Ripley Under Water

Den Toten und Sterbenden der Intifada und des kurdischen Volkes und jenen Menschen, die in allen Ländern der Welt gegen Unterdrückung kämpfen und nicht nur dagegen aufstehen, sondern auch dafür erschossen werden.

Tom stand in Georges’ und Maries bar-tabac mit einer fast vollen Espressotasse in der Hand. Er hatte schon gezahlt; die beiden Schachteln Marlboro für Héloïse beulten seine Jackettasche. Er beobachtete einen Mann vor einem Videospiel.

Auf dem Bildschirm raste ein Motorradfahrer, eine Figur wie aus dem Comic, geradeaus in den Hintergrund davon. Die Illusion der Geschwindigkeit entstand durch den Lattenzaun beiderseits der Straße, der nach vorne entschwand. Der Spieler bediente einen halbrunden Steuerknüppel und ließ den Fahrer ausscheren, um ein langsameres Auto zu überholen oder wie zu Pferd über einen Zaun zu springen, der plötzlich die Straße blockierte. Wenn Fahrer oder Spieler die Hürde zu spät nahmen, prallte das Motorrad lautlos dagegen, und ein schwarzgoldener Stern zeigte den Unfall an: Ende des Spiels, Ende des Fahrers. Tom hatte bei dem Spiel schon oft zugeschaut (es war beliebter als jeder andere Automat, den Georges und Marie je aufgestellt hatten), aber nie selber gespielt. Aus irgendeinem Grund wollte er das nicht.

»Non – non!« Marie hinter der Theke übertönte den üblichen Lärm; sie widersprach einem Gast, der sich wahrscheinlich politisch geäußert hatte. Ihr Mann und sie waren eingefleischte Linke. »Ecoutez, Mitterand …«

»Eh, Marie! Deux pastis!« Das war der dicke Georges, eine schmuddelige Schürze über Hemd und Hose, der an den wenigen Tischen bediente, wo die Gäste sitzen konnten, um etwas zu trinken und Chips oder hartgekochte Eier zu essen.

Die Musikbox spielte einen alten Cha-Cha-Cha.

Ein lautloser, schwarzgoldener Stern! Die Umstehenden seufzten mitfühlend. Tot, aus, Ende – alles vorbei. Beharrlich flackerte die stumme Aufforderung über den Bildschirm: GELD EINWERFEN GELD EINWERFEN GELD EINWERFEN, und gehorsam fischte der Arbeiter in der Hose seiner Bluejeans nach Münzen, warf Geld nach, und das Spiel begann von neuem: Der Motorradfahrer raste los, heil und wie neu, gegen alles gewappnet, wich elegant einem Faß auf der Fahrbahn aus und übersprang mühelos die erste Barriere. Der Mann am Steuer war hoch konzentriert, versessen darauf, seinen Mann ins Ziel zu bringen.

Tom dachte an Héloïse, an ihre Reise nach Marokko. Tanger wollte sie sehen, Casablanca, vielleicht auch Marrakesch. Und er hatte gesagt, er werde mitkommen. Schließlich war das nicht eine ihrer Abenteuerkreuzfahrten, die vor dem Auslaufen diverse Impfungen in Krankenhäusern erforderten, und es gehörte sich, daß er als ihr Gatte sie bei manchen ihrer Spritztouren begleitete. Héloïse hatte zwei oder drei dieser spontanen Eingebungen pro Jahr, die sie aber nicht immer in die Tat umsetzte. Tom war gerade nicht in Urlaubsstimmung: Es war Anfang August, der heißeste Monat in Marokko – zu dieser Zeit des Jahres gefielen ihm seine Rosen und Dahlien besonders gut, und er schnitt fast täglich

