völkermord hatten einige westeuropäische Staaten neue Wege beschritten, gemeinsam ein Forum gebildet, den Europarat. Eine erste Gemeinschaft entstand (für Kohle und Stahl). Die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg wollten nun, nach einigen Bewährungsproben, noch enger zusammenrücken, Frieden und Wohlstand künftig gemeinsam sichern, dafür nach und nach auf Hoheitsrechte verzichten. Sie schlossen 1957 historische Verträge, dort, wo so vieles anfing, in Rom. Dass es nicht nur um eine wirtschaftliche, sondern auch um eine Wertegemeinschaft ging, ist das Besondere. Dem Modell schlossen sich später 22 weitere Staaten an, auch aus dem ehemaligen Ostblock. Nach dem Fortschritt der Vereinigung (West-)Europas mag man darin so etwas wie ein zweites »Wunder« sehen.

Im Prinzip kam das, was in der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Anfang nahm, einer kopernikanischen Wende gleich. Besonnene Europäer verließen jene Pfade, die auf die Schlachtfelder geführt hatten, und beschritten den Weg zur Union. Die Enkelkinder, deren Großväter noch mit Waffengewalt in die Nachbarländer einrückten, können seit Jahren die Grenzen ohne Kontrollen passieren. Jedes Jahr erleben Hunderttausende Schüler und Studenten regen wie selbstverständlichen Austausch mit ihren Altersgenossen in den umliegenden Staaten. Doch allein die Errungenschaft des Friedens genügt der Generation, die keinen Krieg erlebt hat, wohl nicht mehr, um weitere Schritte der europäischen Integration zu rechtfertigen.

Heute steht Europa wieder am Scheideweg. Es geht nicht mehr um Krieg oder Frieden, sondern um den Bestand der Einigung. Zwar hat die Gemeinschaft inzwischen einen Grad erreicht, von dem manche Gründerväter allenfalls zu träumen wagten: das Ende des Kalten Krieges, die Öffnung nach Osten, die große Zahl der Mitglieder, gemeinsame Errungenschaften auf vielen Feldern. Doch zeigt der Erfolg in Zeiten der Krise auch seine Schattenseiten: mangelnde Übereinstimmung, Zweifel an gemeinsamen Werten, nationale Rückbesinnung, weil europäische Lösungen ausbleiben oder auf sich warten lassen. Ukraine, Griechenland, Euro, Flüchtlinge, ein Rechtsruck in vielen Parteienlandschaften und Regierungen vor allem östlicher Mitgliedstaaten, schließlich der Brexit – es sind gleich mehrere Konfliktherde, die das Gemeinschaftswerk auf die Probe stellen.

Vielleicht ist der Erfolg der Europäischen Union auch ihr Dilemma, sie ist gewachsen, aber auch schwerfälliger bei zentralen Entscheidungen. Sie ist vielfältiger, dafür gegensätzlicher in den Meinungen über Strategien und Werte. Sie ist größer, muss dadurch aber auch mehr Interessen unter einen Hut bringen. Welcher Mechanismus der Abstimmung wird dem gerecht? Es gilt, jeden weiteren Schritt zur Einigung abzuwägen, um die Partner nicht zu überfordern – vielleicht liegt die Lösung ja doch in einem Europa mehrerer Geschwindigkeiten …

Die aktuellen Befunde legen es nahe, Bilanz zu ziehen, geben Anlass zurückzuschauen, auch in fernere Epochen, wo die Anfänge der europäischen Geschichte liegen. In sechs Kapiteln suchen wir nach Antworten auf zentrale Fragen: Woher kommen wir? Was hält Europa zusammen? Was unterscheidet uns von anderen? Was treibt uns an? Gibt es die verbindende Idee, oder sind es eher Hoffnungen und Interessen, die wir teilen? Und – ist das Glas aus der europäischen Aussteuer eher halb leer oder halb voll?

Woher wir kommen – wer wir sind

Wo heute über 740 Millionen Europäer verschiedener Herkunft leben, bestimmte einst die Natur den Bewegungsraum, die Eiszeit zog die Grenzen für alle Lebensformen. Mit der Wärme kamen immer mehr Menschen. Die erzählte Geschichte beginnt mit dem viel zitierten Entstehungsmythos: Die Liebe des Zeus zu einer Prinzessin namens Europa, die er auf den Kontinent entführte, der später nach ihr benannt wurde – es ist wohl auch Sinnbild für den Einfluss des Orients auf den Okzident. Künftige Kulturen lösten nicht nur einander ab, sie nahmen die Errungenschaften der Vorgänger jeweils auf, bis die Karten durch die Völkerwanderung neu gemischt wurden und am Ende Griechisches, Römisches, Keltisches, Germanisches, »Heidnisches« und vor allem Christliches miteinander verschmolzen. Das ändert nichts daran, dass Europa bis heute ein Schauplatz vielfältiger und ständiger Migration geblieben ist.

