Herausgegeben von Clemens Sedmak
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Clemens Sedmak
Paris und Kopenhagen, Berlin und Frankfurt.
Und Assisi. Zur Einleitung
ZUM BEGRIFF DER TOLERANZ
Matthias Kaufmann
Toleranz, Identität und Anerkennung
Hartmut Behr
Tolerierung, Toleranz und Differenz
Johannes Drerup
Erziehung zur Toleranz.
Konstellationen und Kontroversen
Elisabeth Holzleithner
Toleranz und Menschenrechte
TOLERANZ UNTER DEN VORZEICHEN DER VIELFALT IN EUROPA
Helmut P. Gaisbauer
Nulltoleranz. Armut und Repression
Heiner Hastedt
Der Wert der Toleranz und das Leben in Vielfalt
Hamid Reza Yousefi
Toleranz im Konflikt.
Normative Grundlagen und praktische Konsequenzen
Daniel Bischur
Toleranz und die Herausforderungen von kulturellen Konflikten in multikulturellen Gesellschaften.
Der Versuch einer wissenssoziologischen Betrachtung
TOLERANZ IN DEN RELIGIONEN EUROPAS
Mariano Delgado
Spanische Toleranzdiskurse
Stephan Kokew
Toleranz im islamischen Kontext – Ausgangspunkte und Erscheinungsformen
Christian Polke
Toleranz.
Eine religiöse Tugend für den Pluralismus
Arnold Angenendt
Gottesfrevel im Religionsvergleich
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Am 7. Januar 2015 begann ein blutiges Drama um die Idee der Toleranz in Europa: Die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo wurde von zwei maskierten Tätern überfallen, elf Menschen, darunter fünf Karikaturisten und der Herausgeber, wurden getötet, weitere Anwesende verletzt. Auf der Flucht ermordeten die Täter einen Polizisten. Sie wurden zwei Tage später in Dammartin-en-Goële von Sicherheitskräften erschossen. Am Tag darauf wurde eine Polizistin im Süden von Paris von einem Mann erschossen, der am 8. Januar einen Supermarkt für koschere Waren in Paris überfiel, vier Menschen tötete und weitere als Geiseln nahm. Er bekannte sich zum Islamischen Staat und wurde bei der Erstürmung des Supermarkts getötet. Am 14. Februar 2015 wurde in Kopenhagen ein Anschlag auf das Kulturzentrum verübt, in dem eine Diskussionsveranstaltung mit dem schwedischen Karikaturisten Lars Vilks stattfand. Ein Dokumentarfilmer und drei Polizisten wurden getötet. Am nächsten Tag wurde ein Anschlag auf die Kopenhagener Synagoge verübt, bei dem ein Wachmann erschossen wurde. Auch der Täter wurde schließlich erschossen.
Sowohl in Paris als auch in Kopenhagen kam es zu Solidaritätskundgebungen, die die Anschläge auch als Anschläge auf die Idee der Demokratie und die Idee europäischer Werte ansahen. „Meinungsfreiheit“ und „Pluralismus“ wurden als grundlegende Werte adressiert. Die erste Ausgabe von Charlie Hebdo nach den Anschlägen wies wiederum eine Karikatur des Propheten Mohammed auf, mit dem Untertitel „Tout est pardonné“. Auch diese Karikatur war Auslöser wütender Proteste. Wir treten hier in ein Minenfeld, in dem Begriffe wie „Blasphemie“ und „Respekt“, „Ehrgefühl“, „Toleranz“, „Pluralismus“, „Freiheit“ und „Humor“ miteinander verhandelt werden. Es kann mit guten Gründen für die „semantische Liquidität“ der Karikaturen, also dafür, dass die Bedeutung der Karikaturen uneindeutig ist, argumentiert werden. Simon Weaver hat etwa vier Interpretationsweisen und Lesarten vorgeschlagen, die zwar nicht allesamt wechselseitig ausschließend sind, aber doch in einem Konfliktverhältnis stehen – die Karikaturen als (1) a criticism of Islamic fundamentalism; (2) blasphemous images; (3) Islamophobic and racist; and (4) satire and a defence of freedom of speech.1 Jede Interpretation – und es können durchaus weitere hinzugefügt werden – bewegt sich damit im Spannungsfeld mit anderen Lesarten.2
Tiefe Einblicke in die Diskussion gibt ein Artikel von Lliana Bird in der Huffington Post vom 13. Januar 2015. Unter dem Titel „Charlie Hebdo: They’re Not Racist Just Because You’re Offended“ sprach sie sich in aller Deutlichkeit für die Zumutbarkeit der Beleidigung in einer pluralistischen Gesellschaft aus: Charlie Hebdo, so Bird, mache sich über alle Formen institutionalisierter Religion lustig, „they were democratic in their ridicule and satirisation“. Für eine pluralistische Gesellschaft erhebt sie die Forderung: „All people, systems and organisations should be open to criticism and mockery (so long as it sticks within the laws of the land).“ Der Übergang von Kritikoffenheit zu Satireoffenheit ist schnell und glatt und geht m.E. zu leichtfertig über eine Schwelle hinweg. Bird zitiert Laurent Leger, ein Redaktionsmitglied, das die Anschläge vom Januar 2015 überlebt hat, mit den Worten: „We want to laugh at extremists – every extremist … Everyone can be religious, but extremist thoughts and acts we cannot accept“. Nun stellen sich hier wichtige Fragen in Bezug auf „Extremismus“ – ist eine Religion bereits dann extremistisch, wenn sie sich selbst ernst nimmt? Eine Religion, die sich selbst ernst nimmt, wird einen Begriff des Heiligen entwickeln und damit auch einen Begriff von Blasphemie. Ist jede Religion, die in aktiver Weise über diesen Begriff verfügt, bereits extrem oder extremistisch? Bird zählt eine Reihe von Beispielen aus früheren Ausgaben von Charlie Hebdo auf, die unterschiedliche Adressaten karikiert und oftmals zu Reaktionen der Empörung geführt hatten. „Freedom of speech means that some things people say and do are bound to offend you and vice versa. That’s ok. As (a personal hero of mine) Majid Nawaz says you have every right to be offended, you do not have the right to not be offended.“ Es gibt kein Recht, nicht beleidigt zu werden. Die Grenzen für die Meinungsfreiheit werden, so Bird, durch die Gesetzeslage des jeweiligen Landes bestimmt – und nur durch diese. Ansonsten gelte die Idee, dass nichts jenseits der Lächerlichmachung liegen dürfe: „The thought that a religion, a set of beliefs, or an idea, could be above criticism or ridicule is, to me, a scary one which could lead us into very dangerous ground“.
