Dante Alighieri
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Der Text folgt der Übersetzung von Walter Naumann.
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Sonderausgabe 2015 (3., unveränderte Auflage)
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„In der Mitte unserer Lebensbahn
kam ich zu mir in einem finsteren Wald,
denn der gerade Weg war verfehlt.“
(„Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura,
ché la diritta via era smarrita.“)
Mit diesen Worten beginnt Dante Alighieri seine „Göttliche Komödie“, die nach der Bibel als der große Klassiker der Weltliteratur gilt. Hinter dem Titel verbirgt sich eine visionäre Jenseitswanderung, welche der Ich-Erzähler unter Führung des antiken Dichters Vergil unternimmt. Exakt 14.233 Verse umfasst seine Reise durch die Hölle („Inferno“), das Fegefeuer („Purgatorio“) und das Paradies („Paradiso“), während der er rund 900 Personen aus der Geschichte und Literatur begegnet. In Gesprächen und episodenhaften Erzählungen werden exemplarische Lebenshaltungen vorgestellt, aber es wird auch Kritik an zeitgenössischen Zuständen geübt. Nach dem Abstieg in die Tiefen der Hölle und der Läuterung im Fegefeuer erreicht der Erzähler am Ende seines Wegs das höchste Ziel der Menschheit, die Gottesschau im Paradies, die ihm dank der Fürsprache des hl. Bernhard und der Führung seiner Geliebten Beatrice zuteil wird.
Dantes ebenso wortmächtiger wie poetischer Weltentwurf fesselt die Leser ebenso wie die Literaten und Künstler bis heute. Die „Göttliche Komödie“ schildert die persönliche Heilsgeschichte des Erzählers, die sich als ein Spiegel des bewegten Lebens des Autors und der dramatischen Ereignisse seiner Zeit an der Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Renaissance verstehen lässt. Indem Dante die Erzählung ins Jenseits versetzt, verleiht er seiner Schilderung jedoch einen überzeitlichen und allgemeingültigen Anspruch, welcher Grundlage für den die Jahrhunderte überspannenden Erfolg des Buches ist.
Dante Alighieri wurde 1265 in Florenz geboren. Seinen Taufnamen Durante verkürzte er auf Dante und übernahm von seinem Vater und Großvater den Beinamen Alighiero. Seine Familie gehörte dem niederen Stadtadel an und war als Parteigängerin der Guelfen in den aufflammenden Machtkonflikt zwischen den verfeindeten Familienclans der Guelfen und Ghibellinen verwickelt. Über Dantes familiäre Herkunft ist wenig Genaues bekannt, gleiches gilt für seine 1285 geschlossene Ehe mit Gemma di Manetto Donati und seine vier Kinder.
Umso mehr weiß man über seine Liebe zu Beatrice, welche um 1283 einsetzt und über den frühen Tod der Geliebten 1290 hinaus Dantes gesamtes dichterisches Werk einschließlich der „Göttlichen Komödie“ durchzieht. Die Identität Beatrices ist allerdings umstritten: Während einige sie mit Verweis auf eine Behauptung von Dantes Biographen, des berühmten Dichters Giovanni Boccaccio, mit Bice Portinari, der Tochter des einflussreichen Kaufmanns Folco Portinari, identifizieren, halten viele Danteforscher sie mittlerweile eher für eine literarische Fiktion. In jedem Fall verkörpert Beatrice durch Schönheit, Liebreiz und Tugendhaftigkeit die Vorstellung einer Idealfrau und Künstlermuse der Frührenaissance. Seit dem ihr gewidmeten Gedichtband „Vita Nuova“ (dt. „Das neue Leben“; entstanden um 1292/1295) gingen Dante und Beatrice als ideales Liebespaar in die Geschichte ein.
Unerschöpfliche Grundlage für Dantes literarisches Schaffen waren seine umfassende Bildung und sein nahezu enzyklopädisches Wissen, welches er durch seinen Kontakt zu den „Kulturgrößen“ der Zeit stetig erweiterte, darunter vermutlich der Philosoph Brunetto Latini und die volkssprachlichen Dichter Guido Cavalcanti und Cino da Pistoia. Vor allem die „Göttliche Komödie“ lässt sich als eine „Summa“ des Wissens der Zeit verstehen, welche dem Leser auch eine Orientierung durch den bereits vor 700 Jahren beklagten „Wissensdschungel“ bieten sollte. Aus Dantes Dichtungen, unter anderem dem „Convivio“ (dt. „Gastmahl“; entstanden um 1306/1309), lässt sich entnehmen, dass er vermutlich ein Studium generale in den „Schulen der Mönche“ absolviert hat, sehr wahrscheinlich in den damals weithin renommierten Lehrstätten der Franziskaner und Dominikaner in Florenz. Angesichts des Stils des „Gastmahls“ und anderer Werke in lateinischer Sprache wird angenommen, dass er auch ein Universitätsstudium absolvierte, wobei vor allem Aufenthalte an der damals führenden Universität in Bologna und – mit Verweis auf eine Bemerkung bei Boccaccio – auch in Paris infrage kommen.
Die literarische Stilisierung der eigenen Lebensumstände in seinen Werken macht es im Rückblick schwierig, biographische Tatsachen und dichterische Fiktion zu trennen. Sehr viel besser als über Dantes geistige Ausbildung und persönliche Entwicklung sind wir über seine politische Karriere informiert. Sie vollzog sich vor dem Hintergrund des in der Toskana herrschenden Machtkampfes zwischen der Partei der Guelfen und jener der Ghibellinen. Dante kämpfte 1289–1290 auf der Seite der Florentiner Guelfen in der Schlacht von Campaldino, in welcher den in Arezzo und Pisa regierenden Ghibellinen eine schwere Niederlage zugefügt wurde. Mit seinem Eintritt in die Zunft der Ärzte und Apotheker 1295 erwarb er die Berechtigung, ein politisches Amt zu übernehmen. Bereits im November 1295 wurde er Mitglied im Rat des Capitano del Popolo, im Sommer 1296 war er im Rat der Hundert vertreten. Im Sommer 1300 ist er als eines von sechs Mitgliedern des Priorats, des höchsten Gremiums der Stadt, bezeugt. Während dieser Zeit kam es anlässlich eines Besuches des päpstlichen Legaten Matteo d’Acquasparta zu Unruhen zwischen den innerhalb der Guelfen-Partei rivalisierenden Gruppen der Weißen und der Schwarzen, die vom Papst unterstützt wurden. Gegen die Anweisung des Legaten verbannte das Priorat die Anführer beider Parteien aus der Stadt, worauf Florenz vom Papst mit dem Kirchenbann belegt wurde. Im November 1301, als eine städtische Gesandtschaft, darunter Dante, zu Verhandlungen mit Bonifatius VIII. in Rom weilte, nahm der vom Papst zu Hilfe gerufene französische König Karl von Valois die Stadt ein, um die Macht der Schwarzen wiederherzustellen und damit Florenz dem Kirchenstaat einzuverleiben.
