Nicholas Sparks
Ein Tag wie ein Leben
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Adelheid Zöfel
Wilhelm Heyne Verlag
München
Sich zu bedanken ist immer schön,
Ich will’s mir nicht nehmen lassen.
Doch bin ich kein Dichter, das muss ich gestehn,
Drum verzeiht, falls die Reime nicht passen.
Als Erste sind meine Kinder dran,
Die ich so inniglich liebe:
Miles, Ryan, Landon, Lexie, Savannah –
euch allen sei Dank!
Weiß kaum, wo ich ohne euch bliebe.
Wer hilft mir immer? Theresa!
Und Jamie lässt nie mich im Stich,
Wenn ich weiß, die beiden sind da,
Dann ist alles gut für mich.
Denise bringt die Filme zuwege,
Richard und Howie verhandeln,
Dank auch an Scotty, er schließt die Verträge –
Ich hoffe, das wird sich nie wandeln.
Danke an Larry, den Kumpel, den Boss,
An Maureen, immer schlau und gut drauf,
An Emi, Jennifer, Edna – wie machen die’s bloß,
Dass es klappt mit dem Bücherverkauf?
Da sind noch sehr viele, die dafür sorgen,
Dass mein Leben so spannend und schön ist:
Familie und Freunde –
Ihr seid mir das Wichtigste, heute wie morgen,
Und ich möchte, dass ihr das auch wisst!
Nicholas Sparks, 1965 in Nebraska geboren, lebt mit seiner Frau und den fünf Kindern in North Carolina. Mit seinen gefühlvollen Romanen, die ausnahmslos die Bestsellerlisten eroberten und weltweit in 46 Ländern erscheinen, gilt Sparks als einer der meistgelesenen Autoren der Welt. Mehrere seiner Bestseller wurden erfolgreich verfilmt, im Jahr 2004 Wie ein einziger Tag.
Nun stehe ich auf unserer Veranda. Es ist Herbst, ich finde die kühle Abendluft angenehm belebend, und wieder einmal denke ich an unser Hochzeitsfest. Ich sehe alles deutlich vor mir, jede Einzelheit, und genauso lebhaft erinnere ich mich an all das, was in dem Jahr nach dem vergessenen Hochzeitstag geschehen ist.
Es ist ein eigenartiges Gefühl, dass nun alles vorbei ist. Die Vorbereitungen haben so lange meinen Alltag beherrscht, so oft habe ich mir ausgemalt, wie alles ablaufen wird, dass es mir vorkommt, als hätte ich den Kontakt zu einem alten Freund verloren, in dessen Gegenwart ich mich immer sehr wohl gefühlt habe. Doch dadurch, dass ich diesen Erinnerungen nachgegangen bin, habe ich die Antwort auf die Frage gefunden, die ich mir stellte, als ich das erste Mal hier draußen stand.
Ja, ich bin davon überzeugt, dass sich ein Mensch ändern kann.
Die Ereignisse des vergangenen Jahres haben mich sehr viel über mich selbst gelehrt – und mir außerdem die Tür zu einigen universellen Wahrheiten geöffnet. Ich habe beispielsweise gelernt, dass wir denen, die wir lieben, oft achtlos Wunden zufügen und dass es meist sehr schwierig ist, diese Wunden zu heilen. Doch andererseits hat der Heilungsprozess mir die reichsten Erfahrungen meines Lebens geschenkt, er hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass ich zwar häufig überschätze, was ich an einem Tag zu schaffen vermag, dafür aber unterschätze, was ich innerhalb eines Jahres bewirken kann. Vor allem jedoch habe ich eines gelernt: Es ist möglich, dass sich zwei Menschen wieder ineinander verlieben, trotz aller Enttäuschungen, die das Leben mit sich bringt.
Ich bin mir nicht sicher, was ich von der Sache mit dem Schwan – oder der Schwänin – halten soll, und ich gestehe auch, dass es mir bis heute nicht leicht fällt, romantisch zu sein. Es ist ein täglicher Kampf mit mir selbst, und ein Teil von mir fragt sich, ob es mir je gelingen wird. Aber was macht das schon? Ich halte mich an das, was Noah mich gelehrt hat, an seine Lektionen über die Liebe und wie man sie lebendig hält. Vielleicht werde ich nie ein richtiger Romantiker wie Noah, aber ich kann es immer wieder versuchen.
Es bricht einem Mann das Herz, wenn er sich fragen muss, ob ihn die eigene Frau nicht mehr liebt. Nachdem Jane an jenem Abend mit dem neuen Parfum oben in unserem Schlafzimmer verschwunden war, saß ich noch stundenlang auf der Couch und grübelte, wie es so weit hatte kommen können. Zuerst versuchte ich mir einzureden, dass Jane einfach nur extrem empfindlich reagiert hatte und ich die Situation falsch interpretierte. Aber je mehr ich nachdachte, desto deutlicher wurde es mir: Sie war nicht nur von ihrem vergesslichen, unaufmerksamen Ehemann enttäuscht. Da war noch etwas anderes. In ihr verbarg sich eine tiefe Melancholie, die sich über längere Zeit hinweg entwickelt haben musste – dass ich nicht an den Hochzeitstag gedacht hatte, war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es war der letzte in einer langen Reihe gedankenloser Fehltritte.
Hielt Jane unsere Ehe für gescheitert? Diese Frage hätte ich lieber verdrängt, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen mochte, dass sie so empfand. Aber hatte ihr Gesicht nicht genau dies ausgedrückt? Und was bedeutete das für unsere Zukunft? Überlegte sie sich etwa, ob sie wirklich bei mir bleiben sollte? Fand sie es überhaupt noch gut, dass sie mich geheiratet hatte? Ich muss hinzufügen, dass mir all diese Fragen entsetzliche Angst einjagten – aber noch mehr fürchtete ich mich natürlich vor den Antworten. Bis dahin war ich nämlich immer davon ausgegangen, dass Jane mit mir genauso glücklich war wie ich mit ihr.
Was war geschehen? Warum entwickelten sich unsere Gefühle plötzlich voneinander weg?