Eine »humoristische Karte« von 1914 überzeichnet Stereotype und Vorurteile gegenüber den damaligen Mächten Europas, das noch im selben Jahr in den Krieg stürzte.
Foto: Special Collections, University of Amsterdam (OTM: HB-KZL 109.05.05)

Was uns eint – was uns teilt

Zum Ziel, Europa zusammenzubringen und irgendwie zu einer Einheit zu formen, weisen gleich mehrere – und sehr unterschiedliche – Wege durch die Geschichte. Mal hatte Gewalt, mal die Vernunft den Vorrang: Es sind zum einen Versuche, den Kontinent zu vereinen, um ihn zu beherrschen oder zu unterwerfen. Zum anderen gab es immer wieder Bemühungen, über ein System der Balance zum Ausgleich unter den Rivalen zu gelangen. Schließlich die Bemühungen, die erstrebte Einigung durch Abgrenzung und Abschottung von anderen Mächten und Kulturen zu erreichen. Allzu oft führten solche Schritte zum Gegenteil: zur Spaltung auf dem Kontinent und zur Feindschaft nach außen. Erst spät reifte die Erkenntnis, dass das Miteinander den Völkern mehr dient als das Gegeneinander: die Idee der europäischen Integration, die Schritte zur Union. Wenngleich auch heute noch Spielarten früherer Verhaltensmuster spürbar sind: von der Bevormundung, Lagerbildung und Abgrenzung.

Woran wir glauben – was wir denken

Europa eher als Idee und weniger als Raum zu begreifen, hat Tradition. Prägungen des Glaubens und des Denkens stehen dabei im Vordergrund, weniger die Geografie. Mehr als anderthalb Jahrtausende waren Europas Herrschaftsformen und Kulturen vor allem vom Christentum geprägt, trotz mehrfacher Spaltung im Glauben. Aber ohne die jüdischen Ursprünge keine Christenheit, und selbst wer bestreitet, dass der Islam zu Europa »gehört«, kann nicht verleugnen, dass einige Epochen im Südwesten und Südosten unseres Kontinents wesentlich durch ihn geprägt wurden. Doch wich die Religion ohnehin nach und nach der Aufklärung und den neuzeitlichen »Ismen«: Liberalismus, Kapitalismus, Nationalismus, Kommunismus im Zeichen eines zunehmenden Säkularismus. Die Ursprünge wirkmächtiger Ideen, aber auch totalitärer Ideologien – sie liegen auf dem »alten« Kontinent.

Was uns antreibt – was wir uns nehmen

Europa ist zudem der Erdteil enger Räume und der Küsten! Ein ruheloser Kontinent, dessen treibende Kräfte immer wieder nach neuen Ufern strebten. Kein Zufall, dass von hier aus die Welt entdeckt wurde, von den Wikingern über Magellan bis zu Humboldt und Amundsen. Der Globus wurde zum Spielfeld europäischer Machtinteressen – und durch die Begegnung mit anderen Erdteilen, den Austausch von Gütern und Gedanken veränderte sich auch das eigene Dasein. Auf die Entdeckung folgte die Eroberung. Im Wettbewerb um Kolonien teilten die Europäer die Welt unter sich auf, in der anmaßenden Haltung, Menschen anderer Kontinente überlegen zu sein. Nicht nur das gewaltige Amerika wurde europäisch geprägt, zwei Drittel der Welt nahm Europa in der Neuzeit in Besitz – auf Zeit. Eine Geschichte von Unternehmergeist, Tatendrang und Mut. Aber auch von Gewalt, Unterdrückung, Ausbeutung und Widerstand.

Der Mythos vom Raub der Europa, die dem Kontinent später ihren Namen gab, hat neben vielen anderen Künstlern auch Tizian inspiriert. Gemälde von 1562.
Foto: Bridgeman Images, Berlin (Isabella Stewart Gardner Museum, Boston)

Was wir erschaffen – was wir beherrschen

Neben der Unterwerfung der Welt steht Europas bleibender Beitrag zur Weltkultur. Good old Europe verdankt die Menschheit unzählige Meisterwerke, der Architektur, der bildenden Künste, der Musik, der Philosophie und der Literatur. Ob das Kolosseum oder der Eiffelturm, die Mona Lisa oder Monets Seerosen, Vivaldis »Vier Jahreszeiten« oder die Songs der Beatles, Platons Politeia oder Goethes Faust. Hinzu kommt eine große Zahl bahnbrechender Entdeckungen und technischer Erfindungen, ob die Dampfmaschine, die Batterie, das Automobil, das Penizillin oder die Kernspaltung. Wenn man von klassischen Epochen spricht, von Errungenschaften mit zeitloser universeller Geltung und Ausstrahlung, führen viele Wege nach Europa. Es geht um herausragende Namen, bedeutende Werke und ihre Wirkung, um Europäisches, das zum Weltmaßstab wurde.