Dann dachte er an dieses Paar, die »Seltsamen Zwei«, wie Tom sie inzwischen im stillen getauft hatte. Er wußte nicht, ob sie verheiratet waren, doch das war ja nicht wichtig. Er spürte, daß sie hier in der Gegend auf der Lauer lagen und ihn nicht aus den Augen ließen. Vielleicht waren sie harmlos, aber man konnte nie wissen. Tom waren die beiden erstmals vor rund vier Wochen aufgefallen, als Héloïse und er in Fontainebleau einkaufen gingen: ein Mann und eine Frau, Mitte Dreißig, dem Aussehen nach Amerikaner. Sie waren auf ihn zugekommen und hatten ihn mit diesem Blick gemustert, den er gut kannte – als wüßten sie, wer er sei, und kannten womöglich auch seinen Namen, Tom Ripley. Den gleichen Blick hatte er ein paarmal auf Flughäfen gespürt, wenn auch selten und zuletzt gar nicht mehr. Vermutlich passierte so etwas öfter, wenn eine Zeitung das Foto von jemandem brachte; aber seit Jahren war in den Blättern kein Bild von ihm mehr erschienen, da war Tom sicher. Nicht seit der Sache mit Murchison, und die lag rund fünf Jahre zurück: Der Blutfleck – Murchisons Blut – war im Keller nach wie vor zu sehen, und wenn er irgendwem auffiel, sagte Tom, es sei Rotwein.

Tatsächlich war es eine Mischung aus Wein und Blut, erinnerte sich Ripley, denn Murchison war von einer Weinflasche am Kopf getroffen worden – von einer Flasche Margaux, und er selber hatte zugeschlagen.

Der Mann von den beiden hatte dunkles, glattes Haar und trug eine Nickelbrille mit runden Gläsern; die Frau hatte hellbraunes Haar, ein schmales Gesicht und graue oder graubraune Augen. Es war der Mann gewesen, der Tom angestarrt und dazu vage, nichtssagend gelächelt hatte. Tom meinte, ihn schon einmal gesehen zu haben – ein Flughafen, Heathrow oder Roissy, und dieser Ich-kenne-dich-Blick: Nicht direkt feindselig, aber unangenehm.

Und dann hatte Tom die beiden einmal gesehen, als sie langsam in ihrem Wagen mittags die Hauptstraße von Villeperce entlangrollten und er mit einer flûte aus der Bäckerei kam (es mußte wohl Madame Annettes freier Tag gewesen sein, oder sie hatte mit dem Mittagessen zu tun gehabt). Und wieder war ihm aufgefallen, daß sie ihn musterten. Villeperce war ein kleines Nest mehrere Kilometer außerhalb von Fontainebleau – was hatten die Seltsamen Zwei ausgerechnet hier verloren?

Marie mit ihrem breiten, roten Lächeln und Georges mit seiner beginnenden Glatze standen beide hinter der Theke, als Tom ihnen Tasse und Untertasse hinüberschob. »Merci et bonne nuit, Marie – Georges!« Er lächelte.

»Bonsoir, M’sieur Ripley!« rief Georges und winkte mit der freien Hand, während er mit der anderen Calvados einschenkte.

»Merci, M’sieur – à bientôt!« warf Marie hinterher.

Tom war fast an der Tür, als der Mann mit der Nickelbrille eintrat. Er war offenbar allein.

»Bonsoir«, erwiderte Tom und ging weiter.

»Wir, das heißt, meine Frau und ich, würden Sie gern auf einen Drink einladen.«

»Danke, aber ich gehe gerade.«

»Ein andermal vielleicht. Wir haben ein Haus in Villeperce gemietet. Dort drüben.« Er wies vage in Richtung Norden, lächelte breiter und zeigte kleine, ebenmäßige Zähne. »Sieht aus, als würden wir Nachbarn.«

Tom stand zwei Leuten im Weg, die hineinwollten, und mußte in die Bar zurückweichen.

»Ich heiße Pritchard – David. Habe Kurse am INSEAD belegt, dem großen Managementinstitut in Fontainebleau. Sie kennen es sicher. Na jedenfalls, mein Haus hier ist weiß, zweistöckig, hat einen Garten. Und einen kleinen Teich. Deswegen haben wir uns in das Haus verliebt – die Spiegelungen an der Decke, vom Wasser.« Er lachte leise.

»Aha.« Tom gab sich Mühe, einigermaßen freundlich zu bleiben. Er stand nun draußen vor der Tür.

»Ich rufe Sie an. Meine Frau heißt Janice.«

Tom nickte knapp und lächelte gezwungen. »Ja, gut, tun Sie das. Guten Abend.«

»Gibt nicht so viele Amerikaner hier!« rief ihm David Pritchard unbeirrt nach.

