Anthony Kenny
Band I – Antike
Band II – Mittelalter
Band III – Neuzeit
Band IV – Moderne
Anthony Kenny
Band I
—
Antike
Aus dem Englischen übersetzt
von Manfred Weltecke
Studienausgabe
Originalausgabe:
A New History of Western Philosophy. Volume 1: Ancient Philosophy
Oxford University Press
© Sir Anthony Kenny 2004
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Studienausgabe 2016
3., unveränderte Auflage
© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder
der WBG ermöglicht.
Lektorat: Tina Koch
Satz: SatzWeise GmbH, Trier
Einbandgestaltung: Christian Hahn, Babenhausen
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-26787-3
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-74077-2
eBook (epub): 978-3-534-74078-9
Karte des Mittelmeerraums
Einführung
1 Die Anfänge: Von Pythagoras bis Platon
Die vier Ursachen
Die Schule von Milet
Die Pythagoreer
Xenophanes
Heraklit
Parmenides und die Eleaten
Empedokles
Anaxagoras
Die Atomisten
Die Sophisten
Sokrates
Der Sokrates Xenophons
Der Sokrates Platons
Sokrates’ eigene Philosophie
Von Sokrates zu Platon
Die Ideenlehre
Platons Dialog Politeia
Nomoi und der Timaios
2 Schulen des Denkens: Von Aristoteles bis Augustinus
Aristoteles in der Akademie
Der Biologe Aristoteles
Das Lykeion und sein Lehrplan
Aristoteles über Rhetorik und Dichtkunst
Die ethischen Schriften des Aristoteles
Die politische Theorie des Aristoteles
Die Kosmologie des Aristoteles
Das Vermächtnis von Aristoteles und Platon
Die Schule des Aristoteles
Epikur
Die Stoiker
Skeptizismus in der Akademie
Lukrez
Cicero
Judentum und Christentum
Die Stoa der Kaiserzeit
Frühe christliche Philosophie
Das Wiedererwachen von Platonismus und Aristotelismus
Plotin und Augustinus
3 Richtiges Argumentieren: Logik
Die Syllogistik des Aristoteles
Die Schrift De Interpretatione und die Kategorien
Aristoteles über Zeit und Modalität
Stoische Logik
4 Das Wissen und seine Grenzen: Erkenntnistheorie
Vorsokratische Erkenntnistheorie
Sokrates, Wissen und Nichtwissen
Das Wissen in Platons Dialog Theaitetos
Das Wissen und die Ideen
Aristoteles über Wissenschaft und Illusion
Die epikureische Erkenntnistheorie
Die Erkenntnistheorie der Stoiker
Der Skeptizismus der Akademie
Pyrrhonische Skepsis
5 Wie Dinge geschehen: Physik
Das Kontinuum
Aristoteles über Ort und Raum
Aristoteles’ Theorie der Bewegung
Aristoteles’ Zeitauffassung
Aristoteles über Kausalität und Veränderung
Die Kausalitätsauffassung der Stoiker
Kausalität und Determinismus
Determinismus und Freiheit
6 Was es gibt: Metaphysik
Die Ontologie des Parmenides
Platons Ideenlehre und ihre Probleme
Aristotelische Universalien
Wesen und Quiddität
Sein und Existenz
7 Seele und Geist
Pythagoras’ Seelenwanderungslehre
Wahrnehmung und Denken
Unsterblichkeit in Platons Phaidon
Die Anatomie der Seele
Platon über die sinnliche Wahrnehmung
Die philosophische Psychologie des Aristoteles
Die hellenistische Philosophie des Geistes
Wille, Geist und Seele in der Spätantike
8 Das rechte Leben: Ethik
Der Moralist Demokrit
Sokrates über die Tugend
Platon über Gerechtigkeit und Wohlergehen
Aristoteles über Glückseligkeit
Aristoteles über moralische und intellektuelle Tugend
Lust und Glück
Der Hedonismus Epikurs
Stoische Ethik
9 Gott
Xenophanes’ natürliche Theologie
Sokrates und Platon über Frömmigkeit
Die Entwicklung von Platons Theologie
Aristoteles’ unbewegte Beweger
Die Götter Epikurs und der Stoiker
Über Weissagung und Astrologie
Die Trinität Plotins
Zeittafel
Siglen und Abkürzungen
Bibliografie
Liste der Abbildungen
Register
Warum sollte man die Geschichte der Philosophie studieren? Es gibt viele Gründe, dies zu tun. Man kann sie in zwei Gruppen einteilen: philosophische und historische Gründe. Wir können die großen Philosophen der Vergangenheit studieren, um die Fragestellungen der gegenwärtigen philosophischen Forschung in ihren historischen Kontext zu stellen. Oder wir wollen vielleicht die Menschen und Gesellschaften vergangener Epochen verstehen und ihre philosophischen Werke lesen, um das intellektuelle Klima zu erfassen, in dem sie gedacht und gehandelt haben. Wir können die Philosophen früherer Jahrhunderte lesen, um bei ihnen Hilfen zur Lösung von philosophischen Problemen zu finden, die nach wie vor aktuell sind, oder um tiefer in die Gedankenwelt einer vergangenen Epoche einzudringen.
In der vorliegenden Geschichte der Philosophie hoffe ich, von den Anfängen bis zur Gegenwart beide Ziele zu verfolgen. Ich werde dies jedoch in verschiedenen Teilen dieses Werkes auf unterschiedliche Weise tun. In dieser Einführung gelingt es mir hoffentlich zu erklären, was mich dazu bewogen hat. Bevor man jedoch eine Strategie zum Schreiben der Philosophiegeschichte erläutert, muss man zunächst innehalten und über das Wesen der Philosophie selbst nachdenken. Das Wort „Philosophie“ bedeutet, je nachdem, wer es im Munde führt, Unterschiedliches, weshalb auch der Ausdruck „Geschichte der Philosophie“ auf verschiedene Weise verstanden werden kann. Die Bedeutung des Ausdrucks hängt davon ab, was der jeweilige Historiker als für die Philosophie wesentlich ansieht.
Dies gilt für Aristoteles, den ersten Historiker der Philosophie, und für Hegel, der hoffte, ihr letzter zu sein, da er glaubte, die Philosophie zur Vollendung geführt zu haben. Beide Denker hatten ein sehr unterschiedliches Philosophieverständnis. Gemeinsam war ihnen jedoch die Vorstellung von philosophischem Fortschritt: Philosophische Probleme werden im Laufe der Geschichte immer klarer erfasst, und sie können mit immer größerer Genauigkeit beantwortet werden. Im ersten Buch seiner Metaphysik beschreibt Aristoteles – genau wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie – die von ihm dargestellten Lehren der früheren Philosophen als Zwischenschritte auf einem Weg in Richtung einer Sicht der Dinge, die er dann selbst entfaltet.