Vielleicht muss ich an dieser Stelle erst einmal ein paar Sachverhalte klären und zu einem kleinen Exkurs ausholen. Ich glaube, die meisten Leute würden unser Leben als relativ durchschnittlich und normal bezeichnen. Als Ehemann bin ich der Ernährer und sichere den finanziellen Unterhalt der Familie. In meinem Leben dreht sich so gut wie alles um mein berufliches Weiterkommen. Ich arbeite seit dreißig Jahren in der Anwaltskanzlei Ambry, Saxon & Tundle in New Bern, North Carolina. Zwar verdiene ich keine astronomischen Summen, aber doch genug, um mit Fug und Recht sagen zu können, dass wir zur gehobenen Mittelschicht gehören. Am Wochenende spiele ich Golf und kümmere mich um den Garten. Ich höre am liebsten klassische Musik und lese jeden Morgen die Zeitung.
Jane arbeitete früher als Grundschullehrerin, aber seit unserer Heirat war sie vor allem für die drei Kinder da. Sie ist sowohl für den gesamten Haushalt als auch für unser gesellschaftliches Leben zuständig. Ihr ganzer Stolz sind die wunderschönen Fotoalben, in denen sie liebevoll unser Leben dokumentiert. Wir wohnen in einem hübschen Backsteinhaus mit Holzzaun, automatischem Rasensprenger und allem, was dazugehört. Wir besitzen zwei Autos und sind Mitglied bei den Rotariern und im Club für Handel und Touristik. Seit wir verheiratet sind, legen wir regelmäßig jeden Monat etwas fürs Alter zurück. Wir haben hinten im Garten eine Holzschaukel aufgestellt, die längst niemand mehr benutzt, wir waren bei Dutzenden von Elternabenden, wir gehen immer brav zur Wahl und jeden Sonntag in die Kirche. Ich bin sechsundfünfzig, drei Jahre älter als meine Frau.
Ich liebe Jane, aber manchmal denke ich, wir sind doch ein sehr ungleiches Paar. Wahrscheinlich hätte kein Mensch erwartet, dass ausgerechnet wir zwei das Leben gemeinsam verbringen würden. Wir sind so verschieden! Es heißt ja immer, Gegensätze ziehen sich an, aber ich bin fest davon überzeugt, dass ich an unserem Hochzeitstag den besseren Teil erwählt habe. Jane ist genau der Mensch, der ich gern wäre. Ich bin in der Regel sehr rational und neige zu nüchterner Logik, während Jane immer nett und umgänglich ist – sie geht auf andere Leute zu und strahlt eine Wärme aus, mit der sie alle Herzen für sich gewinnt. Sie lacht oft und gern und besitzt einen großen Freundeskreis. Im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass meine Freunde größtenteils die Männer der Freundinnen meiner Frau sind, aber ich nehme an, in unserem Alter ist das bei den meisten Ehepaaren der Fall. Allerdings habe ich insofern Glück, als Jane ihre Freundinnen auch im Gedanken an mich ausgesucht hat, und es ist sehr angenehm für mich, dass deshalb bei Dinnerpartys immer ein Gesprächspartner für mich dabei ist. Wäre Jane nicht in mein Leben getreten, würde ich heute garantiert ein zurückgezogenes Mönchsleben führen.
Aber da ist noch etwas: Ich bin immer wieder sprachlos, wenn ich sehe, wie leicht es Jane fällt, ihre Gefühle zu zeigen. Wenn sie traurig ist, weint sie, wenn sie sich freut, strahlt sie über das ganze Gesicht. Am glücklichsten ist sie, wenn man sie mit etwas Schönem überrascht. Sie besitzt eine fast kindliche Unschuld, und obwohl logischerweise das Wesen einer Überraschung darin liegt, dass man nicht darauf vorbereitet ist, kann bei Jane die Erinnerung an eine angenehme Überraschung noch Jahre später dieselben Gefühle hervorzaubern. Wenn ich beobachte, dass sie vor sich hin träumt, frage ich sie manchmal, was sie gerade denkt, und dann erzählt sie mir ganz begeistert eine Geschichte, die ich schon lang vergessen habe. Das verblüfft mich jedes Mal.
Jane hat ein unglaublich weiches Herz, aber in vielerlei Hinsicht ist sie stärker und robuster als ich. Sie hat feste Überzeugungen und Wertvorstellungen, die von ihrem Glauben an Gott und an die Familie geprägt sind, wie bei den meisten Frauen hier in den Südstaaten. Sie unterteilt die Welt in Gut und Böse, in Richtig und Falsch. Ihre Entscheidungen trifft sie aus dem Bauch heraus – und liegt damit fast immer richtig, wohingegen ich sämtliche Alternativen abwägen muss und mir dadurch häufig selbst ein Bein stelle. Im Gegensatz zu mir quält sich meine Frau fast nie mit Selbstzweifeln. Was andere Leute über sie denken, kümmert sie nicht. Um diese innere Sicherheit beneide ich sie ganz besonders.
Ein paar der Unterschiede zwischen uns rühren wahrscheinlich daher, dass wir aus ganz verschiedenen Verhältnissen stammen. Jane ist mit drei Geschwistern in einer Kleinstadt aufgewachsen. Ihre Eltern waren immer für die Kinder da und haben sie über alles geliebt. Ich komme aus Washington, D.C., bin ein Einzelkind, meine Eltern waren beide Rechtsanwälte, die für die Regierung arbeiteten und selten vor sieben Uhr abends nach Hause kamen. Deshalb habe ich nach der Schule viel Zeit allein verbracht, und bis zum heutigen Tag fühle ich mich in der Abgeschiedenheit meines Arbeitszimmers am wohlsten.