Wohin führt der gemeinsame Weg?
Foto: Fotolia, Berlin (bluedesign)

Wo wir stehen – was uns bleibt

Ist der schöne Götterfunken Freude, von der Schillers »Ode« und Beethovens »Neunte« künden, in Europa erloschen? Offiziell hat es ja nur die Musik und nicht der Text zur europäischen Hymne gebracht, damit nicht etwa eine Sprache oder ein Kulturraum bevorzugt wird. Heute gibt es jedoch drängendere Probleme: Finanzkrisen, Schuldenberge, Flüchtlingswellen, Brexit, Konflikte um Werte und Ziele haben in Europa Skepsis an die Stelle früherer Aufbruchstimmung rücken lassen. Was sind die Leitlinien für die europäische Zukunft? Am derzeitigen »Staatenverbund« allenfalls festhalten oder Bahn frei für eine Bundesrepublik Europa? Mehr Kompetenzen in zentralen Politikbereichen zulassen oder lieber doch nicht, vielleicht sogar etwas zurückrudern, um Druck aus dem Kessel zu nehmen? Es bleibt wohl auf absehbare Zeit erst einmal beim Krisenmanagement, beim Navigieren auf Sicht.

Doch gibt es ja auch noch die andere Erfahrung: das Europa der gemeinsamen Kultur, des selbstverständlichen Austauschs, der alltäglichen Begegnung, der Freizügigkeit, der Musik und des Sports – vom Eurovision Song Contest bis zur Champions League. Und was sagen die Umfragen? Wie denken die Bürger über die Union, wie über ihre Nachbarn, was erwarten sie von der gemeinsamen Zukunft? Auch davon handelt dieses Buch.

Quo vadis, Europa?

Peter Arens
Stefan Brauburger

Helm von Sutton Hoo, Replik um 1970 nach Original aus 7. Jh. v. Chr., British Museum, London.

Foto: imago/ZUMA Press

Woher wir kommen – wer wir sind

Urgeschichte – Geografie, Klima und erste Europäer

Beim Betrachten einer Weltkarte ist es nicht allein der Stauchungseffekt, der Europa winzig klein erscheinen lässt. Auch auf einem die wahren Proportionen berücksichtigenden Globus ist unser Heimatkontinent alles andere als ein Flächengigant, gemessen an seinen Geschwistern Afrika, Amerika oder Asien. Ganz Europa ist kaum größer als die Sahara. Seine geringe Größe hat es allerdings spätestens seit den Hochkulturen der Antike, erst recht im Mittelalter und in der Neuzeit durch eine pralle Fülle an geschichtsmächtigen Ereignissen und Kultursprüngen wettgemacht. Auf diesem kleinen Raum ist in den letzten 3000 Jahren unendlich viel passiert, mit großer Wirkung auf Europa selbst und auf andere Erdteile wie insbesondere Amerika, als Millionen Europäer sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufmachten, in der Neuen Welt ihre neue Heimat zu finden. Da Europa als geografischer Kontinent nicht viel hermacht, eigentlich nur ein westliches Anhängsel Asiens ist, seine Kultur aber Weltgeltung erlangt hat, wird gerne ein Wort des französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy zitiert: »Europa ist kein Ort, sondern eine Idee.«

Aber sind die geografischen Rahmendaten wirklich so unerheblich für diese Ideenmacht? Europa wird besonders durch seine enge Besiedlung charakterisiert. Mehr Einwohner pro Quadratkilometer weist nur Asien auf, doch keiner der fünf großen Erdteile hat auf die Fläche umgerechnet mehr Länder als Europa. Hier verteilen sich offiziell 50 Staaten auf rund 10 Millionen Quadratkilometern, in Amerika sind es 35 Staaten auf rund 43 Millionen Quadratkilometern.

Es ist die dichte Besiedlung in relativ kleinräumigen Landschaften, die in den letzten Jahrtausenden aufgrund von Nachbarschaft, Handelsbeziehungen und Migration für eine rege Durchmischung von Völkern und Kulturen gesorgt hat. Unterschiedlichste Landschaften und Lebensräume haben den Horizont von Griechen, Kelten, Römern und Germanen durch alle Zeiten hindurch erweitert. An den einander zugewandten Küsten des Mittelmeers kam es spätestens im 2. Jahrtausend v. Chr. zu intensivem Seehandel, der Waren und Ideen aus verschiedenen Kulturen zusammenbrachte. Ab dem 1. Jahrtausend v. Chr. brachen Reisende durch die Straße von Gibraltar zu den Gestaden des Atlantiks auf und gelangten so in den hohen Norden. Mächtige Gebirgszüge wie die Alpen und die Pyrenäen boten mit ihren Tälern Siedlern fruchtbare Landschaften, Tiere als Nahrungsquelle und wichtige Rohstoffe wie Salz und Eisenerze. Handel wurde betrieben über zugängliche Pässe oder große, schiffbare Ströme wie Rhein und Donau. Richtung Osten veränderte sich das Land zur Steppe und stellte eine Brücke nach Asien dar, über die von jeher neue Volksgruppen nach Zentral- und Westeuropa einwanderten – wie vor rund 6000 Jahren die sogenannten Indoeuropäer, die wahrscheinlich aus Südrussland aufgebrochen waren und deren Sprache zum Fundament fast aller europäischen Sprachen wurde. Im hohen Norden verlief die Besiedlung aufgrund des arktischen Klimas mit lichtarmen Tagen langsamer, im Nordosten verliert sich unser Kontinent in Tundra und Permafrost irgendwo im Ural.