Mr. Pritchard dürfte es schwer haben, seine Nummer herauszufinden, weil Héloïse und er darauf bestanden hatten, nicht eingetragen zu werden. Der eher bieder wirkende Mann, fast so groß wie Tom und ein bißchen schwerer, würde Ärger bringen, dachte Tom auf dem Weg nach

Als der große Baum gegenüber von Belle Ombre in Sicht kam, dessen Äste ein Stück weit über die Straße ragten, stieg Toms Stimmung. Warum sich Sorgen machen? Er stieß den einen Torflügel gerade weit genug auf, um durchzuschlüpfen, schloß das Tor so sachte er konnte, ließ das Vorhängeschloß sanft klickend einrasten und schob den langen Bolzen vor.

Reeves Minot: Abrupt blieb Tom stehen, rutschte auf

Im Wohnzimmer brannte Licht; die Haustür war nicht verschlossen, genau wie vor einer Dreiviertelstunde, als Tom gegangen war. Er trat ein, schloß hinter sich ab. Héloïse saß auf dem Sofa, in eine Zeitschrift vertieft – vermutlich einen Artikel über Nordafrika.

»’allô, chéri. Reeves hat angerufen.« Héloïse sah auf und warf ihr blondes Haar zurück. »Tomme, hast du …?«

»Ja. Fang!« Lächelnd warf er ihr die erste rotweiße Schachtel zu, dann die zweite. Die erste fing sie, die zweite prallte vorn gegen ihr blaues Hemd. »Irgendwas Dringendes bei Reeves? Pressant, prestissimo, penetrant?«

»Ach Tomme, hör schon auf!« Sie griff zu ihrem Feuerzeug. Insgeheim genoß sie seine Wortspiele, dachte Tom, würde das aber nie zugeben und sich nur selten ein Lächeln gestatten. »Er ruft zurück, doch vielleicht nicht mehr heute abend.«

»Irgendwer … Na, egal.« Tom brach ab: Minot ging niemals ins Detail, wenn er mit Héloïse sprach, und sie gab vor, die Aktivitäten der beiden seien ihr egal, sie finde sie sogar langweilig. Es war sicherer so – sie dachte wahrscheinlich, je weniger sie wisse, desto besser. Und wer wollte das bestreiten?

»Tomme, morgen gehen wir die Tickets kaufen, für

»J-ja, gut.« Er hatte es versprochen, sagte er sich. »Zuerst fliegen wir nach Tanger.«

»Oui, chéri, und von dort geht’s dann weiter. Nach Casablanca natürlich.«

»Natürlich«, wiederholte Tom. »Gut, Liebes, morgen kaufen wir die Flugscheine. In Fontainebleau.« Sie buchten immer im selben Reisebüro, wo man sie kannte. Tom zögerte, sagte es dann aber doch: »Liebling, weißt du noch, das Paar, das wir neulich in Fontainebleau gesehen haben? Auf dem Bürgersteig? Sahen aus wie Amerikaner. Die beiden kamen uns entgegen, und später sagte ich, der Mann hätte uns angestarrt – dunkles Haar, Brille?«

»Ich glaube schon. Ja. Warum?«

Er sah ihr an, daß sie sich genau erinnerte. »Weil er mich vorhin im bar-tabac angesprochen hat.« Tom knöpfte sein Jackett auf und steckte die Hände in die Hosentaschen. Er stand noch. »Ich mag den Kerl nicht.«

»Seine Begleiterin sehe ich vor mir – helleres Haar. Beides Amerikaner, nicht?«

»Er mit Sicherheit. Na, jedenfalls haben sie hier in Villeperce ein Haus gemietet, du weißt schon, das mit –«

»Vraiment? In Villeperce?«

»Oui, ma chère! Das Haus mit dem Teich – er spiegelt sich an der Wohnzimmerdecke.« Beide hatten sie das Oval bestaunt, das wie Wasser auf der weißen Decke spielte.

»Ja, ich erinnere mich an das Haus. Zweistöckig, weiß,

»Ja, stimmt.« Der amerikanische Bekannte eines Bekannten, der ein Landhaus nicht zu weit weg von Paris suchte, hatte Tom und Héloïse gebeten, ihn bei der Besichtigung einiger Häuser in der Umgebung zu begleiten. Gekauft hatte er nichts, jedenfalls nicht in oder um Villeperce. Mehr als ein Jahr war das her. »Nun, um zum Punkt zu kommen: Der Dunkelhaarige mit der Brille möchte mit mir, mit uns, auf gute Nachbarschaft machen, und ich will das nicht. Ha, nur weil wir seine Sprache sprechen! Scheint etwas mit INSEAD zu tun zu haben, der Hochschule bei Fontainebleau.« Tom fuhr fort: »Woher hat er überhaupt meinen Namen, und wieso ist er so versessen darauf, mich kennenzulernen?« Um nicht zu besorgt zu erscheinen, nahm er lässig ihr gegenüber auf dem Stuhl vor dem Couchtisch Platz. »David und Janice Pritchard heißen sie. Sollten sie tatsächlich hier anrufen, bleiben wir höflich, haben aber keine Zeit. In Ordnung, Liebes?«

