Silja Samerski

Die Entscheidungsfalle

Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt

 

 

 

Impressum

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ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-534-23687-9

© 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Einbandabbildung: © jaddingt - Fotolia.com

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-534-70867-3 (epub)

Als epub veröffentlicht 2010.

 

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Inhaltsverzeichnis

0 Vorwort

1 Einleitung: Gene als Entscheidungsgrundlage?

2 Genetische Aufklärung

2.1 Das Gen

2.2 Die Aufklärungs-Kampagnen

2.2.1 Unmündige Bürger? Ein Bremer Kongress

2.2.2 Die genetische Alphabetisierungskampagne

2.2.3 Die genetische Beratung

2.3 Zur Vorgeschichte: Genetik als Grundlage von Sozialpolitik

2.3.1 Die wissenschaftliche Verwaltung von Erbanlagen

2.3.2 Wirksamer als Zwang: Aufklärung und Verantwortung

2.3.3 Ein neues Ziel: die informierte Entscheidung

3 Die informierte Entscheidung. Wie genetische Berater ihre Klienten zur Selbstbestimmung befähigen

3.1 Erste Verwandlung der Person: Klienten als Genträger

3.1.1 Der genetische Mensch

3.1.2 Das unbegreifliche Selbst

3.1.3 Dinge im Leib

3.1.4 Versteckte Ursachen

3.1.5 Bedeutungsträchtige Information

3.1.6 Akteure im Inneren

3.1.7 Gene als Blendwerk

3.2 Zweite Verwandlung der Person: Klienten als Risikoträger

3.2.1 Ein folgenreiches Missverständnis: Risiko als Diagnose

3.2.2 Die Klientin als statistisches Konstrukt

3.2.3 Die pathogenen Auswirkungen ärztlich attestierter Risiken

3.2.4 Leben im Modus irrealis

3.2.5 Das genetische Risiko

3.2.6 Das genetische Selbst

3.3 Der Zwang zum Risikomanagement: die Entscheidung

3.3.1 Der Imperativ der selbstbestimmten Entscheidung

3.3.2 Die entscheidungsbedürftige Option: der Test

3.3.3 Selbstbestimmte Ohnmacht

3.3.4 Die Entscheidungsfindung: das Paradox der persönlichen Risikoabwägung

3.4 Die Entscheidungsfalle

4 Schluss: Entmündigende Selbstbestimmung

4.1 Die Tyrannei der Entscheidung

4.2 Selbstbestimmte Entscheidung als Sozialtechnologie

4.3 Schlusswort: Was nun?

Glossar

Transkriptionskonventionen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Sachregister

Fußnote

0 Vorwort

„Selbstbestimmung“, „Mündigkeit“, „informierte Entscheidungen“ – das sind die großen Schlagworte, mit denen heute Politik gemacht wird. In allen Lebenslagen sind Bürger zu selbstbestimmten Entscheidungen aufgerufen, ganz gleich, ob sie soeben arbeitslos wurden, schwanger sind oder ein Genetiker ihnen eine beängstigende Krankheit voraussagt. Ein ganzes Heer von Experten hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu diesen Entscheidungen zu befähigen. Das professionelle Beratungswesen, das Entscheidungen zum Produkt von Dienstleistungen macht, boomt. Verschiedenste Aufklärungs- und Beratungsdienstleistungen haben das Ziel, Bürger zu Freiheit und Autonomie zu erziehen. Menschen brauchen nur den richtigen „Input“, so die Annahme, damit sie in einer erfahrungsfremden und technisierten Welt zurechtkommen können.

Seit Langem wächst meine Skepsis gegenüber dieser professionellen Vereinnahmung des Überlegens und Entscheidens. Mehr als zehn Jahre ist es her, dass ich mir für meine Dissertation zum ersten Mal über Beratungsgespräche den Kopf zerbrach: Beratungsgespräche, in denen Genetiker schwangere Frauen über mögliche Chromosomenaberrationen und Fehlbildungsrisiken ihrer Leibesfrucht sowie über entsprechende Testangebote belehrten, um sie dann nachdrücklich zur „selbstbestimmten Entscheidung“ aufzufordern. Wie lässt es sich verstehen, so fragte ich mich, dass es sich Genetiker plötzlich zur Aufgabe gemacht haben, Schwangere zur Selbstbestimmung zu befähigen? Und: Was wird Schwangeren dort überhaupt beigebracht? Bis heute dient mir die genetische Beratung, die ja ausdrücklich als Entscheidungshilfe für oder gegen eine genetische Untersuchung konzipiert ist, als paradigmatisches Beispiel für die vielfältigen Formen des Entscheidungsunterrichtes, denen Bürger heute ausgesetzt sind. Ich gehe davon aus, dass Elemente und Versionen der „Entscheidungsfalle“, wie sie die genetische Aufklärung in besonders krasser Weise stellt, auch in ganz anderen Bereichen zu finden sind – ob Kinderwunschberatung, Berufsberatung, Erziehungsberatung oder Sterbehilfeberatung.

Mein Nachdenken über die zunehmende Pflicht zur informierten Entscheidung zehrt bis heute von den zahlreichen Begegnungen und Gesprächen bei Barbara Duden rund um ihren gastlichen Tisch. Dem freundschaftlichen Zusammenhang, der sich dort gebildet hat, verdanke ich inneren Halt und überraschende Einsichten – beides Voraussetzungen dafür, eigene Denkwege gehen zu können. Barbara Duden hat mir dazu verholfen, jene kritische Distanz zu modernen Selbstverständlichkeiten einzunehmen, die das Nachdenken über die Gegenwart erst fruchtbar macht. Durch sie habe ich verstanden, dass Menschen nicht „bei Sinnen bleiben“ können, wenn ihre Selbstwahrnehmung durch wissenschaftliche Abstrakta und bürokratische Kategorien überformt wird. Johannes Beck verdanke ich, dass ich professionelle Beratung als Erziehungsveranstaltung verstehen konnte, als Beispiel für die umfassende Pädagogisierung aller Lebensbereiche. Und Sajay Samuel ließ mich erkennen, dass es sich bei der Anleitung zur abwägenden, risikobezogenen Entscheidung um eine Version des managerial decision-making handelt, also um eine Management-Strategie. Doch auch mit einer ganzen Reihe weiterer Freundinnen und Freunde verbindet mich das fruchtbare Gespräch über die Folgen von Genetik und Pränataldiagnostik, über den Bürger als eigenverantwortlichen Entscheidungsträger, über den erziehungsbedürftigen Menschen und über den Verlust des Common Sense. Ihnen verdanke ich viele Inspirationen und Erkenntnisse und nicht zuletzt den Ansporn, meine Gedanken als Buch aufs Papier zu bringen.