Auch die klimatischen Verhältnisse in Europa sind für den Menschen äußerst vorteilhaft. Insbesondere in der Mitte Europas ist der Wechsel der Jahreszeiten ausgeprägt, was unsere seelische und künstlerische Disposition positiv beeinflusst haben dürfte, kennen wir doch das Hochgefühl von Frühling und Sommer ebenso wie die Melancholie von Herbst und Winter. Allen voran der Mittelmeerraum als Wiege der europäischen Kultur hat stets von seinen milden Wintern und trockenen Sommern profitiert. Hier gelten Nutzpflanzen wie Weintraube und Olive als wichtige Faktoren für frühe, prosperierende Besiedlungen – nicht von ungefähr verkörpern sie auch heute noch besonderen kulinarischen Charme.

Die Tabelle ist als grobe Gliederung zu verstehen, da sich insbesondere ab der Eisenzeit die Kultur in Europa unterschiedlich entwickelt hat. Je nach Region haben sich in Ost-, Süd-, Mittel- und Nordeuropa die Metallverarbeitung sowie die Verwendung der Schrift unterschiedlich schnell verbreitet.

Epochen in Europa

800 000 v. Chr.

Die ersten Vorläufer des Menschen lassen sich in Europa nachweisen, der berühmteste frühe Fund stammt vom Homo heidelbergensis (ca. 500 000 v. Chr.).

250 000–ca. 27 000 v. Chr.

Der Neandertaler behauptet sich in Europa, stirbt aber um 27 000 v. Chr. aus beziehungsweise geht im Homo sapiens auf.

60 000 v. Chr.

Der moderne Mensch, der Homo sapiens, wandert von Afrika nach Europa ein. Beginn der Höhlenkunst, wovon die Fundorte Chauvet (rund 30 000 Jahre v. Chr.) und Lascaux (um 16 000 v. Chr.) im heutigen Frankreich eindrucksvoll Zeugnis ablegen.

Ab 9600 v. Chr.

Beginn des Holozäns, unseres heutigen Zeitalters. Ab 12 500 v. Chr. Ende der Eiszeit und einsetzender Klimawandel mit warmem und feuchtem Wetter.

Ca. 7000–2300 v. Chr.: Neolithikum

In der Jungsteinzeit verändert sich der Kontinent im Vergleich zu anderen Epochen am grundlegendsten. Neue Technologien, Kulturen und Ideen werden von den Menschen aufgenommen. Die Entwicklung von Sesshaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht und Keramikherstellung wird als »neolithische Revolution« bezeichnet. Durch das Ansteigen des Meeresspiegels wird Britannien vom Festland abgetrennt. Große steinerne Megalithstrukturen wie Carnac in der Bretagne und Stonehenge in England entstehen.

Etwa 2500 – 800 v. Chr.: Bronzezeit

Menschen entdecken Bronze als Legierung aus Kupfer (90 %) und Zinn (10 %) und nutzen es für handwerkliche Geräte, Waffen und Schmuck. Kriegskulturen entstehen, der Fall Trojas um 1200 v. Chr. wird um ca. 800 v. Chr. von Homer aufgeschrieben.

800 v. Chr. bis christliche Zeitenwende (Christi Geburt): Eisenzeit

Eisen wird zur Herstellung von Werkzeugen und Waffen verwendet. Mit der sogenannten Hallstatt-Kultur um 800 v. Chr. beginnt die Zeit der Kelten, ihre kulturelle Blüte erleben sie um 200 v. Chr.

Christliche Zeitenwende bis 800: Frühgeschichte und Antike

Diese Epoche ist charakterisiert durch den Gegensatz zwischen kulturell entwickelter Antike und den schriftlosen Völkern des Nordens, insbesondere den Germanen. Mit der sukzessiven Annahme des Christentums und der Einführung der Schrift endet bei diesen die »alte« Zeit.

800 – 1500: Mittelalter

Im Mittelalter entsteht die europäische Moderne, mit bedeutenden städtischen Kulturen, mit Kathedralen, Universitäten und Banken.

Ab 1500: Neuzeit

Epochale Wegmarken sind die Gutenberg-Druckpresse, die Reformation und die Entdeckung Amerikas (das Mittelalter wurde erst im Nachhinein als die mittlere Epoche zwischen Antike und Neuzeit bezeichnet).