Der Toleranzbegriff wird hier klar konturiert: Das je höhere Gut, um dessentwillen Dinge, die man eigentlich ablehnt, akzeptiert werden sollen, ist einerseits das Gut der Meinungsfreiheit, andererseits das wohl noch grundlegendere Gut von Demokratie und pluralistischer Gesellschaft. Demokratie und Pluralismus wird von Bird so verstanden, dass prinzipiell alles kritisierbar und „verhöhungsoffen“ sein müsse. Ersteres ist auf andere Weise zu argumentieren als letzteres: Karl Poppers Idee einer offenen Gesellschaft kann als wichtige Quelle zur Begründung einer Gesellschaft, in der sämtliche Ansprüche kritisierbar und entsprechend begründungspflichtig seien. Es ist auch ein Verständnis von Vernunft, Vernunft als jenes Vermögen anzusehen, Geltungsansprüche zu erkennen, zu begründen bzw. auf ihre Begründung hin zu hinterfragen.3 Eine andere Argumentation muss eingeschlagen werden, wenn es darum geht, zu betonen, dass prinzipiell alles „Spott“, „Hohn“ und „Satire“ unterworfen und ins Lächerliche gezogen werden könne; dieser Anspruch geht implizit davon aus, dass es (öffentlich) Heiliges in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft nicht geben dürfe, ist es doch das Wesen des Heiligen, jenseits des „Bespaßbaren“ zu sein. Das Heilige ist das, was gerade nicht „angegriffen“ (weder im Sinne von „berührt“ noch im Sinne von „attackiert“ werden kann bzw. darf), es ist das, was sich als „out of place“ dem menschlichen Zugriff entzieht. Das, was einem Menschen heilig ist, berührt im religiösen Sinn das, was sich menschlicher Manipulationskraft entzieht, im nichtreligiösen Sinn das, was die tiefsten Identitätsschichten eines Menschen tangiert. Die Privatisierung dieser Konzeption geht mit dem Anspruch einer Neutralität des öffentlichen Raums, in dem sich die entsprechenden Autoritäten (in einem rechtlich abgestecken Rahmen) äquidistant zu den einzelnen weltanschaulichen Proponenten und Offerten verhalten.
Die Privatisierung des Heiligen im Namen der Toleranz ist eine interessante Gegenbewegung zum öffentlichen Charakter von Religion(en), die die Geschichte des europäischen Toleranzdenkens geprägt haben, ging es doch etwa in Nikolaus von Kues’ De Pace Fidei um die Aushandlung des Verhältnisses von Religionen im gesellschaftlichen Raum, also als politische und nicht als persönliche Frage. Dieser Privatisierung des Heiligen lässt sich auch am Begriff der Blasphemie, der in Kopenhagen wie Paris eine Rolle gespielt hat, zeigen. Konnte Thomas von Aquin noch davon ausgehen, dass Blasphemie jene Sünde ist, die direkt gegen Gott verübt wird (im Unterschied zu Sünden wie Gewalt gegen Mitmenschen, die sich als Verstoß gegen die Ordnung Gottes nur indirekt auf Gott beziehen)4, wurde der Blasphemiebegriff sukzessive „horizontalisiert“ und als Gegenstand sozialer Situationen rekonstruiert: Blasphemie als „the use or abuse of language, or behavioural acts, that scorn the existence, nature or power of sacred beings, items, or texts.“5 Damit wurde Blasphemie auch als soziale und nicht mehr bloß innerreligiöse Kategorie politisch relevant. „Blasphemie“ wurde freilich von Anfang an in einem sozialen Rahmen gesehen, der den Verdacht, dass eine Blasphemie (oder auch Häresie) die Kohäsion der religiösen Gemeinschaft erodiere, nährt.6 „Religion“ und „Zusammenleben“ sind insofern als politisch relevante Themen nicht voneinander zu trennen, als der Begriff der Religion (etwa im Unterschied zu Spiritualität) die Idee einer (geordneten und konturierten) Gemeinschaft einschließt. Als Gemeinschaftsmitglied ist der religiöse Mensch Mitglied verschiedener Vergemeinschaftungsformen (Religionszugehörigkeit, Staatsbürgerschaft) und bringt diese unterschiedlichen Identitätsquellen wie auch Loyalitäten in den öffentlichen Raum ein. Paris und Kopenhagen zeigen Bruchlinien dieser Diskussion auf; ist der Begriff „Blasphemie“ in einer pluralistischen Gesellschaft veraltet? Christoph Baumgartner hat dies verneint und vorgeschlagen, Blasphemie als Form psychologischer Gewalt anzusehen. Damit ist Blasphemie eine politisch relevante Kategorie, geht es doch im Politischen wenigstens darum, weitgehende Gewaltfreiheit im Miteinander zu sichern.7
Eine wichtige Quelle von Aggressionsabbau bzw. Aggressionshemmung ist neben der Höflichkeit auch der Humor. Lliana Bird hatte die Offenheit sämtlicher Inhalte gegenüber „criticism and scorn“ gefordert. Nun kann man sich natürlich fragen, welchen Beitrag zum gedeihlichen Miteinander der Humor zu leisten vermag. Diese Frage ist insofern mit einem Grundanliegen von Toleranz verbunden, als Humor sowohl mit epistemischen Erwartungen, als auch mit sozialer Ordnung spielt und damit genau mit jenen Herausforderungen, die der Toleranzgedanke auferlegt. David Benatar hat in einem Beitrag auf die Bedeutung des Humors, auch in politischer Hinsicht (subversive Kraft des Humors) hingewiesen; in der Kritik an Formen von Humor werden häufig drei Aspekte falsch eingeschätzt: Der Nutzen und die Vorteile des Humors wird zu wenig beachtet; es werden kontextuelle Simplifizierungen im Sinne einer unverantwortlich vereinfachten „Wir“-gegen-„Sie“-Dichotomie vorgenommen; es wird dem Umstand von „offence“ (Kränkung, Beleidigung) zu viel Raum gegeben, kann doch der Umstand, dass jemand beleidigt ist, mehr mit seiner Lebensgeschichte und Persönlichkeit als mit der vorliegenden Situation zu tun haben.8 Die Satire mit ihren Momenten von Kritik, Ironie und Implizitheit hat, so könnte man argumentieren, eine feine Klinge, um auf subtile Weise die Funktion des Humors zu erfüllen. Kein Zweifel: Humor ist ein wichtiges Medium, das für Koexistenz und Kovivenz einen wichtigen Beitrag zu leisten vermag. Dennoch sei die Frage erlaubt: Bedeutet „Toleranz“ in einer pluralistischen Gesellschaft tatsächlich, dass es (etwa im Namen von Meinungsfreiheit und Kunst) weder öffentlich Heiliges noch öffentlichen Respekt vor religiösem Ehrgefühl geben dürfe?9