Dass wir drei Kinder haben, erwähnte ich bereits. Ich hänge sehr an ihnen, aber ich glaube, sie fühlen sich meiner Frau viel enger verbunden als mir. Jane hat sie geboren und großgezogen, und sie sind immer gern mit ihr zusammen. Manchmal bedaure ich es zwar, dass ich bei weitem nicht so viel Zeit mit ihnen verbracht habe, wie ich mir gewünscht hätte, aber ich tröste mich mit dem Gedanken, dass Jane meine Abwesenheit mehr als wettgemacht hat. Unsere Kinder sind gut geraten, finde ich – trotz meiner geringen Beteiligung. Inzwischen sind sie erwachsen und wohnen längst nicht mehr zu Hause, aber glücklicherweise ist nur eins von ihnen in einen anderen Bundesstaat gezogen. Unsere beiden Töchter besuchen uns regelmäßig, und meine Frau achtet darauf, dass wir die Sachen, die sie am liebsten essen, stets im Kühlschrank vorrätig haben, falls sie bei ihren Besuchen plötzlich Hunger bekommen, was allerdings nie der Fall zu sein scheint. Wenn sie bei uns sind, reden sie immer stundenlang mit Jane.
Anna, unsere Älteste, ist jetzt siebenundzwanzig. Sie hat schwarze Haare und dunkle Augen. Als Jugendliche wirkte sie oft fast schwermütig, was gut zu ihrem Äußeren zu passen schien. Sie grübelte viel und schloss sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer ein, um melancholische Musik zu hören und Tagebuch zu schreiben. In jenen Jahren hatte ich immer wieder das Gefühl, sie gar nicht zu kennen. Es konnte passieren, dass sie in meiner Gegenwart tagelang kein einziges Wort sprach, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum. Ich konnte sagen, was ich wollte – sie seufzte nur und schüttelte verdrossen den Kopf, und wenn ich wissen wollte, was ihr die Laune verdorben habe, starrte sie mich an, als hätte ich eine völlig absurde Frage gestellt. Meine Frau schien das alles nicht weiter aufzuregen. Sie sagte immer, das sei eben eine Phase, die viele junge Mädchen durchmachten. Aber sie hatte gut reden, denn mit ihr unterhielt sich Anna ja trotz allem. Wenn ich an Annas Zimmer vorbeiging, hörte ich manchmal, wie Mutter und Tochter miteinander tuschelten, aber beim Klang meiner Schritte verstummten sie sofort. Und wenn ich mich später bei Jane erkundigte, worüber sie gesprochen hätten, zuckte sie nur die Achseln und machte eine vage Handbewegung, als hätten sich die beiden verschworen, mich nur ja im Unklaren zu lassen.
Aber als unsere Erstgeborene war Anna immer mein Liebling. Das würde ich zwar nie und nimmer öffentlich zugeben, aber ich glaube, sie weiß es, und in letzter Zeit denke ich öfter, dass sie mir auch in jenen stummen Jahren viel Zuneigung entgegenbrachte – viel mehr, als ich damals wahrnahm. Ich kann mich erinnern, wie sie gelegentlich in mein Arbeitszimmer spazierte, während ich irgendwelche Treuhandverträge oder Testamente studierte. Sie ging dann im Raum auf und ab, betrachtete die Bücher in den Regalen, nahm ab und zu eins in die Hand, aber sobald ich den Mund aufmachte, verschwand sie genauso wortlos wieder, wie sie gekommen war. Im Laufe der Zeit gewöhnte ich mir an, gar nichts zu sagen, und so konnte es geschehen, dass sie eine geschlagene Stunde dablieb und zuschaute, wie ich mir Notizen machte. Wenn ich ihrem Blick begegnete, lächelte sie mir komplizenhaft zu. Dieses Spiel bereitete uns beiden aus irgendeinem Grund großes Vergnügen. Zwar begreife ich bis heute nicht, was damals in ihrem Kopf vor sich ging, aber die Erfahrung hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben.
Zurzeit arbeitet Anna bei einer Zeitung namens Raleigh News and Observer, aber ich glaube, sie träumt davon, Schriftstellerin zu werden und Romane zu schreiben. Am College hat sie Kreatives Schreiben studiert, und die Geschichten, die sie für ihre Seminare verfasste, waren so düster wie ihre ganze Persönlichkeit. Ich erinnere mich vor allem an eine, in der sich eine junge Frau prostituiert, um für ihren kranken Vater sorgen zu können, der sie früher missbraucht hat. Als ich die Seiten aus der Hand legte, war ich ziemlich verwirrt und wusste nicht, was ich davon halten sollte.
Außerdem ist Anna gerade das erste Mal richtig verliebt. Da sie ihre Entscheidungen immer sehr umsichtig trifft, war sie auch in Bezug auf Männer ausgesprochen wählerisch, und zum Glück hatte ich bei Keith von Anfang an den Eindruck, dass er nett ist und ihr gut tut. Er will Orthopäde werden und besitzt das Selbstbewusstsein eines Menschen, der im Laufe seines Lebens schon einige Rückschläge überwinden musste. Von Jane habe ich erfahren, dass Keith bei der ersten Verabredung mit Anna am Strand in der Nähe von Fort Macon Drachen steigen ließ. Wenig später brachte Anna ihn mit nach Hause. Keith trug ein Sportjackett und hatte offenbar gerade geduscht, denn er roch dezent nach Eau de Cologne. Als wir uns die Hand gaben, schaute er mir fest in die Augen und sagte mit überzeugender Stimme: »Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen, Mr Lewis.«
Joseph, unser Zweiter, ist ein Jahr jünger als Anna. Er nennt mich immer nur »Pop«, was sonst niemand in der Familie tut, und auch mit ihm verbinden mich wenig Gemeinsamkeiten. Er ist größer und schmaler als ich, trägt zu sämtlichen Anlässen immer nur Bluejeans, und wenn er an Thanksgiving oder Weihnachten nach Hause kommt, isst er ausschließlich Gemüse. Er war ein stilles Kind und ein wortkarger Jugendlicher, aber wie bei Anna richtete sich seine mangelnde Mitteilsamkeit vor allem gegen mich. Andere Leute sagen oft, er sei sehr humorvoll, aber davon habe ich, ehrlich gesagt, bisher nicht viel gemerkt. Wenn wir zusammen sind, kommt es mir jedes Mal so vor, als würde er immer noch versuchen, sich irgendwie ein Bild von mir zu machen.