Der Sieg der päpstlichen Partei hatte nicht nur für Dantes politische Karriere dramatische Folgen. Im Januar 1302 wurde er in Abwesenheit von allen Ämtern ausgeschlossen und zu einer Geldstrafe von 8000 Florin verurteilt, andernfalls würde sein Besitz konfisziert. Zusammen mit 14 anderen Weißen wurde er im März 1302 zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Dante kehrte nicht mehr nach Florenz zurück, sondern wählte das Exil. Auch seine Söhne mussten mit dem 13. Lebensjahr die Stadt verlassen, während seine Ehefrau in Florenz blieb.
Wo genau sich Dante in den folgenden Jahren aufgehalten hat, lässt sich nur mühsam und ungenau aus den Anspielungen auf Personen und Orte in seinem literarischen Werk rekonstruieren, da archivalische Nachweise fast vollständig fehlen. Wahrscheinlich blieb er vorwiegend in Ober- und Mittelitalien, wo er unter anderem wohl 1303/1304 in Verona bei Bartolomeo della Scala, 1304–1306 in Treviso bei Gerardo da Camina und danach in der Lunigiana im Norden der Toskana bei dem Markgrafen Franceschino Malaspina Aufnahme fand. Hier entstand ab 1307 die „Göttliche Komödie“, in welcher er nicht zuletzt seine persönlichen Erfahrungen mit der politischen Krisensituation und seinem unsteten Wanderleben verarbeitete.
Möglicherweise im Gefolge des Grafen Malaspina begegnete er 1311/1312 dem deutschen König Heinrich VII., der sich mit einem Heer seit Oktober 1310 in Oberitalien befand, um den Bürgerkrieg zu beenden, die französischen Besatzer zu verjagen und die Ansprüche des römisch-deutschen Kaiserreichs wiederherzustellen. Dante begrüßte Heinrich VII. in mehreren an diesen gerichteten Briefen und Dichtungen als Retter Italiens und huldigte ihm persönlich als Bewahrer des Weltkaisertums. Nach seiner Kaiserkrönung in Rom am 29. Juni 1312 zog Heinrich, auch von Dante brieflich dazu aufgefordert, gegen Florenz, doch scheiterte seine Belagerung der Stadt im Herbst 1312, und mit dem frühen Tod des Kaisers 1313 zerschlugen sich auch Dantes Hoffnungen auf eine Rückkehr in seine Heimatstadt. In der etwa zeitgleich verfassten „Göttlichen Komödie“ setzte er Heinrich VII. als „alto Arrigo“ ein literarisch stilisiertes Denkmal. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte Dante wohl teilweise am Hof der Scala in Verona und ab 1318 bei Guido Novello da Polento in Ravenna, wo er nach der Rückkehr von einer Reise im Auftrag Guidos in der Nacht vom 13. auf den 14. September 1321 starb und auch begraben wurde.
Dante Alighieris literarischer Weltruhm beruht heute vor allem auf der in den Jahren des Exils entstandenen „Göttlichen Komödie“ (1307–1320), doch tatsächlich beginnt sein schriftstellerisches Schaffen sehr viel früher. Das umfangreiche Œuvre ist durch eine große Vielfalt geprägt, was die Wahl der Themen, Gattungen, Formen bzw. Stilmerkmale und Sprachen angeht. Zusammen mit Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio wird Dante in der Literaturgeschichte zu den „Drei Kronen des Trecento“ gezählt, die als Musterautoren der Renaissance die italienische volkssprachliche Dichtung begründet haben. Dante hat jedoch, ebenso wie Petrarca und Boccaccio, auch Werke in lateinischer Sprache verfasst, darunter um 1304 die unvollendete Verslehre „De Vulgari Eloquentia“ (dt. „Zwei Bücher über die Ausdruckskraft der Volkssprache“) und 1319/1320 die „Eclogae“ (dt. „Eklogen“), zwei hexametrische Gedichte im Stil der bukolischen Rollengedichte Vergils, die angesichts ihres zukunftsweisenden humanistischen Anspruchs von einigen Forschern jedoch als spätere Fälschungen Boccaccios eingestuft werden. Sicher von Dante stammt sein staatsphilosophisches Hauptwerk „De Monarchia Libri Tres“ (dt. „Drei Bücher über die Monarchie“), das unter dem Eindruck des Machtkampfes in Italien entstanden ist und in dem er die göttliche Bestimmung des (römischen) Kaisertums zur Herrschaft über die Welt und eine Beschränkung des Papstes auf die geistliche Herrschaft vertritt. Dass sich Dante auch mit naturphilosophischen Fragen beschäftigt hat, zeigt sein 1320 in Verona gehaltener Vortrag mit dem Titel „Quaestio de situ et forma aquae et terrae“ (dt. „Untersuchung über Lage und Form des Wassers und der Erde“), in dem er die Frage behandelt, warum die Erde nicht vollständig von Wasser bedeckt ist.
Unter den volkssprachlichen Werken Dantes ragen vor allem seine Liebesgedichte heraus, die er bereits als junger Mann im Alter von 18 Jahren zu verfassen begann. Die insgesamt rund 90 Gedichte sind unter dem schlichten Titel „Rime“ (dt. „Reime“) vereint. Als Gattungen begegnen hauptsächlich die typisch volkssprachlichen Gedichtformen wie Sonette, Kanzonen und Balladen. Inhaltliches und formales Vorbild für Dante war die mittelalterliche okzitanische Troubadourlyrik, die er mit einigen befreundeten Dichtern wie Guido Cavalcanti und Dino Frescobaldi zu einem eigenen Stil weiterentwickelte, dem Dante den Namen „dolce stil novo“ (dt. „Neuer weicher Stil“) gab. In diesen Gedichten wird die Liebesthematik mit einem komplexen philosophischen Hintergrund versehen, der oft in bewusst rätselhaften sprachlichen Wendungen gefasst ist und nur von eingeweihten Zuhörern und Lesern verstanden werden kann.