Schauen wir auf den großen Klimamaßstab der letzten Jahrmillionen, um unser heutiges Wetter, dessen Erwärmung uns Sorgen bereitet, besser einordnen zu können. Insgesamt gesehen leben wir derzeit in einem europäischen Eiszeitalter. Innerhalb dieser Eiszeit allerdings, dem seit 2,6 Millionen Jahren andauernden Quartär, profitieren wir von einer Warmphase. Wir leben im Holozän, das ca. 9600 v. Chr. begonnen hat und das klimahistorisch andauert. Bis dahin hatte ein Eispanzer über Irland, Britannien, den norddeutschen Tiefebenen und Skandinavien gelegen, auch über den Alpen und den Pyrenäen. Der Meeresspiegel lag 135 Meter niedriger als heute, England gehörte noch zum Kontinent. Dann kam es zu einer langsamen Erwärmung Europas, in dessen Folge sich sozusagen ein geografischer Brexit ereignete: Das Eis schmolz ab, die britische und südskandinavische Landmasse hob sich an, und Britannien und Irland wurden ab ca. 6000 v. Chr. zu Inseln. Auch die Gletscher im Alpenvorland schmolzen ab, das Wasser sammelte sich in Seen. Mittelmeerwasser strömte ins Schwarze Meer, die Becken von Nord- und Ostsee entstanden. Jetzt formte sich langsam die endgültige geografische Gestalt unseres Kontinents. Durch zunehmende Niederschläge entstanden große Wälder in Mitteleuropa, welche die Grassteppen ersetzten. Dadurch nahmen die Hirsch-, Reh- und Wildschweinpopulationen zu, während die typischen Eiszeittiere Mammut und Rentier nach Nordeuropa auswichen.

Was ist mit dem Menschen der europäischen Urgeschichte (um nicht den Begriff »Vorgeschichte« zu verwenden, denn dieser Terminus würde den frühen Menschen aus unserer Geschichte ausschließen)? Man nimmt an, dass seit 800 000 Jahren Lebewesen der Gattung Homo in Europa leben. Der erste fassbare Europäer ist ausgerechnet ein »Deutscher«, nämlich der Homo erectus heidelbergensis, von dem in der Nähe von Heidelberg ein Unterkieferfragment gefunden wurde. Eigentlich ist es aber erst der berühmte Neandertaler, mit dem ab ca. 200 000 Jahre vor unserer Zeit aufgrund einer viel besseren Fundlage eine signifikante Besiedlung in Europa nachweisbar ist. Dessen Premierenexemplar wurde ebenfalls in Deutschland entdeckt, im Neandertal nahe Düsseldorf. Er ist noch kein anatomisch moderner Mensch, mit seinem kräftigen Schädel, den charakteristischen Bögen über der Nase und dem gedrungenen Körper, aber er war als wandernder Jäger und Sammler erstaunlich gut angepasst an das kalte Klima seiner Zeit und hielt sich noch lange Zeit, nachdem bereits vor etwa 60 000 Jahren der Homo sapiens, der moderne Mensch, die europäische Bühne betreten hatte. Ab 26 000 v. Chr. starb der Neandertaler aus, unter bis heute nicht geklärten Umständen – wahrscheinlich wurde er in weniger günstige Regionen abgedrängt beziehungsweise assimilierte sich mit dem modernen Menschen.

Die Karte verdeutlicht anhand der Fundstellen, welche Art von Kunst in welcher Häufung der moderne Mensch des Jungpaläolithikums hinterlassen hat (40 000 v. Chr. bis Ende Kaltzeit und Beginn Holozän 9000 v. Chr.). Das heutige Frankreich stellt den Schwerpunkt dar, gefolgt von der Iberischen Halbinsel.

Homo sapiens – Sesshaftwerdung und frühe Kunst

Für die Evolutionsgeschichte des kulturell modernen Menschen ist Europa von herausragender Bedeutung, weil sich hier eine wesentlich bessere archäologische Fundsituation als auf den anderen Kontinenten zeigt. Der moderne Homo sapiens läutete eine neue Zeit ein. Er war vor ca. 100 000 Jahren aus Afrika über den Nahen Osten eingewandert und erreichte Europa um 60 000 v. Chr. Jetzt ging es vergleichsweise schnell, die Werkzeuge wurden feiner (erst waren sie aus Stein, dann aus Knochen, Holz und Elfenbein), die Waffen für die Wildtierjagd effektiver (erst Speere mit Stein-, dann Holzspitzen, dann Speerschleudern, Pfeil und Bogen), kognitive und künstlerische Fähigkeiten entwickelten sich weiter. Die Menschen begannen über die Zeit nach dem Tod nachzudenken (erst Bestattungen im offenen Gelände, dann Kollektivgräber, schließlich Einzelgräber mit Beigaben). Sie bedienten sich einer differenzierteren Sprache, entwickelten ein Verständnis für Ästhetik und Schönheit. Nach dem Prähistoriker Hermann Parzinger besteht »in der Forschung inzwischen Einigkeit, dass sich der Homo sapiens des Jungpaläolithikums ab 40 000 vor heute in seinen kulturellen Fähigkeiten nicht mehr grundlegend vom heutigen Menschen unterschied«. Erste Höhlenmalereien und Kleinstatuen entstanden ab ca. 38 000 v. Chr. In diese Zeit muss auch die Aufhellung der Haut gefallen sein, die mehr Sonnenlicht aufnehmen konnte zur Gewinnung des wichtigen Vitamins D gegen Knochenschwund. Der sogenannte Cro-Magnon-Mensch, benannt nach dem Fundort Cro-Magnon bei Les Eyzies in der Dordogne, ist der Prototyp des Homo sapiens. Diese Region ist der Hotspot einer »pittoresken« Höhlenlandschaft. Hier hatten die Menschen sozusagen ein festes Felsdach über ihrem Kopf, sodass erstmals längere Verweildauern und dichtere Besiedlungen möglich waren. Von 220 bekannten Höhlen befinden sich 180 in Südfrankreich und Spanien.