Die Grundlage für dieses Buch hat ein Forschungsprojekt gelegt. Zwei Jahre haben Barbara Duden, Ruth Stützle, Ulrike Müller und ich darüber nachgedacht, was passiert, wenn „Gene“ aus dem Labor in den Alltag freigesetzt werden. Was bedeutet das Wort „Gen“ in der Umgangssprache? Was sagt, suggeriert und fordert es, wenn es im Gespräch zwischen Arzt und Patient, Mutter und Tochter oder beim Schwatz am Gartenzaun auftaucht? Unser Forschungsprojekt, das Barbara Duden leitete und am Institut für Soziologie der Universität Hannover angesiedelt war, trug den Titel: „Das ,Alltags-Gen‘: Die semantischen und praxeologischen Umrisse von ,Gen‘, wenn es in der Alltagssprache eingesetzt wird“ und wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.1 Mir bot es die Gelegenheit, weitere genetische Beratungssitzungen zu beobachten und meine Studien zum Zusammenhang zwischen der Verwissenschaftlichung des Alltags und der Pädagogisierung des Entscheidens zu vertiefen.

Den genetischen Beratern, die ich bei ihrer Arbeit beobachten durfte, sowie den Beratungsklienten, die meiner Anwesenheit zustimmten, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ebenso gebührt dem BMBF Dank für die großzügige Förderung. Ein Geschenk waren diejenigen, die mein Manuskript gelesen und es durch ihre klugen Anmerkungen und Kommentare entscheidend verbessert haben: Frank Butzer, Barbara Duden, Friederike Gräff, Marianne Gronemeyer, Ludolf Kuchenbuch, Thomas Lösche, Ansgar Lüttel, Antje Menk, Uwe Pörksen, Matthias Rieger und Gudrun Tolle. Ebenso ein Segen und nicht minder unerlässlich waren diejenigen Freundinnen und Freunde, die uns geholfen haben, den Alltag mit Buchmanuskript und kleinen Kindern zu meistern, insbesondere Michael Lienesch, Johanna Germer, Antje Menk, Ina Sapiatz, Dorothee Torbecke, die Großeltern und das Team der Kindergruppe „Picobello e. V.“.

Widmen möchte ich dieses Buch Ivan Illich und meinen Töchtern Hannah und Alena. Ersterer hat mir die Hoffnung geschenkt und damit auch den Mut, moderne Mythen auseinanderzunehmen. Meinen Kindern verdanke ich den Sinn für das Wesentliche. Auch ihnen möchte ich Hoffnung mit auf den Weg geben.

1 Einleitung: Gene als Entscheidungsgrundlage?

Die Anti-Matsch-Tomate aus dem Genlabor wird im Volksmund „Gentomate“ genannt und die manipulierten Lebensmittel der Gentechnik-Industrie „Gen-Food“. Wie Umfragen zeigen, gehen viele Menschen davon aus, dass eben dieses „Gen-Food“ Gene enthält, die Tomate aus dem eigenen Garten jedoch nicht.2 Über diese angebliche Ignoranz der Bevölkerung zeigen sich Genetiker und aufgeklärte Journalisten entsetzt. „Die Mehrheit weiß nicht, dass sie andauernd auf Genen herumkaut“, lamentiert ein Kommentator in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Müller-Jung 2006). Und der hannoversche Pflanzengenetiker Hans-Jörg Jacobsen stellt sogar infrage, ob derart unwissende Bürger überhaupt demokratisch mitbestimmen können: Man fragt „sich unweigerlich, wie unsere demokratische Gesellschaft auf einer derartig schmalen und uninformierten Basis weitreichende Entscheidungen treffen will. Ein sachgerechter öffentlicher Diskurs erscheint somit in Frage gestellt und einseitigen ideologisch begründeten Festlegungen sind Tür und Tor geöffnet“ (Jacobsen 2001).

Dieses Lamento über eine unaufgeklärte Bevölkerung und die Notwendigkeit von „sachgerechter“ Information ist weit verbreitet. Im Zeitalter der Genetik wünschen sich Wissenschaft, Politik und Industrie einen Bürger, der an biopolitischen Debatten partizipieren und informierte Entscheidungen treffen kann. Die beklagte Unwissenheit der Bevölkerung möchten sie daher dringend beheben – und zwar durch Information und Aufklärung. Genetikunterricht an Schulen, in öffentlichen Laboren und in Diskussionsveranstaltungen sollen Bürger dazu befähigen, die Welt durch die Brille des Genetikers zu sehen. Sie sollen erkennen, dass Tomaten ebenso wie Menschen Genträger sind und darauf ihre Entscheidungen gründen.