Genau wie Jane ist er unglaublich sensibel und einfühlsam. Das wurde schon deutlich, als er noch ein kleines Kind war: Mit fünf begann er, an den Nägeln zu knabbern, weil er sich so sehr um andere Menschen sorgte. Das tut er bis heute, er hat ganz stumpfe Fingerkuppen. Ich brauche vermutlich nicht zu erwähnen, dass er meinen Rat, Betriebs- oder Volkswirtschaft zu studieren, nicht annahm. Er hat sich stattdessen für Soziologie entschieden. Heute arbeitet er in einem New Yorker Frauenhaus, erzählt uns aber so gut wie nichts von seinem Job. Ich weiß, dass ihm viele der Entscheidungen, die ich im Laufe meines Leben getroffen habe, fragwürdig erscheinen, und mir geht es umgekehrt mit ihm genauso. Doch trotz dieser Differenzen führe ich mit Joseph genau die Gespräche, die ich schon immer mit meinen Kindern führen wollte – seit ich sie als Babys in den Armen hielt. Er ist hochintelligent, er hat die Schule mit dem bestmöglichen Notendurchschnitt abgeschlossen, und seine Interessen sind breit gestreut, sie reichen vom Dharma in indischen Religionen bis zu den Anwendungen der Fraktalgeometrie. Außerdem ist er ausgesprochen ehrlich – gelegentlich so extrem, dass es an Taktlosigkeit grenzt –, und dieser Aspekt seiner Persönlichkeit hat zur Folge, dass ich bei Diskussionen mit ihm automatisch den Kürzeren ziehe. Obwohl mich seine Sturheit und Konsequenz manchmal frustrieren, bin ich in solchen Momenten doch auch besonders stolz darauf, dass er mein Sohn ist.
Leslie, unser Küken, unser Nesthäkchen, studiert am Wake Forest College Biologie und Physiologie und möchte Tierärztin werden. Im Sommer kommt sie im Gegensatz zu den meisten Studenten nicht nach Hause, sondern belegt zusätzliche Kurse, um schneller fertig zu werden, und nachmittags arbeitet sie immer für eine Institution mit dem schönen Namen »Animal Farm«. Sie ist umgänglicher als die anderen beiden, und ihr Lachen klingt ähnlich ansteckend wie das von Jane. Leslie kam früher auch oft in mein Arbeitszimmer, genau wie Anna, aber sie war am glücklichsten, wenn ich mich ihr dann ganz und gar widmete. Als kleines Kind ist sie immer auf meinen Schoß geklettert, um mich an den Ohren zu ziehen. Später machte sie sich einen Spaß daraus, mir irgendwelche albernen Witze zu erzählen. Auf meinen Regalen stehen lauter Geschenke, die sie mir im Laufe der Jahre gemacht hat: Gipsabdrücke ihrer Handflächen, Buntstiftzeichnungen, eine Halskette aus Makkaroni. Sie macht es ihrer Umgebung leicht, sie zu lieben. Sie ließ sich immer als Erste von den Großeltern küssen und drücken, und sie kann sich auch heute noch genüsslich auf die Couch kuscheln und einen schmalzigen Liebesfilm ansehen. Ich war nicht überrascht, als sie vor drei Jahren in der Highschool beim großen Abschlussball zur Homecoming Queen gewählt wurde.
Vor allem aber hat sie ein unglaublich gutes Herz. Zu ihren Geburtstagspartys lud sie immer die ganze Klasse ein, weil sie niemanden kränken wollte. Und mit neun ist sie eines Nachmittags am Strand von Handtuch zu Handtuch gewandert, weil sie eine Armbanduhr gefunden hatte, die sie unbedingt dem Besitzer zurückgeben wollte. Von meinen Kindern hat Leslie mir am wenigsten Anlass zur Beunruhigung gegeben, und wenn sie nach Hause kommt, lasse ich alles stehen und liegen, weil ich Zeit für sie haben will. Ihre Energie ist so erfrischend, und wenn wir zusammen sind, frage ich mich oft, womit ich eine so charmante Tochter verdient habe.
Jetzt, da alle drei Kinder ausgezogen sind, hat sich die Atmosphäre im Haus vollkommen verändert. Wo früher wummernde Bässe durch die Wände dröhnten, herrscht heute absolute Stille. In unserer Vorratskammer, in der sich noch vor ein paar Jahren alle möglichen Corn-Flakes-Sorten stapelten, findet sich inzwischen nur noch eine einzige – ohne Zucker und mit zusätzlichen Ballaststoffen. Die Möbel in den Zimmern unserer Kinder sind noch dieselben wie früher, aber weil Poster, Pinnwände und überhaupt alle persönlichen Gegenstände verschwunden sind, unterscheiden sich die Räume kaum noch voneinander. Am schlimmsten ist allerdings das Gefühl der Verlassenheit, das sich jetzt über alles breitet. Für eine fünfköpfige Familie war unser Haus ideal. Heute jedoch kommt es mir oft vor wie eine leere Hülse, die uns ständig daran erinnert, wie schön es früher einmal war. Hat Janes eigentümliches Verhalten vielleicht auch etwas mit diesen Veränderungen zu tun?
Doch nun zurück zu meiner Geschichte.
Gleichgültig, was dahinter steckte – die Tatsache, dass Jane und ich uns immer weiter voneinander entfernten, konnte niemand leugnen, und je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher sah ich, wie tief die Kluft zwischen uns war. Wir hatten als Paar begonnen und uns dann in Eltern verwandelt – ein Prozess, den ich eigentlich für normal und unvermeidlich gehalten hatte. Doch jetzt, nach neunundzwanzig Jahren, begegneten wir uns beinahe wie zwei Fremde. Nur das Ritual der Gewohnheit schien uns noch zusammenzuhalten. Wir führten völlig separate Leben, es gab kaum noch etwas, was uns miteinander verband – unsere Wecker klingelten zu verschiedenen Zeiten, tagsüber sahen wir uns so gut wie nie, und abends gingen wir unseren jeweiligen Verpflichtungen nach. Oft wusste ich gar nicht, wie Janes Tag aussah, und ich muss zugeben, dass ich meinerseits Teile meines Tagesablaufs vor ihr verheimlichte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann Jane und ich das letzte Mal über etwas gesprochen hatten, was außerhalb der eingespielten Routine lag.