In La Roque-Gigeac, einem der schönsten Abschnitte des Dordognetals, beherbergen die hoch aufragenden Felsklippen Höhlenunterkünfte mit vielen Gängen.
Foto: Arens, Peter

Den bedeutendsten Umbruch in seiner Geschichte vollzog der Mensch ab 7000 v. Chr. im Neolithikum, als sich die Landwirtschaft im heutigen Europa immer mehr durchsetzte und letzte Jäger- und Sammlerkulturen an den Rand drängte. Bis heute hat es in der Kulturgeschichte Europas wohl keinen vergleichbar grundstürzenden Wandel mehr gegeben, höchstens ließe sich noch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert als Mitbewerber anführen. Mit Sesshaftwerdung, Ackerbau und Viehzucht wuchsen gleichzeitig die Bedeutung von gemeinschaftlicher, organisierter Arbeit sowie die Notwendigkeit, in Familien oder Sippen zu leben. Wer beklagt, dass irgendwann regelmäßige Arbeit in die Welt kam, kann das Neolithikum zur Rechenschaft ziehen. Merkmale der Neolithisierung waren die Domestikation von Wildpflanzen und Wildtieren, die planvolle Produktion von Lebensmitteln und die ersten Keramikerzeugnisse in Form von Schalen und Krügen, um Lebensmittel lagern zu können. Wenn diese frühen Menschenstufen mit eigenartig anmutenden Kunstwörtern wie »Linearbandkeramik« (5700–4100 v. Chr.) oder »Schnurkeramik« (ca. 2800–2200 v. Chr.) bezeichnet werden, sind damit die typischen Verzierungen auf den Keramikschalen gemeint; bei der Trichterbecherkultur (4200–2800 v. Chr.) verweist der Fachbegriff auf den typischen Trichter am oberen Becherrand. Die »neolithische Revolution« – der Begriff wurde in den 1930er-Jahren von dem australischen Archäologen Gordon Childe geprägt – hatte im Vorderen Orient begonnen, verbreitete sich weiter über Anatolien, die Ägäischen Inseln und die Balkanhalbinsel und erreichte mit den Bandkeramikern 5700 v. Chr. schließlich Mitteleuropa, wenige Jahrhunderte später die Gebiete von Rhein und Seine. Erst geraume Zeit später gelangten sesshafte Lebensweise und produzierendes Wirtschaften auch auf die Britischen Inseln, nach Skandinavien und ins Baltikum, womit sich ein Kulturgefälle zwischen Nord- und Südeuropa herausbildete.

Les Eyzies, die Urheimat des Cro-Magnon-Menschen. Hier wurden 1868 fünf rund 30 000 Jahre alte Skelette gefunden. Der kleine Ort in der Dordogne bezeichnet sich gern als das Zentrum der prähistorischen Welt.
Foto: Arens, Peter

In die Bronzezeit von ca. 2200 bis 800 v. Chr. schieben sich bereits erste Hochkulturen wie diejenigen Vorderasiens und Ägyptens, womit wir die europäische Urgeschichte langsam verlassen. Die Fähigkeit des Menschen, aus 90 Prozent Kupfer und 10 Prozent Zinn das wesentlich härtere Metall Bronze herzustellen, führte aufgrund von prestigeträchtigen Luxusgütern wie wertvollem Schmuck zu einer Bedeutungssteigerung von individuellem Eigentum und damit zu einer ersten wirklichen Ausprägung von sozialen Hierarchien und Herrschaftsstrukturen. Um das kostbare Metall und dessen Folgeprodukte zu lagern, mussten festere Siedlungsorte geschaffen werden, frühurbane Strukturen mit Handelszentren und ersten Palästen entstanden. Auch die Waffenkultur wurde effektiver, das Schwert kam auf, womit kriegerische Auseinandersetzungen zunehmend europäische Geschichte schrieben.

Das Indogermanische

Deutsch, Französisch und Englisch, aber auch Hindi, Griechisch und Farsi lassen sich auf eine gemeinsame Ur-Sprachfamilie zurückführen, auf das Indogermanische. Lediglich Ungarisch, Finnisch und Baskisch zählen in Europa nicht dazu. Es war der deutsche Sprachwissenschaftler Franz Bopp, der diese Ursprache künstlich rekonstruiert hat, indem er systematisch die grammatischen und lexikalischen Gemeinsamkeiten verschiedener Sprachen herausarbeitete (1816). Im Namen Indogermanisch steht »indo« (indisch) für die östlichste Ausprägung und »germanisch« für die westlichste, heute ist aber eher der korrektere Begriff »indoeuropäisch« üblich. Die indoeuropäische Sprachfamilie kennt heute rund 440 Einzelsprachen, die insgesamt von rund zwei Dritteln der Weltbevölkerung gesprochen werden.