Dieser Versuch, Bürger zu informierten Entscheidungen in Sachen Genetik anzuleiten, ist Thema dieses Buches. Ich möchte die Annahme infrage stellen, dass genetische Aufklärung zu einem eigenen, unabhängigen Urteil befähigen kann. Mir scheint vielmehr, dass genetische Aufklärung eine Freiheit verkehrt: die Freiheit, ohne Bevormundung selbst wissen und entscheiden zu können. Der einst emanzipatorische Aufruf, sich nicht bevormunden zu lassen, sondern sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, verkehrt sich in die Pflicht zur informierten Entscheidung. In allen Lebenslagen werden Menschen heute dazu angehalten, professionelle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, um sich in aufgeklärte Entscheidungsträger zu verwandeln: Krankenkassen mahnen ihre Kunden zur Eigenverantwortung und stellen Entscheidungshilfen ins Netz (Techniker Krankenkasse 2008), der Pharmakonzern Roche möchte aus Bürgern eigenverantwortliche Gesundheitsmanager machen (Höhler 2009), Diskursprojekte schulen für biopolitische Partizipation und am Krankenbett ermitteln Mediziner individuelle Gesundheitsvorstellungen und Therapiepräferenzen (Lupton 1995, Whatley und Worcester 1989). Als Immanuel Kant (1724  1804) im Jahre 1794 den Aufruf „Sapere aude!“ zum Leitmotiv der Aufklärung erhob, konnte er einen solchen Aufklärungs- und Beratungsbetrieb nicht vorhersehen. Damals gab es noch keine „Wissensgesellschaft“, in der industriell hergestellte Information als handfestes Wissen verkauft wird. Er konnte nicht ahnen, dass Bürgern einmal eine ganze Armee von Experten ihre Dienstleistungen aufdrängen würde, um sie zu sogenannten informierten Entscheidungen zu befähigen. Begriffe wie „Aufklärung“ und „Selbstbestimmung“, mit denen Kant noch zur Emanzipation von hergebrachten Autoritäten aufrief, sind heute zu Schlagwörtern einer neuen Sozialtechnologie1* verkommen.

Dass heute nicht mehr Zwang und Repression die vorherrschenden Formen von Machtausübung sind, sondern die Lenkung von Selbstbestimmung bzw. die „Führung der Selbstführung“, das haben die Gouvernementalitätsstudien bereits vielfach dargelegt (u. a. Bröckling, Krasmann, und Lemke 2000, Rose 1999). Aufbauend auf Michel Foucaults Arbeiten zu modernen Techniken der Menschenführung analysieren sie die Mobilisierung zu „Wissen“, „Eigenverantwortung“ und „Selbstbestimmung“ nicht als emanzipatorischen Fortschritt, sondern als neue Herrschaftsform. Diese Studien haben mir geholfen, den Aufruf zur informierten Entscheidung anhand von Genen und Risiken als Form der gesellschaftlichen Steuerung zu untersuchen. Ich konnte fragen, auf welche Weise genetische Aufklärung und Beratung als Sozialtechnologie funktioniert. Was wird von Bürgern gefordert, wenn Mündigkeit voraussetzt, die eigene Urteilskraft von Experten „updaten“ zu lassen? Gibt nicht die vermeintlich „sachgerechte“ Information bereits das Entscheidende vor, nämlich sowohl den Rahmen und die Grundlage der Überlegungen als auch die Entscheidungsmöglichkeiten? In welche Form des Denkens werden Bürger eingewiesen, wenn sie sich nicht mehr von erfahrbaren und umgangssprachlich fassbaren Wirklichkeiten bewegen lassen sollen, sondern von wissenschaftlichen Konstrukten wie Gen und Risiko?

Was ich untersuchen möchte, lässt sich als versteckter Lehrplan der genetischen Aufklärung bezeichnen. Ich frage nach dem, was die Belehrten jenseits des vermittelten Fachwissens lernen – über sich selbst, ihr Sosein, ihr Urteilsvermögen und ihre Pflichten als Bürger einer technologischen Gesellschaft. Diesen versteckten Lehrplan kann ich besonders gut dort analysieren, wo Expertenwissen und Alltag direkt zusammenkommen: Also dort, wo Genetisches und Biographisches, Dienstleistungsangebote und alltagsbezogene Wünsche, Wissenschaftsjargon und Alltagssprache3, technologische Rationalität und persönliche Sinngebung unmittelbar aufeinandertreffen. Ein solcher Ort ist die genetische Beratung. Bei der genetischen Beratung handelt es sich um eine professionelle Dienstleistung, durch die Laien zu Entscheidungsträgern in Sachen Gene und Risiken ausgebildet werden sollen. Ein- bis zwei Stunden instruiert ein Genetiker seine Klienten über DNA-Aufbau, Vererbungsregeln, Mutationen, Krankheitshäufigkeiten, statistische Risikoberechnung und genetische Testmöglichkeiten. Eine solche Beratungssitzung ist ein Musterbeispiel für den Versuch, Bürger zur Mündigkeit in Sachen Genetik zu erziehen. Ausdrückliches Ziel der Aufklärung ist die informierte Entscheidung – in der Regel eine Entscheidung darüber, sich selbst oder ein kommendes Kind genetisch testen zu lassen oder nicht. Fast drei Dutzend solcher Gespräche habe ich inzwischen teilnehmend beobachtet, mitgeschnitten und transkribiert; in fünfen davon werden Frauen bzw. ein Ehepaar für die Entscheidung präpariert, ob sie sich auf Krebsrisiken genetisch testen lassen. In den anderen, auf die ich hier eingehe, werden Frauen oder Paare über Schwangerschaftsrisiken aufgeklärt sowie über die Option, ihr kommendes Kind genetisch untersuchen zu lassen.

Distanzierung als Forschungsansatz

Wie lässt sich der versteckte Lehrplan genetischer Aufklärungsveranstaltungen untersuchen? Wie kann ich die verborgenen Denkzwänge, Suggestionen und unterschwelligen Aufforderungen in einem genetischen Beratungsgespräch erkennen? Die Gegenwart lässt sich am besten dann erforschen, wenn ich mich an ihr befremde. Würde meine Analyse auf den gleichen Grundannahmen aufbauen wie mein Untersuchungsgegenstand, dann liefe sie Gefahr, lediglich bestehende Selbstverständlichkeiten zu wiederholen. Bestaune ich selbst das „genetische Wissen“, glaube an die statistische Vorhersagbarkeit der Zukunft und halte die informierte Entscheidung für den Inbegriff von Autonomie, kann ich die zeitgeschichtliche Bedeutung genetischer Aufklärung nicht erfassen. Verwechsele ich selbst eine Korrelation mit einer Ursachenfeststellung, vermische ein statistisches Risiko mit der erlebbaren, konkreten Gefahr oder betrachte ein kommendes Kind als intrauterinen Genträger, so sitze ich dem Weltbild der Genetik bereits auf: Ich gestehe ihr genau diejenige Deutungsmacht über die Wirklichkeit zu, die Gegenstand meiner Analyse sein soll.

