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Klaus Rosen

Augustinus

Genie und Heiliger

2. Auflage

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Historische Biographie

herausgegeben von

Manfred Clauss
Nikolas Jaspert
Michael North
und
Volker Reinhardt

Impressum

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Verfassers

     I. Der Junge aus Thagaste

    II. Der Student in Karthago

   III. Der Junglehrer in Thagaste

   IV. Der Professor in Karthago

    V. Das römische Zwischenspiel

   VI. Der Professor in Mailand

  VII. Die Bekehrung

 VIII. Cassiciacum

   IX. Die Taufe und der Abschied von Italien

    X. Heimkehr nach Thagaste

   XI. Der Priester in Hippo

  XII. Der Bischof von Hippo

 XIII. Der streitbare Verteidiger der Einen Kirche

 XIV. Der Fall Roms und der Gottesstaat

  XV. Friedenssehnsucht in friedloser Zeit

 XVI. „Wer sucht, will finden“

XVII. Nachfolgeregelung und Abschied

Nachwort

Anmerkungen

Abkürzungen

Bibliographie

Abbildungsnachweis

Register

Zeittafel

Vorwort des Herausgebers

„Biographien haben Konjunktur“ so liest man immer wieder. Es könnte auch heißen: Biographien hatten und haben immer Konjunktur; dies gilt seit der griechisch-römischen Antike bis heute.

Herausragende Gestalten interessieren den Menschen seit über zwei Jahrtausenden. Viele Autoren sind schon damals als Biographen berühmt geworden wie der römische Schriftsteller Sueton, der in der ersten Hälfte des 2. nachchristlichen Jahrhunderts lebte. Sueton stellte ein großes Werk „Über bedeutende Persönlichkeiten“ zusammen, das in fünf Abteilungen Dichter, Redner, Historiker, Philosophen und Grammatiker umfasste – und berühmte Hetären. Sueton trug zusammen, was er in den unterschiedlichsten Quellen fand: Literarische und inschriftliche Belege, Archivmaterial – er war zeitweise Sekretär des Kaisers Hadrian (117–138 n.Chr.) –, offizielle Verlautbarungen mit amtlichen Nachrichten und Memoirenliteratur. Und er interessierte sich für Klatsch und Gerüchte und hatte geradezu eine Vorliebe für Wundergeschichten aller Art. Dem antiken Autor ist später immer wieder vorgeworfen worden, er erfasse nicht das Innere des Menschen – wie sollte dies überhaupt möglich sein? – und interessiere sich nicht für die großen Zusammenhänge, ja es war sogar von einem Verfall der antiken Geschichtsschreibung die Rede, die sich bei ihm drastisch bemerkbar mache. Ob dies alles so zutrifft, sei dahingestellt. Was auf jeden Fall nicht zu bestreiten ist: Suetons Darstellungsweise wurde zu einer bedeutenden Form der Geschichtsschreibung.

In seiner Wirkung auf die Nachwelt steht der griechische Philosoph und Biograph Plutarch aus Chaironea diesem Sueton nicht nach. Aus seinem gewaltigen Werk, das er um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert verfasste, ragen seine historischen Biographien heraus. Als Grundkonzeption ging Plutarch davon aus, dass Griechen und Römer ebenbürtig seien. Daher stellte er die Lebensläufe je eines Griechen und eines Römers zu Parallel-Biographien zusammen, insgesamt 23 Paare. Damit wollte er auch der Verständigung der beiden, jeweils von zahlreichen Vorurteilen belasteten Bevölkerungsgruppen beitragen.

Das Schema, dass die antiken Biographen ihren Darstellungen zugrunde legten, war einfach, denn es entsprach dem Ablauf des menschlichen Lebens: von der Herkunft und Geburt, über Kindheit mit Erziehung und Bildung, der öffentlichen Karriere und den damit verbundenen historischen Taten, bis zum Tod. Im Zentrum standen die politischen – in christlicher Zeit die kirchen-politischen –, militärischen und gegebenenfalls intellektuellen Leistungen.

Das menschliche Leben, jedes menschliche Leben, ist ein Roman, an dem der Betroffenen selbst ‚schreibt‘ und den sein Biograph fortsetzt. Biographien müssen also, dies gilt für die Antike mehr als für neuere Zeiten, wie ein Roman geschrieben werden, denn die heutigen Biographen antiker Persönlichkeiten stoßen bei ihren Arbeiten immer wieder auf Leerstellen.

Während die antiken Autoren die Zeit- und Lebensumstände ihrer Helden bei ihren Lesern weitgehend voraussetzen konnten, ist dies für die Gestalten der Antike längst anders. Der heutige Historiker muss gegenüber dem antiken Geschichtsschreiber seine Personen stärker in ihre Zeit und deren Gesellschaft einbinden. Auf diese Weise werden spannende Lebensgeschichten vorgestellt, und zugleich entsteht ein Panorama der damaligen Zeit.

Für vieles, vielleicht sogar für das meiste, was uns heutige interessiert, besitzen wir keine Quellen; diese bieten oftmals kaum mehr als Splitter des vor langer Zeit verflossenen Lebens. Hier ist der Historiker gefordert, hier sind dann seine Erfahrung und Phantasie gefragt, geht es doch oft, wie Pierre Bourdieu es formulierte, um eine „biographische Illusion“. Und da die so geforderte Phantasie, auch wenn sie auf systematischer Kenntnis der antiken Zeugnisse beruht, nicht end- und allgemeingültig umgesetzt werden kann, gibt es immer wieder neue Lebensbeschreibungen ein und derselben Persönlichkeit. Jede Biographie einer bestimmten Person ist anders, weil die schreibenden Historiker unterschiedliche Schwerpunkte setzen und unterschiedliche methodische Zugänge wählen. Historische Erkenntnis hängt wesentlich von den Zeitumständen ab, in denen die Fragen gestellt werden, und von den Personen, welche die Fragen stellen. So erklärt sich auch, dass immer wieder neue Biographien verfasst werden, ja verfasst werden müssen. Jeder schreibt seinen eigenen Alexander, Caesar, Augustus, Konstantin oder seinen eigenen Augustinus.

Hossenberg, 2015

Manfred Clauss

Vorwort des Verfassers

„Er war einer der größten Geister, die je auf diesem Planeten gelebt haben“,

„einer der herausragenden Männer der menschlichen Geschichte“,

„einer der tiefsten Denker des Abendlandes, eine der universalsten Gestalten der Menschheit“.