Aber zwei Wochen nach dem vergessenen Hochzeitstag geschah genau dies: Jane begann ein Gespräch über ein ungewohntes Thema.
»Wilson – wir müssen reden«, sagte sie.
Ich schaute sie erstaunt an. Eine Flasche Wein stand zwischen uns auf dem Tisch, wir waren fast fertig mit dem Essen.
»Ja?«
»Ich habe nachgedacht – ich glaube, ich fände es schön, mal wieder nach New York zu fahren und Joseph zu besuchen.«
»Wollte er denn nicht über die Feiertage hierher kommen?«
»Thanksgiving ist erst in gut zwei Monaten. Und weil er im Sommer gar nicht nach Hause kommen konnte, wäre es doch nicht schlecht, zur Abwechslung einmal zu ihm zu fahren.«
Jane hatte Recht. Ein Tapetenwechsel würde uns sicher gut tun. Vielleicht stand diese Überlegung ja hinter ihrem Vorschlag. Lächelnd griff ich zu meinem Weinglas. »Gute Idee«, pflichtete ich ihr bei. »Wir waren schon ewig nicht mehr in New York – ich glaube, kein einziges Mal, seit wir hierher gezogen sind.«
Jane lächelte ebenfalls, doch dann schlug sie die Augen nieder und starrte auf ihren fast leeren Teller. »Aber da ist noch etwas.«
»Und das wäre?«
»Tja, also – du bist mit deiner Arbeit immer so eingespannt, und ich weiß ja aus Erfahrung, wie schwierig es für dich ist, dich loszueisen …«
»Ich denke, ein paar Tage könnte ich mir schon freinehmen«, sagte ich. In Gedanken ging ich bereits meinen Terminkalender durch. Klar, einfach würde es nicht werden, aber es schien mir durchaus machbar. »Wann möchtest du fahren?«
»Das ist es ja eben …«
»Was meinst du?« Ich merkte, dass sie nicht so richtig mit der Sprache herauswollte, und versuchte, ihr zu helfen.
»Wilson, bitte, lass mich doch mal ausreden!« Sie bemühte sich gar nicht, den genervten Unterton in ihrer Stimme zu verbergen. »Was ich sagen wollte – ich glaube, ich würde gern allein fahren.«
Ich war sprachlos.
»Damit bist du nicht einverstanden, stimmt’s?«, fragte sie.
»Doch, doch«, entgegnete ich hastig. »Weshalb sollte ich nicht einverstanden sein, dass du unseren Sohn besuchst?« Um meine Gelassenheit zu unterstreichen, schnitt ich mir noch ein Stück Fleisch ab. »Wann möchtest du denn fliegen?«
»Nächste Woche. Donnerstag«, antwortete sie.
»Donnerstag?«
»Ja, ich habe schon ein Ticket.«
Sie hatte zwar noch nicht aufgegessen, erhob sich aber trotzdem und ging in die Küche. Da sie meinem Blick so konsequent auswich, vermutete ich, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte, was sie nicht über die Lippen brachte. Ich blieb allein am Tisch sitzen. Vermutlich stand sie jetzt an der Spüle und wartete.
»Klingt gut!«, rief ich in der Hoffnung, dass sich meine Stimme ruhig und freundlich anhörte. »Joseph freut sich bestimmt. Vielleicht könnt ihr ja in ein Musical gehen oder so etwas.«
»Ja, vielleicht«, erwiderte Jane. »Es hängt von seinen Terminen ab.«
Als ich das Wasser laufen hörte, stand ich ebenfalls auf und trug mein Geschirr in die Küche. Jane schwieg.
»Das wird garantiert ein schönes Wochenende«, sagte ich.
Sie nahm mir meinen Teller ab und hielt ihn unter das laufende Wasser.
»Ach, übrigens …«, begann sie – und verstummte wieder.
»Ja?«
»Ich wollte ein bisschen länger als nur übers Wochenende bleiben.«
Ich spürte, wie sich bei diesen Worten meine Schultern verkrampften. »Wie lange denn?«
Sie stellte meinen Teller weg.
»Zwei Wochen«, antwortete sie.
Nein, ich schob keineswegs Jane die Schuld in die Schuhe. Mir war klar, dass es eher an mir lag als an ihr, obwohl ich noch nicht konsequent analysiert hatte, warum alles so lief, wie es lief. Ich wusste genau, dass ich nicht in allen Punkten den Erwartungen meiner Frau entsprach – das war von Anfang an so gewesen. Zum Beispiel hätte sie mich gern ein bisschen romantischer gehabt. Ihr wäre es lieb gewesen, wenn ich mich ihr gegenüber so verhalten hätte wie ihr Vater gegenüber ihrer Mutter. Ihr Vater gehörte zu den Männern, die nach dem Abendessen gern mit ihrer Frau auf dem Sofa sitzen und Händchen halten. Auf dem Heimweg von der Arbeit hatte er oft spontan einen Strauß Wiesenblumen für Allie gepflückt. Schon als Kind hatte Jane die zärtliche Beziehung zwischen ihren Eltern als Vorbild empfunden.
Ich habe mehr als einmal mitbekommen, wie sie mit ihrer Schwester Kate telefonierte und darüber rätselte, warum es mir wohl so schwer fiel, romantisch zu sein. Es ist ja nicht so, dass ich nicht immer wieder einen Versuch unternommen hätte, aber ich glaube, ich habe keine richtige Vorstellung davon, was man tun muss, um das Herz der Geliebten höher schlagen zu lassen. In der Familie, in der ich aufgewachsen bin, war es nicht üblich, sich zu umarmen und zu küssen. Offen zur Schau gestellte Zärtlichkeit ist mir peinlich, vor allem in Gegenwart meiner Kinder. Einmal habe ich mit Janes Vater über dieses Thema gesprochen, und er schlug mir vor, ich solle meiner Frau doch einen Brief schreiben. »Schreib ihr, warum du sie liebst«, sagte er. »Zähle ein paar ganz konkrete Gründe auf.« Das ist jetzt zwölf Jahre her. Ich habe versucht, seinen Rat zu befolgen, aber immer, wenn ich vor dem leeren Papier saß, sind mir einfach nicht die passenden Worte eingefallen, und so habe ich jedes Mal den Stift wieder weggelegt. Im Gegensatz zu Janes Vater fällt es mir schwer, meine Gefühle auszudrücken. Ich bin ein sehr zuverlässiger Mensch, man kann sich hundertprozentig auf mich verlassen. Treu und loyal bin ich auch, daran gibt es keinen Zweifel. Aber Romantik ist nicht das meine. Ich kann nicht romantisch sein, genauso wenig, wie ich schwanger werden kann.