Auf die ab etwa 1283 entstandenen „Reime“ folgt die bereits erwähnte autobiographische Dichtung „Vita Nuova“, in der Dante seine Liebe zu Beatrice thematisiert. Beatrice ist zum Zeitpunkt der Abfassung zwischen 1292 und 1295 bereits verstorben, und das Werk lässt sich als eine Art aus der Erinnerung verfasste „Trauerarbeit“ verstehen. An der Schwelle zu seinem „neuen Leben“ („Incipit vita nova“ – „Hier beginnt das neue Leben“) schildert der Erzähler in einer eigentümlichen Vermischung („Prosimetrum“) von Gedichten – darunter auch Wiederaufnahmen aus den „Reimen“ – und Prosakommentaren seine erste Begegnung mit Beatrice im Alter von neun Jahren, das Erwachen seiner Liebe, die Vorzüge Beatrices, seine Verehrung der Idealfrau und schließlich seine Trauer über ihren Verlust. Die poetische Stilisierung des eigenen Leidens wird durch die Schilderung von Ohnmachten und Traumvisionen dramatisch überhöht. Die Verehrung Beatrices zu Lebzeiten mündet in ihre Verklärung nach dem Tod. In der Vorstellung des Erzählers wird Beatrice zu einer heiligen, fast christusähnlichen Erlösergestalt, welche seine innere Wandlung zum Ziel führt und in dieser Funktion auch in der „Göttlichen Komödie“ auftritt.
Wohl um 1307, zur Zeit seines Exils, begann Dante Alighieri mit der Abfassung seines Hauptwerks, der „Göttlichen Komödie“, die er 1320, ein Jahr vor seinem Tod, vollendete. Er selbst hatte das Werk eigentlich nur „La Commedia“ (dt. „Die Komödie“) genannt, erst sein späterer Biograph Giovanni Boccaccio versah sie mit dem Beiwort „divina“ (dt. „göttlich“), was nach dem damaligen Sprachgebrauch am ehesten im übertragenen Sinne mit „wunderbar“, „phantastisch“, „hervorragend“ übersetzt werden kann und nicht im wörtlichen Sinne auf Gott zu beziehen ist, auch wenn dieser den Endpunkt der Jenseitswanderung bildet. Auch die Bezeichnung „Komödie“ darf nicht nach dem modernen Sprachgebrauch als „Lustspiel“ interpretiert werden, sondern ist als Verweis auf die zeitgenössische Gattungstradition zu verstehen. Dante wählte den Titel „Komödie“, weil die Handlung nach einem schrecklichen Anfang ein gutes Ende nimmt, was schon Aristoteles in seiner Poetik als Kennzeichen der Gattung herausgestellt hatte. Bei dieser Einordnung seines Werkes hatte Dante zudem eine weitere aristotelische Bestimmung im Blick, der zufolge die Ausdrucksweise der Komödie „einfach und bescheiden“ („remissus et humilis“) sein muss. Auch dieses Kriterium sah Dante durch die Verwendung der Volkssprache, also des Italienischen, erfüllt. Dante bewies mit der „Göttlichen Komödie“, dass auch die Volkssprache zur Darstellung von Ereignissen mit philosophischem Anspruch geeignet war, nicht nur das Latein der „hohen“ Gattungen.
Die Erzählung folgt einer auf den ersten Blick einfachen, aber genauestens durchdachten Struktur, die auf der Zahl Drei beruht. Die wichtigste Gliederung sind die drei Jenseitsbereiche Hölle, Fegefeuer und Paradies, welche der Ich-Erzähler auf seiner Wanderung durchschreitet. Diese drei Jenseitsbereiche entsprechen den drei großen Kapiteln („Cantiche“) der „Komödie“. Diese bestehen wiederum jeweils aus 33 Gesängen („Canti“), wobei der „Hölle“ ein zusätzlicher Gesang als Prolog vorangestellt ist. Insgesamt besteht die „Komödie“ also aus exakt 100 Gesängen. Auch die einzelnen „Gesänge“ sind nach dem Dreierprinzip durchgestaltet.
Es handelt sich um Dreierstrophen, sogenannte Terzine oder Terzarime, bei welchen die einzelnen Verse durch eine ausgeklügelte Reimverkettung miteinander verwoben sind. In dieser nach ihrem „Erfinder“ Dante auch „terza dantesca“ genannten Strophenform aus drei jambischen Elfsilbern wechseln sich die Reime dergestalt ab, dass stets der Mittelreim in der folgenden Strophe als Anfang und Ende wiederholt wird, so dass sich das Schema aba bcb cdc ded efe usw. ergibt, welches in einem Viererreim yzyz endet. Auf diese Weise entsteht eine äußerst rhythmische, nie eintönige und spannungsvolle Dichtung, welche sich bis ins Unendliche fortsetzen ließe, formal aber auf einen Höhepunkt am Ende des Gedichts ausgerichtet ist.
Diese scheinbar einfache, tatsächlich jedoch höchst kunstvolle und sprachlich komplexe Reimform ist in der deutschen Sprache kaum wiederzugeben, ohne den Rhythmus der Verse zu zerstören. Die meisten deutschen Übersetzungen verzichten daher auf die strenge Terzinenform, um die gesangsähnliche Musikalität der „Gesänge“ zu erhalten und damit auf rhythmischer Ebene eine interne Verbindung zwischen den Versen zu erreichen, wie das folgende Beispiel vom Beginn des 2. Gesangs zeigt:
„Der Tag ging dahin, und die dunkle Luft
entließ die Lebewesen, die auf Erden sind,
aus ihren Mühen, und ich einzig und allein
rüstete mich, den Kampf zu bestehen sowohl
mit dem Wege als auch mit dem Mitleid,
welchen das Gedächtnis, das nicht trügt, berichten wird.“
(2. Gesang, Vers 1–6)
Dante hat die Terzinenform sicher nicht ohne Grund gewählt bzw. speziell für die „Komödie“ entwickelt. Die Zahl Drei verweist auf die göttliche Dreieinigkeit als End- und Fluchtpunkt jeder Existenz und nach dem Verständnis der Zeit auch jeden Dichtens. Das Reimschema wird damit zum poetischen und zugleich poetologischen Spiegel einer theologischen Wahrheit. Die Terzine, welche Dante über 14.000 Verse zur Grundstruktur seiner Dichtung macht, verbinden ein statisches Prinzip, das sich als Widerspiegelung des ewigen Jenseits verstehen lässt, mit einem dynamischen Prinzip, das die Wanderung des Erzählers durch die drei Welten des Jenseits reflektiert und in der Gottesschau im Paradies kulminiert.
Die Anfangsstrophe der „Hölle“ versetzt den Leser bereits mitten in die Geschichte. Gemeinsam mit dem im Walddickicht verirrten Ich-Erzähler besteigt er anschließend einen Hügel, wo ihnen drei Raubtiere begegnen, welche sich als Sinnbilder der sündhaften Neigungen von Mensch und Gesellschaft verstehen lassen. Dann tritt Vergil, der von Beatrice gesandte Retter auf, der sich als Führer bei der nun folgenden Jenseitswanderung anbietet. Die Wahl Vergils geschieht nicht ohne Grund: Der spätantike Autor der „Aeneis“ galt im Mittelalter als ein Prophet des Christentums, dessen Schriften viel gelesen, kopiert und früh in die Volkssprachen übersetzt wurden.