Es sind drei Stimmen von Augustinus-Kennern, die sich leicht vermehren ließen und deren Superlative das Wort „Genie“ im Titel meiner Biographie rechtfertigen.1

Auf ungefähr 5,2 Millionen Wörter hat man Augustinus’ literarische Hinterlassenschaft berechnet. Weit übertrifft er Platon und Aristoteles, die beiden bedeutendsten Philosophen und Großschriftsteller der Antike. Beim einen hat man ‚nur‘ etwa 600.000, beim anderen um die 875.000 Wörter gezählt.2 Wie ein Bergwerk seien die Schriften des Augustinus, urteilte der Philosoph Karl Jaspers und fügte die von einer gewissen Ratlosigkeit zeugende Folgerung hinzu: „Das Werk insgesamt zu studieren ist eine Lebensaufgabe für Spezialisten oder eine Meditation für Mönche. Es ist, als ob Augustinus jeden Tag geschrieben hätte und nun der Leser ein ebenso langes Leben zum Lesen wie Augustinus zum Schreiben brauche.“3 Jaspers hatte einen Vorgänger in Bischof Possidius von Calama, dem Schüler und ersten Biographen des Augustinus, der auch ein Verzeichnis seiner Schriften zusammenstellte. In seiner Biographie, die er 434/35, vier Jahre nach dem Tod seines Lehrers, verfasste, bemerkte er: Augustinus habe soviel hinterlassen, „dass das alles kaum einer unter den Wissbegierigen durchzulesen und kennenzulernen vermag“.4 Schon Possidius verfügte nicht mehr über Augustinus’ gesamte Hinterlassenschaft, und wir noch viel weniger. So kennen wir heute lediglich 559 Predigten von ihm. Doch nach einer begründeten Schätzung hat er bis zu 8000 Predigten gehalten. Eine Gesamtausgabe seiner Schriften hat erstmals die benediktinische Kongregation der Mauriner in Paris 1679–1700 herausgebracht. J.-P. Migne hat sie 1841–1842 in seiner Patrologia Latina (PL) als die Bände 32–47 nachgedruckt.5

Das „Bergwerk“ von Augustinus’ Schriften ist zugleich die authentische Quelle für sein Leben. Zusammen mit Possidius’ kurzer Lebensbeschreibung hat sie erstmals der einleitende Band der Mauriner-Ausgabe umfassend ausgewertet. In Mignes Nachdruck sind es 256 eng gedruckte Folioseiten. Wenn Augustinus’ Schriften ein Bergwerk sind, so bildete die seit den Maurinern erschienene Literatur zu ihm und seinem Werk eine ganze Bergwerksregion. Das „Zentrum für Augustinus-Forschung“ in Würzburg, das die jüngste Gesamtausgabe herausgebracht hat, das digitalisierte Corpus Augustinianum Gissense (CAG 2), schätzt im begleitenden Handbuch zur zweiten Auflage die Zahl der Titel auf 50.000, die sich jährlich um einige Hundert Neuerscheinungen vermehren. 27.000 Titel hat das Zentrum bis 2004, dem Erscheinungsjahr des Handbuchs, in eine Datenbank aufgenommen.6 Ein französischer Augustinus-Forscher sprach von einer „galoppierenden Bibliographie“, zu der nicht zuletzt eine erkleckliche Zahl von Augustinus-Biographien beigetragen hat.7 Was soll da noch eine weitere Biographie?

Ich habe verschiedentlich Augustinus in Lehrveranstaltungen behandelt und daher die Anregung meines Kollegen Manfred Clauss gern aufgenommen, für die von ihm herausgegebene Reihe „Gestalten der Antike“ eine Augustinus-Biographie zu schreiben. Als Althistoriker habe ich sie im Untertitel eine historische Biographie genannt und habe so mein chronologisches Vorgehen und meinen Schwerpunkt angedeutet. Natürlich sind auch die Verfasser der in jüngerer Zeit erschienenen deutschen Augustinus-Biographien, die ich in der Bibliographie genannt habe, auf Augustinus’ Leben eingegangen. Aber ihr Schwergewicht liegt meistens auf seiner Philosophie oder Theologie, auch wenn man mit Recht betont hat: „Wie bei nur wenigen Theologen sind Biographie und Theologie Augustins nicht zu trennen. Seine Biographie ist in den meisten Fällen ein Schlüssel zu seiner Theologie.“8 Aus diesem Grund habe ich immer wieder Augustinus selbst zu Wort kommen lassen. Veröffentlichungen meiner Vorgänger habe ich vor allem eingesehen, um Wegmarken in seinen Schriften zu finden. Benutzt habe ich die noch nicht vollständigen Augustinus-Ausgaben im Wiener Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum (CSEL) und im Corpus Christianorum, Series Latina (CCL), das in Turnhout erscheint. Beide Corpora sind auch die Textgrundlage für das Corpus Augustinianum Gissense. Für einige Werke muss man jedoch immer noch auf die Patrologia Latina zurückgreifen. Bei den Briefen, hinter deren Nummern ein Stern (*) steht, handelt es sich um die Neufunde, die J. Divjak in Paris und Marseille gemacht und erstmals 1989 im Band 88 des CSEL veröffentlicht hat.9 Predigtnummern mit * sind die Neufunde von F. Dolbeau in der Mainzer Stadtbibliothek, die er nach Einzelveröffentlichungen 1996 zusammen herausgebracht hat.10 Das Handbuch des Gießener Corpus von 2004 bietet ein Verzeichnis sämtlicher Augustinus-Schriften und ihrer kritischen Ausgaben. Seitdem sind in der Universitätsbibliothek Erfurt sechs weitere Predigten von Augustinus entdeckt worden.11

Sämtliche Zitate aus Augustinus und aus anderen griechischen und lateinischen Autoren sowie aus der lateinischen Bibel habe ich übersetzt. Für die einzelnen biblischen Schriften habe ich die Abkürzungen der deutschen Einheitsübersetzung übernommen.

Zwei Hilfsmittel haben mir die Arbeit sehr erleichtert: das von C. Mayer herausgegebene „Augustinus-Lexikon“ (AL), dem ich baldige Vollendung wünsche, und die „Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 1: Prosopographie de l’Afrique chrétienne (303–503)“, die A. Mandouze herausgegeben hat (PCBE 1). Beide Werke haben mit ihren Stellenangaben zu Augustinus meine Suche in den Texten beschleunigt, und ihre zahlreichen bibliographischen Angaben haben meine Anmerkungen entlastet. Nützlich war mir auch das von V. H. Drecoll herausgegebene „Augustin Handbuch“ (AH), das einleitend die Lexika und die elektronischen und bibliographischen Hilfsmittel nennt. Einen handlichen bibliographischen Anhang, der auch zweisprachige Augustinus-Ausgaben und Übersetzungen verzeichnet, bietet Th. Fuhrers „Augustinus“.