Manchmal wüsste ich gern, wie vielen Männern es in dieser Hinsicht ähnlich geht wie mir.
Als ich in New York anrief, um mit Jane zu sprechen, nahm Joseph den Hörer ab.
»Hey, Pop«, sagte er nur.
»Hallo. Wie geht es dir?«
»Gut, danke«, antwortete er. Und nach einer quälend langen Pause fügte er hinzu: »Und dir?«
Ich trat unruhig von einem Fuß auf den andern. »Hier ist alles sehr still – aber ich komme klar. Wie geht es Mom?«
»Bestens. Ich sorge dafür, dass sie beschäftigt ist.«
»Spielt ihr Touristen?«
»Das auch. Aber im Grund reden wir hauptsächlich. Sehr spannend.«
Was wollte er damit sagen? Joseph schien keinen Anlass zu sehen, von sich aus mehr zu erklären.
»Aha«, sagte ich nur. »Ist sie da?«
»Im Moment leider nicht – sie ist noch ein paar Lebensmittel einkaufen gegangen. Aber eigentlich müsste sie gleich wiederkommen. Vielleicht kannst du’s ja später noch mal versuchen.«
»Ach, nein, ist schon gut«, sagte ich. »Sag ihr einfach, dass ich angerufen habe. Ich bin den ganzen Abend hier, falls sie mich sprechen möchte.«
»Wird gemacht«, sagte er. Und nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Hey, Pop – darf ich dich etwas fragen?«
»Ja, gern.«
»Hast du wirklich euren Hochzeitstag vergessen?«
Ich seufzte. »Ja, leider.«
»Warum denn?«
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ein paar Tage vorher habe ich noch dran gedacht, aber am Tag selbst ist es mir entfallen. Ich habe keine Entschuldigung.«
»Ich glaube, das hat Mom sehr gekränkt.«
»Ich weiß.«
Wieder folgte ein Schweigen am anderen Ende der Leitung, bis Joseph fragte: »Verstehst du, warum?«
Ich beantwortete seine Frage zwar nicht, aber ich glaubte doch, die Gründe zu kennen. Jane wollte auf keinen Fall, dass es bei uns so lief wie bei den älteren Ehepaaren, die wir manchmal im Restaurant beobachteten. Wir hatten diese Paare immer nur bemitleidet.
Die Paare sind, das möchte ich betonen, in der Regel durchaus höflich zueinander. Der Mann rückt seiner Frau den Stuhl zurecht und bringt die Mäntel zur Garderobe. Die Frau schlägt eines der Tagesgerichte vor. Und wenn der Kellner kommt, unterbrechen sie sich beim Bestellen immer gegenseitig, weil der andere alles besser weiß – die Spiegeleier bitte nicht salzen, dafür aber ein zusätzliches Stück Butter für das Toastbrot und so weiter.
Doch wenn sie dann die Bestellung aufgegeben haben, wechseln sie kein Wort mehr miteinander.
Stattdessen nippen sie stumm an ihren Drinks, schauen aus dem Fenster und warten darauf, dass das Essen serviert wird. Wenn der Kellner erscheint, sprechen sie vielleicht kurz mit ihm – sie bitten ihn beispielsweise, noch etwas Kaffee nachzuschenken –, aber sobald er weg ist, zieht sich jeder wieder in sein Schneckenhaus zurück. Während der ganzen Mahlzeit wirken sie wie zwei Leute, die sich gar nicht kennen und sich nur zufällig am selben Tisch gegenübersitzen. Man hat das Gefühl, als erschiene ihnen ein richtiges Gespräch nicht der Mühe wert.
Vielleicht ist das alles völlig übertrieben, vielleicht entsprechen diese Beobachtungen gar nicht der Wirklichkeit, aber ich habe mich oft gefragt, wie diese Paare so tief sinken konnten.
Und während Jane in New York war, kam mir der schreckliche Verdacht, wir könnten uns in dieselbe Richtung bewegen.
Als ich Jane am Flughafen abholte, war ich ganz aufgeregt. Was für ein seltsames Gefühl! Sie begrüßte mich mit einem scheuen Lächeln. Erleichtert nahm ich ihr den Koffer ab.
»Wie war die Reise?«
»Sehr schön. Aber ich verstehe wirklich nicht, wieso Joseph unbedingt in New York wohnen muss. Diese Hektik überall! Und dann der ständige Lärm! Auf die Dauer würde ich das nicht aushalten.«
»Heißt das, du freust dich, dass du wieder hier bist?«
»Ja. Aber ich bin erschöpft.«
»Das kann ich mir vorstellen. Reisen ist anstrengend.« Wir schwiegen beide, und ich nahm ihr Gepäck in die andere Hand. »Wie geht es Joseph?«, erkundigte ich mich dann.
»Gut. Ich finde, er hat seit seinem letzten Besuch ein wenig zugenommen.«
»Gibt es irgendwelche Neuigkeiten, die du mir am Telefon noch nicht erzählt hast?«
»Ich glaube nicht. Er arbeitet zu viel, aber das ist ja nichts Neues.«
In Janes Stimme schwang eine leise Traurigkeit mit, die ich nicht recht einordnen konnte. Während ich noch darüber nachdachte, fiel mein Blick auf ein junges Paar: Die beiden umarmten sich so stürmisch, als hätten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen.
»Ich bin froh, dass du wieder da bist«, sagte ich leise.
Jane schaute mir fest in die Augen, bevor sie sich dem Förderband zuwandte, auf dem die ersten Gepäckstücke kreisten. »Ich weiß«, sagte sie.
So sah es vor einem Jahr zwischen uns aus.