Meine zweigleisige Ausbildung als Natur- und als Sozialwissenschaftlerin ist mir dabei behilflich gewesen, eine kritische Distanz zur modernen Gen-Gläubigkeit einzunehmen. Sie hat mich vor zwei Fallen bewahrt, die bei der Erforschung der „Freisetzung genetischer Begrifflichkeiten“ drohen: Weder halte ich Gene und Risiken für objektive Tatsachen oder gar natürliche Sachen noch für Begriffe, deren Bedeutungen – wie bei umgangssprachlichen Wörtern – vom Sprecher bestimmt oder im Gespräch ausgehandelt werden können. Bereits während meines Biologiestudiums setzte ich mich mit der Eigenart biologischer Begriffsbildung auseinander, und meine Arbeit im zytogenetischen und molekulargenetischen Labor bescherte mir so manche Ernüchterung bei der Herstellung und Verbreitung des sogenannten genetischen Wissens. Während dieser Zeit wurde ich zur Grenzgängerin zwischen Biologie, Philosophie und Sozialwissenschaften, und das Hin und Her zwischen Labor und der Lektüre von Ludwik Fleck, Lorraine Daston und Barbara Duden hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Mir ging auf, wie hypothetisch und kontextabhängig wissenschaftliche Tatsachen sind, wie präzise und beschränkt ihre fachinterne Gültigkeit ist und wie sehr sie sich verändern, wenn sie in den Alltag auswandern. Bereits damals nahm ich aus Neugier an genetischen Beratungsgesprächen teil und fertigte erste Gesprächsprotokolle an. Mich beschäftigte die Frage, wie ein Laborkonstrukt im Aufklärungsgespräch zu einem schicksalsträchtigen Verdikt wird. Eine veränderte DNA-Sequenz, also eine molekulare Variation, verwandelt sich in ein fatales „Gen für Zystische Fibrose*“ und stellt das Kommen des Kindes infrage; eine statistische Häufung mutiert zu einem Risiko, das einer Schwangeren schlaflose Nächte bereitet. Aus dieser Zeit meines Grenzgängertums habe ich also zwei grundlegende Einsichten mitgenommen: erstens die Einsicht, wie sehr wissenschaftliche Forschungsergebnisse auch durch Vorurteile, Versuchsaufbau, Drittmittelauflagen und Karrierebemühungen bestimmt werden, und zweitens die Erkenntnis, welche Kluft zwischen Labor und Lebenswelt liegt und welche Scheinwirklichkeiten entstehen können, wenn sie überbrückt werden soll.

Es ist jedoch nicht nur meine zweigleisige Ausbildung gewesen, die mir Distanz zu modernen Selbstverständlichkeiten verschafft hat. Je mehr ich versuchte, die Eigentümlichkeit von genetischen Zukunftsvorhersagen, professionellen Aufklärungsritualen und der Pflicht zur informierten Entscheidung zu begreifen, desto unerlässlicher schien mir ein historisches Bewusstsein unserer Zeit. Genetische Aufklärungs- und Beratungsveranstaltungen werden auf ganz neue Weise fragwürdig, wenn mir klar ist, dass es vor dem 20. Jahrhundert überhaupt kein professionelles Beratungswesen gab und sich dessen Ausbau nur im Zusammenhang mit der wachsenden Expertenmacht im Sozialstaat verstehen lässt. Ebenso kann ich erst dann begreifen, wie verrückt die Ermächtigung von Medizinern und Genetikern über die Sorge um das Kommende ist, wenn ich weiß, dass eine Schwangere bis vor wenigen Generationen „guter Hoffnung“ war und keinesfalls das „uterine Umfeld“ für eine „fötale Entwicklung“. Auch, wenn ich keine Historikerin bin und daher keinen „Ankerplatz“ in der Geschichte habe – die methodische Distanzierung, also der Versuch, mich „im Rückblick von der Vergangenheit her an der Gegenwart zu befremden“ (Duden 2002, 7), ist mir ein unerlässlicher Abstützpunkt für mein Denken geworden.

Die Aufklärung über Gene und genetische Risiken erscheint so lange natürlich, solange ich an die Allgemeingültigkeit und Bedeutsamkeit dessen glaube, was dort als Wissen vermittelt wird. Um den versteckten Lehrplan genetischer Aufklärung zu analysieren, muss ich mich daher von meiner Gen-Gläubigkeit befreien. Zuhilfe kommt mir dabei die zunehmende Fragwürdigkeit des Genbegriffs in der Wissenschaft. Im folgenden Kapitel werde ich kurz auf die wissenschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung des Gens eingehen, um deutlich zu machen, dass es sich beim Gen nicht um eine natürliche Sache, ja nicht einmal um eine wissenschaftliche Tatsache im Fleckschen Sinne handelt, sondern um einen wissenschaftlich begründeten Mythos. Anschließend will ich verschiedene Kampagnen und Bemühungen zur genetischen Aufklärung der Bevölkerung schildern und erste Beobachtungen über deren pädagogisches Programm festhalten. Im dritten Kapitel werde ich meine Leserinnen und Leser schließlich an Aufklärungsgesprächen teilhaben lassen, in denen Bürger durch genetisches Fachwissen zur Selbstbestimmung befähigt werden sollen. Ich werde sie in genetische Beratungsstellen führen, wo Genetiker Frauen und Paare über Gene, Risiken und Entscheidungsoptionen unterrichten. Am Beispiel dieser Sitzungen will ich Schritt für Schritt untersuchen, welchen versteckten Lehrplan genetische Aufklärungs- und Beratungsveranstaltungen haben, die Bürger zu informierten Entscheidungen anleiten.