Zu danken habe ich vier studentischen Hilfskräften der Abteilung für Alte Geschichte der Universität Bonn: Frau Sandra Otto hat unermüdlich die verschiedenen Fassungen meines Manuskripts ihrem Computer anvertraut und zum Ausdrucken an meine ehemalige Sekretärin Frau Edelgard Pfeiler weitergeleitet. Die Herren David Hamacher und Benedikt Schaumlöffel haben für mich ebenso unermüdlich Bibliotheksarbeiten übernommen. Herr Marcel Dick hat die Stellenangaben bei Augustinus und bei anderen antiken Autoren überprüft. Die Kollegen im Bonner Institut für Geschichte waren einmal mehr so entgegenkommend und haben dem Emeritus Hilfskraftstunden abgegeben. Ihnen sowie meinem früheren Assistenten Dr. Jörg Fündling (Aachen), der in bewährter Weise Korrektur gelesen hat, danke ich ebenfalls. Erfreulich war die Zusammenarbeit mit Frau Julia Rietsch in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Ein herzlicher Dank gilt auch meiner Frau.

Bonn, im Januar 2015

Klaus Rosen

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Augustinus wird von der Heiligen Monnica zur Schule begleitet.

I. Der Junge aus Thagaste

„Denn als Knabe begann ich Dich zu bitten, Du meine Hilfe und Zuflucht, und ich löste das Band meiner Zunge, als ich Dich anflehte, und ich, der Kleine, bat Dich mit keiner kleinen Inbrunst, ich möge in der Schule keine Schläge mehr bekommen.“

Noch nach 36 Jahren erinnerte sich Augustinus lebhaft daran, wie er 361 als siebenjähriger ABC-Schütze, als abecedarius, von seinem Lehrer Prügel bezogen hatte, weil er zu faul war, die Buchstaben zu üben. Das geschehe ihm ganz recht, musste er sich von den Eltern und anderen Erwachsenen anhören. In seiner Verzweiflung wandte er sich zum ersten Mal in seinem Leben von sich aus an Gott. Aber: „Welch großes, schweres Elend!“ Gott blieb stumm und half ihm nicht. Der Siebenjährige, geboren am 13. November 354 im nordafricanischen Städtchen Thagaste, machte im Jahr 361 eine Urerfahrung: Gott schweigt. Die Erfahrung verließ ihn länger als ein Vierteljahrhundert nicht – bis zu jenem Tag im Jahr 386, an dem ihn endlich Gott, der vor dem Kind Augustinus stumm geblieben war, durch den Mund eines unbekannten Kindes aufforderte: „Nimm und lies“, und er die Bibel aufschlug.1

Im ersten Buch seiner „Bekenntnisse“, der Confessiones, berichtete Augustinus das Erlebnis.2 Wir haben keinen Grund, die Erinnerung des Schulanfängers in seiner nordafricanischen Heimatstadt Thagaste zu bezweifeln, auch wenn man sich immer wieder gefragt hat, wieweit man das Buch als zuverlässige Autobiographie verwerten kann.3

Der Vater Patricius und die Mutter Monnica mussten nur lachen, sooft sie an ihrem Sohn Striemen entdeckten, die die Rute des Lehrers hinterlassen hatte. Ihr Gelächter schmerzte Augustinus mehr, als wenn sie ihn zusätzlich für seine Faulheit bestraft hätten. Doch sie dachten an ihre eigene Jugend. Auch sie hatten es handgreiflich zu spüren bekommen, sooft sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten. Prügel vom Primarlehrer, dem primus magister, der den Kindern die Buchstaben und Zahlen, die litterae, beibrachte und sie lesen und schreiben, addieren und subtrahieren lehrte, gehörten für jeden Schüler im weiten Imperium Romanum zum Schulalltag. Vielleicht wäre Augustinus von seinem verstorbenen Großvater nicht ausgelacht worden, von dem er sich ein anderes Bild als von seinem Vater machte. Großväter pflegen ja für ihre kleinen Enkel mehr Verständnis aufzubringen als Väter für ihre Söhne.4

Jahre später kam Augstinus in einer seiner Predigten auf die Beschwernisse des menschlichen Lebens zu sprechen und führte als Beispiele die Leiden der Kranken an, die Härten des Soldatenberufs, die Gefahren des Seefahrers und die Anstrengungen des Jägers. Nur der eine oder andere seiner Zuhörer fühlte sich jeweils angesprochen. Aber allen sprach der Prediger aus der Seele, als er zum erbarmenswerten Schülerleben überging, das er bewusst als Höhepunkt an den Schluss stellte: „Welchen Qualen fast alltäglicher Prügel werden Knaben im zarten Alter unterworfen! Von welchen Mühen nächtlicher Arbeit und Entbehrung werden sie in den Schulen heimgesucht …!“5 Das Trauma saß so tief, dass sich der etwa Siebzigjährige im „Gottesstaat“ zu der Behauptung verstieg, ein Erwachsener, vor die Wahl gestellt, würde lieber sterben, als noch einmal das Kind zu sein, das mit Strafen zum Lernen gezwungen wird.6 Solche Erfahrungen hatten ihren Weg bis in die Dichtung der Klassiker gefunden: Horaz setzte seinem „schlagkräftigen“ Elementarlehrer Orbilius aus seiner süditalischen Heimatstadt Venusia ein Denkmal; Juvenal, aus Aquinum im südlichen Latium stammend, bekannte, er habe „die Hand vor dem Stock des Lehrers zurückgezogen“, was zur Metapher für „Schulbesuch“ wurde; und Martial, der im spanischen Bilbilis zur Schule ging, empfahl einem Schulmeister, während der Sommerferien, von Juli bis Mitte Oktober, „die widerwärtigen Ruten, die Zepter der Pädagogen, ruhen zu lassen“.7

Es wäre also ganz ungewöhnlich gewesen, wenn der Primarlehrer von Thagaste sein „Zepter“ nicht geschwungen, sondern sich stattdessen neumodischer Pädagogik bedient und das Söhnchen des Patricius mit sanften Worten zu größerem Fleiß ermuntert hätte. Vielleicht war er wie Horazens Orbilius ein ausgemusterter Soldat, der in seiner Heimatstadt eine Grundschule eröffnet hatte, um sein Entlassungsgeld aufzubessern. Wenn das Pfeifen der Rute sich mit dem Jammern des Sünders mischte, entschädigte der kurze Machtrausch so manchen Urheber für das geringe Ansehen und den mageren Lohn seines Berufsstandes. Kaiser Diokletian hatte in seinem Höchstpreisedikt vom Jahr 301 als monatliche Obergrenze für Elementarlehrer 50 Denare pro Schüler festgesetzt.8 Der Satz wurde gewiss oft unterschritten und lag dann bei einem Betrag, den ein Taglöhner verdiente. Für das Schulgeld mussten die Eltern aufkommen. Patricius und Monnica werden ihren Sohn auch deswegen ausgelacht haben, weil der prügelnde Lehrer ihnen bewies, dass er sein Geld wert war. Vielleicht wurde Augustinus’ Widerstand von Altersgenossen genährt, die es in seinen Augen besser hatten, weil ihre Eltern das Schulgeld sparen wollten oder nicht aufbringen konnten und ihre Kinder daher nicht zum Unterricht schickten.

Patricius, der unter Thagastes landbesitzender Oberschicht, den honestiores, zu den weniger Begüterten gehörte, hätte missbilligend den Kopf geschüttelt, wären ihm der Vorwurf seines Sohnes über das erste Schuljahr und die angeblichen Absichten seiner Eltern zu Ohren gekommen: „Denn sie hatten nichts anderes im Blick, womit ich ihnen vergelten sollte, dass sie mich zum Lernen zwangen, als die Befriedigung der unersättlichen Begierden nach reichem Besitz und erbärmlichem Ruhm.“9 Der hier so abschätzig von den Erwartungen seiner Eltern sprach, war seit zwei Jahren, seit 395, Bischof von Hippo Regius, der 70 Kilometer von Thagaste entfernten „königlichen“ Hafenstadt. Wenn er in seinen Predigten den schnöden Mammon und den weltlichen Ehrgeiz verteufelte, nickten seine frommen Zuhörer beifällig. Doch tat Patricius, „der ziemlich einfache Bürger von Thagaste“ nicht das, was viele Väter taten? Er träumte davon, sein Sohn werde später den bescheidenen Wohlstand und damit das Ansehen der Familie mehren, in die Führungsgruppe der ratsfähigen Familien, der decuriones oder curiales, aufsteigen und vielleicht sogar einmal zu einem der beiden Bürgermeister, der duumviri, gewählt werden. Denn Thagaste hatte den Rang eines municipium und besaß daher innerstädtische Selbstverwaltung. Auch ein angesehenes heidnisches Priestertum konnte sich Patricius, der noch kein Christ war, für seinen Sohn vorstellen. Sich nach einem Studium der Rhetorik als tüchtiger Advokat in der Heimat niederzulassen war für einen jungen Mann, der kein reiches Erbe zu erwarten hatte, ein Weg, um Karriere zu machen und vielleicht sogar in die höhere kaiserliche Verwaltung überzuwechseln.10 Der Weg begann nun einmal damit, dass er mit sechs oder sieben Jahren das ABC lernte.

Vater und Mutter malten sich für ihren Sohn noch einen zweiten Weg aus: die Einheirat in eine der führenden Familien der Stadt. Zwar gab es in den sechs römischen Provinzen Nordafricas auch angesehene Bischöfe. Aber der Aufstieg in die kirchliche Hierarchie etwa der Provinz Africa proconsularis, zu der das Städtchen Thagaste gehörte, lag noch außerhalb ihrer Zukunftspläne.11 Zwar hatte Monnica als gute Christin dem Neugeborenen das Kreuzzeichen auf die Stirn gemacht und die Stelle mit Salz bestreut. Doch selbst mit der Taufe ihres Lieblings hatte sie es nicht mehr eilig, als er eines Tages heftige Magenkrämpfe bekam, in Todesangst nach der Taufe verlangte, aber noch vor dem Empfang des Sakraments wieder gesund wurde.12 Nicht schaden konnte es allerdings, wenn seine Mutter in ihre Gebete die Bitte einfließen ließ, Gott möge dem Sohn auf seinem Pfad zu Reichtum und Ehre behilflich sein. Dachte Augustinus auch an seine Eltern, als er später in seinem Psalmenkommentar tadelte: „Denn viele erhoffen sich von Gott Geld, viele erhoffen sich von Gott flüchtige und vergängliche Ehren.“?13 Immerhin sei ihm sein christlicher Glaube schon in früher Jugend von seinen Eltern eingepflanzt worden, bekannte er später und war Gott dankbar, dass dieses Pflänzlein nie völlig verdorrte.14

Allzu streng waren Patricius und Monnica mit ihrem Sohn allerdings nicht. Sie drückten ein Auge zu, wenn er mit seinen Altersgenossen Ball spielte, darüber die Zeit vergaß und anschließend keinen Kopf mehr fürs Lernen hatte. Die Folgen bekam er erst am nächsten Morgen in der Schule zu spüren. Hätte ihn jemand beim Spiel beobachtet, so wäre ihm ein Charakterzug aufgefallen: Augustinus wollte unbedingt gewinnen. Unterlag er einmal einem Mitspieler, so wurde er „von Galle und Eifersucht gequält“. Alle schmutzigen Tricks waren ihm recht, um die anderen auszustechen.15 Ertappte er dagegen einen Mitspieler beim Schummeln, so fing er lauthals an zu schimpfen, tobte jedoch vor Wut, wenn er selbst erwischt wurde.16 Ein Mensch mochte später lernen, mit Niederlagen vernünftig umzugehen. Doch schwerlich trieb ihm der Ernst des Lebens je völlig den Ehrgeiz aus, den er schon so früh auf dem Sportplatz gezeigt hatte. Mit dem Ehrgeiz verschwistert war eine andere Anlage: Augustinus brannte darauf, der Anführer seiner Kameraden zu sein. Um ihre Anerkennung zu gewinnen, scheute er sich nicht, sie mit Leckereien zu ködern, die er aus der Speisekammer seiner Mutter gestohlen hatte.17

Wem Gott und die Eltern diesen unbedingten Willen, immer der Erste zu sein, in die Wiege gelegt hatten, der erklomm als Erwachsener entweder die Spitze der kaiserlichen Verwaltung oder er baute ein großes Unternehmen auf; er wurde je nach Umständen ein gefürchteter Räuberhauptmann oder der tatkräftige Bischof einer Diözese. Nur Einsiedler wurde er nicht, mochte diese Lebensform damals auch viele Anhänger finden. Denn in der Einsiedelei hätte ihm das Publikum gefehlt, das seine Führung anerkannt und ihn durch seine Anerkennung befriedigt hätte.

Nach vier Jahren hatte Augustinus die langweilige Elementarschule überstanden und trat in die grammatica schola über, wo der Lehrer Texte sprachlich erklärte, sie auswendig lernen ließ und auf Betonung und Aussprache achtete. Schon vorher war aufgefallen, dass der Sohn des Patricius ein ausgezeichnetes Gedächtnis hatte, wohl eher ein Erbe seiner Mutter als seines Vaters.18 Das kam ihm jetzt zugute, und mit einem Mal platzte der Knoten: Augustinus entdeckte seine Liebe zur lateinischen Muttersprache, eine weitere Eigenschaft, die fortan sein Leben mitbestimmen würde. Während er jedoch dem Lateinlehrer Freude bereitete und „als vielversprechender Junge“ gelobt wurde, verbarg er dem Griechischlehrer nicht seine Abneigung gegen dessen Fach. Die Muttersprache hatte er eben gelernt „ohne irgendwelche Furcht und Plage dank der Schmeichelworte der Ammen und der Scherze derer, die ihn anlachten und fröhlich mit ihm spielten“.19

Der griechische Medizinschriftsteller Soranos hatte römischen Müttern einst bei der Auswahl der Ammen geraten, zum Besten ihrer Kinder nur solche Mütter zu nehmen, die gesund, reinlich und klug seien, und vor allem: Griechinnen sollten sie sein, damit sie ihren Ziehkindern mit der Milch Griechisch, die schönste Sprache der Welt, vermittelten.20 Griechische Ammen gab es in Thagaste leider nicht. In der Schule machte Augustinus daher zum ersten Mal Bekanntschaft mit der fremden Sprache, und er hätte sich anstrengen müssen, sie besser kennen zu lernen. Da blieb er, allen tadelnden Worten und Strafen zum Trotz, lieber der alte Faulpelz: „Offensichtlich überzog die Schwierigkeit – die Schwierigkeit, eine fremde Sprache von Grund auf zu lernen – allen griechischen Charme der Sagengeschichten gleichsam mit Galle.“ Und er räsonierte beim Vergleich der beiden Sprachen: „Daran wird zur Genüge deutlich, dass ungezwungenes Interesse größere Triebkraft birgt, diese Dinge zu lernen, als furchteinflößender Zwang.“21 War es daher wirklich Faulheit, wenn Augustinus in den ersten Schuljahren jeglichen Fleiß vermissen ließ? Stand dahinter nicht vielmehr der angeborene Wille, sich äußerem Zwang nicht zu beugen?