Im 3. Gesang tritt die kleine Reisegruppe in die Hölle ein. Sie ist gemäß antiken Hadesvorstellungen trichterförmig gestaltet und unterhalb der heiligen Stadt Jerusalem gelegen. Die „Hölle“ ist in neun Schichten bzw. konzentrische Kreise unterteilt, in welchen gemäß der aristotelischen Ethik die Verdammten ausharren. Je tiefer man in die Hölle hinabsteigt, umso schlimmer werden die Verbrechen der Verdammten und umso größer ist die Schuld, die sie auf sich geladen haben. Den Einstieg bildet die Vorhölle („vestivolo“) als Ort der Gleichgültigen. Es folgt der erste Kreis („limbus“), in welchem sich die Ungetauften und die Heiden der Antike mit Minos als Richter befinden. Im zweiten bis fünften Kreis schmoren die unwillentlichen Übeltäter, im sechsten Kreis die Ketzer. Der siebte bis neunte Kreis beherbergt die willentlichen Übeltäter, unter ihnen die Verräter. In der Spitze des Höllentrichters, der zugleich die Erdmitte darstellt, befindet sich ein See. Er bedeutet als Sitz Luzifers zugleich die äußerste Entfernung von Gott und die ewige Dunkelheit.
Im „Purgatorio“, dem Läuterungsberg, können sündhafte Neigungen gesühnt werden. Durch das Emporsteigen werden schwere Sünden leichter. Auch der Jenseitswanderer Dante nimmt an dem Läuterungsweg teil. Ziel ist es, die traditionellen sieben Todsünden („peccata“) zu tilgen und so die Seele zu reinigen und auf die kommende Erlösung vorzubereiten. An der Spitze des „Fegefeuers“ steht das irdische Paradies. Hier übernimmt nun Beatrice die Führerrolle von Vergil. Der Ich-Erzähler erlebt die Vision eines allegorischen Triumphzugs, der sich als Rückschau auf die Kirchengeschichte verstehen lässt.
Auch das Paradies ist aus neun konzentrischen Kreisen aufgebaut, die in Umkehrung der Hölle jedoch nicht in ab steigender Trichterform, sondern als Aufstieg dargeboten werden. Indem sich der Erzähler gemäß den Maximen des „dolce stil novo“ in den Blick Beatrices versenkt, kann er die innere Verbindung zum Göttlichen herstellen und in die höchste Sphäre aufsteigen. Die Form des himmlischen Paradieses spiegelt das ptolemäische Weltbild, in dem ebenfalls neun konzentrische Sphären beschrieben werden. Sie sind bei Dante zugleich Sinnbilder der Tugenden. Im höchsten Himmel, dem Empyraeon, erlebt der Ich-Erzähler die ersehnte Gottesschau. Die Dichtung bedeutet die Darstellung einer mentalen Wirklichkeit, wobei die Schilderung der persönlichen Heilsgeschichte des Erzählers zugleich die Erkenntnismöglichkeiten des Lesers herausfordert und im Idealfall die Geschichte des Erzählers im eigenen Nachvollzug erleben lässt.
Eine einsame, schmale Männergestalt steht in einer dicht bewachsenen Waldlichtung, umringt von dunklen, hoch aufragenden Bäumen und blickt fragend über die Schulter zurück. Der Mann ist noch jung, in seinem langen Mantel wirkt er fast wie ein Mönch, den inmitten der bedrohlich mit ihren Wurzeln nach ihm ausgreifenden Baummassen der Mut verlassen hat. Er steht etwas abseits vom hell erleuchteten Wegstreifen, sein Mantelsaum hat sich bereits im sich windenden Dickicht des säumenden Gebüschs verfangen. Im Hintergrund verliert sich der Weg im Waldesdunkel, in dem schemenhafte kahle Bäume erkennbar sind, die eine bedrohliche Silhouette entfalten. Doch auch der rettende Rückweg ist durch das verschlungene Gebüsch im Vordergrund versperrt. Umso eindringlicher wirkt der Hilfe suchende Blick des Mannes, der sich direkt auf den Betrachter zu richten scheint.
Mit dieser eindringlichen Szene beginnt der französische Maler und Graphiker Gustave Doré (1832–1883) seinen Illustrationszyklus zu Dantes „Göttlicher Komödie“. Der Holzstich ist nicht nur eine bildliche Übersetzung von Dantes berühmten Eingangsversen „In der Mitte unserer Lebensbahn/kam ich zu mir in einem finsteren Wald,/denn der gerade Weg war verfehlt“, sondern zugleich ein Appell an den Betrachter, dem Helden und Erzähler auf seiner Jenseitsreise zu folgen. Dieses Ansinnen wird durch die Komposition und vor allem die Lichtregie unterstützt, welche durch die diagonale Ausrichtung nach rechts hinten einen soghaften Effekt ausüben. Gleichzeitig wird durch den dunklen Hintergrund eine klare Orientierung verwehrt und eine geheimnisvolle Spannung aufgebaut, welche buchstäblich zum tieferen Eintauchen in die Geschichte auffordert.
Die Landschaft ist bei Doré weit mehr als nur Schauplatz und rahmende Kulisse. Bereits beim ersten Stich seiner Illustrationsfolge wird deutlich, dass die Natur auch ein Spiegel der Eindrücke des Erzählers ist und damit ein wesentlich intensiveres Mit- und Nacherleben seiner visionären Jenseitswanderung erlaubt als dies durch eine einfache Wiedergabe des Geschehens möglich gewesen wäre. Dabei entstehen, je tiefer der Erzähler in die Hölle hinabsteigt und anschließend durch das Fegefeuer ins Paradies aufsteigt, im Verlauf der Geschichte wahre „Licht-Landschaften“, mit deren Hilfe Doré die eigentlich undarstellbaren Jenseitswelten vor Augen führt.
Scheint die Eingangsillustration durch den rückwärts gewandten Blick zum Betrachter und die in helles Licht getauchte Protagonistenfigur noch eine letzte Aussicht auf Rettung zu beinhalten, so wird im folgenden Bild jede Möglichkeit der Hoffnung zunichte gemacht. Hier steht die weit in den Mittelgrund gerückte Erzählergestalt in ihrem langen Mantel vor einem felsigen Abgrund in einer schwarzdunklen Schlucht, die von riesigem, kahlem Wurzelwerk bewachsen ist, welches jeden Moment auf den Helden zu stürzen droht. Noch bedrohlicher wirkt aber der große Löwe im Vordergrund, der majestätisch auf einen Felsen gestützt aggressiv mit dem hell beleuchteten Schweif schlägt. Ganz im Hintergrund tut sich zwischen den hoch aufgetürmten Felsen ein Dreieck hellen Himmels auf, das für die einsame Gestalt jedoch unerreichbar bleibt.