Nur jemand mit höchstem philosophischem Selbstvertrauen konnte die Geschichte der Philosophie auf diese Weise darstellen. Die größte Versuchung für die meisten Historiker unter den Philosophen besteht nicht darin, die Philosophie als eine Entwicklung zu beschreiben, die in ihrem eigenen Werk ihren Höhepunkt erreicht, sondern eher als einen allmählichen Fortschritt bis zu demjenigen philosophischen System darzustellen, das sich gegenwärtig der größten Zustimmung erfreut. Dieser Versuchung sollte man widerstehen. Es gibt keine Kraft, die einen philosophischen Fortschritt in irgendeiner bestimmten Richtung garantiert.
Ja, man kann sogar daran zweifeln, ob es in der Philosophie überhaupt einen Fortschritt gibt. Manche Autoren vertreten die Auffassung, dass die großen philosophischen Fragen nach einer jahrhundertelangen Diskussion noch immer debattiert werden, und dass sie einer definitiven Antwort nicht nähergebracht wurden. Im 20. Jahrhundert schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein:
„Man hört immer wieder die Bemerkung, daß die Philosophie eigentlich keinen Fortschritt mache, daß die gleichen philosophischen Probleme, die schon die Griechen beschäftigten, uns noch beschäftigen. Die das aber sagen, verstehen nicht den Grund, warum es so ist/sein muß. Der ist aber, daß unsere Sprache sich gleich geblieben ist und uns immer wieder zu denselben Fragen verführt. […] Ich lese ‚[…] philosophers are no nearer to the meaning of reality than Plato got […]‘1 Welche seltsame Sachlage. Wie sonderbar, daß Plato dann überhaupt so weit kommen konnte! Oder, daß wir dann nicht weiter kommen konnten! War es, weil Plato so gescheit war?“ (MS 213/424)
Der Unterschied zwischen dem, was man die aristotelische und die Wittgenstein’sche Einstellung zur Frage des philosophischen Fortschritts nennen könnte, hängt mit zwei unterschiedlichen Philosophieauffassungen zusammen: Die Philosophie kann entweder als Wissenschaft oder als eine Kunst angesehen werden. In der Tat ist es im Falle der Philosophie besonders schwer, sie einer der beiden Kategorien zuzuordnen, denn sie weist Ähnlichkeiten sowohl mit der Wissenschaft als auch mit der Kunst auf.
Einerseits scheint sie einer Wissenschaft ähnlich zu sein, insofern es in der Philosophie um die Wahrheitssuche geht. Es scheint, dass in der Philosophie durchaus Entdeckungen gemacht werden. Philosophen kennen daher wie Naturwissenschaftler die Begeisterung, die aus der Zugehörigkeit zu einem intellektuellen Abenteuer erwächst, das durch Kontinuität, Kooperation und die Erweiterung eines vorgegebenen Wissensbestandes geprägt ist. Trifft dies zu, muss der Philosoph die neuesten Veröffentlichungen kennen und mit dem Stand der Forschung Schritt halten. Gemäß dieser Auffassung haben wir Philosophen des 21. Jahrhunderts gegenüber den früheren Vertretern unseres Faches einen Vorteil. Zweifellos stehen wir auf den Schultern anderer großer Denker, doch wir stehen über ihnen. Wir haben Platon und Kant überholt.
Andererseits veralten die klassischen Werke in den Geisteswissenschaften nicht. Wir lesen heute nicht mehr Newton oder Faraday, wenn wir Physik oder Chemie, nicht aber ihre Geschichte, studieren wollen. Doch wir lesen die Werke Homers und Shakespeares nicht nur, um in Erfahrung zu bringen, welch seltsame Dinge den Menschen in längst vergangenen Zeiten durch den Kopf gingen. Dasselbe gilt, diese Meinung lässt sich durchaus vertreten, für die Philosophie. Wir lesen Aristoteles heute nicht aus Neugier an antiquierten Ideen. Die Philosophie ist im Wesentlichen das Werk einzelner Genies, und Kant hat Platon ebenso wenig abgelöst wie Shakespeare Homer.
Jede dieser Auffassungen enthält einen wahren Kern, doch keine von ihnen ist uneingeschränkt wahr oder kann beanspruchen, die gesamte Wahrheit darzustellen. Die Philosophie ist keine Wissenschaft und es gibt in ihr keinen „neuesten Stand“. Philosophie hat es nicht mit der Erweiterung des Wissens oder damit zu tun, neue Wahrheiten über die Welt zu finden. Der Philosoph ist nicht im Besitz von Wissen, das anderen verwehrt ist. In der Philosophie geht es nicht um das Wissen, sondern um das Verstehen, d.h. um die Strukturierung des Wissens. Doch da die Philosophie allumfassend und ihr Feld so weit ist, ist die von ihr geforderte Strukturierung des Wissens so kompliziert, dass sie nur von einem Genie geleistet werden kann. Für all diejenigen unter uns, die keine Genies sind, besteht der einzige Weg, auf dem wir hoffen können, uns in die Philosophie einzuarbeiten, darin, dass wir uns in die Höhe der Ideenwelt eines der großen Denker der Vergangenheit strecken.
Obwohl die Philosophie keine Wissenschaft ist, stand sie im Laufe ihrer Geschichte in einer engen Beziehung zu den Wissenschaften. Viele Wissensgebiete, die in der Antike und im Mittelalter zur Philosophie gehörten, sind längst zu eigenständigen Wissenschaften geworden. Ein Wissenszweig bleibt philosophisch, solange seine Begriffe ungeklärt und seine Methoden umstritten sind. Vielleicht sind keine wissenschaftlichen Begriffe jemals vollständig geklärt, und keine wissenschaftlichen Methoden können je umfassende Zustimmung finden. Trifft dies zu, dann bleibt in jeder Wissenschaft ein philosophisches Element erhalten. Sobald jedoch Probleme unproblematisch formuliert und Begriffe widerspruchsfrei vereinheitlicht werden können und Einigkeit darüber erzielt werden kann, welche Methode zu ihrer Lösung zu befolgen ist, haben wir es, statt mit einem neuen Zweig der Philosophie, mit der Entstehung einer eigenständigen Wissenschaft zu tun.