Ich würde gern behaupten, dass sich die Situation nach Janes Reise rapide und grundlegend verbesserte, aber leider war das nicht der Fall. Stattdessen lebten wir weiterhin in unserem Alltagstrott nebeneinander her. Es war nicht so, dass sich Jane mir gegenüber irgendwie aggressiv verhalten hätte, aber unterschwellig wirkte sie immer unzufrieden. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen. Es war, als stünde zwischen uns eine Mauer der Gleichgültigkeit, die sich, von mir unbemerkt, nach und nach aufgebaut hatte. Ende November, also drei Monate nach dem vergessenen Hochzeitstag, war ich so zermürbt, dass ich beschloss, noch einmal mit Janes Vater zu reden.
Er heißt Noah Calhoun, und wenn Sie ihn kennen würden, wäre Ihnen sofort klar, weshalb ich mich in meiner Ratlosigkeit an ihn wandte. Er und seine Frau Allie sind vor fast elf Jahren nach Creekside gezogen. Creekside ist eine Anlage für betreutes Wohnen, zu der auch eine Pflegestation gehört. Die beiden waren zum Zeitpunkt ihres Umzugs bereits fünfundvierzig Jahre verheiratet. Inzwischen musste Noah lernen, wieder allein zu schlafen.
Ich war nicht überrascht, als ich sein Zimmer leer vorfand. Meistens saß er draußen auf einer Bank am Teich, wenn ich ihn besuchte, aber vorsichtshalber trat ich ans Fenster, um mich zu vergewissern, dass ich ihn auch heute dort antreffen würde.
Selbst aus der Ferne konnte man ihn ohne Probleme erkennen: die dichte weiße Haarmähne, seine gebeugte Haltung, die hellblaue Wolljacke, die Janes Schwester Kate kürzlich für ihn gestrickt hatte. Noah war siebenundachtzig Jahre alt, ein Witwer mit arthritisch verkrümmten Händen, und auch sonst war sein Gesundheitszustand alles andere als stabil: Er musste immer seine Herztabletten mit sich herumtragen, und er hatte Prostatakrebs. Aber das wäre alles nicht so schlimm gewesen – seine psychische Verfassung bereitete den Ärzten viel größere Sorgen. Vor ein paar Jahren hatten sie mich und Jane zu sich gebeten und uns mit ernster Miene eröffnet, Noah leide an Wahnvorstellungen, die immer schlimmer würden. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, denn schließlich kannte ich Noah besser als die meisten anderen Leute – auf jeden Fall besser als die Ärzte. Abgesehen von Jane war er mein bester Freund. Und als ich ihn nun so mutterseelenallein auf seiner Bank sitzen sah, wurde mir schwer ums Herz, weil ich an all das denken musste, was er verloren hatte.
Seine Ehe war vor fünf Jahren zu Ende gegangen. Zynische Menschen würden vielleicht die These vertreten, dass sie schon lang vorher vorbei war: Allie litt in ihren letzten Lebensjahren an Alzheimer. Was für eine grausame Krankheit! Die Persönlichkeit löst sich langsam auf, Stück für Stück verschwindet alles, was den Menschen einmal ausgemacht hat. Was sind wir ohne unsere Erinnerungen, ohne unsere Träume? Das Fortschreiten der Krankheit mitzuerleben, ist für alle Beteiligten sehr beklemmend. Die Tragödie nimmt unaufhaltsam ihren Lauf, man fühlt sich wie in einem todtraurigen Film, der in Zeitlupe abläuft. Jane und mir ist es nicht immer leicht gefallen, Allie zu besuchen. Am liebsten hätte Jane ihre Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie vor der Krankheit gewesen war. Ich habe sie zu diesen Besuchen nie gedrängt, denn auch für mich waren sie sehr schmerzlich. Am meisten gelitten hat jedoch zweifellos Noah.
Doch das ist eine andere Geschichte.
Ich ging nun hinunter in den Park. Es war ein kühler Morgen, für die Jahreszeit fast etwas zu frisch. Die bunten Blätter leuchteten im Sonnenlicht, in der Luft lag ein leichter Kaminfeuergeruch. Den Herbst hatte Allie ganz besonders geliebt, das wusste ich. Als ich näher kam, spürte ich fast physisch die Einsamkeit, die Noah umgab. Wie immer war er dabei, den Schwan zu füttern. Ich hatte eine Einkaufstüte dabei, in der sich drei Packungen Wonderbread befanden. Noah bestand darauf, dass ich ihm jedes Mal, wenn ich ihn besuchte, diese Sorte Toastbrot mitbrachte. Leise stellte ich die Einkaufstüte neben ihm auf den Boden.
»Guten Morgen, Noah.« Selbstverständlich hätte ich ihn auch »Dad« nennen können, wie Jane es bei meinem Vater getan hatte, aber irgendwie brachte ich diese Anrede nicht über die Lippen, und Noah schien das nicht weiter zu stören.
Beim Klang meiner Stimme drehte er sich zu mir um.
»Oh, hallo, Wilson«, sagte er. »Wie nett, dass du mich besuchen kommst.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie geht’s denn so?«
»Könnte besser sein«, brummelte er und fügte dann mit einem verschmitzten Grinsen hinzu: »Könnte aber auch wesentlich schlechter sein.«
Das waren die Standardsätze, die wir nach der Begrüßung immer austauschten. Er klopfte auf den Platz neben sich, und ich setzte mich zu ihm auf die Bank. Versonnen schaute ich hinaus aufs Wasser: Wie bei einem Kaleidoskop bildeten die schwimmenden Herbstblätter immer neue Muster. In der glatten Oberfläche hingegen spiegelte sich der wolkenlose Himmel.
»Ich muss dich etwas fragen«, begann ich.
»Ja?« Noah rupfte ein Stück Brot ab und warf es ins Wasser. Der Schwan senkte den Kopf, schnappte sich das Brot und richtete sich dann wieder auf, um zu schlucken.
»Es ist wegen Jane«, fügte ich hinzu.
