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Homer

„Ilias“ und „Odyssee“

Die Zeichnungen
von John Flaxman

Mit einer kunsthistorischen
Einleitung von Anja Grebe

 

 

 

 

 

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Impressum

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-650-72961-3
eBook (epub): 978-3-650-72962-0

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Inhalt

Anja Grebe:
 „Verstand, Geist und klassischer Schönheitssinn“ – John Flaxmans Illustrationen zu Homer

Die Illustrationen zur „Ilias“

Die Illustrationen zur „Odyssee“

Verzeichnis der Illustrationen zur „Ilias“

Verzeichnis der Illustrationen zur „Odyssee“

Editorische Notiz

„Verstand, Geist und klassischer Schönheitssinn“ – John Flaxmans Illustrationen zu Homer

Anja Grebe

Ein junger englischer Bildhauer in Rom, eine enthusiastische Mäzenin, zwei Meisterwerke der antiken Literatur, ein besonderes Zeichentalent – dies waren 1792 die Voraussetzungen für das Entstehen von zwei der schönsten Werke der Geschichte der Buchillustration. Der junge Bildhauer war der Engländer John Flaxman (1755–1826), zugleich ein begnadeter Zeichner, bei dem Georgina Hare-Naylor, Tochter des anglikanischen Bischofs von St. Asaph (Wales), zwei Zyklen mit Illustrationen zur „Ilias“ und „Odyssee“ des griechischen Dichters Homer (wohl Mitte 7. Jh. v. Chr.) in Auftrag gegeben hatte. Die Zeichnungen wurden anschließend von Tommaso Piroli, einem in Rom tätigen Reproduktionsstecher, in Kupferstiche umgesetzt. Die Erstausgaben erschienen 1793 in Rom, erlangten schnell Berühmtheit und wurden in zahlreichen Neuauflagen in vielen europäischen Ländern während des ganzen 19. Jahrhunderts nachgedruckt.

John Flaxman hatte die 34 Bilder zur „Ilias“ und 28 zur „Odyssee“ in der für ihn typischen Technik der Umrisszeichnung geschaffen. Bei dieser Technik liegt der Akzent auf den Konturen von Figuren und Ausstattungselementen, während die Binnenzeichnung fast völlig fehlt oder stark stilisiert ist. Trotz der extremen Reduzierung der Mittel wirken die Bilder keinesfalls ausdrucksleer – im Gegenteil. Gerade in ihrer scheinbaren Einfachheit und Leichtigkeit entfalten die Darstellungen eine große Intensität, mit der Flaxman Homers Text kongenial ins Bild übersetzte.

Die überwiegend frieshaft angeordneten Kompositionen erinnern in ihrem klassizistischen Stil an antike Vasenmalereien oder Reliefs, wie sie der Bildhauer während seiner Jahre in Rom ausführlich studieren konnte. Auch für einzelne Götter-, Helden- und Menschendarstellungen inspirierte sich John Flaxman an Vorbildern der Kunst der Antike und Renaissance. Mit ihrer Verbindung von Schlichtheit und Ausdrucksstärke begeisterten die Illustrationen bereits die Zeitgenossen und lösten eine wahre Mode der Umrisszeichnungen aus. Zu den vielen Bewunderern gehörte der deutsche Romantiker August Wilhelm Schlegel (1767–1845), der 1799 in einem längeren Essay lobte, Flaxmans Zeichnungen seien „mit so viel Verstand, Geist, und klassischem Schönheitssinne ausgeführt, daß man ihn in seiner Gattung Erfinder nennen, und wünschen muß, er möge bald glückliche und selbständige Nachfolger darin finden“. (A. W. Schlegel, Über Zeichnungen zu Gedichten und John Flaxmans Umrisse, in: Athenäum, Bd. 2,1, 1799, S. 203)

Der Künstler John Flaxman

John Flaxman war das, was man ein Wunderkind nennt: Bereits mit 12 Jahren stellte der Sohn eines Gipsgießers in der Londoner Free Society of Artists sein erstes Werk, die Gipsfiguren „Herkules“ und „Omphale“, aus. Das Handwerk des Gipsformens hatte er bei seinem Vater gelernt, der in London eine renommierte Gipsgießerei betrieb. Das Schicksal hatte es zunächst keineswegs gut mit Flaxman gemeint. Schon als Kind litt er an einer Rückgratverkrümmung, die ihn in seiner Bewegung stark einschränkte. Vielleicht verschrieb er sich deswegen schon früh der Kunst, vor allem dem Zeichnen und Modellieren. Mit 14 Jahren wurde Flaxman als einer der jüngsten Schüler zum Kunststudium an der neugegründeten Royal Academy School in London zugelassen, wo er in den folgenden Jahren Unterricht in Malerei, Architektur, Perspektivlehre und Anatomie erhielt. Allein das Aktstudium blieb ihm aufgrund seines jugendlichen Alters zunächst verwehrt. Allerdings wurde sein Spezialgebiet, die Bildhauerei, zu dieser Zeit noch nicht als Studienfach angeboten. Erst 1810 wurde eine Professur für Skulptur eingerichtet und Flaxman selbst zum ersten Professor ernannt. (Abb. 1)