»Natürlich, Tom.«

»Und falls sie so dreist sein sollten, an der Tür zu klingeln, lassen wir sie nicht herein. Keine Sorge, ich werde Madame Annette vorwarnen.«

Héloïse runzelte nachdenklich ihre sonst so glatte Stirn unter dem blonden Haar. »Was ist los mit ihnen?«

Die Frage war so arglos, daß Tom lächeln mußte. »Mein Gefühl sagt mir …« Er zögerte. Gewöhnlich sprach er mit ihr nicht über seine Ahnungen, aber in diesem Fall wäre es nur zu ihrem Schutz. »Die beiden scheinen mir nicht

»Na und, wenn schon?«

Tom lachte, griff nach der blauen Schachtel Gitanes auf dem Couchtisch und zündete sich mit ihrem Dunhill-Feuerzeug eine Zigarette an. »Ganz recht, mein Schatz. Aber warum beobachten sie mich? Hab ich dir nicht gesagt, daß ich meine, ich hätte ihn, womöglich auch beide, vor kurzem auf einem Flughafen gesehen? Und sie hätten mich angestarrt?«

»Nein, hast du nicht.« Sie klang sehr überzeugt.

»Nicht daß ich meine, es wäre wichtig … Aber ich schlage vor, bei eventuellen Annäherungsversuchen höflich auf Distanz zu gehen. Okay?«

»Ja, Tomme

Er lächelte. »Hat früher schon Leute gegeben, die wir nicht mochten. Kein großes Problem.« Tom stand auf, ging um den Couchtisch herum und zog Héloïse an der Hand hoch, die sie ihm entgegenstreckte. Er nahm sie in die Arme, schloß die Augen, genoß den Duft ihres Haars, ihrer Haut. »Ich liebe dich. Ich will nicht, daß dir etwas zustößt.«

Héloïse lachte. Sie lösten sich voneinander. »Belle Ombre scheint mir mehr als sicher.«

»Hier kommen sie jedenfalls nicht herein.«

Tags darauf fuhren Tom und Héloïse nach Fontainebleau, um die Tickets zu kaufen – Royal Air Maroc, wie sich herausstellte. Eigentlich hatten sie mit Air France fliegen wollen.

»Die beiden Linien sind eng vernetzt«, sagte die junge Frau im Reisebüro, ein neues Gesicht für Tom. »Hotel Minzah, ein Doppelzimmer, drei Übernachtungen?«

»Hotel Minzah, ja«, erwiderte Tom auf französisch. Bestimmt könnten sie einen Tag länger bleiben, wenn es ihnen gefiel. Das Minzah galt derzeit als Tangers beste Adresse. Héloïse war in einen Laden um die Ecke gegangen, sie wollte Shampoo kaufen. Tom ertappte sich dabei, daß er immer wieder zur Tür sah während der langen Minuten, die das Mädchen zum Ausstellen der Flugscheine brauchte, und daß er aus irgendeinem Grund an David Pritchard dachte. Dabei rechnete er nicht ernsthaft damit, daß der Mann hereinkommen werde. Hatten er und seine Frau nicht genug mit dem Einzug in ihr Landhaus zu tun?

»Kennen Sie Marokko, Monsieur Ripley?« fragte die junge Frau und sah lächelnd zu ihm auf, während sie ein Ticket in den großen Umschlag steckte.