»Wegen Jane«, wiederholte er. »Wie geht es ihr?«
»Gut.« Ich nickte und rückte verlegen ein Stückchen von ihm weg. »Sie kommt später auch vorbei, glaube ich.« Das stimmte. Seit Jahren besuchten wir Noah fast jeden Tag, manchmal gemeinsam, manchmal getrennt. Ich hätte für mein Leben gern erfahren, ob Vater und Tochter in meiner Abwesenheit manchmal über mich redeten.
»Und wie geht’s den Kindern?«
»Auch gut, glaube ich. Anna schreibt inzwischen längere Artikel, und Joseph hat endlich eine neue Wohnung gefunden. In Queens, aber ganz in der Nähe einer U-Bahn-Station. Leslie fährt am Wochenende mit Freunden in die Berge, um zu zelten. Sie hat erzählt, ihre Zwischenklausuren seien hervorragend ausgefallen.«
Noah nickte nachdenklich. Die ganze Zeit hatte er wie gebannt auf den Schwan geschaut. »Du hast großes Glück, Wilson«, sagte er. »Ich hoffe, dir ist bewusst, wie glücklich du dich preisen kannst, dass sie sich alle drei so wunderbar entwickelt haben.«
»Ja, dafür bin ich sehr, sehr dankbar – und ich nehme es keineswegs als selbstverständlich hin.«
Wir schwiegen beide. Aus der Nähe konnte man sehen, wie tief sich die Falten in Noahs Gesicht eingegraben hatten, und unter der hauchdünnen Pergamenthaut seines Handrückens traten die pulsierenden Adern hervor. Der Park war menschenleer. Bei der kühlen Witterung hielten sich die Leute lieber im Haus auf.
»Ich habe unseren Hochzeitstag vergessen«, sagte ich.
»Ach, ja?«
»Neunundzwanzig Jahre.«
»Hmm.«
Hinter uns raschelten die Blätter im Herbstwind.
»Ich mache mir Sorgen um uns – um unsere Ehe«, gestand ich seufzend.
Noah schaute mich an. Eigentlich erwartete ich, er würde mich fragen, wie mir so etwas passieren konnte, aber er kniff nur prüfend die Augen zusammen, als versuche er, meine Gedanken zu lesen. Dann nickte er und warf dem Schwan ein neues Stück Brot zu. Endlich begann er zu reden, mit seiner warmen, weichen Baritonstimme, der Tonfall geprägt von dem unaufdringlichen, aber nicht zu überhörenden Singsang der Südstaaten.
»Erinnerst du dich, wie es war, als Allie krank wurde? Ich habe ihr immer vorgelesen – weißt du noch?«
»Ja, natürlich.« Überdeutlich standen die Erinnerungen vor meinen Augen. Noah hatte seiner Frau immer die Notizen vorgelesen, die er vor dem Umzug nach Creekside niedergeschrieben hatte. Es war die Geschichte ihrer jungen Liebe, und wenn er sie Allie laut vorlas, war sie manchmal vorübergehend so klar im Kopf, dass kein Mensch sie für eine Alzheimerpatientin gehalten hätte. Diese Luzidität hielt nie lange an – und gegen Ende ihrer Krankheit verschwand sie vollständig –, aber die Veränderung war dermaßen frappierend, dass sogar Spezialisten aus Chapel Hill nach Creekside gereist kamen, weil sie hofften, aus dieser Erfahrung allgemeinere Erkenntnisse ableiten zu können. Dass Allie manchmal aufwachte, wenn Noah ihr vorlas, war nicht zu übersehen. Aber woran es letztlich lag, dafür fanden die Experten keine wissenschaftliche Erklärung.
»Weißt du, wieso ich es getan habe?«, fragte er mich jetzt.
»Ich glaube, ja. Es hat Allie geholfen. Und du hattest es ihr versprochen.«
»Ja, das stimmt.« Ich hörte, wie schwer ihm das Atmen fiel – seine Lungen ächzten und quietschten wie ein altes Akkordeon. »Aber das war nicht der einzige Grund. Ich habe es auch für mich getan. Das können viele Leute nicht begreifen.«
Er sprach nicht weiter, aber ich spürte, dass er noch nicht alles gesagt hatte, was er sagen wollte, und wartete deshalb schweigend ab. Während wir beide stumm dasaßen, kam der Schwan näher ans Ufer geschwommen. Sein eierschalfarbenes Gefieder war wunderschön gleichmäßig, abgesehen von einem dunklen Fleck auf der Brust, der etwa so groß war wie ein Silberdollar. Sobald Noah wieder zu reden begann, hielt der Schwan inne, als würde er seinen Worten lauschen.
»Weißt du, was mir aus den guten Tagen am lebhaftesten in Erinnerung geblieben ist?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Zwar wusste ich, dass er mit den »guten Tagen« die seltenen Stunden meinte, in denen Allie ihn erkannte. Aber von seinen Erinnerungen hatte er mir noch nie erzählt.
»Das Gefühl des Verliebtseins«, sagte er. »An den guten Tagen kam es mir vor, als würden wir noch einmal ganz von vorn beginnen und uns neu ineinander verlieben.« Er lächelte verträumt. »Das meine ich, wenn ich sage, ich habe es für mich getan. Jedes Mal, wenn ich ihr vorlas, war es, als würde ich ihr wieder den Hof machen, und manchmal, ganz selten, hat sie sich wieder in mich verliebt – genau wie damals. Und das war das schönste Gefühl auf der Welt. Wie viele Menschen bekommen so eine Chance? Dass der Mensch, den sie lieben, sich immer wieder in sie verliebt?«
Da diese Frage rhetorisch gemeint war, schwieg ich.
Die nächste Stunde verbrachten wir damit, über die Kinder und über Noahs Gesundheitszustand zu reden. Jane oder Allie kamen in unserem Gespräch nicht mehr vor. Aber nachdem ich ihn verlassen hatte, gingen mir seine Worte noch lange durch den Kopf. Mochten sich die Ärzte noch so große Sorgen um ihn machen – mir erschien Noah so hellwach wie eh und je. Und in typischer Südstaatenmanier hatte er mir eine Antwort auf meine Fragen gegeben, ohne mich zu zwingen, sie direkt auszusprechen.
Nun wusste ich, was ich zu tun hatte.