In der Folge hat man versucht, die Ursprache auf ein ethnisch zusammenhängendes Urvolk zu beziehen. Dieses soll aus dem heutigen Südrussland in der Nähe des Schwarzen Meeres stammen, aus der sogenannten Kurgankultur. Die Forschung bietet hier jedoch kein einheitliches Bild. Als die Indogermanen (oder Indoeuropäer) zwischen 4000 und 2000 v. Chr. nach Europa, Anatolien und Indien auswanderten, entwickelte sich die indogermanische Sprachfamilie auseinander. In unserem Sprachraum vermischten sich die Einwanderer mit den Menschen zwischen Rhein und Elbe. Daraus entstand das Germanische (und daraus wiederum dann später das Althochdeutsche oder das Altenglische), weiter im Süden entwickelten sich die romanischen Sprachen.

Aus der Urgeschichte Europas stechen zwei besondere Kulturleistungen hervor, bevor Metalle die Kultur des Menschen revolutionierten: die Höhlenmalereien und die Megalithkultur mit ihren imposanten Steingroßbauten. Beide sind von elementarer Bedeutung, da sie als künstlerisch-architektonische Artefakte erster Ausdruck von reflektierter, über den reinen Lebenserhaltungstrieb hinausgehender Aktivität des Menschen sind. Der Mensch beginnt, Geschichte zu gestalten. Die älteste bisher entdeckte Höhlenmalerei sind die Handabdrücke in der nordspanischen El-Castillo-Höhle (um 38 000 v. Chr.). Spektakulärer ist die nächstjüngere Höhle von Chauvet (um 30 000 v. Chr.) im Tal der Ardèche, mit nicht weniger als 400 Wandmalereien und 1000 Tier- und Symbolbildern auf einer Raumfläche von 8140 Quadratmetern. Die Bilder faszinieren auch deshalb, weil die künstlerische Absicht unverkennbar ist. Selbst in der Natur einander feindliche Tiere sind in friedlicher Koexistenz gemalt, ohne jede Aggressivität, oft sollen Verdoppelungen von Körpern Bewegung darstellen. Indem Reliefs der Wände gezielt genutzt, manche Stellen sogar abgekratzt wurden, gewinnen die Tierdarstellungen enorm an Plastizität und werden dreidimensional. Auch aus diesem Grund drehte Werner Herzog eine der weltweit ersten 3-D-Filmdokumentationen in der Chauvet-Höhle (»Cave of Forgotten Dreams«, 2010).

Kaum zu glauben, dass der Eiszeitmensch vor 30 000 Jahren ein solches Felsgemälde hat erschaffen können. Besonders beeindruckt hier in der Höhle von Chauvet die naturalistische, genaue Wiedergabe von Nashorn und Pferd, wobei die vier Pferde in ihrer Staffelung perspektivisch angeordnet sind.
Foto: picture alliance, Frankfurt (CPA Media Co.)

Die wohl berühmteste Höhle ist diejenige von Lascaux (um 16 000 v. Chr.) im Tal der Vézère in der Dordogne, die 1940 zufällig von spielenden Kindern entdeckt wurde. Auch in Lascaux beeindruckt neben der intensiven Lebendigkeit der Motive insbesondere deren künstlerische Ambitioniertheit. Dass Menschen der Jungsteinzeit Tiere mit derartiger Ausdruckskraft und so großem Detailreichtum malen konnten, erscheint wie ein Wunder. Manchmal meint der Betrachter auch Ironie und Humor in den Bildern ausmachen zu können. Die Mischwesen – Menschen in Tierhäuten oder mit Hörnern –, die vermutlich Schamanen darstellen sollen, offenbaren künstlerische Fantasie. Ein Mann mit Vogelkopf und erigiertem Penis ist hier zu sehen. Pfostenlöcher im Boden deuten auf die Verwendung von Gerüsten hin, daneben wurden Pinsel und Blasrohre gefunden (an die Felswand gepresste Hände wurden mit Farbe übersprüht). Über die Funktion der Malereien herrscht in der Forschung keine Einigkeit. Da viele Symbole und Fußabdrücke auf kleine Körper hinweisen, sind Initiationsriten an der Schwelle zum Erwachsensein sehr wahrscheinlich. Oft sind diese Höhlen schwer zugänglich, nur über schmale, niedrige Gänge erreichbar, was ebenfalls für die Nutzung der Höhlen durch Kinder und Jugendliche spricht. Um 5000 v. Chr. wurde die Höhlenkunst aufgegeben, warum, weiß niemand. Zu besichtigen ist die Höhle von Lascaux nicht, weil der menschliche Atem mit seiner Feuchtigkeit zu Schimmelbefall an den Wänden führt. Wie neuerdings in Chauvet existiert aber auch in Lascaux ein aufwendig gestaltetes Besucherzentrum, das die Originalhöhle detailgenau nachbildet. Wie unfassbar beeindruckend und schön die Höhlenmalereien sind, kann nur nachvollziehen, wer sie vor Ort persönlich in Augenschein nimmt – Abbildungen in Büchern reichen da nicht heran. Als Pablo Picasso erstmals diese Malereien sah, meinte er: »Wir haben nichts dazugelernt.«