Interessierte sie das wirklich, fragte sich Tom. Er lächelte höflich zurück. »Nein. Aber ich freue mich darauf.«

Tom hatte schon einen Scheck ausgestellt. »Gut. Vielen Dank, Mademoiselle.«

»Bon voyage!«

»Merci.« Tom ging zur Tür. Bunte Plakate bedeckten die Wände: Tahiti, blaues Meer, ein kleines Segelboot und – ja, dort – das Bild, bei dem Tom zumindest im stillen stets lächeln mußte: Phuket, eine Insel vor Thailand, wie er wußte, denn er hatte es nachgeschlagen. Das Poster zeigte ebenfalls blaues Meer, gelben Strand, eine zum Meer hin geneigte Palme, gebeugt durch Jahre im Wind. Keine Menschenseele weit und breit. »Schlechten Tag gehabt? Schlechtes Jahr? Fuck it – Phuket!« Das wäre ein guter Werbespruch, dachte Tom. Würde jede Menge Urlauber anlocken.

Héloïse hatte gesagt, sie werde im Geschäft auf ihn warten, daher wandte sich Tom draußen nach links. Der Laden lag hinter der Kirche von Saint Pierre.

Und dort vor ihm – Tom biß sich auf die Zunge, um nicht laut zu fluchen – waren David Pritchard und seine – Mätresse? Sie kamen auf ihn zu. Tom sah sie zuerst, durch den anschwellenden Strom der Fußgänger (es war Mittag, Essenszeit), aber Sekunden später hatten die Seltsamen Zwei auch ihn bemerkt. Tom sah weg, stur nach vorn. Zu dumm, daß er den Umschlag mit den Flugscheinen noch in der Linken trug, so daß sie ihn sehen konnten. Würde er ihnen auffallen? Und: Würden sie die Straße vor Belle Ombre abfahren und den abzweigenden Waldweg erkunden, sobald sie sicher sein konnten, er werde für eine Weile nicht da sein?

Tom trat in die parfümgeschwängerte Luft von Mon Luxe, wo Héloïse gerade mit einer Bekannten sprach. Ihr Name war ihm entfallen.

»’allô, Tomme! Françoise – tu te rappelles? Eine Freundin der Berthelins.«

Tom erinnerte sich nicht, tat aber so als ob. Es war nicht wichtig.

Héloïse hatte ihren Einkauf erledigt. Sie sagten Françoise au revoir; die junge Frau studiere in Paris und kenne auch die Grais’, erklärte Héloïse, als sie draußen waren. Antoine und Agnès Grais waren alte Freunde und Nachbarn, die im Norden von Villeperce wohnten.

»Du siehst besorgt aus, mon cher«, bemerkte Héloïse. »Hast du die Tickets? Alles in Ordnung?«

»Glaube schon. Das Hotel hat die Zimmer bestätigt.« Tom klopfte auf seine linke Jackettasche, aus der die Flugscheine hervorschauten. »Essen wir im Aigle Noir?«

»Ah – mais oui!« Sie klang erfreut. »Sicherlich.«

So hatten sie es geplant. Tom liebte ihren Akzent, wenn sie »sicherlich« sagte, weswegen er sie auch gar nicht mehr daran erinnerte, daß »sicher« richtiger wäre.

»Du bist nerveux, Tomme

»Gar nicht«, widersprach er entrüstet.

Und gab sich bis zum Ende des Essens gelassen, wie auch während der Heimfahrt.

In etwa zwei Wochen sollten sie nach Tanger fliegen. Ein junger Mann namens Pascal, ein Freund von Henri, dem Aushilfsgärtner, würde sie zum Flughafen begleiten und den Wagen nach Villeperce zurückfahren. Pascal hatte das schon öfter getan.

Tom ging mit einem Spaten in den Garten, jätete aber auch mit der Hand. Er hatte Levis angezogen und die wasserdichten Lederstiefel, die er so gerne trug. Das Unkraut warf er in einen Plastiksack, für den Kompost. Kurz darauf war er gerade beim Auszupfen welker Blüten, als ihn Madame Annette von der Flügeltür der Terrasse rief.

»Monsieur Tomme? Téléphone, s’il vous plaît!«

»Hallo, ich bin … Ist dort Tom?« Ein junger Mann, der Stimme nach.

»Ja.«

»Ich rufe aus Washington an.« Dann ein störendes Pfeifen, uuuii-uuuii, wie unter Wasser. »Ich bin …«

»Wer ist da?« Tom konnte nichts verstehen. »Bleiben Sie dran, ja? Ich gehe an den anderen Apparat.«

Madame Annette war mit dem Staubsauger in der Eßecke des Wohnzimmers zugange, weit genug weg für ein normales Telefongespräch. Doch nicht für dieses.

Tom hob oben auf seinem Zimmer ab.

»Hallo, da bin ich wieder.«

»Hier ist Dickie Greenleaf«, sagte der Mann mit der jungen Stimme. »Du kennst mich noch?« Leises Lachen.

Tom wollte spontan auflegen, zögerte kurz, sagte dann aber: »Natürlich. Und wo sind Sie?«

»In Washington, wie ich schon sagte.« Jetzt kippte die Stimme fast ins Falsett.

Übertrieben, seine Verstellung, dachte Tom. Oder war es eine Frau?

»Interessant. Eine Stadtbesichtigung?«

»Na ja, nach meinen Erfahrungen unter Wasser – du weißt schon – bin ich wohl nicht in der Verfassung, mir die Stadt anzusehen.« Ein aufgesetzt fröhliches Lachen. »Man hat –«

Ein Knistern und Knacken in der Leitung; die Verbindung wäre fast abgebrochen, dann ein Klick, doch die

»O ja, allerdings«, erwiderte er.

»Jetzt sitze ich im Rollstuhl. Irreparabler –«

Wieder laute Geräusche in der Leitung, ein Klappern, als sei eine Schere oder etwas Größeres hinuntergefallen.

»Ist der Rollstuhl zusammengebrochen?« fragte Tom.

»Ha, ha!« Pause. »Nein, ich wollte sagen«, fuhr die jugendlich klingende Stimme ungerührt fort, »irreparabler Schaden am vegetativen Nervensystem.«

»Verstehe«, erwiderte Tom höflich. »Schön, mal wieder von Ihnen zu hören.«

»Ich weiß, wo du wohnst.« Bei dem letzten Wort ging die Stimme hoch.

»Davon gehe ich aus. Schließlich haben Sie angerufen«, sagte Tom. »Bleiben Sie gesund, das wünsche ich Ihnen wirklich. Und gute Besserung.«

»Solltest du auch! Wiederhören, Tom.« Der Anrufer legte schnell auf, vielleicht weil er sich das Lachen nicht länger verkneifen konnte.

Sieh mal an, dachte Tom. Sein Herz schlug schneller als sonst. Aus Wut? Überraschung? Nicht aus Angst, sagte er sich. Der Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen, die Stimme könne David Pritchards Gefährtin gehören. Wer sonst kam in Frage? Ihm wollte niemand einfallen.

Was für ein übler, abscheulicher – ja, was? Streich? Geisteskrank, dachte Tom: das alte Klischee. Aber wer? Und warum? War das Gespräch wirklich aus Übersee gekommen, oder hatte das einer nur vorgetäuscht? Sicher war Tom

Düster starrte Tom auf den Teppich, während er langsam in seinem Zimmer auf und ab schritt. Ihm wurde leicht übel; er atmete tief durch: Nein, Dickie Greenleaf war tot (das war sowieso nicht seine Stimme gewesen), und er selbst war in seine Haut, seine Kleidung geschlüpft, hatte eine Zeitlang Dickies Paß benutzt, aber auch damit bald aufgehört. Greenleafs formloses Testament, von Tom eigenhändig gefälscht, hatte einer Untersuchung standgehalten. Wer also hatte die Stirn, die Sache wieder aufzuwärmen? Wer wußte so viel, wem war sie so wichtig, daß er Toms damalige Verbindung zu Dickie Greenleaf ausgegraben hatte?

Gleich würde er sich übergeben müssen. Wenn ihm übel wurde, konnte er das Erbrechen nie lange unterdrücken.

Zum Teufel mit den Hurensöhnen, wer sie auch waren, dachte Tom. Sein Gefühl sagte ihm, daß da eben zwei in der Leitung gewesen waren – nur einer hatte gesprochen, der andere zugehört, daher das Gekicher. Er ging nach unten. Im Wohnzimmer traf er Madame Annette, die eine Vase mit Dahlien trug – sie hatte wohl das Wasser gewechselt. Bevor sie die Vase auf das Sideboard zurückstellte, wischte sie ihren Boden mit einem Lappen ab. »Ich gehe für eine halbe Stunde weg, Madame«, sagte Tom auf französisch. »Falls jemand anruft.«