Es ist der graphischen Kunst Gustave Dorés zu verdanken, dass die Felslandschaft trotz ihrer Kargkeit und Unwirtlichkeit nicht als tote Natur, sondern wie verlebendigt erscheint. Tatsächlich erfordert der dunkle Holzstich vom Betrachter ein intensives Einsehen. Sobald sich das Auge aber an das Dunkel der Komposition gewöhnt hat, offenbaren sich die Unterschiede in der Linien- und Lichtführung, welche zur Akzentuierung der einzelnen Figuren und Landschaftselemente dienen. Neben Parallel- und Kreuzschraffuren bediente sich Doré für die Lichtakzente feinster kurzer Striche, Häkchen und Punkte, die einen flimmernden Effekt erzeugen, wie er bei den abfallenden Felswänden im Mittel- und Hintergrund sichtbar ist. Durch die Verknüpfung der verschiedenen Techniken entfaltet die Graphik eine malerische Wirkung in der Art eines phantastischen Landschaftsgemäldes. Während die Bildräume des Höllenzyklus in immer tieferem, stets jedoch differenziert durchgestaltetem Schwarz versinken und die Szenen des „Fegefeuers“ als Übergangswelt durch ein ausponderiertes Grau dominiert werden, visualisiert Doré die überirdische Lichtfülle des Paradieses durch die Auflösung fester Formen und ein zunehmendes Verschwinden von Linien besonders im Mittel- und Hintergrund der Bilder.
Bereits von Zeitgenossen wurde die besondere atmosphärische Wirkung von Dorés Kompositionen gelobt. So erkannte der einflussreiche Romancier und Kunstkritiker Théophile Gautier schon 1857 Dorés „visionären Blick, […] der sogleich die geheimnisvolle Seite der Dinge durchschaut, der die Natur unter einem seltenen Einfallswinkel sieht, indem er die innerlich verdeckte Form unter der gewöhnlichen Erscheinung freilegt. Seine Ideen sind angeboren. Das, was sich ausdrückt, ist die erstaunliche Homogenität seiner Kompositionen, die sehr locker sind und sehr überstürzt, und trotz der Unordnung, der Schnelligkeit und zu oft auch der Fehlerhaftigkeit im Schaffen verleiht das wirkende Leben ihnen einen Wert, den nicht einmal mehr die untadeligen Werke haben und die mehr vollendeten; seine flüchtig schraffierten Skizzen wurden mit Säbelhieben erdacht, im wahrsten Sinne des Wortes, bevor sie auf den Stein oder das Holz übertragen wurden. Der Maler sieht bereits alles in sich fertiggestellt.“
Mit seiner überbordenden Imagination erscheint Gustave Doré auf den ersten Blick als idealer Illustrator von Dantes „Göttlicher Komödie“, die wie kaum ein anderes Werk der Weltliteratur die Vorstellungskraft des Lesers herausfordert und bei jedem Gesang erneut auf die Probe stellt. Genau in dieser imaginären Gewalt des Textes lag für Doré die spezielle Herausforderung bei seinem Illustrationsvorhaben. Denn als Illustrator hatte er sich nach den Vorstellungen der Zeit grundsätzlich nach dem Text zu richten und diesen möglichst getreu in Bilder umzusetzen; es handelt sich also nicht um eine freie Bildfolge nach einem literarischen Motiv. Anspruchsvolle Illustrationen bieten allerdings keine „wörtliche“ Übertragung des Textes in Bilder, sondern sind stets ein Stück weit Interpretation und erschließen im Idealfall durch die persönliche Sicht des Künstlers Elemente und Sinnschichten des Textes, welche sonst im Verborgenen liegen.
Doré suchte seinen Zugang zur mehr als 550 Jahre alten Textvorlage nicht über den philosophisch-theologischen Anspruch der „Komödie“ als allegorischer Weltentwurf. Er nahm Dantes Beschreibung der Jenseitsreise vielmehr als Ausgangspunkt, um seine eigenen Vorstellungen von Himmel, Hölle und Fegefeuer zu entfalten, in welchen er seine ganze Phantasie und Gestaltungskraft ausleben konnte. Zwar folgt Doré sehr genau der Handlung der „Komödie“ und stellt die von Dante geschilderten Erlebnisse und Begegnungen des Erzählers detailliert dar, doch treten die Personen in seinen Kompositionen häufig in den Hintergrund zugunsten einer Evokation von Raum und Atmosphäre. Durch die geschickte Lichtregie und kompositionelle Strategien wie diagonaler Bildaufbau und Relaisfiguren fühlt sich der Betrachter direkt am dramatischen Geschehen beteiligt und kann sich in die Reaktionen des Erzählers psychologisch einfühlen. Doré lotet damit Tiefen der Erzählung aus, welche in den älteren, überwiegend handlungsorientierten Illustrationen der „Göttlichen Komödie“ nicht in dieser Intensität aufscheinen.
Neben dem Text der „Komödie“, den er in der französischen Prosaübersetzung von Pier-Angelo Fiorentino gelesen hatte, welcher auch in der Ursprungsausgabe von 1861/1868 neben dem italienischen Originaltext abgedruckt ist, hat Doré Jugenderinnerungen an die romantisch-zerklüftete Bergwelt der Vogesen und Alpen, aber auch Gemälde anderer Meister als Anregungsquelle benutzt. Ebenso wie Dante sich mit der Literatur und Geistesgeschichte von Antike und Mittelalter auseinandergesetzt hat, finden sich in den dramatischen Höllenszenen Dorés Reflexe auf berühmte Kunstwerke, darunter Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle und die Ikonen der Romantik in Frankreich: Eugène Delacroix’ „Dantebarke“ und Théodore Géricaults „Floß der Medusa“, die mit ihren verzerrten Menschenleibern bildgewordener Ausdruck des Leidens und Entsetzens sind.