2 Genetische Aufklärung

2.1 Das Gen

Epochen erhalten meist einen Namen, wenn sie zu Ende gehen. Erst dann, wenn Selbstverständlichkeiten fragwürdig werden, gerät die Eigenartigkeit einer bestimmten Zeitspanne in den Blick. Evelyn Fox Keller hat das 20. Jahrhundert das „Jahrhundert des Gens“ genannt und ein kundiges Buch sowohl über den Aufstieg als auch über den Niedergang des Gen-Denkens in der Biologie geschrieben. In Berufung auf eine wachsende Zahl von Biologen und Genetikern kommt sie zum Schluss, dass das Gen als erkenntnisleitende Vorstellung ausgedient hat. Die These von definierbaren, steuernden und verursachenden Genen ist wissenschaftlich antiquiert (Keller 2001). Die Kritik des Genetikers Wilhelm Johannsen an der Gen-Gläubigkeit seiner Kollegen ist also heute so akut wie vor fast hundert Jahren. 1909 hob er den Begriff „Gen“ aus der Taufe und sah sich bereits kurze Zeit später genötigt, die um sich greifende Gen-Euphorie zu dämpfen. Die Vorstellung, es gäbe diskrete merkmalsbestimmende Erbeinheiten, „muß nicht nur als naiv, sondern auch als ganz und gar irrig aufgegeben werden“ – so Johannsens Mahnung im Jahre 1913 (Johannsen 1913, 144).

Johannsens Einwand fand Anfang des 20. Jahrhunderts kein Gehör, ist aber heute, fast ein ganzes Jahrhundert später, wieder hochaktuell: Immer mehr Genetiker räumen inzwischen ein, dass es nicht mehr vertretbar ist, vom Gen als diskretem Abschnitt auf dem Chromosom, als hinreichende Ursache für Krankheiten, als Baustein für den Organismus, als Träger von Information oder auch nur als Vererbungseinheit oder funktioneller Einheit zu sprechen.4 Vor allem die Ergebnisse des Humangenomprojektes* sind es gewesen, die auch eingefleischten Gen-Deterministen die unübersichtliche Komplexität von Entwicklung und Vererbung vor Augen geführt haben und deutlich machten: Die Vorstellung „von Genen als Ursachen“ ist „definitiv erschüttert“ (Keller 2001, 176). Neue Forschungen zeigen, dass es sich beim Gen für Trinksucht, geringe Intelligenz, Altersvertrottelung oder dicken Bauch um eine Reihe von Fiktionen gehandelt hat. Für das Verständnis biologischer Zusammenhänge, so fasst Keller zusammen, ist der Genbegriff nicht nur überholt, sondern sogar hinderlich geworden.

Wissenschaftliche Konzepte und Theorien kommen und gehen – diese Einsicht verblüfft heute niemanden mehr. Bereits im vorletzten Jahrhundert bekam der Glaube an den Fortschritt des Wissens und die Endgültigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse erste Risse. Ende des 19. Jahrhunderts packte den französischen Mathematiker und Physiker Henri Poincaré wie viele seiner Kollegen der Schwindel, als er erkennen musste, wie kurzlebig wissenschaftliche Theorien sind, wie viele neue Beobachtungen jeden Tag hinzukommen und wie widersprüchlich und unvereinbar diese oftmals bleiben (Daston 2001, 213). Wenige Jahrzehnte später, in den 1920er und 30er Jahren, analysierte der Mediziner und Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck in einer bis heute originellen Pionierarbeit die „Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen“ (Fleck 1980) als soziales Geschehen und bahnte damit den Weg zu einem sozial- und kulturgeschichtlichen Verständnis wissenschaftlichen Erkennens. Fleck machte deutlich, dass auch eine naturwissenschaftliche Tatsache ein sozial hergestellter „Denkzwang“ ist (Fleck 1980, 131) – ein Denkversuch, der sich schrittweise zu einer Wahrheit verdichtet und dann nur noch so und nicht mehr anders gedacht werden kann. Nicht nur die Drapetomania, der angeborene Fluchtzwang von Sklaven, die Freudsche Libido und die Hysterie des Weibes, sondern auch die Spirochäte als Syphiliserreger und die Normalverteilung der Statistik setzen eine bestimmte, sozial und kulturell bedingte Wahrnehmungsbereitschaft voraus, um denkbar und plausibel sein zu können. Diese unbewusste Ausrichtung des Denkens, „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“, nennt Fleck „Denkstil“ (Fleck 1980, 130). Verändert sich der Denkstil, dann können wissenschaftliche Objekte, die bis dahin als felsenfest bewiesene Tatsachen angesehen wurden, entweder eine völlig neue Bedeutung erlangen oder einfach wieder verschwinden.5

Auch das Gen ist nichts anderes als ein sozial und kulturell hergestellter Denkzwang, der mehrere Generationen die Köpfe von Biologen, Medizinern, Bioethikern und Forschungspolitikern beherrschte. Bereits im 19. Jahrhundert, bevor die Wiederentdeckung Mendels endlich den Beweis für die Existenz von Erbeinheiten zu liefern schien, war das biologische Denken auf Gene eingestellt. Verschiedene Gelehrte, von Charles Darwin (1809  1882) über Francis Galton (1822  1911) und August Weismann (1834  1914) bis hin zu Hugo de Vries (1848  1935) hatten bereits Vererbungskorpuskel postuliert, und Mendel schien nur noch das zu belegen, was für naheliegend und offensichtlich gehalten wurde. Heute hingegen, im Zeitalter von „dynamischen Netzwerken“, „Interaktion“ und „irreduzibler Komplexität“ ist die determinierende Erbanlage endgültig veraltet. Der Denkstil unserer Zeit, von kybernetischen* bzw. systemtheoretischen Axiomen und Konzepten geprägt, hat sich schließlich auch in der Genetik niedergeschlagen und aus der Entität „Gen“ ein emergentes Konstrukt des zellulären und organismischen Systems gemacht. Alles, was ein ganzes Jahrhundert das wissenschaftliche Denken über das Lebendige bestimmte, ist heute antiquiert.6 Wir befinden uns an einer „Wasserscheide“ in der Biologie (Beurton, Rheinberger und Falk 2000, ix), die längst nicht alle Biologen, geschweige denn die Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen haben.7 Und mit dieser Wasserscheide hat das Gen, wie auch andere wissenschaftliche Tatsachen, sei es das Phlogiston8 oder das Bohrsche Atommodell, nun eine Geschichte mit Anfang und Ende. Eine Zeitlang war es ein plausibles und nützliches wissenschaftliches Konzept, das sich zur erkenntnisleitenden Tatsache verdichtete, bis es neuen Hypothesen und Theorien weichen musste.9