Flemming Rose, ein Herausgeber der dänischen Zeitung Jyllands-Posten, die am 30. September 2005 Karikaturen, die den Propheten Mohammed darstellten, abdruckte, hielt die Veröffentlichung der Karikaturen sogar für eine Inklusionsmaßnahme und Ausdruck von Respekt – die Karikaturen zeigten, „that we want to integrate Muslims into the European tradition of satire. Thereby we told them: You are not a weak minority of victims who require special consideration. We treat you as equals. And we expect neither more or less from you than from any other group in society. This is recognition, not exclusion.“10 Inklusion in den weltanschaulich neutralen öffentlichen Raum einer säkularisierten demokratischen Gesellschaft, so die These, bedeutet Aufnahme in die Gemeinschaft derjenigen, die Gegenstand von Äußerungen im Rahmen der Meinungsfreiheit wären. Hier dreht sich die Stoßrichtung von „Toleranz“ im folgenden Sinne: Es ist nun nicht die Mehrheit, die im Namen von Respekt Praktiken einer Minderheit toleriert, sondern es ist eine Minderheit, die im Namen von Inklusion Praktiken der Mehrheit zu tolerieren hat. Das ist ein bemerkenswertes Phänomen. Diese Inklusion erfolgt im Namen eines territorial weiter gesteckten Rahmens, der – wohl auch auf dem Hintergrund kulturübergreifender Wertansprüche – über einen nationalen Kontext hinausgeht: Der dänische Karikaturenstreit (wie wohl auch die Auseinandersetzungen um Charlie Hebdo) haben internationale und transnationale Ausmaße, die auch den europäischen Raum übersteigen und gerade deswegen nicht allein im Kontext europäischer Werte diskutiert werden können.11
In Roses Position zeigen sich neue Akzente in der Frage nach dem Verständnis von Toleranz. Toleranz wird hier als Zumutung nicht für diejenigen, die die Macht haben, gesellschafliche Spielregeln aufzustellen, sondern als Zumutung für diejenigen, die in das gesetzte Spiel integriert werden sollen, aufgefasst. Das wiederum führt zu einem interessanten Punkt in der Inklusionsdebatte: Ist Inklusion die Eingliederung in ein bestehendes Spiel oder die Veränderung dieses Spiels durch diejenigen, die „von außen“ hinzukommen? Jonathan Sacks, der frühere Chief Rabbi des Commonwealths, hat anhand von drei Bildern auf die Unterschiede in der Integrationspolitik aufmerksam gemacht12: Das Bild des Hotels, das Bild des Gästehauses, das Bild des Bauplatzes. Wenn Menschen in ein Dorf ziehen, kann ihnen, so das Szenario, das Sacks entwirft, entweder ein Hotel (X zahlt die Rechnung, hat keine Schulden, kann aber auch nichts verändern) oder ein Gästehaus (X wird „auf Zeit“ eingeladen, es erwächst eine Gastschuld, X kann nur bedingt gestalten) oder ein Bauplatz (X will bleiben, kann gestalten, muss aber Hand anlegen). Durch die Idee eines Neubaues verändert sich das Dorfbild, verändert sich der öffentliche Raum. „Inklusion“ ist dann nicht „Einschluss in Bestehendes, von dem das Eingeschlossene inkorporiert oder absorbiert wird“, sondern: „gemeinsam ausgehandelte Veränderung des Geteilten und Gemeinsamen“. Diese Idee von „Inklusion als soziale Innovation“ sieht sich in Roses Standpunkt nicht bestätigt. Verlangt Toleranz ausdrücklich den „Bauplatz“ oder reicht ein Gästehaus? Diese Frage deutet auf den Kern der eigentlichen Diskussion im Europa des 21. Jahrhunderts hin – es geht um die Aushandlung von Individuum, Pluralismus und öffentlichem Raum. Bevor wir dieser Frage nachgehen, soll zunächst eni grundlegender Blick auff den Toleranzbegriff geworfen werden.
In Paris und Kopenhagen wurde eine blutige Spur gelegt, die ebenso mit Grenzen der Toleranz wie mit dem vernünftigerweise Zumutbaren (i.e. „Tolerierbaren“) zu tun hat. Was heißt es, etwas zu tolerieren? Dazu eine Zwischenbemerkung. Die Grundidee von Toleranz, wie ich sie verstehe, kann in folgendem Satz zusammengefasst werden:
P akzeptiert X, das von P abgelehnt wird, um eines höheren Gutes G willen.
Oder anders gesagt:
(1) P lehnt X in Situation S1 ab.
(2) P akzeptiert G in S1 und S2.
(3) P akzeptiert X in S2 aufgrund von G.
Kommentar: „P“ kann eine einzelne Person, aber auch eine Personengruppe, wohl auch eine Institution und ein Gemeinwesen sein. Freilich bleiben Entscheidungen und Äußerungen des Privileg des bewussten Einzelwesens, also der Person. „X“ kann alles sein, was unter die von Mary Douglas in die Diskussion eingebrachte Kategorie „out of place“ fallen kann. „Out of place“ ist das, was innerhalb einer Kultur, die als Mechanismus zur ständigen Aushandlung der Grenze zwischen „in place“ und „out of place“ verstanden werden kann, in einer bestimmten Situation unerwünscht, fehl am Platz ist; das kann ein Gegenstand, eine Handlung, ein Gefühl, eine Person sein. „S1“ ist eine Situation, in der G von P nicht berücksichtigt werden muss, gewissermaßen eine Situation, in der X für sich betrachtet werden kann oder auch eine Situation, in der P keine weiteren sozialen Handlungssubjekte mitzudenken hat. So steht „S1“ für eine Situation, in der P und X weitgehend isoliert betrachtet werden können. „G“ ist ein Gut, also etwas, dessen Vorliegen seinem Nichtvorliegen vorgezogen wird – es hat den Status des Wünschenswerten; im Sinne dieser Analyse hat „G“ die Funktion des „höheren Gutes“, um dessetwillen etwas akzeptiert wird, was ohne G nicht akzeptiert werden würde. „G“ kann ein einzenles moralisches Gut sein, kann aber auch für ein Bündel von Gütern stehen. „S2“ schließlich ist die komplexe und soziale Situation, in der weder X noch P isoliert betrachtet werden können. Es ist jener Typ von sozialer und moralisch differenzierter Situation, der in Fragen der Gestaltung des öffentlichen Raums und der Koordination menschlichen Verhaltens untereinander auftritt.