Besonders auffällig ist der Bezug zu Michelangelos „Jüngstem Gericht“ (1541) in der Illustration zum 3. Höllengesang mit dem Einstieg in der Barke des „Unholdes“ Charon (Vers 115–116). Zwar nimmt Doré der tumultartigen Szene Michelangelos mit der den Schlägen des Fährmannes ausweichenden Menschenmenge in dem völlig überfüllten Boot durch seine Anordnung in den Mittelgrund etwas vom Eindruck der Bedrohung. Doch durch die schlaglichtartige Beleuchtung der nackten Leiber der zusammengetriebenen, um Hilfe schreienden Verdammten lenkt er das Augenmerk auf die Verzweiflung und Ausweglosigkeit der Situation. Entsetzen und Mitleid des Erzählers werden auf diese Weise für den Betrachter verständlich. Weit mehr als die gedrängte Komposition von Michelangelos Fresko vermittelt Dorés Holzstich trotz seiner geringeren Größe zudem ein Gefühl für die Weite und die Tiefen der Höllenlandschaft, die Dante und Vergil auf ihrer Reise durchqueren. Ein ähnliches Kompositionsverfahren wendete Doré auch bei der Schilderung der Überquerung des Styx im 8. Höllengesang (Vers 41–42) an, bei der Dante und Vergil in der von treibenden Leibern umgebenen Barke zu sehen sind. Erst auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter im Grau-Dunkel des Wassers die um Hilfe flehenden Verdammten, die in dem berühmten Gemälde der „Dantebarke“ (1822) von Delacroix, das Doré auch in seiner zweiten Illustration zu diesem Gesang zitiert, riesenhaft-bedrohlich im Vordergrund platziert sind. Fast scheint es, dass dem beobachtenden Erzähler erst in diesem Moment gemeinsam mit dem Betrachter das ganze Ausmaß des Schreckens bewusst wird.
Zu den bekanntesten, häufig abgebildeten Illustrationen zur „Komödie“ gehören die Bilder zum 5. Höllengesang, den Doré mit sechs Holzstichen besonders ausführlich illustriert hat. Der Text beschreibt den Abstieg in den zweiten Höllenkreis, dessen Eingang von Minos bewacht wird, der als Höllenrichter das Strafmaß der Verdammten bestimmt. In diesem Höllenkreis befinden sich die Wollüstigen, d.h. die Sünder der Lust, darunter auch einige bekannte Gestalten und Paare der Geschichte und Literatur wie die antiken Gestalten Semiramis, Kleopatra, Paris, Helena und Achilles und der mittelalterliche Held Tristan, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht haben. Sie sind dazu verdammt, von einem starken Sturm getrieben als ruhelose Körper durch das schwarze Nichts zu fliegen. Den Sturm gibt Doré als mächtigen Wirbel wieder, den Vergil und der Erzähler als einzig aufrecht stehende Figuren vom Rand des Abgrunds aus beobachten. In der Illustration zu Vers 31–32 („Der höllische Orkan, der niemals ruht,/reißt die Geister mit seiner Gewalt dahin“) stellt Doré bereits dem Text vorgreifend die Begegnung mit dem Liebespaar Francesca und Paolo dar, die eng umschlungen als hell erleuchtete Gestalten durch das Dunkel treiben. Ihre tragische Liebesgeschichte – Paolo war der Bruder von Francescas Ehemann Gianciotto da Rimini (gest. 1304), der aus Eifersucht das Paar ermordete – machte zur Zeit Dantes Furore. Entdeckt hatte Gianciotto die verbotene Liebe, als Francesca und Paolo gemeinsam den „Lancelot“-Roman lasen, was Doré als romantisch-historisierende Szene in der übernächsten Illustration wiedergibt. Dass der von Mitleid ergriffene Ich-Erzähler nach Beendigung der tragischen Geschichte in Ohnmacht fällt, wird von Doré nicht gezeigt.
Im sechsten Höllenkreis, in dem sich die Häretiker befinden, beginnt das Höllenfeuer. Doré schildert in der ersten Illustration zum 10. Gesang die Begegnung von Dante und Vergil mit Farinata, einem Ghibellinen, der nach seinem Tod zum Häretiker erklärt wurde. Im Vordergrund ist das geöffnete Grab zu sehen, aus dem Farinata einer antiken Statue gleich emporsteigt, während die beiden Jenseitswanderer erschreckt zurückzuweichen scheinen. Die dramatische Beleuchtung der Szene erinnert an Theaterinszenierungen. Die Illustration gehört hinsichtlich der innerbildlichen Lichteffekte zu den Meisterwerken des Holzstichs.
Eine Erinnerung an die dunklen, geheimnisvollen Wälder der Vogesen, die Doré als Kind mit seinem Vater durchwandert hatte, und seine Kindheitsphantasien bieten die Illustrationen zum 13. Gesang. Hier hat sich der Wald der Selbstmörder in Menschenbäume verwandelt, in welchen sich die „scheußlichen“ Harpyien verbergen: „Weite Flügel haben sie, Hals und Gesicht von Menschen,/Füße mit Krallen und befiedert den großen Bauch,/auf den Bäumen stoßen sie unheimliche Klagen aus“ (Vers 13–15). Diese mythologischen Wesen waren für ihre Aggressivität berüchtigt und konnten erst von Herkules überwunden werden. Doré gestaltete die Harpyien als gespenstische, ausgemergelte Gestalten, wie sie in der antiken „Aeneis“ beschrieben werden, verlieh ihnen jedoch eine monsterhafte Größe, mit welcher sie auf die klein im Hintergrund herantretenden Jenseitswanderer umso bedrohlicher wirken.
Der Größenkontrast ist auch Hauptgestaltungsmittel in der Illustration zu Vers 142–143 im 31. Höllengesang: „Doch sanft setzte er uns ab in der Tiefe,/die den Luzifer zusammen mit Judas im Schlund hat.“ In mildes Licht getaucht, wirkt die monströse Gestalt des Riesen Antaios jedoch weniger furchterregend als die dunkle Schlucht im Hintergrund. Tatsächlich ist der Riese den beiden Jenseitswanderern freundlich gesinnt und setzt Vergil und den Erzähler sanft auf dem Grund der untersten Hölle auf den Boden.
In den eisigen Gründen des innersten Höllenkreises erkunden die beiden in der folgenden Szene, der ersten Illustration zum 32. Gesang, den gefrorenen See des neunten Höllenkreises (Kokytos), in welchem die Verräter an der eigenen Sippschaft als größte Verbrecher gefangen sind. Die Lichtferne und Eiseskälte, die keinerlei menschliche Wärme durchdringen kann, sind von Doré und seinem kongenialen Stecher Pisan mit einer Vielzahl von parallelen Linien wiedergegeben, welche die Atmosphäre der Starre und klirrenden Stille brillant evozieren. Den Verrätern gegen ihre Wohltäter ist der vierte Teil des innersten Höllenkreises vorbehalten, der vollständig von Eis bedeckt ist und von Luzifer bewacht wird. Die schlimmsten Verräter, die gegen die Grundgesetze der Menschlichkeit verstoßen haben, sind als Strafe für ihr Vergehen selbst zu Eis erstarrt. Dorés Darstellung des eisigen Höllengrundes erinnert an eine grausige Tropfsteinhöhle, in welcher die Verdammten sichtbar bleiben „wie ein Halm im Glas“ (34. Gesang, Vers 12).