Im Unterschied zum Phlogiston oder Bohrschen Atommodell hat das Gen jedoch nicht nur innerhalb der Wissenschaft eine abenteuerliche Karriere hinter sich, sondern auch außerhalb. Es hat nicht nur Forschung und Theorien bestimmt, sondern auch Politik gemacht, die Medizin umgekrempelt und grundlegende kulturelle Vorstellungen besetzt. Gene, so haben Genetiker glauben gemacht, sind das A und O des Lebens. Sie determinieren das Werden eines Menschen, sein persönliches Sosein, seine Gesundheit und seine Krankheiten. Sie sind, so das Gen-Credo, verantwortlich für den Knoten in der Brust und bedingen das nervöse Nägelkauen oder den dicken Bauch (Duden und Samerski 2007); sie binden die Mutter ans Kind und verschulden die männliche Untreue; sie prophezeien den verminderten IQ des Ungeborenen und das kommende Siechtum der Zwanzigjährigen. Und so viel, wie das Gen zu erklären scheint, so viel verspricht seine Erforschung und Manipulation: Als Bausatz der Gentechnologen verheißt es Bakterien, die den industriellen Giftmüll fressen, und begrünte Wüsten, auf denen satte afrikanische Kinder spielen; und in den Laboren von Hoffmann-LaRoche verspricht es individuelle Gesundheitscocktails und neue Allheilmittel gegen Krebs, Gebrechlichkeit, Altern und Tod. „Die Gene sind heute ja alles. Da herrscht ein fundamentalistischer Glaube“, so bringt der Biochemiker Erwin Chargaff die moderne Gen-Gläubigkeit auf den Punkt (Chargaff 2001, 249).10

Gen-Gläubigkeit ist jedoch nicht einfach ein vermeidbarer Nebeneffekt der genetischen Forschung, sondern ihre existenzielle Grundlage. Das Definieren, Diagnostizieren und Patentieren von sogenannten Genen ist Big Business. Die Pharma- und Agrar-Industrie, die wissenschaftliche Forschung und der wachsende Dienstleistungsmarkt der Pränataldiagnostik*, der Gentests und der Bioethik leben vom Glauben ans Gen.11 Genetiker räumen zwar ein, dass die bisherigen Gen-Vorstellungen „naiv“ waren (Klein und Venter 2009), leiten aus dieser Erkenntnis jedoch nichts anderes als vermehrten Forschungsbedarf ab. Sie machen sich auf die Suche nach einer neuen Form von Genen: nach probabilistischen Genen oder Suszeptibilitäts-Genen*. Auf der Grundlage der Datenlawinen, die in den Genlaboren produziert werden, konstruieren sie statistische Korrelationen* zwischen genotypischen* und phänotypischen* Merkmalen, die dann als Suszeptibilitäten oder Dispositionen gedeutet werden. Hypothesen über Krankheitsentstehung und Krankheitsursachen sind dafür nicht nötig. Als bioinformatische* Konstrukte stehen diese Gene für Zusammenhänge, die rein statistisch sind. Auf dieser Grundlage verkünden Genetiker weiterhin die Entdeckung von „Genen für“, sei es für das Altern, Schwulsein, Sprechen, Rauchen oder das „Gottes-Gen“.12 Sie befördern einen neuen genetischen Pandeterminismus, in dem das Gen zwar nicht mehr als alleinige Ursache gilt, aber als vermeintlicher Mitverursacher überall eine Rolle spielt – ganz gleich, ob frühzeitige Vertrottelung, Schulversagen, Grippe oder Freitod.13

Auch wenn der Genbegriff in der Forschung ausgedient hat, wird das Gen-Gerede noch lange nicht verstummen. Um es aufzugeben, dazu ist „Gen“ als Kürzel im Fachgespräch zu praktisch, als didaktisches Mittel zu eingängig, als Verkaufsschlager zu profitträchtig und als Propagandainstrument zu wirksam. Dass Gene nicht nur in der Biologie von Nutzen sind, sondern auch in Politik und Gesellschaft, ist kein neues Phänomen. Noch bevor die Existenz von Erbeinheiten überhaupt als bewiesen galt, lieferten die Vorläufer des Gens bereits Stoff für Machbarkeitsfantasien und Heilsversprechen. Vererbungswissenschaftler wie Francis Galton oder Alfred Ploetz (1860  1940) bemühten sich Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur um die Klärung naturwissenschaftlicher Fragen, sondern auch um eine Neuordnung der Gesellschaft. Mit ihren genetischen Erkenntnissen wollten sie dazu beitragen, eine wissenschaftlich begründete Sozialordnung zu schaffen. Die „Mendelschen Einheiten“, die Johannsen 1909 „Gene“ nannte, rückten die Vision von einer rationalen Fortpflanzungspolitik, die Familiengründung und Kinderkriegen nicht mehr dem Einzelnen überlassen würde, in greifbare Nähe. Denjenigen, die sich nicht an die Erfordernisse der Industriegesellschaft anpassten, unterstellten Vererbungsforscher krankhafte oder schädliche Gene und taten sie als biologischen Ausschuss ab. Ob Landstreicher, Faulenzer, Siechender, Säufer, Krüppel oder andere Sonderlinge – diejenigen, die das Bild einer modernen, rationalen Gesellschaft störten, wurden als genetisch minderwertig abgestempelt und sollten entweder durch medizinische und pädagogische Maßnahmen adaptiert oder durch Einsperrung, Sterilisation oder Euthanasie ausgesondert werden.14