»Oui, Monsieur Tomme«, erwiderte sie und fuhr mit ihrer Hausarbeit fort. Madame Annette war schon seit Jahren bei Tom und Héloïse. Ihr Zimmer und Bad lagen von der Straße aus gesehen links, mit eigenem Radio und Fernseher. Auch die Küche war ihr Reich, das sie aus ihrer Unterkunft über einen kleinen Flur erreichte. Sie hatte die hellblauen Augen und schweren Lider der Menschen in der Normandie, ihrer Heimat. Tom und Héloïse hatten sie gern, weil Madame Annette sie auch gern hatte, wenigstens schien es so. Im Dorf wohnten zwei enge Freundinnen: Madame Geneviève und Madame Marie-Louise, Haushälterinnen wie sie, und an ihren freien Tagen trafen sich die drei reihum zu Fernsehabenden.

Tom holte die Heckenschere von der Terrasse und legte sie in eine Holzkiste, die für solche Zwecke in einer Ecke

Héloïse kannte die Greenleaf-Geschichte, hatte bestimmt auch gehört, daß man Tom verdächtigte (oder verdächtigt hatte). Aber sie enthielt sich jeder Bemerkung und stellte keine Fragen. Gewiß hatten sie beide Toms fragwürdige Aktivitäten, seine häufigen Reisen aus Gründen, die er nicht nannte, herunterspielen müssen, damit Jacques Plissot, Héloïse’ Vater, Ruhe gab. Er war Arzneimittelfabrikant, und der Haushalt der Ripleys war zum Teil von der großzügigen Zuwendung abhängig, die Plissot seinem einzigen Kind gewährte. Héloïse’ Mutter Arlène war noch verschwiegener als ihre Tochter, was Toms Tätigkeiten betraf. Sie war eine schlanke, elegante Frau, die sich merklich mühte, den jungen Menschen gegenüber Toleranz zu zeigen; sie gab gern Héloïse und auch sonst jedermann Tips zur Möbelpflege und, ausgerechnet, zur sparsamen Haushaltsführung.

Dort stand das Haus der Grais’, hinter ansehnlichen Kastanien gerade noch auszumachen. Es war rund wie ein Festungsturm und inzwischen malerisch von rosaroten Kletterrosen überwachsen. Zum Haus gehörte eine Garage, deren Tür geschlossen war, was bedeutete, daß Antoine noch nicht aus Paris zurück war und Agnès Besorgungen machte, womöglich mit den beiden Kindern.

Und da stand das weiße Haus – nicht das erste, sondern erst das übernächste, das Tom sah, durch ein paar Bäume links der Straße. Er schaltete herunter in den zweiten Gang. Die Schotterstraße, gerade breit genug für zwei entgegenkommende Autos, lag jetzt verlassen da. Hier im Norden von Villeperce gab es nur wenige Häuser und mehr Wiesen als Äcker.

Wenn die Pritchards vor einer Viertelstunde angerufen hatten, müßten sie zu Hause sein, dachte Tom. Wenigstens könnte er nachschauen, ob sie in Liegestühlen am Teich, der

Tom hörte Gelächter, von einer Frau, vielleicht auch noch von einem Mann. Ja, es kam aus der Nähe des Teiches, einem Rasenstreifen zwischen Tom und dem Haus, der von einer Hecke und ein paar Bäumen fast verdeckt wurde. Dann erspähte er den Teich, sah das Sonnenlicht auf dem Wasser funkeln und nahm flüchtig zwei Gestalten wahr, die dort auf dem Gras lagen. Aber sicher war er nicht. Ein Mann stand auf, groß, rote Shorts.

Tom fuhr wieder schneller. Ja, zehn zu eins, daß das David gewesen war.

Kannten die Pritchards seinen Wagen, den braunen Renault?

»Mr. Ripley?« Die Stimme klang leise, aber deutlich vernehmbar herüber.

Tom fuhr unvermindert schnell weiter, als hätte er nichts gehört.

Verdammt ärgerlich. Er nahm die nächste Abzweigung nach links, eine weitere Nebenstraße mit drei, vier Häusern auf der einen und Feldern auf der anderen Seite. Sie führte zurück ins Ortszentrum, Tom aber bog wieder links in eine Straße ab, die im rechten Winkel auf die Straße der Grais’ führte, und näherte sich erneut deren Turmhaus. Er fuhr genauso gemächlich wie zuvor.

»Hallo, Agnès. Kann ich helfen?«

»Das wäre nett. Hallo, Tomme

Er nahm die Tüten, während Agnès noch etwas aus dem Wagen hob.

Antoine trug gerade eine Kiste Mineralwasser in die Küche, wo die beiden Kinder eine große Flasche Coca-Cola aufgemacht hatten.

»Bonjour, Antoine«, sagte Tom. »Ich kam zufällig vorbei. Schönes Wetter, nicht?«

»Allerdings.« Antoines Französisch klang durch seinen Bariton für Tom manchmal wie Russisch. Der Mann trug jetzt Shorts, Socken, Tennisschuhe und ein T-Shirt, dessen Grün Tom gar nicht mochte. Antoine hatte dunkles, leicht gewelltes Haar und stets ein paar Kilo zuviel. »Was gibt’s Neues?«

»Nicht viel«, antwortete Tom und stellte die Tüten ab.

Sylvie, die Tochter des Hauses, begann routiniert mit dem Auspacken.

Tom lehnte ein Glas Coke oder Wein ab. Bald würde wohl Antoines Rasenmäher losknattern, der mit Benzin lief, nicht mit Strom. In seinem Pariser Büro wie auch hier in Villeperce war Antoine bienenfleißig. »Wie läuft es mit Ihren Mietern in Cannes diesen Sommer?« Sie standen noch immer in der großen Küche.

»Sie haben im voraus bezahlt – Miete plus die Kaution für die Telefonrechnung.« Antoine zuckte die Achseln. »Alles in Ordnung, würde ich sagen.«

»Sie haben neue Nachbarn, wußten Sie das?« fragte Tom, zum weißen Haus zeigend. »Amerikaner, glaube ich. Oder ist Ihnen das gar nicht neu? Keine Ahnung, seit wann die hier sind.«

»Non.« Antoine überlegte. »Nicht das Haus nebenan.«

»Nein, das dahinter, das große.«

»Das verkauft werden soll – ach so!«

»Oder vermietet. Ich glaube, sie haben es gemietet. Ein gewisser David Pritchard und seine Frau. Oder …«

»Amerikaner«, sagte Agnès nachdenklich. Sie hatte nur den letzen Satz mitbekommen. Und dann, während sie einen Salatkopf in das Fach unten im Kühlschrank steckte, fragte sie: »Haben Sie die schon kennengelernt?«

»Nein. Er …« Tom beschloß, noch weiter zu gehen: »Der Mann hat mich angesprochen, im bar-tabac. Vielleicht hat ihm jemand erzählt, daß ich Amerikaner bin. Ich dachte, Sie sollten das wissen.«

»Kinder?« Antoine runzelte die schwarzen Augenbrauen. Er hatte es gern ruhig.

»Nicht daß ich wüßte. Unwahrscheinlich.«

»Und sie sprechen Französisch?« fragte Agnès.

Tom lächelte. »Weiß ich nicht.« Falls nicht, dachte er, würden die Grais’ ihnen aus dem Weg gehen und auf sie

Sie wechselten das Thema: Antoines neue Kompostkiste, die er am Wochenende aufstellen wollte – ein Satz zum Selberbauen, er lag im Auto. Antoines Architekturbüro in Paris ging gut; er hatte einen jungen Mitarbeiter eingestellt, der im September anfangen würde. Selbstverständlich nahm Antoine im August keinen Urlaub, auch wenn er dann in Paris ein leeres Büro vorfand. Tom überlegte, ob er den beiden sagen sollte, daß er mit Héloïse nach Marokko reisen würde, ließ es aber sein. Nicht jetzt. Aber warum eigentlich? Hatte er unbewußt entschieden, doch nicht hinzufliegen? Na ja, jedenfalls blieb noch genug Zeit, die Grais’ anzurufen und ihnen mitzuteilen, wie unter guten Nachbarn eben, daß Héloïse und er für zwei, vielleicht drei Wochen nicht dasein würden.

Als Tom sich verabschiedete (nach wechselseitigen Einladungen auf einen Drink, einen Kaffee), war ihm, als habe er den beiden vor allem aus Selbstschutz von den Pritchards erzählt. War nicht der Telefonanruf des angeblichen Dickie Greenleaf eine Art Drohung gewesen? Auf jeden Fall.

Die Kinder, Sylvie und Edouard, kickten sich auf dem Rasen vor dem Haus einen schwarzweißen Fußball zu, als Tom davonfuhr. Der Junge winkte ihm hinterher.