ad (1): Sinnvollerweise wird man mit Unterscheidungen und Abstufungen arbeiten – „ablehnen“ ist ein Begriff, der auf einem Spektrum eingetragen werden kann; relevant könnte die Unterscheidung zwischen „begründeter“ und „nicht begründeter“ Ablehnung sein; ebenso scheint die Unterscheidung von Intensitätsgraden der Ablehnung sinnvoll. Relevant ist auch die Form der Äußerung der Ablehnung. Grundsätzlich ist also ein „Warum“ und ein „Wie“ der Ablehnung in Betracht zu ziehen.
ad (2): Analog zum „Ablehnen“ können auch im Fall des „Akzeptierens“ unterschiedliche Begründungsstärken, Intensitätsgrade und Ausdrucksformen unterschieden werden. Der Begriff der „Akzeptanz“ deutet auf eine „Affirmatio“ hin, die das Vorliegen von X grundsätzlich bejaht – das bedeutet, dass X „gut geheißen“ wird. Strittig ist, wie weit diese affirmatio gehen muss. Muss X tatsächlich als „bonum“ betrachtet werden oder reicht es aus, X als „akzeptabel“ anzusehen. Diese Überlegungen knüpfen an Lockes Anliegen in seinem „Letter on Toleration“ an, dass niemand zum Glauben gezwungen werden könne, weswegen er die staatlich anzuerkennende Gedankenfreiheit postuliert, ein Argument, das sowohl (1) als auch (3) untermauern kann.
ad (3): In einer besonderen sozialen Situation S2 steht P vor einem anderen Regelwerk als in einer sozial weniger exponierten Situation S1. Hier gelten unterschiedliche Regelwerke und auch unterschiedliche moralische Güter, die zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. S2 bildet einen „Rahmen“, innerhalb dessen P als soziales und politisches Wesen und S1 als sozial relevante Situation verortet werden können. Die Wahrnehmung von Situationen als soziale Situationen (und damit die Wahrnehmung eines „Q“ durch P) hat Voltaire und andere Aufklärungsdenker dazu gebracht, Toleranz zum Zeichen der Menschlichkeit zu machen. Dennoch – gerade weil wir uns im sozialen Raum bewegen – oszilliert Toleranz zwischen Solidarität und Indifferenz, was sich in der Frage nach den Schattenseiten, den Kosten und den Grenzen von Toleranz niederschlägt. Zusätzlich kann man die Frage nach der Motivation von Toleranz stellen – ist es vernünfiger, auf eine solidarische Haltung oder auf „self interest“ zu setzen?13
Aus dieser Analyse ist klar, dass „Toleranz“ zunächst mehr einer „Duldung“ als einer begeisterten Affirmation von X gleicht. Seneca sprach in den Anfängen der Geschichte des Toleranzbegriffs von der „Dulderkraft“ der Seele, die bei einer gefestigten Seele so weit reiche, dass zwischen Freude und dem Ertragen von Schmerzen kein Unterschied mehr sei.14 An anderer Stelle ist von der „Willenskraft“ der Seele die Rede, „die sich Hartes und Raues zumutet“.15 „Toleranz“ zeigt sich hier als die Kraft, Widriges und Missliches zu ertragen, ohne dabei beeinträchtigt zu werden; es ist eine Form „moralischer Resilienz“, die hier vertreten wird. In diese Tradition fällt auch die christliche Idee, dass die Liebe „alles erträgt“ (1 Kor 13,7). Die jüdisch-christliche Tradition betont auch die „Langmut“ („Toleranz“?) Gottes angesichts des menschlichen Versagens.
Kritische Anfragen wird sich der Toleranzbegriff gefallen lassen müsse, wenn es, um wieder die angeführte Analyse zu zitieren, um das Verhältnis von (1) und (3) geht. Bedeutet Toleranz, dass starke Überzeugungen aufgeweicht und aufgelöst werden? Diese Anfrage hat etwa Friedrich Nietzsche gestellt: Sind starke Überzeugungen mit Toleranz vereinbar? In den „Streifzügen eines Unzeitgemäßen“ (18) in seiner Götzen-Dämmerung macht sich Nietzsche Gedanken über den toleranzbedingten Verlust von starken Überzeugungen: Er spricht von der Heuchelei in der sanften Luft unserer Kultur, in der man vom Glauben loslässt, den man hatte, oder sich einen zweiten Glauben zulegt. „Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel größere Anzahl von Überzeugungen möglich als ehemals … Daraus entsteht die Toleranz gegen sich selbst. – Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen: diese selbst leben verträglich beisammen.“16 Nietzsche argwöhnt, dass damit Geradlinigkeit, Echtheit und Willensstärke geopfert werden. Wie stark sind die in (1) ausgedrückten Überzeugungen in Bezug auf „X“, damit sie sich von „G“ überschreiben lassen? Die Gefahr schwacher Überzeugungen hat auch Herbert Marcuse in seinen Überlegungen zur repressiven Toleranz geortet. „Repressive Toleranz“ ist jene Gleichgültigkeit, die damit den je Mächtigeren dient.17
Hier zeigen sich die Fragen nach dem Status von „G“ und nach den Grenzen von (3). Oder anders gesagt: G kann stets das X in (1) werden, dem gegenüber sich ein je höheres G’ in (2) und (3) einstellen kann. Wo aber liegt hier die Grenze eines im Prinzip unendlich reiterierbaren Prozesses? Popper hat diese Grenze prominent mit Blick auf die handelnden Personen gezogen: „We should therefore claim … the right not to tolerate the intolerant.“18 Damit kristallisiert sich die Frage nach der Akezptanz von Andersartigkeit und die Pluralismusfähigkeit als Schlüsselmomente des Toleranzbegriffs heraus.
Im Lichte (oder Schatten) von Paris und Kopenhagen wurde die Aushandlung von Individuum, Pluralismus und öffentlichem Raum als Kernfrage identifiziert. Dies hat sich mit Blick auf die Analyse des Toleranzbegriffs verschärft. Isaiah Berlin ist einer der wichtigsten Vertreter eines Verständnisses von Pluralismus als eines Wertes in sich. Monismen mit ihren Ansprüchen auf kohärente und umfassende Erklärungen gingen nach Berlin an den vielfältigen (heterogenen, fragmentierten) Formen, in denen sich uns die Realität darstellt und an den entsprechend vielen Perspektiven vorbei. „Empathie“ und „Vorstellungskraft“ werden als entscheidende Pluralismusfähigkeiten herausgeschält: „ If I am a man or woman with sufficient imagination (and this I do need), I can enter into a value-system which is not my own, but which is nevertheless something I can conceive of men pursuing while remaining human, while remaining creatures with whom I can communicate, with whom I have some common values – for all human beings must have some common values or they cease to be human, and also some different values or else they cease to differ, as in fact they do.“19 Empathiefähigkeit und Vorstellungskraft sind die Voraussetzungen dafür, dass ich mich in ein anderes Wertesystem einbringen kann. Dazu kommt die Einsichtin die eigene Fehlbarkeit, die gerade im Verbund mit Empathie zu einer Voraussetzung gedeihlichen Zusammenlebens in Vielfalt wird : „Let us have the courage of our admitted ignorance, of our doubts and uncertainties. At least we can try to discover what others […] require, by […] making it possible for ourselves to know men as they truly are, by listening to them carefully and sympathetically, and understanding them and their lives and their needs, one by one individually. Let us try to provide them with what they ask for, and leave them as free as possible.“20
Während Isaiah Berlin den Pluralismus verteidigt, betont der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt die Bedeutung von starken Überzeugungen; Frankfurt hat in seinen Arbeiten immer wieder auf „Strukturen der Sorge“ hingewiesen, die die Identität eines Menschen prägen; durch das, worum wir uns sorgen, bekommt unser Leben ein unverwechselbares Profil und wir werden an unserem eigenen Leben beteiligt – und gleichzeitig erfahren wir Einschränkungen und Verwundbarkeiten: „Caring about something makes us susceptible to certain additional gratifications and disappointments. It is primarily because it serves to connect us actively to our lives“.21 Durch Strukturen starker Sorge entwickelt sich ein gestaltetes Leben, das Personen mit Identität, die durch besondere Bindungen und besondere Verpflichtungen konstituiert – und entsprechend eingeschränkt – ist, auf sich nehmen. Hier kommen auch starke Übezeugungen ins Spiel. Aufgrund der Bindung an einen Menschen sorgen wir uns um etwas, was wiederum entscheidenden Einfluss auf unseren Charakter und die Qualität unseres Lebens hat.22 Dadurch, dass wir uns um Dinge sorgen, werden sie für uns wichtig, „it is by caring about things that we infuse the world with importance.“23 Dieser Sinn für Bedeutsamkeit verdichtet sich, wenn wir etwas „mit ganzem Herzen“ anstreben – erst dann, wenn diese „wholeheartedness“ gegeben ist, haben wir uns das Leben zu eigen gemacht und handeln aus Eigenem heraus. Uns selbst ernst zu nehmen bedeutet, mit starken Überzeugungen starke Sorge zu übernehmen und etwas mit ganzem Herzen zu verfolgen.
Nun wird Toleranz zwischen Berlin und Frankfurt zu lokalisieren sein – auf der einen Seite geht es um Empathiefähigkeit und Vorstellungskraft, auf der anderen Seite um eine Kultur starker Überzeugungen und starker Sorge. Ich möchte vorschlagen, dass diese beiden Ansätze auf ein Plädoyer für „Polyglottie“ hinauslaufen. Diese Idee stellt sich gegen eine neutrale Konzeption des öffentlichen Raums, die gerade in der Frage der Präsenz von Religionen und religiösen Symbolen eine wichtige Rolle in Europa spielt.24 Es is auch vorgeschlagen worden, dass es gerade die Konzeption des öffentlichen Raumes ist, die dazu führt, dass es in Frankreich einen Kopftuchstreit gibt, in den USA hingegen nicht.25 Bedeutet Toleranz im öffentlichen Raum, dass dieser neutral ist? Einschlägige Diskussionen wie der Kruzifixstreit (ist das Kreuz primär ein religiöses oder primär ein kulturelles Symbol?) oder der Kopftuchstreit (darf eine Frau im öffentlichen Raum aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen, gerade auch dann, wenn sie im öffentlichen Raum – als Repräsentantin einer Institution oder des Staates – tätig ist?) haben die Sensibilität für die Frage nach den Konturen des öffentlichen Raumes geschärft. Die Frage nach der Neutralität bzw. Konturiertheit des öffentlichen Raumes wird gerade in der Frage nach der Präsenz von Religion im „public square“ deutlich, wie sich wiederholt im Vereinigten Königreich gezeigt hat: Im Jahr 2003 sagte Alastair Campbell, der damalige Medienberater des englischen Premierministers Blair: „We don’t do God“. Drei Jahre später nahm Blair das Wort „Gott“ in einem Interview mit Michal Parkinson in den Mund, als er auf die Rechtfertigung des Irakkrieges angesprochen wurde. Die einflussreiche Philosophin und Politikerin Baroness Mary Warnock schrieb im New Statesman im April 2008, dass Politiker nicht fragen dürften: „‘What does my religion teach about this measure’ but ‚Will society benefit from it in the empirical world?’“ Diese Momentaufnahmen weisen auf ein zweifaches Unbehagen und eine mögliche Sehnsucht hin. Das Unbehagen rührt zum einen daher, dass Gott nicht für politische Zwecke, gleichsam als stiller Wahlhelfer, instrumentalisiert werden möge. Hier geht es auch um die Achtung vor dem religiösen Empfinden von Menschen, die ihren gemeinschaftlichen Glaubensausdruck ernst nehmen. Das andere Unbehagen wird durch den Artikel Mary Warnocks deutlich: Politikschaffende werden als Menschen gezeichnet, die die eigene religiöse Überzeugung unter den Scheffel stellen, um der Gesellschaft „in der empirischen Welt“ zu dienen. Hier deutet sich bei allem Verständnis für das ausgedrückte Anliegen kein Übermaß an Vertrauen auf die eigene religiöse Tradition und kein Übermaß an Tiefe bezüglich der eigenen Glaubensposition an. Die mögliche Sehnsucht ist freilich die: Politikprägende Persönlichkeiten mögen ihre Arbeit nicht als gespaltene Personen tun, sondern im Einklang mit den Überzeugungen, die die tiefsten Identitätsschichten des Menschen ansprechen.
Die Tradition des liberalen Denkens betont mitunter zwei große Grundsätze, auf denen die liberale Philosophie aufruht: Zum einen der Grundsatz von der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und der öffentlichen Sphäre, zum anderen der Grundsatz vom privaten Charakter religiöser Angelegenheiten. Beides scheint bei näherer Betrachtung nicht so einfach. Was darf man sich unter einem weltanschaulich neutralen Dorfplatz in Tirol, Sardinien oder Sussex zur Weihnachtszeit vorstellen? Und: Wie attraktiv wären weltanschaulich neutrale öffentliche Orte für die Touristin und den Touristen? Erinnert uns nicht die identity economics daran, dass wir ökonomische Entscheidungen auf Grundlage von Identitätsvorstellungen treffen?26 Die These lautet, dass identitätsstiftenden Kategorien mit sozialen Erwartungen verbunden sind, denen Menschen zu entsprechen suchen. „Individuals’ behaviour depends on who people think they are.“27 Verhält es sich bei politischen Entscheidungen grundlegend anders?28 Wieviel Profil hat öffentlicher Raum ohne weltanschaulich-religiöse Elemente? Auf welcher Grundlage können Entscheidungen getroffen werden?
Zwischen Berlin und Frankfurt will ich, wie angedeutet, den Begriff der Polyglottie einbringen. Der öffentliche Raum bzw. diejenigen, die diesen gestalten, mögen vielsprachig sein. Dieser Gedanke steht der Idee einer agnostischen Einheitssprache im („neutralen“) öffentlichen Raum entgegen.29 John Rawls hatte seinerzeit akzeptiert, dass sich religiöse Menschen in den öffentlichen Diskurs einbringen, allerdings in einer nichtreligiösen Sprache, die den Standards von „public reason“ Genüge tue.30 Nun wissen wir seit Horkheimers und Adornos Ausführungen in ihrer Dialektik der Aufklärung zu viel über die Probleme einer vermeintlich „neutralen Vernunft“, um dies einfach akzeptieren zu können. Statt einer Einheitssprache kann deswegen im Sinne Berlins wie Frankfurts für Polyglottie plädiert werden. Es sind „Weltanschauungssprachen“ zu lernen, wenn man sich im pluralistischen Raum bewegt. Hier wird Toleranz als anspruchsvoller Begriff deutlich: Es ist nämlich kein Zeichen von Toleranz, Inhalte zu affirmieren (oder auch zu negieren), die man nicht verstanden hat. Das hat auch viel mit „Achtung“ und „Respekt“ zu tun, ist doch nach Iris Murdoch das Lieben eines Menschen vergleichbar mit dem Erlernen einer Fremdsprache: Man muss demütig, ausdauernd und selbstvergessen sein.31 Ähnlich sehe ich die Begegnung von Menschen im öffentlichen Raum herausgefordert durch die Idee der Vielsprachigkeit. Eine Muslimin darf ein religiöses Argument (als Argument!) in den öffentlichen Diskurs einbringen, wobei es an meiner Fremdsprachenkenntnis liegt, das Argument als Argument zu verstehen. Ein Vertrag allein kann die für ein anspruchsvoll tolerantes Miteinander notwendiges Dialogniveau nicht garantieren. Nichtdialogischer Pluralismus, der eine neutrale Sphäre, in der aufgrund einer Kontraktualisierung Kooperation ohne Gesprächskultur stattfinden kann, ist nicht ausreichend. Silvio Ferrari weist entsprechend auf den Wert des Dialogprozesses hin: „It may be that, at the end of this consultation process, it will still be impossible to reach a mutually agreed solution: In that case, a choice will be required between the application of the majority rule and the recourse to neutrality by exclusion, that is, by banning all religious symbols from schools. But even when a shared decision cannot be reached, consultation and dialogue are not a wasted effort. Through them, the issue of religious symbols becomes part of the educational process. The display of a religious symbol in the classroom is discussed and, whatever decision is taken at the end of the debate, people are compelled to accept their responsibilities. In this way, the crucifix – or another religious symbol – is no longer perceived as something obvious and irrelevant.“32
Die Anerkennung eines anderen kann nicht von der Berücksichtigung der Haltung dieses anderen gegenüber dem, was ihr und ihm heilig ist, getrennt werden. Und damit sind wir von Paris und Kopenhagen über Berlin und Frankfurt in Assisi angelangt.
Der 27. Oktober 1986 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte interreligiöser Verständigung. 27 christliche Denominationen waren repräsentiert, 37 Delegationen von 13 nichtchristlichen Religionen waren anwesend, 800 Journalistinnen und Journalisten waren zu diesem Ereignis akkredidiert. Dieser „Weltgebetstag für den Frieden“ war eine sorgsam choreographierte Veranstaltung, zu der Papst Johannes Paul II. eingeladen hatte: Nach einer Begrüßung durch Papst Johannes Paul II. versammelten sich alle Delegierten in der Basilica Santa Maria degli Angeli in einem Halbkreis, der Papst in der Mitte, ihm zur Rechten der Patriarch von Konstantinopel, ihm zur Linken der Dalai Lama. In einer kurzen Ansprache betonte der Gastgeber eine recht verstandene Kultur des Pluralismus, die uns im Zusammenhang mit der Thematik der Toleranz beschäftigt: Er wies auf die Grenzen der Konsensfindung, die irreduzible Diversität, aber auch die Kraft des Zusammenkommens hin: „Die Tatsache, daß wir hierher gekommen sind, beinhaltet nicht die Absicht, unter uns selbst einen religiösen Konsens zu suchen oder über unsere religiösen Überzeugungen zu verhandeln. Es bedeutet weder, daß die Religionen auf der Ebene einer gemeinsamen Verpflichtung gegenüber einem irdischen Projekt, das sie alle übersteigen würde, miteinander versöhnt werden könnten, noch ist es eine Konzession an einen Relativismus in religiösen Glaubensfragen, weil jedes menschliche Wesen ehrlich seinem rechtschaffenen Gewissen folgen muß mit der Absicht, die Wahrheit zu suchen und ihr zu gehorchen. Unsere Begegnung bezeugt nur – und das ist ihre wirkliche Bedeutung für die Menschen unserer Zeit –, daß die Menschheit in dem großen Kampf für den Frieden, gerade in ihrer Verschiedenheit, aus ihren tiefsten und lebendigsten Quellen schöpfen muß, von wo ihr Gewissen geformt wird und auf dem das sittliche Handeln der Menschen gründet.“33 Diese Aussagen erhellen Grenzen, aber auch Kraft des Pluralismus in den Religionen.
Nach diesem ersten Akt wurden die verschiedenen Delegationen zu verschiedenen Orten gebracht, an denen sie gemäß ihrer jeweiligen Tradition einige Stunden beteten. Dabei wurden verschiedene Kirchen, aber auch andere Gebäude benutzt. Der dritte Akt dieses Dramas der Verständigung ab 14 Uhr war eine „Wallfahrt“ der Delegationen von ihren verschiedenen Orten aus auf den Rathausplatz von Assisi. Marcello Zago, ein Mitverantwortlicher des Tages, beschreibt: „I led each delegation in turn to the prayer podium set apart from the large platform on which the Pope’s invited guests sat in a semicircle. This logistic separation was deliberately chosen so that every hint of syncretism was excluded. We were together to pray, each according to his own tradition. Beyond these necessary distinctions, however, a profound sense of respect and communion reigned among all who were present. The square was not a theater where one watched a performance but rather a shrine in which one was present as a participant.“34 Im Rahmen dieses „Versammeltseins an einem Ort, um auf je eigene Weise zu beten“ gab Papst Johannes Paul II. eine Ansprache, in der er wiederum auf Intention und Aussagekraft der Veranstaltung einging: „Mit den anderen Christen teilen wir viele Überzeugungen und besonders, was den Frieden betrifft. Mit den Weltreligionen teilen wir eine gemeinsame Achtung des Gewissens und Gehorsam ihm gegenüber, das uns allen lehrt, die Wahrheit zu suchen, die einzelnen und die Völker zu lieben und ihnen zu dienen, und deshalb unter den einzelnen Menschen und unter den Nationen Frieden zu stiften. Ja, wir alle halten das Gewissen und den Gehorsam gegenüber der Stimme des Gewissens für ein wesentliches Element auf dem Weg zu einer besseren und friedvolleren Welt. Könnte es anders sein, da doch alle Männer und Frauen in dieser Welt eine gemeinsame Natur, einen gemeinsamen Ursprung und ein gemeinsames Schicksal haben? Wenn es auch zwischen uns viele und bedeutsame Unterschiede gibt, so gibt es doch auch einen gemeinsamen Grund, von wo her es zusammenzuarbeiten gilt für die Lösung dieser dramatischen Herausforderung unserer Zeit: wahrer Friede oder katastrophaler Krieg?“ Danach wies er auf das Gebet als das Fundament des Friedens hin. Johannes Paul II. drückte die Überzeugung aus, „daß der Friede die menschlichen Kräfte weit übersteigt, besonders in der gegenwärtigen Lage der Welt, und daß deshalb seine Quelle und Verwirklichung in jener Wirklichkeit zu suchen ist, die über uns allen ist.“ Die Auslegung dieser Wirklichkeit ist in verschiedenen Religionen und Traditionen unterschiedlich; ein Zusammenkommen verstärke dieses Bewusstsein der jeweiligen Besonderheit, doch habe der Weltgebetstag für den Frieden die „Verantwortung jeder Religion für das Problem von Krieg und Frieden bewußter gemacht.“ Der Schlussakt des Tages wurde in einem gemeinsamen Mahl gesetzt.
Der Tag ist bis heute Gegenstand theologischer und kulturwissenschaftlicher Reflexionen, die gerade auch mit der Frage nach „Toleranz“ zu tun haben. Einige Eckpunkte aus Sicht der Toleranzforschung: (1) Nähe lässt Differenzen wie Gemeinsamkeiten klarer hervortreten; (2) es gibt brennende Fragen, die es praktisch unerlässlich wie ethisch geboten erscheinen lassen, das Gemeinsame vor dem Trennenden zu betonen und sich zu einer Gesinnungsgemeinschaft in diesen Fragen zusammenzuschließen; (3) ein Dialog, in dem Heiliges und Existentielles (Religion und Friede) involviert sind, muss sorgsam geplant sein, weil Details symbolisch aufgeladen sind; (4) die Verschiedenheit lässt aus einer Vielheit von Quellen schöpfen, was für die in (2) betonten Anliegen fruchtbar ist.
Assisi hat bei aller Kritik35 auf die Entwicklung einer Haltung geachtet.36 Eine Grundfrage lautet beispielsweise: Worin besteht der an diesem Tag zum Ausdruck gebrachte Unterschied zwischen „being together in prayer“ versus „praying together“? Hier wird eine Behutsamkeit, eine „heilige Scheu“ deutlich, die jener fundamentalen Disposition nahe steht, die „Pluralismus als Lebensform“ und „Toleranz als Lebensweise“ ermöglicht. Assisi hat die Kultivierung einer Haltung genährt. Einer Haltung von Sorge um das „globale Gemeinwohl“ und einer Haltung von Achtung gegenüber Andersdenkenden und Andersempfindenden. So kann man „Toleranz“, verstanden als „dispositionalen Begriff“37,mit einer Haltung vergleichen, die dem entspricht, was man im Lateinischen „magnanimitas“ nennt. Damit ist eine Haltung der Weitherzigkeit gemeint, die ohne große innere Anstrengung mit verschiedenartigen Menschen und Ideen umzugehen versteht.
Der vorliegende Band versammelte verschiedene Zugänge zu Toleranz als einem spezifisch europäischen Wert; ich werde nun nicht die Inhalte der einzelnen Beiträge referieren, da diese für sich selbst sprechen und die Leserin keine Abkürzungen benötigt. Ich will nur darauf aufmerksam machen, dass es vor allem drei Anliegen sind, die dieser Band verfolgt: Es geht um die Fragen von Identität und Toleranz im Sinne von Frankfurt, es geht um das Miteinander in Vielfalt im Sinne Berlins, es geht um Grenzen von Toleranz und Konflikte im Sinne von Paris und Kopenhagen. Ich hege die leise Hoffnung, dass „Assisi“ ein roter Faden sein könnte, der sich durch diese Anliegen zieht.
1 S. Weaver, Liquid Racism and the Danish Prophet Muhammad Cartoons. Current Sociology, 58,5 (2010) 675–692.
2 Vgl. E. Burns Coleman, The Offenses of Blasphemy: Messages in and through Art. 45 (2011) 67–84; S. Laegaard, The Cartoon Controversy: Offence, Identity, Oppression? 55,3 (2007) 481–498; R. Post, Religion and Freedom of Speech: Portraits of Muhammad. 14,1 (2007) 72–90.
3 Vernunft ist nach Ulrich Steinvorth Geltungsansprüche (U. Steinvorth, Was ist Vernunft?. München 2002, 21).
4 Thomas von Aquin, II.II., q. 13, a. 3 – als direkt gegen Gott gerichtete Sünde wiegt die Blasphemie schwerer, ist aber dennoch keine Tat, die Gott „beschädigen“ könnte; diese Gedanke ist in Blasphemiediskussionen nicht unwichtig: Kommt Gott in einer gegen Gott gerichteten Blasphemie (Schmähung Gottes, Beschädigung oder Zerstörung eines heiligen Gegenstandes) zu Schaden? „Während des Krieges sah Wittgenstein, wie Hostien in Stahlbehältern transportiert wurden. Das machte auf ihn einen lächerlichen Eindruck.“ Und ließ ihn über religiöse Einstellungen jenseits des Argumentierbaren nachdenken (L. Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Hg. R. Rhees et al. Frankfurt/Main 2001, 74). An derselben Stelle findet sich ein Beispiel, das Wittgensteins Fideismus andeutet: „Angenommen, jemand glaubt an das Jüngste Gericht, ich dagegen nicht. Bedeutet das, daß ich das Gegenteil glaube, gerade, daß es so etwas nicht geben wird? Ich würde sagen: ‚Ganz und gar nicht, oder nicht in jedem Fall.‘“
5 David Nash, „Analyzing the History of Religious Crime: Models of ‚Passive’ and ‚Active’ Blasphemy since the Medieval Period,“ 41.1 (2007), 5–29, hier 6. Zum Begriff der Blasphemie vgl. A. Dacey, The Future of Blasphemy: Speaking of the Sacred in an Age of Human Rights. London 2012.
6 Vgl. C. Sedmak, Der Glaube ist praktisch – über die Erkennbarkeit der Orthodoxie. 137,1 (2015) 86–103, hier 91.
7 C. Baumgartner, Blasphemy As Violence: Trying to Understand the Kind of Injury That Can Be Inflicted by Acts and Artefacts That Are Construed As Blasphemy. 6 (2013) 35–63. Baumgartner sieht „Blasphemie“ (verstanden als Akt gegen Göttliches, aber auch Heiliges) nicht nur als „Beleidigung Gottes“, sondern auch als „an affront to order and the social community, and hence a social and political problem“ (S. 44) und definiert Gewalt als „inflicting injury on a person by an agent who knows or ought reasonably to have known that his or her act would bring about the injury in question“ (S. 37). Damit sieht er eine Argumentationsgrundlage, um Blasphemie als politisch relevante Kategorie im öffentlichen Raum zu etablieren, als eine Kategorie, die für die Koordination des menschlichen Sozialverhaltens bedeutsam ist.
8 D. Benatar, Taking Humour (Ethics) Seriously, But Not Too Seriously. 2,1 (2014) 24–43, v.a. 33–40.
9 Vgl. A. Fisher, H. Ramsay, Of Art and Blasphemy. 3.2 (2000) 137–167.
10 Fleming Rose, zitiert nach: L. Lindekilde, P. Mouritsen, R. Zapata-Barrero, The Muhammad cartoons controversy in comparative perspective. 9,3 (2009) 291–313, hier 302.
11 S. Laegaard, Normative significance of transnationalism? The case of the Danish cartoons controversy. 3,2 (2010) 101–121.
12 J. Sacks, The Home We Build Together. Recreating Society. London 2007.
13 Letzteres schlagen Ryan Muldoon, Michael Borgida und Michael Cuffaro vor: The conditions of tolerance. 11,3 (2011) 322–344.
14 Seneca, Briefe an Lucilius I, Brief 66,13. In: Seneca, Philosophische Schriften. Wiesbaden 2004, 241.
15 Ebd. (Brief 31,7), 117.
16 F. Nietzsche, Werke in vier Bänden, Band 4. Hg. G. Stenzel. Salzburg 1985, 407.
17 H. Marcuse, Repressive Tolerance. In: R.O. Wolff, B. Moore, H. Marcuse, Critique of Pure Tolerance. Boston 1965.
18 K. Popper, The Open Society and its Enemies 1. London 1962, 265.
19 I. Berlin, My intellectual path. In: H. Hardy (ed.), The Power of Ideas. Princeton, NJ 2000, 1–23, hier 12; vgl. J. Ferrell, Isaiah Berlin: Liberalism and pluralism in theory and practice. 8,3 (2009) 295–316.
20 I. Berlin, Russian Thinkers. In: H. Hardy and A. Kelly (eds), London 1978, 258. Die fruchtbare Verbindung von einem Verständnis der eigenen Grenzen und Empathie kommt auch an einer bedeutsamen anderen Stelle zum Ausdruck: „I am not blind to what the Greeks valued-their values may not be mine, but I can grasp what it would be like to live by their light, I can admire and respect them, and even imagine myself as pursuing them, although I do not-and do not wish to, and perhaps could not if I wished.“ (I. Berlin, Four Essays on Liberty. Oxford 1969, 168).
21 H. Frankfurt, The Importance of What We Care About. Cambridge 14 2007, 93.
22 H. Frankfurt, The Reasons of Love. Princeton 2004, 10–17.
23 Ebd., 23.
24 K. Koukouzelis, Neutrality, Religious Symbols and the Question of a European Public Sphere. 4,2 (2008) 41–60; D. McGoldrick, Religion in the European Public Square and in European Public Life – Crucifixes in the Classroom? 11,3 (2011) 451–502; M.E. Roper, Secular Crosses and the Neutrality of Secularism. 45 (2012) 841–878; I. Rorive, Religious Symbols in the Public Space: In Search of a European Answer. 30,6 (2009) 2669–2698.
25 D. Gordon, Why Is There No Headscarf Affair in the United States? 34,3 (2008) 37–60.
26 G. Akerlof, R. Kranton, Economics and Identity. CXV,3 (2000) 715–753.
27 G.A. Akerlof, R.E. Kranton, Identity Economics. How Our Identities Shape Our Work, Wages, and Well-Being. Princeton 2010, 28.
28 Vgl. Stefan Huster, Der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates. Berlin 2004.
29 Es scheint in diesem Zusammenhang das Missverständnis zu geben, dass der Agnostizismus neutral sei. Der Agnostizismus als Standardeinstellung öffentlicher Debatten ist freilich eine Position, mit entsprechenden erkenntnistheoretischen und kulturellen Implikationen. Wenn viele Menschen, die nie gründlich über die im Hintergrund stehenden Fragen nachgedacht haben, sich der Sprache des Agnostizismus bedienen (so zu reden, als ob es Gott nicht gäbe), könnte dieser durchaus anspruchsvollen weltanschaulichen Sprache das Schicksal der englischen Sprache blühen, der Linguist/inn/en keine rosige Zukunft einräumen, weil zu viele Menschen zu oft schlechtes Englisch sprechen. Hier wäre ein Mehr an Polyglottie auch ein Mehr an Verständigungsmöglichkeiten wie auch ein Mehr an Qualitätssicherung für die als Schlüsselmedium identifizierte Sprache.
30 John Rawls, The Idea of Public Reason Revisited’. In: Ders., Collected Papers. New York 1999, pp. 584, 591–593.
31 Iris Murdoch, The Sovereignty of Good. New York 1970, 89.
32 S. Ferrari, State-Supported Display of Religious Symbols in the Public Space. 52,7 (2013) 7–22.
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