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Abb. 1: William Camden Edwards: Porträt von John Flaxman (nach John Jackson), 1830 (London, British Museum). © Trustees of the British Museum

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Abb. 2: Attischer Kalyx-Krater mit rotfiguriger Vasenmalerei „Apotheose des Homer“ aus der Sammlung Sir William Hamiltons, um 450–440 v. Chr. (London, British Museum). © Trustees of the British Museum

Als akademischer Bildhauer war Flaxman also Autodidakt. Auch seine Kenntnisse in klassischer Literatur und Bildung eignete sich der Handwerkersohn erst durch intensives Selbststudium an. Er hatte jedoch frühe Förderer, oft Kunden seines Vaters oder Mitglieder der Akademie, die sein Talent erkannten und ihn mit Aufträgen oder der Vermittlung von Kontakten unterstützten. Entscheidend für Flaxmans Karriere war vor allem die Begegnung mit dem Unternehmer Josiah Wedgwood (1730–1795), Gründer der berühmten englischen Porzellan- bzw. Steingutfabrik. Als Kunde von Flaxman senior wurde Wedgwood auf dessen talentierten Sohn aufmerksam. John Flaxmans klare Formgebung entsprach genau dem modernen neoklassizistischen Stil der Wedgwood-Erzeugnisse. Zwischen 1775 und 1787 schuf der junge Bildhauer zahlreiche Entwürfe für Vasen-, Kamin- und Wanddekore. Sie wurden in der Manufaktur in Staffordshire in die typische, von Wedgwood erfundene Jasperware, eine an antike Vasenmalerei erinnernde Technik mit hellen Figurenmotiven auf einem matten farbigen Grund, umgesetzt.

Zu Flaxmans erfolgreichsten Entwürfen für Wedgwood gehörte 1778 die „Apotheose Homers“. Ursprünglich als querformatige Plakette für eine neoklassizistische Kaminumrandung geschaffen, fand das Motiv ab 1786 auch als Dekor von Vasen und Reliefmedaillons Verwendung. Dargestellt ist der Sänger und Dichter Homer, der von geflügelten Himmelswesen die Stufen zur Unsterblichkeit emporgeleitet wird, während sein Konkurrent Hesiod besiegt daneben sitzt. Das Motiv geht auf den bereits in der Antike thematisierten Dichterwettstreit zwischen Homer und Hesiod zurück. Unmittelbare Vorlage für Flaxman war eine attische Vase aus der Sammlung des britischen Diplomaten Sir William Hamilton (1730–1803), die durch eine Stichreproduktion bekannt war. (Abb. 2)

Neben den Entwürfen für Wedgwood fertigte Flaxman auch größere Bildhauerarbeiten, vor allem Porträtbüsten und -reliefs, Gartenskulpturen, öffentliche und private Denkmäler und Grabmonumente. Rund ein Dutzend solcher Monumente schuf Flaxman in den 1780er Jahren, darunter als bekanntestes das Grabmal für Sarah Morley, der jung verstorbenen Gattin eines englischen Kolonialbeamten, in der Kathedrale von Gloucester. Aus spätbarocken, neoklassizistischen und gotischen Elementen gestaltete Flaxman eine ergreifende Szene, die den Nerv der empfindsamen Stimmung seiner Zeit traf: „inexpressibly touching“ („unaussprechlich herzzerreißend“), urteilte sein späterer Biograph Allan Cunningham über den Eindruck, den das Werk beim Betrachter hinterließ: „es wirkt erhebend auf den Geist und rührt zugleich zu Tränen.“

Im Herbst 1787 brach John Flaxman zusammen mit seiner Frau Nancy, die er 1782 geheiratet hatte, zu der für seine künstlerische Entwicklung so wichtigen Reise nach Italien auf, die bis 1794 währte. Flaxman nutzte die Zeit in Rom für ausgedehnte Studien nach antiken Skulpturen sowie nach Gemälden und Fresken der römischen Hochrenaissance, vor allem Raffael und Michelangelo. Daneben zeichnete er das römische Straßenleben in raschen, umrisshaften Skizzen. Die Personen sind in der Regel ohne oder nur mit einem angedeuteten Hintergrund wiedergegeben, was ihnen trotz der linearen Abstraktion eine statuenhafte Präsenz verleiht. Indem die Szenen und Figuren auf diese Weise ihrem eigentlichen Kontext enthoben sind, erhalten sie eine überzeitliche Wirkung in der Art antiker Skulpturen.