Lebenswelten deutscher Muslime

Religionsmonitor

verstehen was verbindet

Dirk Halm, Martina Sauer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© E-Book-Ausgabe 2015

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Muslime in Deutschland

2. Muslimische Religiosität und Sozialintegration

3. Muslimische Religiosität in Deutschland und der Türkei

4. Fazit

5. Empfehlungen

Abstract

Literatur

Die Autoren

Vorwort

Religiöse Vielfalt ist Teil unserer heutigen Lebenswirklichkeit. Christen, Muslime, Juden, Buddhisten, Hinduisten, aber auch Anhänger kleinerer Religionsgemeinschaften leben in Deutschland zusammen. Hinzu kommen Menschen, die sich keiner dieser Konfessionen zugehörig fühlen oder atheistisch sind. Es ist eine der zentralen Herausforderungen der modernen Gesellschaft, ein friedliches Miteinander der Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen zu ermöglichen.

Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage, was Menschen verbindet und was ihnen Halt und Orientierung gibt. Bei meinen Reisen und Begegnungen mit Menschen ganz unterschiedlicher Kulturen, Religionen und persönlicher Lebensgeschichten beeindruckt mich immer wieder die Vielfältigkeit menschlichen Lebens. Diese Vielfalt ist ein Reichtum und ein Wert, den wir nicht leichtfertig verspielen dürfen.

Ich habe dabei auch gelernt, dass uns der Dialog einander näher bringt. Dialog und Verständigung sind auch über scheinbar trennende Unterschiede hinweg möglich. Wesentliche Voraussetzungen dafür sind eine grundsätzliche Offenheit und Toleranz anderen gegenüber. Gleichzeitig bedarf es geteilter Grundwerte wie Freiheit, Gerechtigkeit für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und einer tiefen Menschlichkeit als Grundlage für ein gelingendes Miteinander in der gesellschaftlichen Vielfalt.

Muslime sind als größte religiöse Minderheit Teil Deutschlands geworden. In den meisten Gesellschaften stellt das Zusammenleben von kulturellen, religiösen oder ethnischen Gruppen eine Bereicherung, aber häufig auch eine Herausforderung dar. Wenn ein dauerhaftes Zusammenleben gelingen soll, müssen wir aufeinander zugehen und uns bemühen, die unterschiedlichen Lebensweisen der Menschen besser zu verstehen.

Der Religionsmonitor zeigt mit der vorliegenden Studie, dass Muslime über eine große Glaubensvielfalt verfügen. Gemeinsam ist ihnen mit Angehörigen vieler anderer Religionen, dass sie Kraft aus ihrem religiösen Glauben schöpfen. Zudem sehen wir, dass Religion über konfessionelle Grenzen hinweg Brücken zwischen Menschen schlagen kann. Religion kann daher auch eine entscheidende Rolle spielen auf dem Weg zu einem guten und friedvollen Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägung.

Mit dem Religionsmonitor stellt die Bertelsmann Stiftung ein Instrument zur Verfügung, das dabei helfen soll, die Wechselwirkungen von Religion und Gesellschaft genauer zu beleuchten. Er ist ein internationales Projekt, an dessen Entwicklung Wissenschaftler ganz unterschiedlicher Disziplinen mitwirken. Die international und interreligiös einheitliche Anwendung des Fragebogens ermöglicht die Vergleichbarkeit der Ergebnisse.

Am Religionsmonitor 2013 haben insgesamt 14.000 Menschen aus 13 Ländern teilgenommen. Jeder dieser Menschen hat sich ganz persönlich zu seinen Überzeugungen, Einstellungen und Verhaltensweisen geäußert. Die Befragten stehen aber auch repräsentativ für Millionen von Menschen rund um den Globus. Wir sehen: Religion ist und bleibt eine bedeutsame soziale Wirkkraft. Wenn wir auch zukünftig in Vielfalt und Freiheit miteinander leben wollen, dann müssen wir Religion und die Beziehungen zwischen Religionen in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung besser verstehen. Der Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung soll uns dabei unterstützen.

Liz Mohn

Stellvertretende Vorsitzende des Vorstands der Bertelsmann Stiftung

Einleitung

Muslime sind die größte religiöse Minderheit in Deutschland. Sie leben und arbeiten seit Jahrzehnten hier. Viele Muslime sind in Deutschland geboren und aufgewachsen; sie sind mittlerweile hier heimisch geworden. Dennoch steht immer wieder die Frage im Raum, ob der Islam zu Deutschland gehört oder nicht.