Erst nach der Erfahrung des dunkelsten, schwärzesten Höllengrundes als symbolhaftem Ausdruck des leblosen Nichts kann der Weg der Läuterung durch das „Fegefeuer“ beginnen. In der ersten Illustration zum 2. Gesang des „Fegefeuers“ erscheinen Vergil und der Erzähler noch wie von den Höllenerfahrungen geprägt im Vordergrund als dunklere Gestalten, während im Hintergrund eine hohe Engelsgestalt vor einer Lichtwolke als erstes Zeichen der Hoffnung naht. Durch die majestätische Gestalt des Engels, der seine Flügel „gegen den Himmel reckt“ (Vers 34), wird die flüchtige Schönheit der Himmelserscheinung versinnbildlicht, die nach Dante so strahlend ist, dass sie „das Auge in der Nähe [.] nicht ertrug“ (Vers 39).
Noch näher zum Licht geht es in der ersten Illustration zum 9. Fegefeuergesang. In einem Traum wird der Erzähler von einem goldenen Adler emporgehoben und in den Himmel getragen. Doré veranschaulicht die an die antike Ganymed-Sage angelehnte Szene jedoch nicht als positive Erfahrung, sondern eher als alptraumhafte Entführung, welche durch die spitzen Berggipfel und sich auftürmenden Wolkenmassen zusätzlich an Bedrohung gewinnt.
Die bedrohliche Atmosphäre wird in der zweiten Illustration zum 16. Gesang auch sinnlich erfahrbar. Fast vermeint der Betrachter in der Darstellung der Begegnung mit dem Lombarden Marco den Rauch der Flammen zu riechen und zu schmecken (Vers 34–36).
Ganz dem Thema des Lichts gewidmet sind die Illustrationen zum „Paradies“, in welchem Beatrice nun die Begleiterin des Erzählers ist. Im Holzstich zu Vers 103–104 des 5. Paradiesgesangs veranschaulicht Doré die Vielheit des himmlischen Glanzes in Gestalt schimmernder Lichtgestalten, die näherkommen und mit dem Besucher sprechen wollen. Entgegen dem Text, der jede Beschreibung der äußeren Gestalt vermeidet, verleiht Doré den Lichtwesen Körper. Hier wird auch bereits das typische Verfahren Dorés im „Paradies“ deutlich, der das himmlische Licht überzeugend vermittels eines leeren, weißen Raumes visualisiert.
Eine wahre Explosionsreihe von Lichteffekten findet sich in der Illustration zu Vers 19–21 des 12. Gesangs, in welcher der Kranz der himmlischen Seelen über den auf einer Wolke schwebenden Wanderern an einen Reigen von Wunderkerzen erinnert. Auch in anderen Illustrationen reihen sich die himmlischen Gestalten zu geometrischen Formationen, die als strahlende Lichtgestalten auch den umgebenden Luftraum mit erleuchten, z.B. im Holzstich zu den Eingangsversen des 19. Gesangs: „Es erschien vor mir mit offenen Flügeln das schöne Bild,/welches in süßer Seligkeit/die Geister freudig aneinandergereiht bildeten“ (Vers 1–3). In dieser Illustration stehen Dante und Beatrice als Rückenfiguren und Betrachter im Bild, die von der unendlichen Weite des Himmels und den sich – in freier Interpretation des Textes – zu einem Adler formierenden Himmelsgestalten wie überwältigt erscheinen.
Auch in den folgenden Illustrationen steigert Doré durch konsequente Aufhellung den überirdischen Eindruck seiner Bilderfindungen. Von der Anlage ganz ähnlich, zeigt der Stich zum 31. Gesang Dante und Beatrice beim Betrachten der Engelsleiter. Die weit oben in die Tiefe geführte Komposition und die unzähligen Stufen vermitteln eine Ahnung von den enormen himmlischen Entfernungen. Der Illustrationszyklus endet im 31. Gesang mit der Vision der strahlenden weißen Himmelsrose und der an barocke Deckengemälde erinnernden Verherrlichung Mariens als Himmelskönigin im Kreise von Heiligen und Engeln.
Mit der Illustration der „Göttlichen Komödie“ realisierte der am 6. Januar 1832 in Straßburg geborene Gustave Doré einen lang gehegten Plan. Schon als 10-Jähriger hatte er erste Zeichnungen zu Dante angefertigt, die jedoch noch keinen kohärenten Bildzyklus ergaben. Eigentlich war der Sohn eines staatlichen Brücken- und Straßenbauingenieurs für ein klassisches Literaturstudium und den Staatsdienst vorgesehen. Aufgewachsen in Straßburg und Bourg-en-Bresse und geprägt von der mittelalterlich-romantischen Umgebung der Vogesen und Burgunds, soll er schon als Schüler seine Hefte mit Skizzen und Karikaturen gefüllt haben. Anfang 1847 erschien in Paris unter dem Titel „Les Travaux d’Hercule“ (dt. „Die Heldentaten des Herkules“) das erste Album mit Lithographien des 15-Jährigen, die an den Stil der beliebten Bildergeschichten Rodolphe Töpffers angelehnt waren.
Im folgenden Jahr unterzeichnete sein Vater in Paris einen Vertrag mit dem Herausgeber des renommierten Satiremagazins „Journal pour Rire“, in welchem sich der junge Doré während der folgenden drei Jahre zur wöchentlichen Ablieferung einer Zeichnung verpflichtete. Während die Karikaturen seinen Lebensunterhalt sicherten, arbeitete Doré, der nie eine Kunstakademie besucht hat, an einer „ernsthaften“ Karriere als Maler und Illustrator. Obwohl er seine Gemälde bereits ab 1848 in den wichtigen jährlichen „Salon“-Ausstellungen präsentieren konnte, blieb ihnen die Anerkennung der Kritik lange versagt. Zeitlebens kämpfte Doré um seine Akzeptanz als Maler in seinem Heimatland Frankreich, das in ihm vor allem den begnadeten Karikaturisten und Illustrator sah: „Deine Art zu zeichnen ist gut, aber deine Malerei taugt nichts.“ Dieses Urteil seines frühen Förderers Paul Lacroix steht stellvertretend für die Sicht der französischen Kritiker, die Doré jedoch nicht davon abgehalten hat, seinen Traum vom Malen hartnäckig zu verfolgen.