Die Zeiten, in denen das Gen zur Stigmatisierung und Aussonderung unliebsamer Bevölkerungsgruppen diente, sind vorbei. Heute ist das Gen kein Instrument autoritärer Bevölkerungspolitik mehr, sondern ein Instrument zur Mobilisierung der Bürger. Es wird als Grundlage einer aktiven, selbstverantwortlichen Lebensgestaltung angepriesen.15 Nur wer genetisch aufgeklärt ist, so verkünden Wissenschaft, Politik und Industrie, kann ein mündiger Bürger sein und sein Schicksal in die eigene Hand nehmen. Verschiedene genetische Aufklärer, von Genetikern und Industrievertretern über Wissenschaftsjournalisten und Kommunikationsexperten bis hin zu Sozialwissenschaftlern, Ethikern und Werbeagenturen versuchen, Bürger über das Innenleben ihrer Zellkerne zu unterrichten und sie im Abwägen von Chancen und Risiken zu schulen. Zum einen, so die Begründung für diese Mobilisierung, werden Genfood und Gentests in wenigen Jahren alltäglich sein. Und wer in einer genetisierten16 Gesellschaft nicht abgehängt werden will, der muss über DNA, Gentechnik, Risiken und ethische Dilemmata Bescheid wissen. Zum anderen, so die Verheißung von vielen Genetikern und anderer Gen-Gläubigen, führe genetische Aufklärung zur Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung. So, wie alle Tomaten Gen-Food sind, meinen sie, sind alle Menschen Genträger. „Genetisches Wissen“ betrachten sie daher als Conditio sine qua non für Selbstbestimmung und Mündigkeit. „Respect for autonomy actually leads to […] the obligation to pursue genetic knowledge“, fordert beispielsweise die Ethikerin Rosamund Rhodes (1998, 17). Geht es nach ihnen, so stehen die Begriffe „Selbstbestimmung“ oder „Autonomie“ ausschließlich für die Pflicht, informierte Entscheidungen zu treffen.17

2.2 Die Aufklärungs-Kampagnen

2.2.1 Unmündige Bürger? Ein Bremer Kongress

„Gute Gene – schlechte Gene?“, lautete der Titel eines Bundeskongresses für politische Bildung, der Anfang September 2003 in Bremen stattfand.18 Drei Tage debattierten Vertreter aus Wissenschaft, Politik und Industrie über die „Chancen und Risiken der Gentechnologie“. Die Veranstalter, die Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Bremer Landeszentrale, sahen ein gentechnologisches Zeitalter angebrochen und hielten es für ihre Aufgabe, die Öffentlichkeit darauf vorzubereiten. „Die Biowissenschaften und die Biotechnologie lernen derzeit mit enormer Geschwindigkeit, fundamentale Lebensprozesse zu verstehen, zu steuern, ja zu verbessern“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2003), wurde in der Ankündigung behauptet. Angesichts dieser beschworenen Machbarkeiten wollten die Förderer der politischen Bildung zur „aktive[n] Einflussnahme auf Entscheidungsprozesse“ befähigen (Bundeszentrale für politische Bildung 2003). Zu diesem Zweck luden sie drei Dutzend hochrangige Experten aus aller Welt nach Bremen ein: einen israelischen Molekulargenetiker, der mit dem ehemaligen Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel über die ethische Vertretbarkeit der Stammzellforschung diskutierte, einen Mediziner aus Nikosia, der vom kirchlich und staatlich durchgesetzten Eugenik-Programm auf Zypern berichtete, eine amerikanische Historikerin aus Philadelphia, die das zypriotische Zwangsprogramm anschließend rechtfertigte, und einen Humangenetiker aus Leuven in Belgien, der sich dafür einsetzte, dass Eltern „die Verantwortung für die Genetik der Kinder“ übernehmen. Begleitet wurde der Kongress von einem thematischen Kulturprogramm mit Filmen und Lesungen. Einen besonderen Gag erlaubten sich die Veranstalter im Bremer Ostertor-Viertel: Kurz vor Kongressbeginn öffnete dort der fingierte Gen-Shop „chromo'''soma“ seine Pforten, in dem neugierigen Passanten zahlreiche „genetische Produkte und Dienstleistungen“ feilgeboten wurden. Kunden konnten z. B. „gen'''max“ erwerben, um „verschüttetes genetisches Potenzial“ wiederzubeleben und das Lebensgefühl zu intensivieren, oder „book'''a'''baby“, das Angebot, einen Wunschembryo herzustellen und bis zum geeigneten Zeitpunkt zwischenzulagern.19

Die Bundeszentrale für politische Bildung ist eine Institution, die Bürger zu politischer Mitbestimmung anregen will. Ihre Aufgabe ist es, „Menschen in der Bundesrepublik Deutschland zu motivieren und zu befähigen, mündig, kritisch und aktiv am politischen Leben teilzunehmen“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2010). Dieses Ziel verfolgten die Veranstalter auch mit dem dreitägigen Gen-Kongress: Sie beabsichtigten, das Thema Gentechnologie „in die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung hineinzutragen“. Der öffentliche Disput, so wurde auf dem Abschlussplenum behauptet, habe einen hervorragenden „Beitrag zur Aufklärung und Emanzipation der Öffentlichkeit“ geleistet, der Bürger auf „dem Weg zu einem reflektierten Urteil“ unterstützen würde (Bundeszentrale für politische Aufklärung 2003).

Dieses Vorhaben, Bürger in Sachen Genetik zu „emanzipieren“ und zur Partizipation anzuhalten, fand die volle Unterstützung von Wissenschaft und Industrie: Bei der Kongresseröffnung im Bremer „Marriott-Hotel“ beklagten nicht nur die Veranstalter, sondern auch Genetiker und Pharmavertreter, dass die Bevölkerung in Sachen Genetik abgehängt sei. Sie würde nicht mitbestimmen, wo und auf welche Weise Gentechnologie zur Anwendung käme. Vor allem Frauen und andere Betroffene, hieß es, meldeten sich einfach nicht zu Wort. Die dreitägigen Sitzungen mit genetischen und bioethischen Experten sollten eine erste Abhilfe schaffen. Die Ursache für die fehlende demokratische Mitbestimmung war den Experten nämlich schon klar: Die Bevölkerung, so ihre Diagnose, sei in puncto Genetik schlichtweg zurückgeblieben. Was DNA, Vererbung und Gentests angeht, verharrten die meisten Menschen in Unwissenheit und Unmündigkeit. Meinungen hätten sie zwar schon, aber: Volkes Stimme war sowohl den Veranstaltern als auch den Experten zu unqualifiziert. „Wahrnehmungen“, beklagte der Leiter der Bremer Landeszentrale für politische Bildung, aber nicht „Wissen“ würden derzeit die Haltung der Bürger gegenüber der Gentechnik bestimmen. Und der Leiter des Bremer Zentrums für Humangenetik führte Vorbehalte gegenüber seinem Fach schlicht auf „Fehlinformation“ zurück: Überzogene Hoffnungen, behauptete er lapidar, führten zu überzogenen Befürchtungen. Er verschrieb seinen Mitbürgern daher Beratung und Aufklärung, um sie zu einem vernünftigen Umgang mit der Genetik zu befähigen. Bestärkt sahen sich die Experten durch die aktuellen Meldungen aus dem Gen-Shop „chromo'''soma“: Etwa ein Drittel der Kunden, berichteten die Betreiber aufgebracht, ließen sich die fingierten Produkte andrehen. „Der Wissensstand der Kunden war erschreckend niedrig“, empörte sich der Leiter des Ladens und beklagte eine „massive Aufklärungslücke“. Besonders mokierte er sich darüber, dass seine Kunden das Machbare nicht vom Fiktionalen unterscheiden könnten und „überhöhte“ Vorstellungen hätten. Daher forderte auch er Aufklärung und Beratung: Die fiktionalen Anteile, so hieß es, sollten zugunsten einer „richtigen“ Einschätzung und Bewertung der Genetik abgebaut werden.20

Doch nicht nur Wissenschaft und staatliche Bildungsinstitutionen, sondern auch die Industrie pochte auf einen aufgeklärten Bürger, der an einer „demokratischen Biopolitik“ beteiligt werden kann. Was sie sich davon verspricht, das machte der Pharmavertreter von Roche gegen Ende seines Vortrages sehr deutlich: Die „Verantwortung“ für die Gentechnik, so erklärte er, trage nicht die Industrie, sondern die Gesellschaft. „Die Gesellschaft muss entscheiden, wie sie mit der Gentechnik umgeht“, forderte er. Während seines Vortrages wurde schnell klar, dass sich die Industrie jedoch nicht einfach dem Willen der Bevölkerung unterwerfen will. Bisher, so monierte er, fehlten der Bevölkerung das „Wissen“ und die „Beurteilungsmöglichkeiten“. Die Gesellschaft, so machte er klar, müsse erst für ihre neue Aufgabe präpariert werden. Er sagte wörtlich: „Man muss der Gesellschaft helfen zu verstehen … Man muss der Gesellschaft erklären, wie sie es verstehen soll und wie sie entscheiden muss.“

Das Ziel, das sich die Bundeszentrale für politische Bildung gesteckt hatte, erreichte der Kongress nicht. Im Gegenteil: Eine öffentliche Auseinandersetzung blieb weitgehend aus. Zur Diskussion mit den anwesenden Bürgerinnen und Bürgern kam es nicht. Nur vereinzelt meldete sich nach den Vorträgen jemand aus dem Publikum zu Wort. Die Atmosphäre im Saal war die meiste Zeit eigentümlich gedrückt, ja geradezu gelähmt. Offenbar hatte es den meisten Zuhörern die Sprache verschlagen. Obwohl die Auftritte der Experten ja eigentlich zur Diskussion anregen sollten, waren sie nicht allgemein verständlich gehalten, sondern mit alltagsfernem Fachvokabular gespickt. Von „Zygoten“ vor und nach der „Kernverschmelzung“ war die Rede, von „Chromosomenaberrationen“, „Genen für“ verschiedenste unbekannte Krankheiten, von „Erkrankungswahrscheinlichkeiten“, „genetischen Dispositionen“ und „Risikoträgern“. Ganz selbstverständlich wurde davon ausgegangen, dass nicht mehr der Common Sense Ausgangspunkt einer demokratischen Auseinandersetzung ist, sondern die wissenschaftlichen Begriffe der Experten. Nicht das, was Bremer Bürger erleben, fürchten und wünschen, wurde hier besprochen, sondern wissenschaftliche Laborkonstrukte und bioethische Problemkonstellationen. Um Menschen und ihre Erfahrungen ging es in vielen Vorträgen nur dann, wenn die Genetiker durch mitleidsheischende Schicksalsberichte für Forschungsgelder und Deregulierung plädierten.

Der Bremer Kongress ist ein eindrückliches Beispiel für den Versuch, Bürger zur Mündigkeit in Sachen Genetik zu erziehen. Statt Hürden für die demokratische Mitbestimmung abzubauen, stellte er neue auf. Die Bundeszentrale für politische Bildung versammelte Experten, die erklärten, ihr Fachwissen sei eine notwendige Voraussetzung für eine demokratische Auseinandersetzung und die gesamte Bevölkerung daher beratungsbedürftig. Nur derjenige, der sich von Genetikern und Bioethikern im Denken unterweisen lässt, sollte in Bezug auf die Gentechnologie eine Stimme haben – und zwar nicht im Hinblick auf wissenschaftliche, sondern auf gesellschaftliche Fragen. Thema des Kongresses war ja nicht die fachgerechte Sicht auf Genfunktion und DNA-Struktur, sondern es sollte um die Auswirkungen einer neuen Technologie auf das menschliche Zusammenleben gehen. Und genau hier sprachen die Redner ihren Mitbürgern die Mündigkeit ab. Damit war jeder demokratischen Auseinandersetzung der Boden entzogen. Sprecher, die keine genetische und bioethische Schulung durchlaufen hatten, wurden für zurückgeblieben erklärt. Sie waren im Kongressprogramm auch gar nicht vorgesehen: Weder dem jahrelangen Protest von Anwohnern und Ökologiebewegten gegen die Freisetzung von genmanipuliertem Mais noch dem „Nein danke!“ der Frauen- und Krüppelbewegung zur vorgeburtlichen Selektion hatten die Veranstalter Gehör geschenkt. Stattdessen hatten sie als Hauptredner Vertreter aus Wissenschaft und Industrie geladen, die verlangten, das Denken und Handeln der Bürger an die Vorgaben der Gentechnologie anzupassen. Erst dann, wenn Bürger gelernt hätten, ihre Entscheidungen nach wissenschaftlichem Input zu treffen, wollten sie diese an einer „demokratischen Biopolitik“ beteiligen.