Man sollte die Philosophie, die einmal als Königin der Wissenschaften galt und dann als ihre Magd, daher vielleicht besser als Schoß oder Hebamme der Wissenschaften ansehen. Doch gehen Wissenschaften aus ihr weniger durch Geburt und Entbindung als vielmehr durch Abspaltung hervor. Zwei von vielen anderen möglichen Beispielen sollen dies veranschaulichen. Im 17. Jahrhundert beschäftigten sich Philosophen ausgiebig mit dem Problem, welche unserer Begriffe angeboren und welche erworben sind. Dieses Problem teilte sich in zwei Teilprobleme auf: in ein psychologisches („Was verdanken wir der Vererbung und was der Umwelt?“) und ein erkenntnistheoretisches („Welcher Teil unseres Wissens hängt von der Erfahrung ab, und wie viel davon ist unabhängig von ihr?“). Die erste Frage wurde an die wissenschaftliche Psychologie abgegeben, während die zweite weiterhin zur Philosophie gehörte. Doch sie zerfiel selbst ebenfalls in eine Reihe weiterer Fragen. Eine von ihnen lautete: „Ist die Mathematik lediglich eine Erweiterung der Logik oder gibt es eigenständige mathematische Wahrheiten?“ Die Frage, ob die Mathematik von der reinen Logik abgeleitet werden kann, erhielt durch die Arbeiten von Logikern und Mathematikern des 20. Jahrhunderts eine präzise Antwort. Die Antwort war keine philosophische, sondern eine mathematische. Wir hatten es hier also mit einer anfänglich verwirrten philosophischen Frage zu tun, die sich in zwei Richtungen verzweigte: eine psychologische und eine mathematische. Als philosophischer Rest blieb eine weiterhin zu diskutierende Frage bezüglich des Wesens mathematischer Aussagen zurück.
Ein früheres Beispiel ist komplizierter. Ein Zweig der Philosophie, dem von Aristoteles ein ehrenvoller Platz zugewiesen wurde, war die „Theologie“. Wenn wir heute lesen, was er dazu zu sagen hatte, so kommt uns dies wie eine Mischung aus Astronomie und Religionsphilosophie vor. Christliche und muslimische Theologen haben den aristotelischen Auffassungen Elemente aus den Lehren ihrer heiligen Schriften hinzugefügt. Als Thomas von Aquin dann im 13. Jahrhundert eine scharfe Trennungslinie zwischen einer natürlichen und einer auf Offenbarung basierenden Theologie zog, kam es zu einer ersten wichtigen Abspaltung: Berufungen auf Offenbarung wurden aus der Bearbeitung des philosophischen Problembestandes ausgeschlossen. Es dauert sehr viel länger, bis sich Astronomie und natürliche Theologie voneinander trennten. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es sich bei einem Fach, das von der Philosophie abgestreift wird, nicht um eine Wissenschaft handeln muss, sondern dass es ebenso ein humanistisches Fach sein kann, wie etwa biblische Studien. Es zeigt auch, dass sich in der Geschichte der Philosophie Beispiele für den Zusammenschluss wie für die Abspaltung von Fächern finden.
Die Philosophie gleicht den Geisteswissenschaften auch darin, dass es in ihrer Literatur so etwas wie einen Grundbestand kanonischer Werke gibt. Ein Philosoph setzt zu bearbeitende Probleme zu einer Reihe klassischer Texte in Beziehung. Da sie über keine fest umrissene Thematik verfügt, sondern lediglich über charakteristische Methoden, ist die Philosophie ein Fach, das durch die Arbeiten seiner bedeutenden Vertreter definiert wird. Die frühesten Denker, die wir als Philosophen ansehen, die Vorsokratiker, waren zugleich Wissenschaftler, und mehrere von ihnen waren außerdem religiöse Führungsgestalten. Sie betrachteten sich selbst noch nicht als einer gemeinsamen Profession zugehörig, derjenigen, von der wir Philosophen des 21. Jahrhunderts behaupten, dass sie sich bis zu uns fortgesetzt habe. Es war Platon, der in seinen Schriften erstmals das Wort „Philosophie“ in einem Sinn verwendete, der unserem modernen Verständnis nahekommt. Diejenigen, die sich heute als Philosophen bezeichnen, können sich mit Fug und Recht als Erben Platons und Aristoteles’ ansehen. Doch wir sind nur eine kleine Untergruppe ihrer Erben. Was uns von den anderen Erben der großen Griechen unterscheidet und was uns berechtigt, das Erbe ihres Namens anzutreten, ist die Tatsache, dass wir Philosophen, im Gegensatz zu den Physikern, Astronomen, Ärzten und Linguisten, die Ziele von Platon und Aristoteles ausschließlich mit den Methoden verfolgen, die auch ihnen zur Verfügung standen.
Wenn die Philosophie irgendwo zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften anzusiedeln ist, wie lautet dann die Antwort auf die Frage: „Gibt es Fortschritt in der Philosophie?“
Es gibt Denker, die meinen, es sei die Hauptaufgabe der Philosophie, uns von intellektueller Verwirrung zu befreien. Nach dieser bescheidenen Ansicht von der Rolle des Philosophen ändern sich die zu übernehmenden Aufgaben im Laufe der Geschichte, da jedes Zeitalter eine andere Form der Therapie benötigt. Das Netz, in dem sich der undisziplinierte Verstand verfängt, ändert sich von einer Epoche zur nächsten, und zur Befreiung aus dem Netz sind jeweils andere geistige Manöver erforderlich. So ist beispielsweise die Versuchung, sich das menschliche Bewusstsein als eine Art Computer vorzustellen, ein weitverbreitetes Übel unserer Zeit, während frühere Epochen versucht waren, es sich wie eine Telefonzentrale, eine Pedalorgel, einen Homunkulus oder einen Geist vorzustellen. Irrige Vorstellungen vergangener Zeiten, wie etwa der Glaube, dass die Sterne lebende Wesen sind, können entweder in einen Ruhezustand übergehen, oder sie können wiederkehren, wie der Glaube, dass die Sterne uns ermöglichen, menschliches Verhalten vorherzusagen.
Es mag allerdings so scheinen, als erlaube die therapeutische Sicht der Philosophie lediglich eine Änderung der philosophischen Ansichten im Laufe der Zeit, jedoch keinen wirklichen Fortschritt. Dies muss aber nicht so sein. Eine irrige Vorstellung kann durch einen Philosophen so gründlich widerlegt werden, dass auch unvorsichtige Denker nicht mehr in Versuchung kommen, sie zu übernehmen. Ein Beispiel für diesen Fall werden wir im ersten Band dieser Geschichte ausführlich erörtern. Parmenides, der Gründer der Ontologie (der Wissenschaft vom Sein), stützte einen großen Teil seiner Lehre auf eine systematische Verwirrung verschiedener Bedeutungen des Verbs „sein“. Platon hat in einem seiner Dialoge diese Probleme so erfolgreich durchleuchtet, dass es seither keine Entschuldigung für diese Verwirrung mehr gibt. Es erfordert sogar eine große Anstrengung der philosophischen Einbildungskraft, sich vorzustellen, wie Parmenides dieser Verwirrung ursprünglich überhaupt erliegen konnte.