Nicht Homer, sondern Vergil wurde des Grammatikschülers Lieblingsdichter, „der große, berühmteste und beste aller Poeten“. Seine Aeneis war im lateinischsprachigen Westen des Römischen Reiches der klassische Unterrichtsstoff. Begeistert memorierte Augustinus die Irrfahrten des Aeneas, des trojanischen Stammvaters der Römer, in den ersten drei Büchern des Epos, und er brach in Tränen aus, als die verliebte karthagische Königin Dido im vierten Buch von dem fremden Helden schnöde verlassen wurde und Selbstmord beging. Gelegentlich fragte sich der Vergilfreund, ob all das wahr sei, was der Dichter in klangvollen Hexametern schilderte. Aber die Frage beeinträchtigte seine Leselust nicht. Der Mitschüler Simplicius übertraf mit seiner Vergilbegeisterung noch seinen Jugendfreund Augustinus: Er konnte auf Verlangen jeden Vers aus der Aeneis zitieren und Szenen nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts deklamieren.22

Vorschriften, wie lange man die einzelnen Schulstufen zu besuchen hatte, gab es keine. Wenn einem der Grammatiklehrer nichts mehr beibringen konnte, trat man in die nächsthöhere Stufe über. Ehrgeizige Grammatiklehrer vermittelten gern schon die Anfangsgründe der Rhetorik, der sich die dritte und letzte Unterrichtsstufe widmete. Augustinus’ Grammatiklehrer hatte diesen Ehrgeiz.23 Er wollte damit zugleich zeigen, dass er zurecht das Gehalt verdiente, das ihm die Stadt Thagaste zusätzlich zum Schulgeld der Eltern zahlte. Als eine Art Abschlussprüfung sollte sein begabtester Schüler Augustinus einen Abschnitt aus Vergils Aeneis in eine Prosarede umsetzen und diese vor den Klassenkameraden und anderen interessierten Zuhörern vortragen. Wichtig waren dabei die rhythmischen Satzschlüsse, die sogenannten Klauseln. Unklassische Wörter waren ebenso zu meiden wie Eigenheiten des Dialekts. Wenn der Redner, wie auf der Straße üblich, das anlautende h in homo verschluckte und vom Menschen als omo sprach, gab es schallendes Gelächter.

Der Lehrer wählte für Augustinus’ Rede Junos Selbstgespräch im ersten Buch der Aeneis:24 Die Gattin des Juppiter war empört, dass das Schicksal stärker als sie war. Es verweigerte ihr, Aeneas von Italien fernzuhalten und Stammvater eines mächtigen Volkes zu werden, dem einst Junos geliebtes Karthago zum Opfer fallen werde. Aufgeregt machte sich Augustinus an die Vorbereitung und wurde jedes Mal eifersüchtig, wenn einer seiner Konkurrenten in der Klasse all die Fehler vermied, die ihm unterlaufen waren. Seine Mühe lohnte sich. Er gehörte zu denen, deren Vortrag bei den Mitschülern den größten Beifall fand. Mit dem Aufbau der Rede überzeugte er ebenso wie mit der Durchführung des Themas, dem eindrucksvollen Bild der zornigen Göttin.

An diesen Erfolg galt es anzuknüpfen, um das natürliche Redetalent des Fünfzehnjährigen weiterzuentwickeln. Doch in dem kleinen Thagaste gab es niemanden, der die hohe Kunst der Beredsamkeit lehrte, „die unbedingt erforderlich war, um Angelegenheiten überzeugend vorzutragen und Argumente zu entwickeln“.25 Daher entschloss sich der Vater, seinen Sohn nach der etwa 30 Kilometer entfernten größeren Stadt Madauros zu schicken, „damit er sich in Grammatik und Rhetorik weiter ausbilde“ und die Fähigkeit erwerbe, „eine möglichst perfekte Rede zu komponieren und durch Sprachfertigkeit zu überzeugen“.26

Der Aufenthalt in Madauros war nicht mehr als ein Zwischenspiel von einigen Monaten im Jahr 369/370, weshalb Augustinus darauf auch nur in einer Nebenbemerkung seiner „Bekenntnisse“ zu sprechen kam.27 Doch es wäre verwunderlich, wenn der Heranwachsende nicht die neue Freiheit genossen hätte. Zum ersten Mal war er der täglichen Aufsicht der Eltern entronnen. Jetzt konnte er auch unbeschwert seiner Leidenschaft für Schauspiele nachgehen, die ihn seit kurzem gepackt hatte. Denn während in Thagaste nur wandernde Schauspieler gelegentliche Aufführungen veranstalteten, grenzte an das Forum im reicheren Madauros ein Theater, das etwa 1200 Zuschauer fasste.28

Liebes- und Ehebruchsgeschichten, die der Komödiendichter Terenz – neben Vergil ein weiterer Schulklassiker – auf die Bühne brachte, erregten den jungen Zuschauer besonders. Es war eben ein Unterschied, ob man von ihnen nur las oder ob sie einem in drastischer Darstellung vorgeführt wurden.29 Schon seit einiger Zeit machte Augustinus die Pubertät zu schaffen, „die Nebel, die aus der sumpfigen Begierde des Fleisches hervorquollen“.30 Seinen Altersgenossen erging es nicht anders. Wenn sie zusammenstanden, beschäftigte sie nur ein Thema: ihre erotischen Abenteuer. Wozu gab es Sklavinnen im elterlichen Haushalt oder in der Nachbarschaft Mädchen aus der Unterschicht oder, sobald man etwas Geld beiseite gelegt hatte, Prostituierte in den stadtbekannten Häusern? Viel Aufschneiderei war dabei, und der größte Aufschneider in der unruhigen Schar war ihr wortgewaltiger Anführer Augustinus. Er musste allen zeigen, dass er auch auf diesem Feld der Beste war. Doch noch sah die Wirklichkeit anders aus: „Und wo nichts war, um mit den Verdorbenen gleichzuziehen, erfand ich Taten, die ich nicht begangen hatte.“31

Das war bereits wieder in Thagaste, nachdem der Vater den Sohn nach Hause gerufen hatte. Die Lehrer in Madauros schienen Patricius nicht die Gewähr zu bieten, karrierefördernden Unterricht zu erteilen. Den würde der Sohn am besten im 250 Kilometer entfernten Karthago erhalten. Die Hauptstadt der Provinz Africa proconsularis war für ihr Bildungsbürgertum und ihre ausgezeichneten Schulen bekannt. Der gelehrte Redner, Philosoph und Schriftsteller Apuleius von Madauros, der in Karthago zur Schule gegangen war und später dort öffentliche Vorträge hielt, hatte um das Jahr 165 die Stadt und ihre Einwohner gerühmt: „Welch größeres und trefflicheres Lob gibt es, als Karthago zu preisen, wo ihr, die gesamte Bürgerschaft, die Gebildetsten seid, bei denen die Knaben die gesamten Wissenschaften lernen, die jungen Leute sie demonstrieren und die Alten sie lehren? Karthago, du verehrungswürdige Lehrerin unserer Provinz, Karthago, Africas himmlische Göttin der Künste, Karthago, du Muse der Togagewandeten!“Auch wenn man bei diesem barocken Finale der Rede, die im Stil der Zeit gehalten war, nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen durfte – Apuleius hatte nicht ganz Unrecht. Noch Augustinus’ älterer Zeitgenosse Ausonius, seit 365 Erzieher des Kaisersohns Gratian in Trier, stellte eine Rangfolge der Städte des Römischen Reiches auf und überlegte, ob er nach der alten Hauptstadt Rom den zweiten Platz an Konstantinopel vergeben sollte oder an Karthago, dessen Reichtum er hervorhob. Als langjähriger Lehrer der Rhetorik wusste er, dass reiche Städte für angemessene Schulen und gutbezahlte Lehrer sorgten, und vielleicht deswegen nannte er Karthago in einer Rede an Gratian „die Hervorragende“.32 Entsprechend hoch war das Schulgeld. Dazu kamen die höheren Lebenshaltungskosten in der Großstadt, zumal wenn man deren kulturelle Angebote nutzen wollte. Patricius sah sich nicht in der Lage, sofort das nötige Geld aufzubringen. Es galt, einige Zeit lang zu sparen. Augustinus rechnete die Anstrengung dem Vater hoch an, den auch seine Bekannten für das lobten, was er für das Studium seines Sohnes tat. Gab es doch in Thagaste genügend reichere Bürger, denen die Ausbildung ihrer Söhne nicht so viel wert war.33

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Augustinus lernt die Freien Künste.

Augustinus hatte zwei Vettern, Lartidianus und Rusticus. Sie hatten gesunden Menschenverstand, wie er ihnen später bescheinigte, hätten also das Zeug für höhere Bildung gehabt. Aber ihre Eltern wollten sich nicht für sie krumm legen, sodass sie nicht einmal den Grammatikunterricht besuchten.34 Auch für Augustinus’ Bruder Navigius reichte dazu das Geld nicht. Doch der Begabteste der Familie sollte unbedingt studieren. Dass Patricius’ drittes Kind, eine Tochter, nur die Elementarschule besuchte, war üblich. War das der Grund, warum der Bruder nie ihren Namen erwähnte?35

Das Sparprogramm der Familie bescherte Augustinus einige Ferienmonate. „Jeden Unterrichts ledig“ begleitete er den Vater gelegentlich in das öffentliche Bad, wo Patricius entzückt die Mannbarkeit des Sechzehnjährigen feststellte und sich schon als stolzen Großvater sah. Heimgekehrt verkündete er die Aussicht seiner Frau, die ebenfalls schon von Enkeln geträumt hatte. Aber Mutter Monnica machte sich auch Sorgen, ob eine frühe Ehe nicht zum Hindernis für das Studium ihres Sohnes werden würde, an dem ihr nicht weniger als ihrem Mann gelegen war.36 Andererseits würden sich des Sohnes „altersgemäße Fluten am ehelichen Ufer brechen“, und sie müsste ihn nicht länger warnen, sich ja nicht mit verheirateten Frauen einzulassen. Inzwischen schien sich nämlich der junge Mann nicht mehr länger nur mit verbaler Erotik zu begnügen, wie er sacht andeutete, als er von den „flüchtigen Genüssen immer neuer Erlebnisse“ sprach.37 „Die Meinen kümmerten sich darum nicht“, lautete sein späterer Vorwurf. Sonst hätte der Sohn dem Vater vielleicht vorgehalten, dass der es, obwohl seit kurzem Katechumene, mit der ehelichen Treue auch nicht so genau nahm, wie ein Taufanwärter es eigentlich sollte.38

In Städten und Dörfern erwachte morgens das Leben mit dem ersten Hahnenschrei. Er zwang selbst Grundschüler aus dem Bett. Augustinus hatte es zur Genüge erfahren. Jetzt genoss er die Freiheit, dass ihn niemand und nichts dazu zwang, seinen Morgenschlaf zu unterbrechen. Dafür machte er die Nacht zum Tag. Mit anderen jugendlichen Müßiggängern tobte er sich bis spätabends auf dem Sportplatz aus. Auch danach gingen sie noch lang nicht nach Haus. Lieber zogen sie durch Thagastes („Babylons“) nächtliche Gassen und beratschlagten, wie sie schlafende Bürger ärgern konnten. Einer dieser Streifzüge führte sie an einem Garten vorbei, in dem ein Birnbaum mit herrlichen reifen Früchten stand. Die Horde folgte begeistert dem Vorschlag ihres Anführers Augustinus und schüttelte den Baum leer. Er hatte so voll gehangen, dass sie nur einen kleinen Teil ihrer Beute essen konnten. Die übrigen Birnen sammelten sie und warfen sie den Schweinen vor. Dem Anstifter schlug nachträglich doch ein wenig das Gewissen. Aber mit sechzehn Jahren verdrängt man solche Regungen rasch. Ein Vierteljahrhundert später kam dem Dieb jedoch sein gutes Gedächtnis in die Quere. Als er im zweiten Buch seiner „Bekenntnisse“ auf die Zeit nach Madauros einging, trat ihm die Jugendsünde wieder so deutlich vor Augen, dass ihn bei der Niederschrift tiefe Scham vor sich selbst und vor seinem Gott erfüllte. Da er sich bei dem Besitzer des Birnbaums nicht mehr entschuldigen konnte, wollte er wenigsten Gott, der ihn schweigend beobachtet hatte, geistige Wiedergutmachung leisten, und er fügte eine tiefgründige Erörterung über das Böse in dessen Geschöpfen an: Was war der eigentliche Grund des Diebstahls, einer Sünde um der Sünde willen? Denn von Mundraub konnte man wahrhaftig nicht sprechen. Auch hätte der Jugendliche die Birnen nie gestohlen, wären seine Kameraden nicht dabei gewesen. Freundschaft erschien plötzlich als die „unauslotbare Verführung des Geistes“. Alle Menschen hatten offensichtlich diese Urveranlagung zum Bösen. Von hier war es nur noch ein kleiner Schritt zur Erbsünde, die Augustinus aber jetzt noch nicht benannte.39