Seit dem jüngsten Aufflammen religiöser Konflikte in vielen Ländern des Nahen Ostens und dem Auftauchen der islamistischen Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) geraten auch Muslime in Deutschland wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Tatsache, dass sich junge in Deutschland aufgewachsene und sozialisierte Muslime einer solchen Terrormiliz anschließen, wirft erneut Fragen über die Hintergründe des sogenannten »Homegrown Terrorism« auf. Bereits nach den Terroranschlägen vom 11. September und darauf folgenden Attentaten in Madrid und London bestimmte die Suche nach den Gründen für eine solche bis dahin nicht vorstellbare Radikalisierung die öffentliche Debatte über den Islam und die Muslime. Die Themen »Islamismus« und »religiöse Radikalisierung« beherrschen auch heute wieder die öffentlichen Diskussionen zu Muslimen in Deutschland.

Nur allzu leicht wurde und wird dabei allerdings vergessen, dass gerade mal 1 % der Muslime dem Islamismus zuzurechnen sind, wie der Verfassungsschutz mitteilt, und davon wiederum nur ein Bruchteil als potenziell gefährlich eingestuft wird. Jedoch verdeckt die Fokussierung auf diese Problematik die Tatsache, dass die große Mehrheit der rund vier Millionen Muslime ein ganz normales Leben in Deutschland führt. Dennoch müssen Muslime immer wieder unter Beweis stellen, dass der Islam keinen Widerspruch zur modernen Gesellschaft darstellt und dass sie Teil Deutschlands sind.

Daran wird deutlich, dass wir viel zu wenig über den Islam und seine Facetten in Deutschland wissen. Wie sieht das Leben der Muslime in Deutschland aus? Welche Sicht haben sie auf ihre Religion und die Welt? Die Unterscheidung zwischen Islam, Islamismus und islamistischem Terrorismus fällt deshalb oft schwer. Die große Binnenvielfalt der Muslime in Deutschland und ihre bisherigen Integrationsleistungen werden kaum zur Kenntnis genommen. Meist kreisen Diskussionen über Muslime um Sicherheitsthemen und Risiken, die sie für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellen könnten.

Mit dieser Sonderauswertung des Religionsmonitors möchten wir die Lebenswelten deutscher Muslime in den Blick nehmen und einen Beitrag leisten, ihre religiösen Ausdrucksformen besser zu verstehen. Ziel ist es, mit den Ergebnissen der Studie die oft sehr emotional geführten Debatten um die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland auf eine empirische Basis zu stellen und zu versachlichen.

Wir danken den Autoren Dirk Halm und Martina Sauer für die differenzierten Einblicke und neuen Perspektiven auf das Thema, die sie mit dieser Studie eröffnen. Zudem danken wir Marwan Abou-Taam, Jürgen Friedrichs, Gabriel Goltz, Lamya Kaddor, Anna Körs, Gert Pickel, Melanie Reddig, Riem Spielhaus sowie Anja Stichs für die hilfreichen Kommentare und die fruchtbare Diskussion.

Die Bertelsmann Stiftung befasst sich in verschiedenen Projekten mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Neben dem Religionsmonitor zeigt auch das »Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt«, dass die Akzeptanz von Vielfalt und von Menschen verschiedener Herkunft und Religion den Zusammenhalt stärkt. Die Bertelsmann Stiftung untersucht mit dem Religionsmonitor, unter welchen Bedingungen das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen gelingt und wo Handlungsbedarfe bestehen. Im Rahmen des Religionsmonitors 2013 wurden Menschen in 13 Ländern zu Religion und verwandten Themen repräsentativ befragt. Damit wurde die ländervergleichend angelegte Studie bereits zum zweiten Mal durchgeführt. In Deutschland wurden zusätzlich Muslime befragt, um über die Durchschnittsbevölkerung hinaus auch Informationen über die größte religiöse Minderheit zu erlangen.

Die Autoren bieten mit ihren Ergebnissen tiefe Einblicke in die Lebenswelten deutscher Muslime. Dabei gehen sie auch der Frage nach, welche positiven Eigenschaften Religion und Religiosität für Muslime und den gesellschaftlichen Zusammenhalt beinhalten können. Zunächst gehen die Autoren auf die Religiosität sowie Glaubensvielfalt der deutschen Muslime ein. Anschließend widmen sie sich der wichtigen Frage, welche Rolle Religion für die gesellschaftliche Integration und den sozialen Zusammenhalt spielt. Sie nehmen verschiedene Themen wie Erwerbsbeteiligung, Lebenszufriedenheit, soziale Beziehungen und Vertrauen in den Blick. Besonders intensiv widmen sich die Autoren dem Thema der Werthaltungen und prüfen das Zusammenspiel von Religiosität und Grundwerten, Säkularisierung und weiteren Haltungen zu Themen wie Erfolg, Reichtum oder Hilfsbereitschaft. Der Vergleich der Ergebnisse mit Daten aus der Türkei – dem Hauptherkunftsland der deutschen Muslime – erlaubt es zudem, Entwicklungen zu erkennen, die aus der Minderheitensituation der Muslime resultieren. Die Autoren schließen ihre Analysen mit einer Zusammenfassung der Kernergebnisse sowie wichtigen Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft.

Die Ergebnisse zeigen, dass muslimischer Glaube und Frömmigkeit in Deutschland nicht wie bei Christen mit den Generationen an Bedeutung verlieren, sondern im Gegenteil sogar unter jüngeren Muslimen stärker ausgeprägt sind. Anders als oft angenommen begünstigt muslimische Religiosität jedoch keine Parallelgesellschaften und steht auch nicht im Widerspruch zu universellen Grundwerten. Dennoch müssen wir uns fragen, warum Religion für deutsche Muslime eine so wichtige Rolle spielt und sogar an Bedeutung gewinnt. Einen Hinweis darauf liefern Erkenntnisse zu Glaubensunterschieden bei Muslimen in der Türkei und in Deutschland. Letztere reflektieren ihre religiösen Überzeugungen deutlich häufiger. Die Glaubensreflexion ist jedoch weniger als kritische Auseinandersetzung mit Glaubensregeln zu verstehen, sondern eher als ein Rechtfertigungsdruck, der aus der Minderheitensituation resultiert. Gekoppelt an das negative Bild des Islams in Deutschland müssen sich Muslime häufig für ihre Zugehörigkeit zum Islam rechtfertigen und verbreitete Vorurteile korrigieren. Dies erschwert es erheblich, eine positive muslimische Identität zu entwickeln. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass damit Identitäts- und Orientierungskonflikte bei Muslimen einhergehen können. Schlimmstenfalls könnte dies dazu führen, dass es sozial schlecht eingebundenen jungen Muslimen nur dann gelingt, eine positive Identität als Muslim zu entwickeln, wenn sie sich explizit von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen. Vielleicht ist auch hier eine Antwort darauf zu finden, warum sich einige junge Muslime salafistischen Ideologien zuwenden.

Die Ergebnisse zeigen aber vor allem positive Entwicklungen. Die Mehrheit der Muslime steht Nichtmuslimen und der deutschen Gesellschaft insgesamt offen gegenüber. Religion ist für sie eine wichtige Ressource, aus der sie Kraft schöpfen. Zudem fördert die Zugehörigkeit zum Islam nicht nur das Vertrauen in Angehörige der eigenen, sondern auch in Angehörige anderer Religionen. Somit bildet Religion ein wichtiges Bindeglied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland. Hierin liegt viel Potenzial für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für viele fromme Muslime in Deutschland sind religiöser Glaube und liberale Werte durchaus miteinander vereinbar. Das Leben in Deutschland führt zwar nicht zum Schwinden ihrer religiösen Identität; allerdings prägt es dennoch ihre Wertvorstellungen und ethisch-moralischen Sichtweisen. Damit ist der häufig geforderte »Euro-Islam« bereits auf dem Weg.

Stephan Vopel

Director

Programm Lebendige Werte

Yasemin El-Menouar

Project Manager

Projekt Religionsmonitor

1. Muslime in Deutschland

Rund vier Millionen Muslime leben seit vielen Jahrzehnten in Deutschland und sind zum Teil bereits hier geboren und aufgewachsen. Sie bilden damit die größte religiöse Minderheit hierzulande. Die Zahl der Moscheegemeinden ist mittlerweile auf rund 2.350 angewachsen. Nunmehr ist auch für die viel zitierte Mehrheitsgesellschaft nicht mehr zu übersehen, dass der Islam aus seinem Nischendasein hervorgetreten ist und als Teil der pluralen Gesellschaft in Deutschland Sichtbarkeit erlangt: Aus kleinen Hinterhofmoscheen sind vielerorts repräsentative Gotteshäuser geworden, die Moscheegemeinden haben sich zu Dachverbänden zusammengeschlossen. Zahlreiche Initiativen zum interreligiösen Dialog belegen das Bemühen, trotz religiöser Unterschiede Verständigung zu vertiefen und Respekt zu entwickeln.

Auch die Politik hat erkannt, dass Muslime Teil der deutschen Gesellschaft sind. 2006 wurde die Deutsche Islamkonferenz ins Leben gerufen. Sie soll einen langfristigen Dialog für ein besseres Miteinander in Gang setzen und dabei Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts aushandeln. Das ursprüngliche Ziel war auch, den Islam besser institutionell zu verankern.