Ein Fortschritt dieser Art wird häufig durch seinen Erfolg unsichtbar: Wenn ein philosophisches Problem gelöst wurde, betrachtet es niemand mehr als eine Angelegenheit der Philosophie. Es verhält sich damit ähnlich wie mit dem Landesverrat in folgendem Epigramm:
„Landesverrat hat keinen Erfolg. Aus welchem Grunde?
Hätte er Erfolg, wagte niemand ihn so nennen.“
Die sichtbarste Form philosophischen Fortschritts ist der Fortschritt in der philosophischen Analyse. Der philosophische Fortschritt besteht nicht darin, dass einem bestimmten Umfang von Wissen regelmäßig neues Wissen hinzugefügt wird. Wie ich bereits gesagt habe, bietet die Philosophie nicht Informationen, sondern ein vertieftes Verständnis. Natürlich verfügen die Philosophen der Gegenwart über einiges Wissen, das die größten Philosophen der Vergangenheit nicht besaßen. Bei dem, was sie wissen, handelt es sich jedoch nicht um philosophische Einsichten, sondern um diejenigen Wahrheiten, die von den Wissenschaften entdeckt wurden, die aus der Philosophie hervorgegangen sind. Es gibt jedoch einige Dinge, die von zeitgenössischen Philosophen verstanden werden, die selbst die größten Denker früherer Generationen nicht verstanden haben. So präzisieren Philosophen beispielsweise die Sprache, indem sie verschiedene Bedeutungen von Wörtern unterscheiden. Wenn eine solche Läuterung der Sprache erfolgt ist, muss sie von künftigen Philosophen bei ihren Überlegungen berücksichtigt werden.
Nehmen wir als Beispiel das Problem der Freiheit des Willens. An einem bestimmten Punkt der Philosophiegeschichte wurden zwei unterschiedliche Arten menschlicher Freiheit unterschieden: die Freiheit der Indifferenz (die Fähigkeit, etwas anderes zu tun) und die Freiheit der Spontaneität (die Fähigkeit zu tun, was man will). Nachdem diese Unterscheidung vorgenommen wurde, muss die Frage „Ist der Wille des Menschen frei?“ auf eine Weise beantwortet werden, die diesen Unterschied beachtet. Selbst jemand, der die Auffassung vertritt, dass die beiden Arten der Freiheit übereinstimmen, muss Argumente dafür anführen, um zu zeigen, dass es sich so verhält. Er kann diesen Unterschied nicht einfach ignorieren und dennoch hoffen, dass seine Beiträge zu diesem Thema ernst genommen werden.
Bedenkt man, welche Rolle der Kanon ihrer klassischen Texte für die Philosophie spielt, überrascht es nicht, dass eine wichtige Form des philosophischen Fortschritts in der Aneignung und Interpretation der Gedanken bedeutender Philosophen der Vergangenheit besteht. Die großen Werke der Vergangenheit verlieren in der Philosophie nicht ihre Bedeutung, und ihre Beiträge zum Denken der jeweiligen Gegenwart sind keineswegs statisch. Jedes Zeitalter interpretiert die philosophischen Klassiker neu und wendet sie auf seine eigenen Probleme und Ziele an. In den letzten Jahren ist dies auf dem Gebiet der Ethik besonders deutlich zu sehen. Die ethischen Schriften von Platon und Aristoteles haben auf die moralphilosophische Reflexion der Gegenwart einen ebenso großen Einfluss wie die Werke irgendwelcher Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts. Anhand eines beliebigen Zitatenverzeichnisses lässt sich dies leicht bestätigen, doch werden ihre Werke heute auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert und angewendet, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Diese neuen Deutungen und Anwendungen stellen einen echten Fortschritt in unserem Platon- oder Aristoteles-Verständnis dar. Doch handelt es sich hierbei natürlich um ein Verständnis, das sich von demjenigen deutlich unterscheidet, welches sich etwa durch eine neue Untersuchung der Chronologie der platonischen Dialoge oder einen stilometrischen Vergleich der verschiedenen ethischen Werke des Aristoteles gewinnen lässt. Das neue Licht, das hierbei auf diese Werke fällt, gleicht eher dem tieferen Verständnis von Shakespeare, das wir einer neuen und besonders einfühlsamen Aufführung von König Lear verdanken würden.
Der Historiker der Philosophie, sei er hauptsächlich an Philosophie oder an Geschichte interessiert, kann nicht umhin, beides zu sein: Philosoph und Historiker. Um eine Geschichte der Malerei zu schreiben, muss man kein Maler sein, und ein Historiker, der sich mit der Geschichte der Medizin befasst, praktiziert, als Historiker, keine Medizin. Doch ein Historiker der Philosophie kann es nicht vermeiden, Philosophie zu betreiben, während er die Geschichte der Philosophie schreibt. Es ist nicht nur so, dass jemand, der nichts von Philosophie versteht, ein schlechter Historiker der Philosophie sein wird. Es ist ebenso zutreffend, dass jemand, der überhaupt nicht kochen kann, ein schlechter Historiker der Kochkunst sein wird. Die Verbindung zwischen der Philosophie und ihrer Geschichte ist noch wesentlich enger. Die historische Aufgabe selbst zwingt Historiker der Philosophie, die Meinungen der von ihnen behandelten Denker zu paraphrasieren, Gründe dafür zu nennen, warum Denker der Vergangenheit zu ihren jeweiligen Auffassungen gelangt sind, Spekulationen darüber anzustellen, welche Prämissen in ihren Argumenten unausgesprochen geblieben sind, sowie die Kohärenz und Stichhaltigkeit der von ihnen gezogenen Schlussfolgerungen zu beurteilen. Doch Gründe für philosophische Schlüsse beizubringen, verborgene Prämissen in philosophischen Argumenten aufzudecken und die Logik philosophischer Schlussfolgerungen zu bewerten sind selbst genuin philosophische Aktivitäten. Daher muss jede ernsthafte Geschichte der Philosophie sowohl eine philosophische Bemühung als auch eine Übung in der Geschichtsschreibung sein.
Andererseits muss der Historiker der Philosophie den geschichtlichen Kontext kennen, in dem die Denker der Vergangenheit ihre Werke verfasst haben. Wenn wir Verhaltensweisen der Vergangenheit erklären, fragen wir nach den Gründen der handelnden Person; und wenn wir einen guten Grund gefunden haben, glauben wir ein bestimmtes Verhalten verstanden zu haben. Gelangen wir hingegen zu dem Schluss, dass die Person, selbst nach ihren eigenen Auffassungen, keine guten Gründe hatte, so müssen wir nach anderen, komplizierteren Erklärungen suchen. Was für Handlungen gilt, gilt auch für die Übernahme philosophischer Ansichten. Findet der philosophiehistorische Autor einen guten Grund für die Lehre eines Philosophen der Vergangenheit, hat er seine Aufgabe erfüllt. Wenn er jedoch zu dem Schluss gelangt, dass der Denker der Vergangenheit keinen guten Grund für seine Auffassung hatte, steht er vor einer weiteren und wesentlich schwierigeren Aufgabe: Er muss die Lehre aus dem historischen Kontext erklären, aus dem sie hervorgegangen ist, und dabei möglicherweise neben den intellektuellen auch soziale Aspekte in die Erklärung einbeziehen.2
Geschichte und Philosophie sind selbst in der ursprünglichen Bemühung um echte philosophische Aufklärung eng miteinander verbunden. In der neueren Philosophie veranschaulicht dies im 19. Jahrhundert auf besonders brillante Weise das Meisterwerk des bedeutenden deutschen Philosophen Gottlob Frege, Die Grundlagen der Arithmetik. Fast die Hälfte von Freges Buch ist der Erörterung und Widerlegung der Ansichten anderer Philosophen und Mathematiker gewidmet. Während er die Meinungen anderer untersucht, achtet er darauf, dass einige seiner eigenen Ansichten kunstvoll angedeutet werden, wodurch die anschließende Darstellung seiner eigenen Theorie erleichtert wird. Doch besteht der Hauptzweck der längeren kritischen Auseinandersetzung darin, den Leser von der Schwierigkeit der Probleme zu überzeugen, für die er dann später Lösungen vorschlägt. Ohne diese Präambel fehlt uns Frege zufolge die wichtigste Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt etwas lernen: das Wissen über unser Nichtwissen.
In unserem Zeitalter der Spezialisierung sind die meisten Geschichten der Philosophie das Gemeinschaftswerk vieler Autoren, die jeweils auf unterschiedliche Gebiete und Epochen spezialisiert sind. Indem Oxford University Press mir anbot, als Alleinautor eine Geschichte der Philosophie von Thales bis Derrida zu schreiben, brachte der Verlag damit die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Schilderung der Entwicklung der Philosophie aus einem einzigen Gesichtspunkt, der die antike, mittelalterliche, neuzeitliche und gegenwärtige Philosophie in einer an zusammenhängenden Themen orientierten, durchgehenden Darstellung verbindet, ein lohnendes Projekt sei. Das Werk wird in vier Bänden erscheinen: Der erste wird die Jahrhunderte vom Beginn der Philosophie bis zur Bekehrung des Heiligen Augustinus im Jahre 387 behandeln. Der zweite Band setzt die Darstellung von Augustinus bis zum Laterankonzil im Jahre 1512 fort. Der dritte Band endet mit Hegels Tod im Jahre 1831, und der vierte und letzte Band stellt die philosophische Entwicklung bis zum Ende des zweiten Jahrtausends dar.
Es versteht sich zwar von selbst, dass ich nicht behaupten kann, ein Fachmann für die vielen Philosophen zu sein, deren Gedanken ich in den Bänden meines Werkes erörtern werde, doch habe ich über wichtige Denker in jeder der in den vier Bänden behandelten Epochen eigene Monografien verfasst: über Aristoteles (The Aristotelian Ethics und Aristotle on the Perfect Life), über Thomas von Aquin (Aquinas on Mind und Aquinas on Being), über Descartes (Descartes: A Study of his Philosophy und Descartes: Philosophical Letters) sowie über Frege und Wittgenstein (bei Penguin erschienene Einführungsbücher zu Frege und Wittgenstein und The Legacy of Wittgenstein). Ich hoffe, dass die Mühe, die ich auf das Schreiben dieser Bücher verwendet habe, mir ein Verständnis des philosophischen Stils von vier verschiedenen Epochen der Philosophie gegeben hat. Was ich dadurch gewiss gewonnen habe, ist ein Sinn für die anhaltende Bedeutsamkeit bestimmter philosophischer Probleme und Einsichten.
Ich hoffe außerdem, dass ich meine Philosophiegeschichte auf eine Weise verfassen werde, die die Gesichtspunkte, die ich in dieser Einleitung angeführt habe, berücksichtigt. Ich gebe mich keineswegs der liberalen Illusion hin, dass der gegenwärtige Zustand der Philosophie den höchsten Punkt darstellt, den die philosophischen Bemühungen bislang erreicht haben. Mein Hauptanliegen beim Verfassen dieses Buches besteht im Gegenteil darin zu zeigen, dass die Philosophie der großen Denker der Vergangenheit in vieler Hinsicht nach wie vor aktuell ist und dass das sorgfältige Studium der großen Werke auch für Menschen der Gegenwart noch philosophisch erhellend sein kann. Es ist ein großes Privileg, sie geerbt zu haben.
Der Kern jeder philosophiegeschichtlichen Darstellung ist die Textinterpretation: das genaue Lesen und die Exegese philosophischer Texte. Die Interpretation von Texten kann auf zwei Weisen erfolgen: als interne oder externe Interpretation. Bei der internen Interpretation ist der Exeget bemüht, den Text schlüssig und konsistent zu machen, wobei er in seiner Deutung das principle of charity3 anwendet. Eine externe Interpretation versucht, die Bedeutung eines Textes durch den Vergleich und die Gegenüberstellung mit anderen Texten zu erschließen.
Die Exegese kann der Ausgangspunkt von zwei sehr verschiedenen historischen Bemühungen sein, die ich zu Beginn dieser Einleitung beschrieben habe. Bei der einen von ihnen, die wir als historische Philosophie bezeichnen können, besteht das Ziel darin, die philosophische Wahrheit oder ein philosophisches Verständnis des vom Text behandelten Problems zu gewinnen. Die historische Philosophie sucht normalerweise nach den Gründen oder der Rechtfertigung für die Aussagen, die sich in dem studierten Text finden. Der anderen Bestrebung, der Ideengeschichte, geht es nicht darum, die Wahrheit über das vom Text behandelte Problem zu finden, sondern ein Verständnis einer Person, einer Epoche oder einer historischen Entwicklung zu erlangen. Der Ideengeschichte betreibende Historiker sucht weniger nach den Gründen als nach den Quellen, Ursachen oder Motiven für die Aussagen, die der zu verstehende Text enthält.
Beide Disziplinen fußen auf der Textexegese, doch es ist die Ideengeschichte, bei der es am meisten auf die Genauigkeit und das Einfühlungsvermögen bei der Textlektüre ankommt. Man kann ein guter Philosoph sein, obwohl man ein schlechter Exeget ist. Zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen diskutiert Wittgenstein die Sprachphilosophie des Heiligen Augustinus. Was er dort schreibt, ist exegetisch höchst suspekt, doch dies schwächt nicht die Überzeugungskraft der von ihm gegen die „augustinische“ Theorie der Sprache vorgebrachten Argumente. Allerdings entsprach Wittgensteins Selbstbild nicht wirklich demjenigen eines historisch Philosophierenden, ebenso wenig wie er seine Arbeit als Beitrag zur Ideengeschichte verstand. Der Bezug auf den großen Augustinus als Urheber der falschen Theorie dient lediglich dem Hinweis, dass es sich um einen Irrtum handelt, den es anzugreifen lohnt.
In verschiedenen Geschichten der Philosophie kommen die Fähigkeiten des Historikers und diejenigen des Philosophen in unterschiedlichem Maß zum Einsatz. Das angemessene Verhältnis der beiden variiert je nach dem Zweck der Arbeit und dem Gebiet der Philosophie, um das es sich handelt. Das Bemühen um historisches Verständnis und das Bemühen um philosophische Einsicht sind beides legitime Zugangsweisen zur Philosophiegeschichte, doch beide haben ihre je eigenen Gefahren. Es ist wahrscheinlich, dass Historiker, die die Geschichte philosophischer Systeme studieren, ohne selbst an den philosophischen Problemen, um deren Lösung es den Philosophen der Vergangenheit ging, interessiert zu sein, ihnen dadurch nicht gerecht werden, dass sie über eine oberflächliche Darstellung nicht hinausgelangen. Die Interpretation von Philosophen, die antike und mittelalterliche Texte oder solche der frühen Neuzeit lesen, ohne die historischen Kontexte zu kennen, in denen sie verfasst wurden, wird ihnen wahrscheinlich nicht gerecht werden können, weil sie die jeweilige Epoche der Entstehung nicht gut genug kennen. Autoren der Philosophiegeschichte, die sich auf ihrem Feld sicher bewegen können, ohne einer dieser Gefahren zu erliegen, sind selten.
Jeder dieser Fehler kann den Zweck des Bemühens vereiteln. Der Historiker, der an den philosophischen Problemen, die die Denker der Vergangenheit umtrieben, kein eigenes Interesse hat, hat nicht wirklich verstanden, wie ihr Denken sich entfaltete. Der Philosoph, der den historischen Hintergrund der klassischen Texte der Vergangenheit ignoriert, wird kein neues Licht auf die Probleme werfen können, die uns heute noch beschäftigen, sondern lediglich zeitgenössische Vorurteile in kunstvoller Verkleidung darbieten können.
Die beiden Gefahren bedrohen verschiedene Gebiete der Geschichte der Philosophie in unterschiedlichem Maß. Auf dem Gebiet der Metaphysik muss man am stärksten vor der Gefahr der Oberflächlichkeit auf der Hut sein: Jemanden, der selbst kein Interesse an grundlegenden philosophischen Problemen hat, werden die Systeme der großen Denker der Vergangenheit lediglich wie kurioser Wahnwitz vorkommen. In der politischen Philosophie droht hingegen als große Gefahr die unzeitgemäße Darstellung: Wenn wir die Kritik Platons oder des Aristoteles an der Demokratie lesen, werden wir nicht das Geringste davon verstehen, solange wir nichts über die politischen Institutionen im Athen der Antike wissen. Zwischen der Metaphysik und der politischen Philosophie liegen die Ethik und die Philosophie des Geistes: Hier drohen beide Gefahren in gleichem Umfang.
Ich werde versuchen, in diesen Bänden sowohl ein philosophischer Historiker als auch ein historischer Philosoph zu sein. Philosophiegeschichten aus der Feder mehrerer Autoren sind manchmal chronologisch und manchmal thematisch aufgebaut. Ich werde versuchen, beide Vorgehensweisen zu kombinieren, indem ich in jedem Band zunächst eine chronologische Übersicht biete und dieser dann eine thematische Behandlung bestimmter philosophischer Fragen von bleibender Bedeutsamkeit folgen lasse. Leser mit vorwiegend historischem Interesse werden sich stärker auf die chronologische Übersicht konzentrieren und bei Bedarf die thematischen Abschnitte zur Ergänzung zurate ziehen. Diejenigen Leser, die stärker an den philosophischen Problemen interessiert sind, werden hauptsächlich die thematischen Abschnitte der Bände lesen und die chronologischen Übersichten konsultieren, um ein bestimmtes Problem in seinen historischen Kontext stellen zu können.
Daher biete ich im ersten Teil dieses ersten Bandes einen herkömmlichen chronologischen Durchgang von Pythagoras bis Augustinus und im zweiten Teil eine detailliertere Behandlung von Themen, bei denen ich glaube, dass wir von unseren Vorgängern im klassischen Griechenland und im Rom der Kaiserzeit noch sehr viel zu lernen haben. Die Themen in diesen thematischen Abschnitten wurden zum Teil auch im Hinblick auf ihre Entwicklung in den noch ausstehenden Bänden ausgewählt. Bei den Lesern, die ich vor Augen habe, handelt es sich um Studenten auf dem Niveau des zweiten und dritten Studienjahres. Da mir jedoch klar ist, dass viele Studenten, die sich für die Geschichte der Philosophie interessieren, für andere Fächer eingeschrieben sind, in denen die Philosophie nur eine untergeordnete Rolle spielt, werde ich, soweit es geht, nicht voraussetzen, dass meine Leser mit den philosophischen Methoden und der philosophischen Terminologie der Gegenwart vertraut sind. Ich habe mir außerdem zum Ziel gesetzt, so klar und unterhaltsam zu schreiben, dass die Lektüre dieser Geschichte der Philosophie auch denjenigen Vergnügen bereitet, die sie nicht lesen, weil es ihr Lehrplan nahelegt, sondern die dies zur eigenen Bildung und Unterhaltung tun.
Anmerkung des Übersetzers: Bei der Übersetzung der Zitate wurde nach Möglichkeit eine deutsche Standardübersetzung verwendet oder der Originaltext zurate gezogen.
1 Anm. d. Übers.: „[…] Philosophen sind der Bedeutung der Wirklichkeit nicht näher, als Platon ihr gekommen ist […].“
2 Besonders eindrücklich wird die Größe dieser Aufgabe von Michael Frede in der Einleitung zu seinen Essays in Ancient Philosophy (Oxford: Clarendon Press, 1987) dargestellt.
3 Anm. d. Übers.: Wer dieses Prinzip anwendet, interpretiert die Äußerungen anderer Personen so, dass ihre Überzeugungen größtenteils wahr sind.
Die Geschichte der Philosophie beginnt nicht mit Aristoteles, wohl aber die Philosophiegeschichtsschreibung. Aristoteles war der erste Philosoph, der die Lehren früherer Denker systematisch studiert, aufgezeichnet und kritisiert hat. Im ersten Buch der Metaphysik gibt er eine Zusammenfassung der Lehren seiner Vorgänger: von den fernen geistigen Ahnen Pythagoras und Thales bis zu Platon, der 20 Jahre sein Lehrer war. Bis heute ist er eine der umfassendsten und zuverlässigsten Informationsquellen zu den Anfängen der Philosophie.
Aristoteles klassifiziert die frühesten griechischen Philosophen entsprechend der Struktur seines Systems der vier Ursachen. Wissenschaftliche Untersuchungen, so glaubte er, waren in erster Linie eine Sache der Ursachenforschung, und es gab vier verschiedene Arten von Ursachen: die Stoff-, die Wirk-, die Form- und die Zweckursache. Um ein alltägliches Beispiel dafür zu geben, was er vor Augen hatte: Wenn Alfredo ein Risotto kocht, so besteht die Stoffursache des Risottos in den Zutaten, die er dafür verwendet, die Wirkursache ist der Koch selbst, das Rezept ist die Formursache und die Zufriedenheit der Besucher des Restaurants die Zweckursache. Aristoteles war der Überzeugung, dass ein wissenschaftliches Verständnis des Universums eine Erforschung der Art und Weise der Wirksamkeit dieser Ursachentypen erfordert (Metaph. A 3. 983a24–b117).
Im Zentrum des Interesses der frühen Philosophen an der griechischen Küste von Kleinasien standen die Stoffursachen: Sie suchten nach den Grundbestandteilen der Welt, in der wir leben. Thales und seine Nachfolger warfen folgende Frage auf: Besteht die Welt letztlich aus Wasser oder Luft oder Feuer oder Erde oder aus einer Kombination all dieser Elemente (Metaph. A 3. 983b20–84a16). Selbst wenn wir eine Antwort auf diese Frage haben, so reicht das Aristoteles zufolge offensichtlich nicht aus, um unsere wissenschaftliche Neugier zu befriedigen. Die Zutaten eines Gerichts stellen sich nicht selbst zusammen: Es muss eine Ursache geben, die durch Schneiden, Mischen, Rühren, Erhitzen oder dergleichen auf sie einwirkt. Aristoteles sagt, dass sich einige dieser frühen Philosophen dessen bewusst waren, und dass sie über die Ursachen der Veränderungen und Entwicklungen in der Welt Vermutungen anstellten. Manchmal galt eines der Elemente selbst als Ursache. Feuer war vielleicht der vielversprechendste Kandidat, da es das am wenigsten „starre“ Element ist. Häufiger war es ein anderes Agens oder ein Paar von ihnen, das sowohl abstrakter als auch poetischer war, wie zum Beispiel Liebe oder Sehnsucht oder Streit oder das Gute und das Böse (Metaph. A 3–4. 984b8–31).
Unterdessen gab es in Italien – wiederum nach Aristoteles – um Pythagoras einen Kreis mathematisch interessierter Philosophen, deren Nachforschungen in eine ganz andere Richtung gingen. Ein Rezept nennt nicht nur bestimmte Zutaten, sondern es enthält auch eine ganze Reihe von Zahlenangaben: so viel Gramm von dieser und so viele Milliliter von jener Zutat. Stärker als an den Zutaten waren die Pythagoreer an den Zahlen im Rezept der Welt interessiert. Aristoteles schreibt, sie nahmen an, dass die Elemente der Zahlen die Elemente aller Dinge seien, und dass das Himmelsganze eine Tonleiter sei. Sie wurden in ihrer Suche durch die Entdeckung inspiriert, dass das Verhältnis zwischen den Tönen einer Tonleiter, die man auf einer Leier spielte, den verschiedenen Zahlenverhältnissen zwischen den Saitenlängen entsprach. Später verallgemeinerten sie dann diese Idee, dass qualitative Unterschiede das Ergebnis numerischer Unterschiede seien. Ihre Nachforschungen entsprachen, in aristotelischen Begriffen, einer Untersuchung der Formursachen des Universums (Metaph. A 5. 985b23–986b2).
Wenn er auf seine unmittelbaren Vorgänger zu sprechen kommt, bemerkt Aristoteles, dass es Sokrates vorgezogen habe, sich auf ethische Fragestellungen zu konzentrieren, statt die Welt der Natur zu studieren. Platon habe hingegen in seiner philosophischen Theorie die Vorgehensweisen der Schulen von Thales und Pythagoras kombiniert. Doch Platons Ideenlehre schien Aristoteles, obwohl sie das umfassendste wissenschaftliche System war, das jemals entwickelt wurde, aus Gründen, die er hier zusammenfasst und in einer Reihe von Abhandlungen darlegt, gleich in mehrfacher Hinsicht unzureichend. Es gab so viele Dinge zu erklären, und die Ideen führten lediglich zusätzliche Dinge ein, die nach einer Erklärung verlangten: Sie boten keine Lösung, sondern sie vergrößerten das Problem nur (Metaph. A 5. 990b1 V).
Die meisten Dissertationen, die mit einem Literaturbericht beginnen, versuchen nachzuweisen, dass sämtliche bislang geleistete Arbeit eine Lücke gelassen hat, die durch die neuartigen Forschungen des Autors nunmehr geschlossen wird. Die Metaphysik des Aristoteles bildet hierzu keine Ausnahme. Sein ziemlich deutlich erkennbarer Plan besteht darin zu zeigen, dass die früheren Philosophen das restliche Glied im Quartett der Ursachen vernachlässigt haben: die Endursache, die in seiner eigenen Naturphilosophie eine äußerst wichtige Rolle spielen wird (Metaph. A 5. 988b6–15). Die früheste Philosophie, so lautete seine Schlussfolgerung, hat in den meisten Wissensgebieten viel Gestammel zu bieten, da sie in ihren Anfängen einem lallenden Kind gleicht (Metaph. A 5. 993a15–7).
Ein zeitgenössischer Philosoph, der die überlieferten Fragmente der frühesten griechischen Denker liest, ist nicht zu sehr von den Fragen beeindruckt, die sie stellten, sondern vielmehr von den Methoden, mit denen sie sie beantworten. Schließlich bietet uns auch das Buch Genesis Antworten auf die von Aristoteles eingeführten Fragen nach den vier Ursachen. Fragen wir beispielsweise nach dem Ursprung des ersten Menschen, erhalten wir als Antwort, dass die Wirkursache Gott gewesen sei, die Stoffursache der Staub der Erde, die Formursache das Bild und die Ähnlichkeit Gottes und dass die Zweckursache des Menschen darin bestanden habe, über die Fische im Meer, die Vögel in der Luft und jedes lebende Wesen auf der Erde zu herrschen. Das Buch Genesis ist jedoch kein Werk der Philosophie.
Andererseits ist Pythagoras nicht dafür bekannt, dass er irgendeine der vier aristotelischen Fragen beantwortet hat, sondern für den Beweis des Lehrsatzes, dass das Quadrat der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks dieselbe Fläche wie die Summe der Quadrate über den beiden anderen Seiten des Dreiecks hat. Von Thales glaubten die späteren Griechen, er habe im Jahre 585 v. Chr. als erster eine Sonnenfinsternis exakt vorausgesagt. Dies sind zweifellos Leistungen auf den Gebieten der Geometrie und Astronomie, jedoch nicht der Philosophie.
Tatsächlich ist der Unterschied zwischen Religion, Wissenschaft und Philosophie noch nicht so deutlich, wie er in späteren Jahrhunderten geworden ist. Die Werke des Aristoteles und seines Meisters Platon bieten für jedes Zeitalter ein Musterbeispiel der Philosophie, und bis heute beansprucht jeder, der den Titel „Philosoph“ benutzt, einer ihrer Erben zu sein. Autoren der philosophischen Fachzeitschriften des 21. Jahrhunderts verwenden die gleichen Techniken der Begriffsanalyse und sie wiederholen oder widerlegen häufig dieselben theoretischen Argumente, die in den Schriften von Platon und Aristoteles zu finden sind. Diese Schriften enthalten jedoch manches andere, das man heute nicht mehr als philosophische Diskussion bezeichnen würde. Ab dem sechsten Jahrhundert v. Chr. gärten Elemente der Religion, der Wissenschaft und Philosophie gemeinsam in einem einzigen kulturellen Kessel. Aus der Distanz unserer Gegenwart können Philosophen, Wissenschaftler und Theologen auf diese frühen Denker zurückblicken und sie als ihre intellektuellen Vorfahren betrachten.
Von Thales von Milet (ca. 625–545 v. Chr.), der traditionellerweise als Gründer der griechischen Philosophie gilt, sind nur zwei Aussprüche überliefert. Sie veranschaulichen die Mischung aus Wissenschaft und Religion, denn der eine von ihnen lautet: „Alles ist voll von Göttern.“ Der andere Ausspruch lautet: „Wasser ist das Urprinzip von allem.“ Thales war ein Geometer, der erste, der eine Methode entdeckte, ein rechtwinkliges Dreieck in einen Kreis einzubeschreiben. Er feierte diese Entdeckung, indem er den Göttern einen Ochsen opferte (D.L. 1. 24f.). Er bestimmte die Höhe der Pyramiden, indem er ihren Schatten zu der Tageszeit maß, zu der die Länge seines eigenen Schattens seiner Körpergröße entsprach. Er setzte sein geometrisches Wissen auch zu praktischem Nutzen ein: Nachdem er bewiesen hatte, dass Dreiecke mit zwei gleichen Seiten und zwei gleichen Winkeln kongruent sind, verwendete er dieses Ergebnis, um die Entfernung von Schiffen zu berechnen.
Thales stand auch in dem Ruf, ein Astronom und ein Meteorologe zu sein. Zusätzlich zur Voraussage der Sonnenfinsternis soll er als erster bewiesen haben, dass das Jahr 365 Tage hat, und bestimmte angeblich erstmals die genauen Daten der Sommer- und der Wintersonnenwende. Er schätzte die Größe der Sonne und des Mondes und studierte ihre Konstellationen. Seine Fähigkeiten in der Wettervorhersage setzte er höchst gewinnbringend ein: Als er eine ungewöhnlich gute Olivenernte voraussah, mietete er sämtliche Ölmühlen an und verdiente durch dieses Monopol ein Vermögen. Auf diese Weise bewies er nach Aristoteles (Pol. 1.11. 1259a6–18), dass Philosophen sehr leicht reich werden könnten, wenn sie es nur wollten.
Wenn nur die Hälfte der über Thales in der Antike kursierenden Geschichten wahr ist, war er ein sehr vielseitiger Mann. Doch das Bild, das die Tradition von ihm zeichnet, ist zwiespältig. Auf der einen Seite erscheint er als philosophischer Unternehmer und als politischer und militärischer Experte. Andererseits waren sein Mangel an lebenspraktischer Tauglichkeit und seine Weltfremdheit sprichwörtlich. Neben anderen Autoren erzählt Platon folgende Geschichte:
„Als er einmal, um die Sterne zu betrachten, nach oben schaute und dabei in einen Brunnen fiel, soll ihn eine schlagfertige und witzige thrakische Magd mit den Worten verspottet haben, dass er zwar darauf aus sei zu wissen, was am Himmel vor sich gehe, ihm aber verborgen bleibe, was in seiner Nähe und vor seinen Füßen liege.“ (Theaitetos 174a)1
Man erzählte sich auch die unwahrscheinliche Geschichte, dass er durch einen solchen Sturz bei der Himmelsbeobachtung zu Tode gekommen sei.
Thales wurde, zusammen mit Solon, dem großen Gesetzgeber Athens, zu den Sieben Weisen Griechenlands gezählt. Man schreibt ihm auch eine Reihe von Aphorismen zu. Er sagte, dass es für einen Mann vor einem bestimmten Alter zu früh sei zu heiraten, und danach zu spät. Als man ihn fragte, warum er keine Kinder habe, sagte er: „Weil ich Kinder sehr gern habe.“
Diese Bemerkungen des Thales sind Vorboten vieler Jahrhunderte philosophischer Geringschätzung der Ehe. Jeder, der eine Liste von 12 wirklich bedeutenden Philosophen zusammenstellt, wird wahrscheinlich feststellen, dass sie fast ausschließlich aus Junggesellen besteht. Eine solche Liste könnte zum Beispiel Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Duns Scotus, Descartes, Locke, Spinoza, Hume, Kant, Hegel und Wittgenstein enthalten, von denen keiner verheiratet war. Aristoteles ist die große Ausnahme, die die Regel widerlegt, dass Philosophie mit der Ehe nicht vereinbar ist.
Selbst in der Antike konnten die Menschen nur schwer verstehen, warum Thales als letztes Erklärungsprinzip das Wasser angenommen hatte. Die Erde, so sagte er, schwimme auf dem Wasser wie ein Baumstamm auf einem Fluss. Doch worauf ruht dann, fragte Aristoteles, das Wasser? (Cael. 2. 13. 294a28–34) Er ging sogar noch weiter und behauptete, dass alles aus dem Wasser stamme und auf irgendeine Weise aus Wasser bestehe. Auch seine Gründe für diese Behauptung sind unklar, und Aristoteles konnte nur vermuten, dass Thales zu dieser Auffassung gekommen sei, weil alle Tiere und Pflanzen zum Leben Wasser benötigen oder weil die Samenflüssigkeit feucht ist (Metaph. A 3. 983b17–27).
Die Kosmologie von Thales’ jüngerem Landsmann, Anaximander von Milet (gest. ca. 547 v. Chr.) ist weniger schwer zu verstehen. Wir wissen deutlich mehr über seine Ansichten, da er ein Buch mit dem Titel Über die Natur