II. Der Student in Karthago

Im Herbst 370 war es endlich soweit: Patricius vermochte seinem Sohn eine Summe in die Hand zu drücken, mit der er fürs erste in Karthago leben und studieren konnte. Augustinus verabschiedete sich von Eltern und Geschwistern. Er ahnte nicht, dass es beim Vater ein Abschied für immer sein werde. Patricius starb noch im selben Jahr, und fortan war der Student darauf angewiesen, dass ihm die Mutter Geld nachschickte.1 Er wusste, wieviel sie sich dafür vom Mund absparen musste, und wenn seine Anhänglichkeit an sie so viel stärker war als das nüchterne Verhältnis zum Vater, lag hier einer der Gründe dafür. Eine Form des Dankes stattete er ihr durch die Denkmäler ab, die er ihr nicht nur in seinen „Bekenntnissen“, sondern auch in mehreren anderen Werken setzte.

Zum Glück half Romanianus mit, ein weitläufiger Verwandter der Familie. Er war einer von Thagastes Reichen, wenn nicht der Reichste. Sein Wohlstand war an mehreren luxuriösen Häusern abzulesen. Den üblichen Erwartungen, die eine städtische Bevölkerung an ihre begüterten Mitbürger stellte, entzog sich Romanianus nicht: Er veranstaltete Schauspiele mit Bärenkämpfen, die man in Thagaste noch nie gesehen hatte und für die ihn die Zuschauer mit Sprechchören in den Himmel hoben. Freigebig unterstützte er die Armen und erfüllte Patronatspflichten in der Heimat und darüber hinaus. Mit Ehrenstatuen in Thagaste und in den Nachbarstädten dankte man ihm seinen Einsatz.2

Romanianus besaß auch in Karthago ein Haus, das er Augustinus zur Verfügung stellte.3 Von der mehrtägigen Reise schwieg der angehende Student. Tat er es, weil er das selbstverständliche Fortbewegungsmittel sparsamer Leute benutzte, die eigenen Füße?4 Das dritte Buch der „Bekenntnisse“ eröffnete er mit der lapidaren Feststellung: „Ich kam nach Karthago“. Doch sollte er unterwegs nicht so manches Mal an das erste Buch der geliebten Aeneis gedacht und voller Vorfreude die Verse zitiert haben, mit denen der Flüchtling Aeneas das fremde im Aufbau befindliche Karthago bestaunte? Tore, Mauern und die Burg auf der Höhe fesselten den Blick des Fremden; auf den gepflasterten Straßen herrschte geschäftiges Treiben; Häfen und ein prächtiges Theater wurden angelegt; schließlich in einem Hain der Tempel der Stadtgöttin Juno, der alles in den Schatten stellte. Auch Augustinus’ wenig älterer Zeitgenosse, der anonyme Verfasser einer „Darstellung der gesamten Welt und ihrer Völker“, erinnerte an Aeneas und Vergil, als er im Kapitel über Africa Karthago beschrieb. Zusätzlich begeisterte er sich am geradlinigen Verlauf der Straßen und Stadtviertel, der sich von der üblichen verwinkelten Anlage orientalischer Städte abhob. Für den aus Africa stammenden Historiker Aurelius Victor, eine Generation vor Augustinus geboren, war Karthago schlicht „die Zierde der Erde“.5

Von der Stadt überwältigt wurde auch Augustinus. Nur ging der Ankömmling, der noch nie das Meer gesehen hatte, zunächst in den Hafen hinab, einen der größten im Römischen Reich, der, wie der Verfasser der genannten „Darstellung“ in blumiger Rede schwärmte, „den furchtlosen Schiffen einen heiteren Neptun zu bieten scheint, so voll der Sicherheit ist er“. Zu Haus hatte die „Landratte“ Augustinus, der mediterraneus, gelegentlich vor einem Krug Wasser gesessen und von der See geträumt.6 Jetzt beobachtete der Sechzehnjährige erregt, wohin sich die Matrosen aus aller Herren Länder beim Landgang zuerst wandten. Die zweite Hälfte des Satzes nach „ich kam nach Karthago“ ist kaum eindeutiger zu bestimmen: „und von allen Seiten umbrandetet mich ein Hexenkessel voller Liebeslaster.“7 Auch die Verwirrung und anfängliche Unsicherheit des Jungen aus dem biederen Thagaste, der zögerte, sich sofort in diesen Hexenkessel zu stürzen, kann man gut nachempfinden: „Noch liebte ich nicht, und doch liebte ich zu lieben, und in meiner inneren Sehnsucht hasste ich mich, der ich nicht genug Sehnsucht hatte.“ Wortspielerisch umkreiste er seinen Zustand, den er nicht lange danach beendete: „Lieben und geliebt zu werden war mir süßer, wenn ich auch den Körper eines liebenden Wesens genoss.“ Das geschah schwerlich bereits im Hafen.

Rasch gewann Augustinus einen Kreis von Freunden und Bekannten, wo sich allerdings ebenso rasch Konkurrenz und Eifersüchteleien einstellten: „Denn ich wurde geliebt, fiel unmerklich in die Fessel des Genusses und ließ mich freudig von drückenden Banden binden, sodass ich von eisernen glühenden Ruten der Eifersucht, der Verdächtigungen, der Ängste, des Zorns und des Streits gezüchtigt wurde.“ Einen Ausweg, „aus der Hölle der Lust“ fand er erst, nachdem er eine Frau getroffen hatte, mit der er fortan „sein Lager zu teilen pflegte“. Seine „umherschweifende, der Klugheit entbehrende Brunst hatte sie gefunden“. Er ging ein Konkubinat ein, eine formlose, aber anerkannte dauerhafte Verbindung von Mann und Frau, der zur vollgültigen Ehe nur die juristische Bestätigung fehlte. Selbst die Kirche drückte beim Konkubinat ein Auge zu, wenn es nicht neben einer bestehenden Ehe gepflegt wurde.8

Augustinus’ Lebensgefährtin wurde bald schwanger, und 372 gebar sie ihm einen Sohn. Glücklich war der junge Vater nicht. Ihm wäre lieber gewesen, wenn das Kind später in einer rechtmäßigen Ehe zur Welt gekommen wäre. Aber „wenn sich schon einmal unerwünschter Nachwuchs eingestellt hat, muss man ihn auch lieben“, bemerkte er Jahre danach und ließ offen, ob er seinen Sohn von Anfang an geliebt hatte oder nur nachträglich sein Versäumnis bedauerte. Zum Versäumnis würde sein Geständnis passen, er habe „an dem Knaben nichts gehabt außer der Sünde“.9 Daher war es wohl nicht er, sondern die Mutter, die vorschlug, ihm den unter Christen verbreiteten Namen Adeodatus („Von Gott geschenkt“) zu geben. Die Konkubine war offensichtlich Christin. Überhaupt war Augustinus, wenn es um seine häuslichen Verhältnissen ging, recht schweigsam. In den „Bekenntnissen“ erwähnte er seine Konkubine ein erstes Mal eher nebenbei an späterer Stelle, und ein zweites Mal dann wieder, als er ein junges Mädchen aus guter Familie heiraten wollte und sie ihm den Laufpass gab.10 Ihren Namen zu nennen hielt er hier wie dort nicht für nötig. Immerhin betonte er, dass er ihr fünfzehn Jahre lang die Treue gehalten und sich nur schweren Herzens von ihr getrennt habe. Wie so mancher hätte er seine Konkubine nach einiger Zeit zur Gemahlin machen können. Auch Adeodatus hätte davon profitiert: Er wäre aus einem „natürlichen Sohn“ ein „rechtmäßiger Sohn“ geworden. Schon vor Jahrzehnten hatte Kaiser Konstantin, wahrscheinlich unter christlichem Einfluss und in Erinnerung an seine eigene Herkunft, ein Gesetz erlassen, das Kinder aus einem Konkubinat durch die nachfolgende Ehe ihrer Eltern legitimierte.11 Doch schreckte Augustinus offensichtlich wegen des großen Standesunterschiedes zu seiner Konkubine davor zurück, das Gesetz zu nutzen. Auch den Namen des gemeinsamen Sohnes teilte er dem Leser der „Bekenntnisse“ erst mit, als jener sich zusammen mit seinem Vater auf die Taufe vorbereitete.12

Gesprächiger wurde Augustinus bei seiner anderen Leidenschaft, die er aus Thagaste mitgebracht hatte, dem Theater. Um sie zu befriedigen, hätte er keine bessere Stadt als Karthago finden können. Auch in der oben genannten „Darstellung der gesamten Welt und der Völker“ hieß es von den Karthagern, dass sie auf Schauspiele besonders versessen waren.13 Die beliebteste Sparte waren Pantomimen, in denen die alten Mythen, die klassischen Tragödien sowie moderne Stoffe als Tanztheater aufgeführt wurden. Ein Herold kündigte das jeweilige Thema an, und Musik und Chorgesang begleiteten dessen Darstellung. Hoch und Niedrig begeisterten sich für die Stücke, und die Behörden wussten, dass man den Bürgern dieses und andere Vergnügen nicht nehmen durfte, ohne heftigsten Widerstand herauszufordern. Bald nach Augustinus’ Ankunft, im Jahr 371, erließ Kaiser Valentinian I. daher ein Gesetz, das dem in der Hauptstadt Karthago residierenden Statthalter der Provinz Africa proconsularis auftrug, dafür zu sorgen, dass die Töchter von Schauspielern, sofern sie geeignet waren, den Beruf ihrer Eltern ergriffen. Der spätantike berufliche Erbzwang galt auch für sie. Fünf Jahre später befahl der Kaiser einem Nachfolger – der in der Provinz Africa stets den höchsten Statthaltertitel Proconsul führte – auch durch Sportwettkämpfe für die Zufriedenheit des Volkes zu sorgen. Ausdrücklich erteilte er die nicht ungefährliche Erlaubnis, dass sich reiche Angehörige der Oberschicht durch die Finanzierung von Sport- und Theaterveranstaltungen bei ihrem Mitbürgern beliebt machen durften. In Karthago gab es später wie in den Großstädten Rom und Mailand einen eigenen tribunus voluptatum, einen Beamten, der für die Organisation und Durchführung der Genüsse von Bühne und Arena verantwortlich war.14 Wenn der Bischof Augustinus keine Gelegenheit verstreichen ließ, um Schauspiele, Schauspieler und Publikum zu verteufeln, schöpfte er aus seiner reichen persönlichen Erfahrung.15

Zu den wiederkehrenden Höhepunkten im Theater zählten realistische sexuelle Szenen. Sie machen den Eingangssatz verständlich, mit dem Augustinus nach seinen ersten erotischen Erfahrungen in Karthago zu seiner Theaterleidenschaft überging: „Die Schauspiele im Theater, die voll von Bildern meiner Nöte und von Zündstoff für mein Feuer waren, rissen mich fort.“ Augustinus war nicht der einzige, dem es so ging. Schon 250 Jahre zuvor hatte der Satiriker Juvenal in drastischen Versen karikiert, wie die römischen Damen im Zuschauerraum in Wallung gerieten, wenn ein Pantomime mit lasziver Gestik eine Juppitermythe tanzte.16

Das Ansehen der gewöhnlichen Schauspieler war nicht sehr hoch. Doch die Besten hatten ihre begeisterten Anhänger, und ihre Konkurrenz auf der Bühne setzte sich im fanatischen Publikum fort. Auch Augustinus fand bald seine Lieblinge, die ihn mehr als einmal zu Tränen rührten, und er genoss das Gemeinschaftsgefühl, das ihn mit gleichgesinnten Theaterbesuchern verband.17 Aber schließlich war er nicht zum Vergnügen nach Karthago gekommen. Die „ehrbaren Studien“ (studia honesta) riefen, und er stürzte sich mit solchem Eifer auf sie, dass er in seiner Schule bald zur Spitze gehörte. Durfte man ihm verübeln, wenn er sich nicht wenig darauf einbildete und die Mitstudenten seine Überlegenheit spüren ließ? Es gab eben auch in Thagaste kluge Leute! Außenseiter wollte er allerdings nicht sein. Daher beteiligte er sich – bisweilen mit schlechtem Gewissen – bei den Streichen seiner Kommilitonen, mit denen sie harmlose Gemüter erschreckten und vor allem die Frischlinge unter den Studenten drangsalierten. Der Primus aus Thagaste gewann sogar einige von ihnen zu seinen Freunden. „Revoluzzer“ (eversores) nannten die Karthager diese Krawallmacher und sprachen von „Revolution“ (eversio), weil sie in ihrem Übermut oft so weit gingen, dass sie mit dem Gesetz in Konflikt gerieten.18

Vom Revoluzzer Augustinus hätte man nicht vermutet, dass er in Karthago an kirchlichen Feiertagen sogar den Gottesdienst besuchte. Von christlichen Bräuchen zu Hause hatte er bisher nie gesprochen. „Noch nicht gläubig“ nannte er sich einmal und meinte damit nicht allein, dem konkreten christlichen Begriff fidelis entsprechend, er sei noch nicht getauft gewesen.19 Dazu kam vielmehr, dass sein Glaube an den Einen christlichen Gott „bald stärker, bald schwächer“ war. In Karthago zog ihn daher auch nicht so sehr frommes Bedürfnis in die Kirche. Er wollte vielmehr 20