Rund 15 000 Jahre später ist das Tiertableau der Künstler noch umfangreicher und farbenprächtiger geworden. Motive in der Höhle von Lascaux sind vorwiegend Auerochsen, Rentiere und Wildpferde. Die Farben sind aus gemahlenem Gestein wie Eisenoxid (Orange, Gelb und Rot) und Manganoxid (Schwarz) angerührt.
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Die frankokantabrischen Höhlenmalereien sind laut Hermann Parzinger ein erster Ausdruck von Weltkunst, weil sie für Reflexion, Abstraktionsfähigkeit, Planung und Kommunikation stehen: »Die Eiszeitkunst hat die menschliche Kulturgeschichte über 25 000 Jahre lang nachhaltig geprägt.« Neben den Malereien zählen auch Kleinplastiken von Menschen, Tieren oder Mischwesen aus Elfenbein oder Sandstein dazu, wie der 30 Zentimeter große Löwenmensch (um 35 000 v. Chr.), eine Elfenbeinstatue mit dem Kopf eines Menschen und den Gliedmaßen eines Höhlenlöwen. Er stammt von der Schwäbischen Alb, die, wie kaum einer weiß, zu den aufregendsten Kulturregionen der Welt gehört. Denn in den Höhlen um Blaubeuren und Schelklingen sind zahlreiche Figuren gefunden worden, die zu den ältesten Kunstwerken der Menschheitsgeschichte gehören. Absoluter Star neben dem Löwenmenschen ist die Venus vom Hohlen Fels, eine nur sechs Zentimeter hohe Frauenfigur aus Elfenbein, sichtbar gestaltet mit voluminösen Brüsten, 40 000 Jahre alt und seit Juli 2017 endlich UNESCO-Welterbe.

Die Steinsetzungen von Carnac, am Golf von Morbihan in der Bretagne.
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Beschließen soll unseren Blick auf die Urgeschichte allerdings ein anderes, optisch atemberaubendes und bereisbares Zeugnis der ältesten Kunst europäischer Menschen: die Megalithkultur, aus der Zeit zwischen 4500 und 2000 v. Chr., deren herausragende Orte Carnac in Frankreich und Stonehenge in England sind. Die meisten dieser Großsteinbauten entstanden in den küstennahen Gebieten von Mittelmeer und insbesondere Atlantik, von der Bretagne über England und Irland beziehungsweise die Norddeutsche Tiefebene bis nach Skandinavien. Im Norden findet man sogenannte Hünengräber, Kammern aus großen Findlingen, die als Kollektivgrabstätten genutzt wurden. Im bretonischen Carnac stehen bis zu 3000 Findlinge, sogenannte Menhire, aufrecht zu einem gigantischen Ensemble geordnet, ursprünglich wohl auf einer Länge von acht Kilometern. Sie hatten allerdings keine Begräbnisfunktion, sondern dienten kultischen oder astronomischen Zwecken.

Mehr als eine Million Menschen besuchen jährlich die Kolosse von Stonehenge in Südengland.
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Die berühmteste Steinkreisanlage steht in Stonehenge bei Salisbury, der jüngsten Megalithkultur (erst ab 3000 v. Chr.). Hier ist die astronomische Bedeutung offenkundig, da einzelne Steine nach dem Sonnenverlauf und seinen Wendepunkten ausgerichtet sind. Der Zugang der Anlage weist bei der Sommersonnenwende genau in die Richtung, in der die Sonne aufgeht. Neben der rituell-kulturellen Bedeutung von Stonehenge beeindrucken insbesondere die Bedingungen ihrer materiellen Entstehung. Bis zu 50 Tonnen schwere Steine mussten über große Entfernungen transportiert werden, von mehreren Hundert Mann, wahrscheinlich auf Schlitten, manche gar aus über 200 Kilometern Entfernung. Man kann sich vorstellen, wie viel Koordination und technischer Verstand im Spiel gewesen sein müssen – und dies zu einer Zeit, in der die Menschen anderes zu tun hatten, um zu überleben. Daher ist die Megalithkultur, wie auch die Höhlenmalereien, von einzigartiger Bedeutung für die Frage, ab wann der Homo sapiens als ein schöpferisches, fein operierendes, sich Gedanken machendes Wesen zu verstehen ist, das gemeinschaftlich Kunst und Architektur erschuf, um Antworten auf die ihn umgebende, rätselhafte Welt zu finden.