Zunächst widmete er sich jedoch den großen Illustrationsprojekten, die ihn buchstäblich über Nacht berühmt machten. Den Beginn machte 1854 ein Klassiker der französischen Literatur, Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel“, in dem der junge Illustrator – Doré war gerade 22 Jahre alt – erstmals seine Imaginationskraft und sein Erzähltalent unter Beweis stellte. Trotz einer mangelhaften Ausstattung mit schlechter Papierqualität sorgte der Band unter den Bibliophilen für Aufsehen. Doré sollte später allerdings nie wieder mit dem Verleger Bry zusammenarbeiten.
Wohl ermutigt vom großen Erfolg seines Rabelais, fasste Doré 1855 den ehrgeizigen Plan einer Bibliothek der Weltliteratur in 30 illustrierten Folioausgaben. Die Verwirklichung des Projekts zog sich allerdings mehrere Jahre hin, da viele Verleger angesichts der enormen Investitionskosten, des unberechenbaren Sammlermarkts und letztlich wohl auch der Jugend des Illustrators vor dem Vorhaben zurückschreckten. Doch dieser ließ sich nicht von seiner Idee abbringen und finanzierte schließlich selbst den ersten Band: Im Frühjahr 1861 erschien mit Dante Alighieris „Enfer“ nach anderthalbjähriger Arbeit das erste Werk der geplanten Klassiker-Reihe und sorgte umgehend für Furore. Hatte Doré dem Verleger Hachette einen Verkauf von 400 Exemplaren in den ersten Wochen zugesichert, so war die Gesamtauflage von 3000 Exemplaren tatsächlich innerhalb einer Woche ausverkauft, obwohl die Bände mit 100 Francs pro Exemplar weit über dem durchschnittlichen Preis eines illustrierten Buches lagen. Dennoch sollte es weitere sieben Jahre dauern, bis 1868 mit dem „Fegefeuer“ und dem „Paradies“ die Dante-Ausgabe Dorés vollständig vorlag.
Die „Hölle“ brachte dem Illustrator jedoch schon kurz nach Erscheinen eine unverhoffte Ehrung ein: Am 24. August 1861 wurde er vom französischen Kaiser Napoleon III. zum Ritter der Ehrenlegion ernannt, in der Ernennungsurkunde wird er explizit als „Zeichner, Schöpfer des ‚Dante illustré‘“ aufgeführt. In den Jahren ab 1862 arbeitete Doré fieberhaft an der Verwirklichung seiner illustrierten Bibliothek der Weltliteratur, in die er neben französischen Klassikern auch deutschsprachige Titel, etwa „Münchhausens Abenteuer“ (1862) aufnahm. 1866 publizierte er in dieser Reihe auch die großformatigen Ausgaben der „Bibel“ und Miltons „Das verlorene Paradies“, dessen Illustrationen nicht nur aufgrund des ähnlichen Jenseits-Themas vielfach an die Bilder der „Hölle“ erinnern. Trotz seines ungebremsten Schaffensdrangs und seines Mottos „J’illustrerai tout!“ („Ich illustriere alles!“) schaffte er es nicht, die geplanten 30 Bände seiner Weltliteratur-Serie zu veröffentlichen. Am 23. Januar 1883 starb Doré im Alter von 51 Jahren in Paris an einem Herzschlag. Damit verlor Frankreich seinen produktivsten Bild-Chronisten und Illustrator, bei dem die Fachwelt bis heute streitet, ob sie ihn eher als Romantiker, als Realisten oder Phantasten einordnen soll – am ehesten vereinte Gustave Doré alle diese Tendenzen in einer Person.
Nicht nur hinsichtlich der künstlerischen Erfindung, auch bezüglich der Technik gelten Gustave Dorés Bilder zur „Göttlichen Komödie“ als Meisterwerke der Buchillustration. Wie bei den meisten seiner großen Illustrationswerke wählte Doré auch hier das graphische Verfahren des Holzstichs, um seine Bilderfindungen zu vervielfältigen. Der Holzstich ist, wie der Name schon besagt, eine Art Mischung aus Holzschnitt und Kupferstich, bei der der Holzstock mit den Werkzeugen und der Technik des Metallstichs bearbeitet wird. Das 1800 von Thomas Bewick entwickelte Verfahren erlaubt wesentlich subtilere und feinmaschigere Linien als der Holzschnitt und wurde zunächst vor allem als sogenannter Faksimileholzstich zur Wiedergabe von Federzeichnungen in der Zeitungsillustration angewendet. Bei den Illustrationen der „Göttlichen Komödie“ handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Technik in Form des sogenannten Weißlinien- oder Tonstichs, der sich durch eine engere, teilweise mit der Liniermaschine ausgeführte Linienführung und damit eine differenziertere Hell-Dunkel-Abstufung auszeichnet. Damit konnte die gewünschte malerische Wirkung von Tuschzeichnungen wiedergegeben werden.
Der Holzstich war eine streng arbeitsteilige druckgraphische Technik. Ausgangspunkt war eine Zeichnung eines Malers oder Illustrators, die dieser, meist nach einer Vorlage oder Vorzeichnung, entweder seitenverkehrt direkt auf den Holzstock zeichnete oder von einem Zeichner auf den Holzstock übertragen ließ. Nach 1860 wurden die Vorlagenzeichnungen zunehmend mit Hilfe der Photographie auf den Holzstock gebracht, und auch Doré hat sich dieses zeit- und kostensparenden Verfahrens bedient. Anschließend wurde die Zeichnung von einem spezialisierten Stecher in die Holzplatte geritzt und schließlich gedruckt. Von Doré ist bekannt, dass er seine Kompositionen meist ohne eine Entwurfsgrundlage spontan direkt auf die Holzplatte zeichnete und sogar mehrere Holzstöcke parallel in Arbeit hatte, wie sein Biograph Leblanc nach einem Augenzeugen berichtet:
„Er hatte stets 15 bis 20 Platten vor sich; er wanderte von einer zur anderen mit einer geradezu wundersam anmutenden Schnelligkeit und Sicherheit des Strichs, und stellte alle an einem Morgen fertig. Wenn das Werk vollendet war, trug er die Platten zu einem Stecher, der die weißen Partien aushob und die schwarzen Partien im Holz stehen ließ. Auf diese Weise wurde die ursprüngliche Zeichnung von Gustave Doré von der Arbeit des Stechers ausgelöscht, der diese übersetzte oder verriet, je nach seinem Talent.“
An der Umsetzung der Illustrationen der „Göttlichen Komödie“ waren mehrere Stecher beteiligt, unter denen nach Wolfgang Riedl vor allem Pisan herausragt: