Leo Tolstoi
Anna Karenina
Roman
Aus dem Russischen von
Arthur Luther
Mit einem Nachwort von
Egon Friedell
Die vorliegende Ausgabe von Anna Karenina
folgt unverändert Band II und III der Gesamtausgabe
des dichterischen Werkes von Leo Tolstoi,
herausgegeben von Erich Boehme
im Malik Verlag, Berlin 1928
Das Nachwort von Egon Fridell ist dem
Band Egon Fridell, Abschaffung des Genies,
Diogenes Verlag, Zürich 1985, entnommen
Covermotiv: Illustration von
Greta Garbo im Film ›Anna Karenina‹ von
Clarence Brown (USA 1935)
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten
Copyright © 2021
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 21371 3
ISBN E Book 978 3 257 60163 3
[7] ERSTER TEIL
[9] 1
Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.
Bei Oblonskijs ging alles drunter und drüber. Die Frau vom Hause hatte erfahren, daß ihr Mann mit der französischen Gouvernante, die früher im Hause gewesen war, ein Liebesverhältnis unterhielt, und hatte ihrem Manne erklärt, sie könne nicht mehr unter einem Dache mit ihm wohnen. Die Dinge lagen schon seit drei Tagen so und die Situation wurde von den Gatten selbst, von allen Familienmitgliedern und Hausgenossen sehr peinlich empfunden. Alle Familienmitglieder und Hausgenossen fühlten, daß ihr Zusammenleben keinen Sinn habe und daß in jedem Wirtshaus an der Landstraße die zufällig dort zusammengekommenen Gäste einander näherständen als sie, die Familienmitglieder und Hausgenossen der Oblonskijs. Die Frau verließ ihre Gemächer nicht, der Mann war seit drei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen; die Kinder liefen im ganzen Hause wie verloren umher; die englische Gouvernante hatte sich mit der Wirtschafterin gezankt und an eine Freundin geschrieben, ob sie ihr nicht eine neue Stelle verschaffen könnte; der Koch war bereits gestern fortgegangen, gerade als man beim Essen, saß; die Küchenmagd und der Kutscher baten um ihre Entlassung.
Am dritten Tag nach dem Streit erwachte Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonskij – in der Gesellschaft wurde er meist Stiwa genannt – zur gewohnten Zeit, das heißt um acht Uhr morgens, nicht im ehelichen Schlafgemache, sondern in seinem [10] Arbeitszimmer, auf dem mit Saffian bezogenen Sofa. Er drehte seinen vollen, gut gepflegten Körper auf dem federnden Sofa auf die andere Seite, als wollte er noch einmal für längere Zeit einschlafen, schob die Hand unter das Kissen und drückte es fest gegen seine Wange; plötzlich aber sprang er auf, setzte sich auf dem Sofa hin und öffnete die Augen.
»Ja, ja, wie war das bloß?« dachte er, sich auf seinen Traum besinnend. »Wie war das doch? Ja! Alabin gab ein Diner in Darmstadt; nein, nicht in Darmstadt, es war etwas Amerikanisches. Ja, Darmstadt lag in Amerika. Alabin gab also ein Diner an gläsernen Tischen, ja, und die Tische sangen: ›Il mio tesoro.‹ Es klang aber doch nicht wie ›il mio tesoro‹, sondern viel schöner, und dann waren noch kleine Likörflaschen da, das waren Frauen«, erinnerte er sich.
Stepan Arkadjewitschs Augen leuchteten fröhlich auf und er dachte schmunzelnd nach. »Ja, es war schön, sehr schön. Es waren noch sehr viel ausgezeichnete Dinge da, die man weder mit Worten bezeichnen noch ausdenken kann; wenn man wach ist, läßt es sich überhaupt nicht mehr ausdrücken.« Als er den Lichtstreifen sah, der zwischen Fensterrahmen und Vorhang hindurch ins Zimmer fiel, hob er fröhlich die Beine vom Sofa herunter, tastete mit den Füßen nach den mit goldglänzendem Saffian besetzten Pantoffeln, die seine Frau ihm im vorigen Jahr zum Geburtstag gestickt hatte, und streckte nach alter, neunjähriger Gewohnheit, ohne aufzustehen, die Hand in der Richtung aus, wo in seinem Schlafzimmer der Schlafrock hätte hängen müssen. Hier aber besann er sich wieder darauf, daß und warum er nicht im ehelichen Schlafgemach, sondern im Arbeitszimmer geschlafen hatte; das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, er runzelte die Stirn.
»Ach, ach, ach! Ah!« brummte er in Erinnerung alles dessen, was geschehen war. Und in seiner Phantasie stiegen wieder alle Einzelheiten des Zwistes mit seiner Frau, die ganze [11] Aussichtslosigkeit seiner Lage, und – was ihn am meisten quälte – seine eigene Schuld auf.
»Ja! Sie wird und kann mir nicht vergeben. Das Entsetzlichste aber ist, daß ich an allem schuld bin! Ich bin schuld und kann doch nichts dafür. Hier steckt die ganze Tragödie«, dachte er.
»Ach, ach, ach!« murmelte er verzweifelt in Erinnerung an die für ihn besonders beschämenden Einzelheiten des Zwistes.
Am unangenehmsten war jener erste Augenblick gewesen, als er lustig und zufrieden aus dem Theater heimkehrte, eine große Birne für seine Frau in der Hand, die Frau nicht im Wohnzimmer fand, zu seinem Erstaunen auch nicht im Arbeitszimmer, bis er sie endlich im Schlafzimmer erblickte, den unseligen Zettel, der ihr alles verraten hatte, in der Hand.
Sie, die ewig besorgte, geschäftige und, wie er glaubte, beschränkte Dolly, saß unbeweglich da, den Zettel in der Hand, und sah ihm mit einer Miene des Entsetzens, der Verzweiflung und des Zorns ins Gesicht.
»Was ist das? Was ist das?« fragte sie, auf den Zettel zeigend.
Und bei dieser Erinnerung erschien Stepan Arkadjewitsch nicht so sehr das Ereignis selbst qualvoll und beschämend, als das, was er seiner Frau auf diese Worte geantwortet hatte.
Ihm geschah in diesem Augenblick, was vielen Leuten geschieht, wenn sie plötzlich einer gar zu schmachvollen Tat überführt werden. Er hatte es nicht verstanden, sein Gesicht rechtzeitig der Lage anzupassen, in die er seiner Frau gegenüber durch die Feststellung seiner Schuld geriet. Statt den Beleidigten zu spielen, zu leugnen, sich zu rechtfertigen, um Verzeihung zu bitten, ja sogar gleichgültig zu bleiben – alles wäre besser gewesen als das, was er tat – verzog er sein Gesicht ganz unwillkürlich (»Hirnreflexe«, dachte Stepan Arkadjewitsch, der sich gern mit Physiologie befaßte) zu seinem gewohnten gutmütigen und daher dummen Lächeln.
[12] Dieses dumme Lächeln konnte er sich nicht verzeihen. Als Dolly ihn lächeln sah, zuckte sie zusammen wie bei einem körperlichen Schmerz, überschüttete ihn dann, hitzig wie sie war, mit einer Flut bitterer Worte und lief aus dem Zimmer hinaus. Von da ab wollte sie ihn nicht mehr sehen.
»An allem ist dieses dumme Lächeln schuld«, dachte Stepan Arkadjewitsch.
»Aber was soll ich tun? Was soll ich tun?« fragte er sich verzweifelt und fand keine Antwort.
2
Stepan Arkadjewitsch war immer aufrichtig gegen sich selbst. Er konnte sich nicht betrügen und sich einreden, daß er seine Tat bereue. Er konnte jetzt nicht bereuen, daß er, ein hübscher, liebebedürftiger Mann von 34 Jahren, nicht mehr in seine nur ein Jahr jüngere Frau, die Mutter von fünf noch lebenden und zwei verstorbenen Kindern, verliebt war. Er bereute nur, daß er es nicht besser vor seiner Frau geheimgehalten hatte. Er empfand aber die ganze Schwierigkeit seiner Lage und es war ihm leid um seine Frau, seine Kinder und sich selbst. Vielleicht hätte er seine Sünden besser vor seiner Frau geheimzuhalten gewußt, wenn er geahnt hätte, wie die Entdeckung auf sie wirken würde. Er hatte sich diese Frage nie gründlich überlegt, aber er hatte doch die unklare Vorstellung gehabt, daß die Frau seine Untreue längst ahne, sie ihm aber nachsehe. Er glaubte sogar, die entkräftete, gealterte, nicht mehr schöne Frau, die sich durch nichts Besonderes auszeichnete, die nur eine schlichte, brave Familienmutter war, müsse schon aus Gerechtigkeitsgefühl nachsichtig sein. Nun aber hatte er sich vom Gegenteil überzeugen können.
»Ach, entsetzlich! Ach, ach, ach, wie entsetzlich!« sagte Stepan Arkadjewitsch immer wieder vor sich hin und wußte nicht, was er anfangen sollte. »Und wie schön war alles [13] bisher, wie gut haben wir gelebt! Sie war zufrieden, freute sich an den Kindern, ich störte sie nie, ließ sie über die Kinder und die Wirtschaft verfügen, wie sie wollte. Das ist allerdings nicht recht, daß jene Person Gouvernante in unserm Hause war! Das ist nicht schön! Es ist etwas Triviales, Gemeines in so einer Liebelei mit der Gouvernante der eigenen Kinder. Aber was war es auch für eine Gouvernante!« (Er stellte sich Mlle. Rolands schwarze Schelmenaugen und ihr Lächeln lebhaft vor.) »Und solange sie bei uns im Hause war, habe ich mir nie etwas erlaubt! Das Schlimmste ist, daß sie schon… Daß das alles auch so kommen mußte! Ach, ach, ach! Aber was fang’ ich nun an? Was fange ich an?«
Eine Antwort fand er nicht, außer der allgemeinen Antwort, die das Leben auf alle komplizierten und unlösbaren Fragen gibt. Diese Antwort lautet: man muß für den Tag leben, das heißt, sich vergessen. Vergessen im Schlaf konnte er nicht mehr suchen, wenigstens vor der Nacht nicht; zu der Musik zurückkehren, die ihm die in Likörflaschen verwandelten Frauen sangen, war unmöglich; es galt also, sich im Traum des Lebens zu vergessen.
»Man wird ja sehen«, sagte Stepan Arkadjewitsch zu sich selbst, stand auf, zog seinen mit blauer Seide gefütterten grauen Schlafrock an, schlang die in Quasten ausgehenden Schnüre umeinander, holte mit seiner breiten Brust tief Atem, trat mit dem gewohnten, muntern Schritt der auswärts gewandten Füße, die seinen vollen Körper so leicht trugen, ans Fenster, zog den Vorhang zurück und schellte kräftig. Auf das Klingelzeichen trat sofort sein alter Freund, der Kammerdiener Matwej, ins Zimmer; er brachte die Kleider, die Schuhe und ein Telegramm. Hinter ihm her kam der Barbier mit seinem Rasierzeug.
»Sind Papiere aus dem Amt da?« fragte Stepan Arkadjewitsch, nahm das Telegramm und setzte sich vor den Spiegel.
»Sie liegen auf dem Tisch«, antwortete Matwej und warf [14] einen fragend-teilnahmsvollen Blick auf seinen Herrn. Nach einer kurzen Pause fügte er mit schlauem Lächeln hinzu: »Von dem Spediteur waren Leute da.«
Stepan Arkadjewitsch erwiderte kein Wort und sah nur im Spiegel nach Matwej hin; aus dem Blick, den sie im Spiegel wechselten, war zu erkennen, dass sie einander verstanden. Der Blick des Herrn schien zu fragen: Warum sagst du das? Weißt du denn nicht?…
Matwej steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke, schob einen Fuß zurück und sah seinen Herrn schweigend, gutmütig, mit kaum merklichem Lächeln an.
»Ich habe ihnen gesagt, sie sollten nächsten Sonntag kommen, bis dahin aber weder Sie noch sich selbst unnütz bemühen«, sagte er einen augenscheinlich schon vorbereiteten Satz.
Stepan Arkadjewitsch begriff, daß Matwej einen Scherz machen und die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Er brach das Telegramm auf, las es, erriet einzelne wie immer entstellte Wörter, und sein Gesicht leuchtete auf.
»Matwej, meine Schwester Anna Arkadjewna kommt morgen«, sagte er, für einen Augenblick die fettglänzende, rundliche Hand des Barbiers zurückschiebend, der das rosa Kinn zwischen den langen krausen Bartkoteletten säuberte.
»Gott sei Dank!« sagte Matwej und zeigte durch diese Antwort, daß er gleich seinem Herrn die Bedeutung dieses Besuches verstehe, nämlich, daß Anna Arkadjewna, die Lieblingsschwester Stepan Arkadjewitschs, die Versöhnung der Ehegatten zustande bringen könne.
»Allein oder mit dem Herrn Gemahl?« fragte Matwej.
Stepan Arkadjewitsch konnte nicht antworten, da der Barbier gerade mit seiner Oberlippe beschäftigt war; er streckte nur einen Finger vor. Matwej nickte nach dem Spiegel hin.
»Also allein. Soll oben das Zimmer hergerichtet werden?«
[15] »Melde es Darja Alexandrowna. Sie hat darüber zu verfügen.«
»Darja Alexandrowna?« fragte Matwej einigermaßen zweifelnd.
»Ja, melde es ihr. Hier, nimm das Telegramm! Du teilst mir später mit, was sie gesagt hat.«
»Ein Versuch«, dachte Matwej verständnisvoll; laut sagte er aber nur: »Zu Befehl.«
Stepan Arkadjewitsch war schon gewaschen und gekämmt und wollte sich eben ankleiden, als Matwej, langsam auf seinen knarrenden Stiefeln einherschreitend, wieder mit dem Telegramm erschien. Der Barbier war schon fort.
»Darja Alexandrowna lassen sagen, sie wollten verreisen. Der gnädige Herr mögen es halten, wie Sie belieben«, sagte er, nur mit den Augen lachend, und sah, die Hände in den Taschen und den Kopf zur Seite geneigt, seinen Herrn an. Stepan Arkadjewitsch schwieg. Dann lief ein gutmütiges, etwas klägliches Lächeln über sein hübsches Gesicht.
»Nun? Matwej?« sagte er kopfschüttelnd.
»Tut nichts, gnädiger Herr, es wird sich schon einrenken«, sagte Matwej.
»Wird es sich einrenken?«
»Sicher.«
»Meinst du? Wer ist da?« fragte Stepan Arkadjewitsch, als er draußen ein Frauenkleid rascheln hörte.
»Ich bin’s«, antwortete eine feste, angenehme Frauenstimme und in der Tür erschien das strenge, sommersprossige Gesicht der Kinderfrau Matriona Filimonowna.
»Was gibt’s, Matrioscha?« fragte Stepan Arkadjewitsch, ihr bis zur Tür entgegengehend.
Obgleich Stepan Arkadjewitsch allein der Schuldige war und das selbst sehr wohl fühlte, nahmen fast alle im Hause, sogar die Kinderfrau, trotz ihrer großen Freundschaft für Darja Alexandrowna, seine Partei.
[16] »Nun?« fragte er traurig.
»Gehn Sie noch einmal hin, gnädiger Herr, und bitten Sie um Verzeihung. Vielleicht ist der liebe Gott gnädig. Sie quält sich sehr; das Herz tut einem weh, wenn man sie ansieht; und im Hause geht alles drunter und drüber. Man muß doch auch an die Kinderchen denken, gnädiger Herr! Bitten Sie um Verzeihung, gnädiger Herr! Was soll man machen? Wer A gesagt hat…«
»Sie wird mich gar nicht hereinlassen…«
»Tun Sie nur das Ihrige. Gott ist barmherzig, gnädiger Herr! Beten Sie zu Gott, Herr, beten Sie!«
»Schon gut, geh nur«, sagte Stepan Arkadjewitsch, plötzlich errötend. »Jetzt will ich mich ankleiden«, wandte er sich an Matwej und warf kurz entschlossen den Schlafrock ab.
Matwej hatte bereits das Hemd, von dem er etwas Unsichtbares wegblies, ringförmig auseinandergezogen und streifte es nun mit sichtlichem Vergnügen über den gepflegten Körper seines Herrn.
3
Nachdem Stepan Arkadjewitsch sich angekleidet hatte, besprengte er sich mit Parfüm, zog die Ärmel seines Hemdes zurecht, steckte in gewohnter Weise Zigaretten, Brieftasche, Streichhölzer, die Uhr mit Doppelkette und Berlocke in die verschiedenen Taschen, schüttelte das Taschentuch auseinander und ging, sauber, wohlriechend, gesund und frisch, trotz seines Unglücks, sich auf jedem Bein leicht hin- und herwiegend, in das Speisezimmer, wo der Kaffee für ihn schon bereit stand. Neben der Tasse lagen die eingegangenen Briefe und die Akten aus dem Amt.
Er las zuerst die Briefe. Einer war recht unangenehm – er kam von dem Händler, an den er den Wald auf dem Gute seiner Frau zu verkaufen beabsichtigte. Der Wald mußte [17] unbedingt verkauft werden, jetzt aber konnte vor einer Versöhnung mit seiner Frau davon keine Rede sein. Das Unangenehmste dabei war, daß die Versöhnung nun auch mit pekuniären Interessen in Verbindung gebracht wurde. Der Gedanke, er könnte dem Verkauf des Waldes zuliebe die Versöhnung mit seiner Frau anstreben, – dieser Gedanke erschien ihm wie eine Beleidigung.
Als er mit den Briefen fertig war, griff Stepan Arkadjewitsch nach den Akten, blätterte zwei Hefte eilig durch, machte mit einem großen Bleistift ein paar Notizen, schob dann die Papiere beiseite und machte sich an den Kaffee. Gleichzeitig entfaltete er die noch feuchte Morgenzeitung und vertiefte sich in ihre Lektüre.
Stepan Arkadjewitsch hielt eine liberale Zeitung, keine radikale, sondern ein Blatt jener Richtung, die die Mehrheit hinter sich hatte. Und obgleich weder Wissenschaft noch Kunst noch Politik ihn wirklich interessierte, hielt er auch in all diesen Dingen an den Anschauungen fest, die von der Mehrheit und von seiner Zeitung vertreten wurden, und änderte sie nur dann, wenn die Mehrheit sie auch änderte, – richtiger gesagt, er änderte sie überhaupt nicht, sondern sie änderten sich selbst unmerklich in ihm.
Stepan Arkadjewitsch wählte sich weder seine Richtung noch seine Ansichten, sie kamen von selbst zu ihm, wie er ja auch die Form seines Hutes oder seines Rockes nicht selbst bestimmte, sondern das nahm, was alle trugen. Anschauungen zu haben war aber für ihn, da er in einer bestimmten Gesellschaft lebte und ein gewisses Bedürfnis nach einiger Denktätigkeit empfand, wie es sich gewöhnlich in reiferen Jahren entwickelt, ebenso notwendig wie einen Hut zu besitzen. Wenn er die liberale Richtung der konservativen, der auch viele aus seinem Kreise angehörten, vorzog, so tat er das nicht, weil er die liberale Richtung für die vernünftigere hielt, sondern weil sie besser zu seiner Lebensweise paßte. Die liberale [18] Partei behauptete, daß alles in Rußland schlecht sei, und in der Tat hatte Stepan Arkadjewitsch viel Schulden und kam mit seinem Gelde niemals aus. Die liberale Partei nannte die Ehe eine überlebte Einrichtung, die ganz neu gestaltet werden müsse, und in der Tat gewährte das Familienleben Stepan Arkadjewitsch wenig Vergnügen, zwang ihn, zu lügen und sich zu verstellen, was seiner Natur widersprach. Die liberale Partei behauptete oder, besser gesagt, setzte voraus, daß die Religion nur ein Zügel für den unzivilisierten Teil der Bevölkerung sei, und in der Tat konnte Stepan Arkadjewitsch nicht einmal einen kurzen Dankgottesdienst ohne Schmerzen in den Beinen aushalten und begriff nicht, was all die schauerlichen und hochtrabenden Worte von jener Welt für einen Zweck hätten, da sich’s doch auch in dieser Welt sehr lustig leben ließ. Auch machte es Stepan Arkadjewitsch, der heitere Späße gern hatte, großes Vergnügen, harmlose Leute mit Äußerungen wie die folgende zu verblüffen: wenn man schon mit seiner Abstammung großtun wolle, dürfe man nicht bei Riurik haltmachen und den ältesten Ahnherrn, den Affen, verleugnen. Die liberale Richtung wurde für Stepan Arkadjewitsch zur Gewohnheit und er liebte seine Zeitung, wie eine Zigarre nach Tisch, wegen des leichten Dunstes, den sie in seinem Kopf erzeugte. Er las den Leitartikel, in dem dargelegt wurde, in unserer Zeit würde ganz unberechtigterweise darüber gejammert, daß der Radikalismus alle konservativen Elemente zu verschlingen drohe, und die Forderung an die Regierung gestellt, sie solle Maßregeln zur Vernichtung der revolutionären Hydra ergreifen; ganz im Gegenteil: »unseres Erachtens liegt die Gefahr nicht in der vermeintlichen revolutionären Hydra, sondern in der Hartnäckigkeit der Tradition, die jeden Fortschritt hemmt«. Er las auch einen zweiten Aufsatz, über Finanzfragen, in dem von Bentham und Mill die Rede war und auf das Ministerium gestichelt wurde. Mit der ihm eigenen leichten Auffassungsgabe verstand er [19] jede bissige Anspielung richtig: er wußte sofort, von wem sie ausging, wem sie galt und wodurch sie veranlaßt war, und das machte ihm, wie immer, einigen Spaß. Heute aber wurde dieser Spaß durch die Erinnerung an die Ratschläge der Matriona Filimonowna und an den Unfrieden im Hause gestört. Er las auch; daß Graf Beust sich angeblich nach Wiesbaden begeben habe, daß es keine grauen Haare mehr gebe, daß ein leichter Wagen zu verkaufen sei und ein junges Mädchen eine geeignete Stellung suche; aber diese Nachrichten bereiteten ihm nicht wie sonst ein stilles, ironisches Vergnügen.
Als er mit der Zeitung, mit seiner zweiten Tasse Kaffee und einem Kalatsch mit Butter fertig war, schüttelte er die Brotkrumen von seiner Weste ab, reckte die breite Brust und lächelte vergnügt, nicht – weil ihm besonders froh zumute gewesen wäre; das vergnügte Lächeln kam von der guten Verdauung.
Aber dieses vergnügte Lächeln erinnerte ihn sofort an alles, was geschehen war, und er versank in Gedanken.
Zwei Kinderstimmen (Stepan Arkadjewitsch erkannte Grischa, seinen zweiten Jungen, und Tanja, das ältere Mädchen) ertönten vor der Tür. Sie hatten etwas auf dem Boden umhergefahren und umgeworfen.
»Ich hab’ es doch gesagt: auf das Dach kann man keine Passagiere setzen«, schrie das Mädchen englisch, »nun kannst du sie auflesen!«
»Alles geht drunter und drüber«, dachte Stepan Arkadjewitsch, »nun laufen die Kinder ohne Aufsicht umher.« Er trat an die Tür und rief sie herein. Sie ließen die Schachtel, die einen Eisenbahnzug vorstellen sollte, stehen und kamen zum Vater.
Das Mädchen, des Vaters Liebling, lief dreist herein, umarmte ihn und blieb lachend an seinem Halse hängen, wie immer, erfreut über den wohlbekannten Parfümgeruch, der von seinem Bart ausging. Nachdem sie ihn endlich auf das von [20] der gebückten Stellung gerötete, von Zärtlichkeit strahlende Gesicht geküßt hatte, ließ sie ihn los und wollte wieder weglaufen, aber er hielt sie zurück.
»Was macht Mama?« fragte er, mit der Hand über den glatten, zarten Hals des Mädchens streichend. »Guten Tag«, sagte er lächelnd zu dem Jungen, der ihn begrüßte.
Er war sich bewußt, daß er den Jungen weniger liebhatte, und bemühte sich daher, die Kinder ganz gleich zu behandeln; der Knabe empfand es aber doch und ließ das kalte Lächeln des Vaters unerwidert.
»Mama? Sie ist aufgestanden«, sagte das Mädchen.
Stepan Arkadjewitsch seufzte.
»Also hat sie wieder die ganze Nacht nicht geschlafen«, dachte er.
»Ist sie lustig?«
Das Mädchen wußte, daß es zwischen Vater und Mutter Streit gegeben hatte und daß die Mutter nicht lustig sein konnte; der Vater mußte das wissen; er verstellte sich also, wenn er so leichthin danach fragte. Sie errötete für ihren Vater. Er begriff das sofort und wurde ebenfalls rot.
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Sie hat gesagt, wir sollten heute nicht lernen, sondern mit Miss Hull Spazierengehen und die Großmama besuchen.«
»Nun, geh nur, meine liebe Tantschurotschka! Ach ja, noch etwas!« sagte er, sie festhaltend und ihre zarte Hand streichelnd.
Er nahm vom Kamin eine Schachtel Konfekt, die er gestern dorthin gestellt hatte, und gab der Kleinen zwei Stückchen, die sie am liebsten aß: ein Schokoladenpraliné und einen Sahnenbonbon.
»Das ist für Grischa?« sagte die Kleine und zeigte auf das Praliné.
»Ja, ja!« Er strich noch einmal mit der Hand über ihre Schulter, küßte sie auf die Stirn dicht beim Haaransatz und auf den Hals und ließ sie dann gehen.
[21] »Der Wagen ist vorgefahren«, meldete Matwej. »Es ist auch eine Bittstellerin da«, fügte er hinzu.
»Schon lange?« fragte Stepan Arkadjewitsch.
»Wohl eine halbe Stunde.«
»Wie vielmal ist dir gesagt worden, die Leute sofort zu melden!«
»Sie mußten doch erst Ihren Kaffee trinken«, antwortete Matwej in dem freundschaftlich-rauhen Ton, über den man sich nicht ärgern konnte.
»Hol’ sie geschwind herein«, sagte Oblonskij und runzelte ärgerlich die Stirn.
Die Bittstellerin, eine Hauptmannswitwe Kalinina, wünschte etwas ganz Unmögliches und Unsinniges. Doch Stepan Arkadjewitsch bat sie, seiner Gewohnheit nach, Platz zu nehmen, hörte ihr aufmerksam zu, ohne sie zu unterbrechen, gab ihr ausführliche Ratschläge, an wen sie sich wenden solle und wie sie es zu machen habe, schrieb ihr sogar mit seinen großen, länglichen, hübschen und leicht lesbaren Zügen einen Brief an eine Persönlichkeit, die ihr behilflich sein konnte. Als die Hauptmannswitwe gegangen war, nahm Stepan Arkadjewitsch seinen Hut und stand noch einen Augenblick da, um nachzudenken, ob er nicht etwas vergessen hätte. Es erwies sich, daß er nichts vergessen hatte, bis auf das eine, das er vergessen wollte – seine Frau.
»Ach ja!« Er senkte den Kopf und sein hübsches Gesicht nahm einen trübseligen Ausdruck an. »Soll ich hingehen oder nicht?« fragte er sich. Eine innere Stimme riet ihm, nicht zu gehen, denn es würde nichts dabei herauskommen, als eine verlogene Komödie; ihr früheres Verhältnis wieder herzustellen sei unmöglich, denn man könne sie doch nicht wieder anziehend und liebreizend oder ihn zu einem Greise machen, der nicht mehr der Liebe fähig sei. Lüge und Verstellung war das einzige, was sich aus alledem ergeben konnte, und Lüge und Verstellung waren seiner Natur zuwider.
[22] »Aber einmal muß es doch geschehen, es kann doch nicht so bleiben«, sagte er, um sich Mut zu machen. Er warf sich in die Brust, nahm eine Zigarette, steckte sie an, paffte zweimal, warf sie in die Aschenschale aus Perlmutter, ging mit schnellen Schritten durch das Wohnzimmer und öffnete die Tür zum Schlafzimmer seiner Frau.
4
Darja Alexandrowna stand in der Nachtjacke, die Flechten ihres schon spärlich gewordenen, einst so dichten und schönen Haares im Nacken aufgesteckt, mit eingefallenem, hagerem Gesicht, das die großen, erschrockenen Augen noch stärker hervortreten ließ, mitten unter allerlei im Zimmer umherliegenden Sachen vor einem offenen Schranke, aus dem sie etwas heraussuchte. Als sie die Schritte ihres Mannes hörte, hielt sie inne, den Blick auf die Tür gerichtet und vergeblich bemüht, ihrem Gesicht einen strengen und verächtlichen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, daß sie sich vor ihm und vor der bevorstehenden Unterredung fürchtete. Sie hatte eben wieder versucht, was sie in diesen drei Tagen schon zehnmal versucht hatte: ihre und der Kinder Sachen herauszusuchen, die sie mit zu ihrer Mutter nehmen wollte, – und wieder hatte sie sich nicht dazu entschließen können! Und doch sagte sie sich auch jetzt, wie alle die Male vorher, daß es so nicht bleiben könne, daß sie etwas unternehmen, ihn bestrafen, ihn bloßstellen, ihm wenigstens einen kleinen Teil des Schmerzes heimzahlen müsse, den er ihr angetan hatte. Sie redete immer noch davon, daß sie ihn verlassen wolle, aber sie fühlte, daß dieses unmöglich sei; es war unmöglich, weil sie nicht plötzlich aufhören konnte, ihn als ihren Mann zu betrachten und ihn zu lieben. Außerdem wußte sie wohl: wenn sie hier, in ihrem eigenen Hause, mit der Pflege ihrer fünf Kinder kaum fertig wurde, so würden sie es dort, wohin sie sie bringen wollte, [23] noch viel schlechter haben. Schon in diesen drei Tagen war der Jüngste krank geworden, weil er schlechte Bouillon bekommen hatte, die anderen aber waren gestern fast ganz ohne Mittagessen geblieben. Sie fühlte, daß es unmöglich war, von hier wegzugehen, aber sie betrog sich selbst, suchte die Sachen zusammen und gab sich den Anschein, als wolle sie fort.
Als sie ihren Mann erblickte, steckte sie die Hände in ein Fach des Schrankes, als suche sie etwas, und sah sich erst nach ihm um, als er ganz dicht an sie herangetreten war. Aber aus ihrem Gesicht, dem sie einen strengen und entschlossenen Ausdruck geben wollte, sprach nur Hilflosigkeit und Schmerz.
»Dolly!« sagte er mit leiser, schüchterner Stimme. Er hatte die Schultern hochgezogen und wollte recht jämmerlich und demütig aussehen, strahlte aber trotzdem von Frische und Gesundheit. Mit einem schnellen Blick musterte sie seine von Frische und Gesundheit strotzende Gestalt. »Ja, er ist glücklich und zufrieden«, dachte sie, »und ich?.. Und diese widerliche Gutmütigkeit, um derentwillen alle ihn so lieben und preisen: ich hasse diese Gutmütigkeit!« Ihre Lippen preßten sich zusammen, die Wangenmuskeln auf der rechten Seite ihres bleichen, nervösen Gesichts zuckten.
»Was wollen Sie?« fragte sie schnell mit ganz fremd klingender Bruststimme.
»Dolly!« wiederholte er mit bebender Stimme. »Anna kommt heute.«
»Was geht mich das an? Ich kann sie nicht empfangen!« schrie sie auf.
»Dolly, wir müssen doch aber…«
»Gehen Sie weg! Gehen Sie weg! Gehen Sie!« schrie sie, ohne ihn anzublicken, als wäre dieser Aufschrei durch einen körperlichen Schmerz hervorgerufen.
Stepan Arkadjewitsch konnte ruhig bleiben, wenn er an seine Frau dachte, konnte hoffen, daß alles sich einrenken werde, wie Matwej sagte, konnte ruhig seine Zeitung lesen [24] und seinen Kaffee trinken; aber als er ihr gequältes Märtyrergesicht sah, als er diese Stimme hörte, aus der Ergebenheit ins Schicksal und Verzweiflung sprachen, da stockte ihm der Atem, seine Kehle schnürte sich zusammen und in seinen Augen blitzten Tränen.
»Mein Gott, was habe ich angerichtet! Dolly! Um Gottes willen!.. Ich will ja…« Er konnte nicht weiter reden, Schluchzen erstickte seine Stimme.
Sie schlug die Schranktür zu und sah ihn an.
»Dolly, was kann ich denn sagen? Nur eines: vergib… Bedenke doch: können neun Jahre Zusammenleben nicht eine Minute aufwiegen, eine Minute…«
Sie hörte ihm mit gesenktem Blick, aber gespannt zu; es war, als ob sie ihn anflehte, sie von seiner Unschuld zu überzeugen.
»Eine Minute der Leidenschaft«, brachte er endlich heraus und wollte weiter sprechen, aber bei diesem Wort preßten sich ihre Lippen wieder wie in körperlichem Schmerz zusammen und wieder zuckte der Muskel auf der rechten Wange.
»Gehen Sie, gehen Sie weg!« schrie sie noch durchdringender. »Reden Sie mir nicht von Ihren Leidenschaften und Ihren Gemeinheiten!«
Sie wollte Weggehen, aber sie wankte und griff nach einer Stuhllehne, um sich zu stützen. Sein Gesicht zog sich in die Breite, die Lippen wurden dick, die Augen füllten sich mit Tränen.
»Dolly«, sagte er, bereits schluchzend, »um Gottes willen, denke an die Kinder, sie sind doch unschuldig! Ich bin an allem schuld, also strafe mich, laß mich meine Schuld büßen! Ich bin bereit, alles zu tun, was ich kann! Ich habe gefehlt, es läßt sich mit Worten gar nicht sagen, wie groß meine Schuld ist. Aber vergib mir, Dolly!«
Sie setzte sich. Er hörte ihren schweren, lauten Atem und sie tat ihm unaussprechlich leid. Sie wollte ein paarmal anfangen zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus. Er wartete.
[25] »Du möchtest die Kinder haben, um mit ihnen zu spielen, ich aber weiß, daß sie jetzt zugrunde gehen müssen«, sagte sie; es war dies offenbar eine von den Redewendungen, die sie sich in diesen drei Tagen immer wieder vorgesprochen hatte.
Sie hatte ihn »Du« genannt; er sah sie dankbar an und machte eine Bewegung, um ihre Hand zu fassen; sie wandte sich aber mit Abscheu von ihm weg.
»Ich denke an meine Kinder und würde alles tun, um sie zu retten; aber ich weiß nicht, wie ich sie retten soll: indem ich sie von ihrem Vater trenne oder indem ich sie bei ihrem lasterhaften Vater lasse, – jawohl, bei ihrem lasterhaften Vater!.. Sagen Sie doch selbst, können wir nach dem… nach dem, was sich ereignet hat, noch beieinander bleiben? Ist denn das möglich? Sagen Sie, ist das möglich?« wiederholte sie mit erhobener Stimme. »Nachdem mein Gatte, der Vater meiner Kinder, ein Liebesverhältnis mit der Gouvernante seiner eigenen Kinder angeknüpft hat…«
»Was soll denn geschehen? Was soll geschehen?« sagte er mit kläglicher Stimme; er wußte selbst kaum, was er redete, und ließ den Kopf immer tiefer sinken.
»Sie sind mir zum Ekel geworden!« schrie sie, sich immer mehr erhitzend. »Diese Tränen sind Wasser! Sie haben mich nie geliebt, Sie haben kein Herz, keine edle Gesinnung. Sie sind mir widerlich, ekelhaft, sind mir ein Fremder, ein ganz Fremder!« Mit Schmerz und Wut sprach sie das für sie entsetzliche Wort »Fremder« aus.
Er sah sie an und die Erbitterung, die aus ihrem Gesicht sprach, erfüllte ihn mit Angst und Staunen. Er begriff nicht, daß sein Bedauern sie noch mehr reizte. Sie sah, daß er nur Mitleid, aber keine Liebe zu ihr empfand. »Nein, sie haßt mich. Sie wird mir nie vergeben«, dachte er.
»Das ist entsetzlich, entsetzlich«, murmelte er.
In diesem Augenblick schrie im Nebenzimmer ein Kind, [26] das wohl hingefallen war. Darja Alexandrowna horchte auf und ihr Gesicht nahm plötzlich einen milderen Ausdruck an.
Sie brauchte einige Sekunden, um zu sich zu kommen, denn sie wußte anscheinend nicht mehr, wo sie sich befand und was sie tun sollte. Dann stand sie schnell auf und ging nach der Tür.
»Sie liebt doch mein Kind«, dachte er, als er die Veränderung ihres Gesichts beim Schreien des Kindes bemerkt hatte, »mein Kind; wie kann sie da mich hassen?«
»Dolly, noch ein Wort«, sagte er, hinter ihr hergehend. »Wenn Sie mir nachgehen, rufe ich die Dienstboten und die Kinder! Mögen alle wissen, daß Sie ein Schuft sind! Ich verlasse noch heute das Haus, dann können Sie hier mit Ihrer Geliebten wohnen!«
Und sie ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Stepan Arkadjewitsch seufzte, wischte sich das Gesicht und verließ mit leisen Schritten das Zimmer. »Matwej sagt: es wird sich schon einrenken. Aber wie? Ich sehe nicht die geringste Möglichkeit. Ach, ach, wie entsetzlich! Und wie trivial war ihr Geschrei«, sagte er zu sich selbst in Gedanken an ihr Schreien und die Worte »Schuft« und »Geliebte«. Stepan Arkadjewitsch stand einige Sekunden allein da, wischte sich die Augen, seufzte, reckte sich und ging aus dem Zimmer.
Es war Freitag und im Speisezimmer zog der Uhrmacher, ein Deutscher, gerade die Uhr auf. Stepan Arkadjewitsch mußte an seinen Witz über diesen pünktlichen, kahlköpfigen Uhrmacher denken: dieser Deutsche sei wohl selbst für das ganze Leben aufgezogen worden, um Uhren aufzuziehen, und lächelte. Stepan Arkadjewitsch hatte für gute Witze viel übrig. »Vielleicht renkt es sich noch ein. Ein hübsches Wort: einrenken«, dachte er, »das muß ich weiter erzählen.«
»Matwej«, rief er, »richte also mit Marja im Wohnzimmer alles für Anna Arkadjewna her«, befahl er dem eintretenden Matwej.
[27] »Zu Befehl.«
Stepan Arkadjewitsch zog den Pelz an und trat aus der Haustür.
»Werden Sie zu Hause speisen?« fragte Matwej, der ihn hinausbegleitete.
»Ich weiß noch nicht. Nimm das für alle Fälle«, sagte er und gab ihm zehn Rubel aus seiner Brieftasche. »Wird es reichen?«
»Ob es reicht oder nicht reicht, auskommen muß man«, sagte Matwej, machte den Wagenschlag zu und trat unter das Portal.
Darja Alexandrowna hatte inzwischen das Kind beruhigt, und als das Rasseln des Wagens ihr sagte, daß Stepan Arkadjewitsch fort war, ging sie wieder ins Schlafzimmer zurück. Dieser Raum war ihr einziger Zufluchtsort vor allen häuslichen Sorgen, die sie sofort umdrängten, wenn sie das Schlafzimmer verließ. Auch jetzt, in der kurzen Zeit, die sie im Kinderzimmer gewesen war, hatten die Engländerin und Matriona Filimonowna ihr mehrere Fragen gestellt, die keinen Aufschub duldeten und die sie allein beantworten konnte: Was sollten die Kinder zum Spaziergang anziehen? Sollten sie Milch bekommen? Sollte man nicht einen anderen Koch holen?
»Ach, lassen Sie mich in Ruhe!« sagte sie, ging ins Schlafzimmer zurück, setzte sich auf den alten Platz, wo sie mit ihrem Manne gesprochen hatte, preßte die abgemagerten Hände mit den Ringen, die von den knochigen Fingern abglitten, zusammen und rief sich das ganze Gespräch von vorhin ins Gedächtnis zurück. »Er ist fort! Wie hat er aber mit ihr Schluß gemacht?« dachte sie. »Vielleicht verkehrt er noch mit ihr? Warum habe ich nicht danach gefragt? Nein, nein, es ist keine Einigung möglich. Wenn wir auch im selben Hause bleiben, so sind wir einander doch ganz fremd. Fremd für immer!« wiederholte sie das ihr so schmerzliche [28] Wort mit besonderem Nachdruck. »Und wie habe ich ihn geliebt! O Gott, wie habe ich ihn geliebt!.. Wie habe ich ihn geliebt! Und liebe ich ihn nicht auch jetzt noch? Liebe ich ihn nicht noch mehr als früher? Schrecklich ist vor allem das eine…« fing sie an, brachte ihren Gedanken aber nicht zu Ende, denn Matriona Filimonowna steckte den Kopf durch die Tür.
»Lassen Sie doch meinen Bruder holen«, sagte sie, »er kann das Mittagessen bereiten. Sonst bleiben die Kinder wieder wie gestern bis sechs Uhr ohne Essen.«
»Gut, ich komme gleich heraus und ordne alles an. Habt ihr frische Milch holen lassen?«
Und Darja Alexandrowna stürzte sich in die Sorgen des Alltags und ertränkte in ihnen für eine Zeitlang ihren Kummer.
5
Stepan Arkadjewitsch war in der Schule dank seiner Begabung gut vorwärtsgekommen; er war aber faul und unartig, so daß er bei der Entlassung einer der Letzten war; aber trotz seines nie ganz einwandfreien Lebenswandels, seines nicht sehr hohen Ranges und seiner verhältnismäßig jungen Jahre bekleidete er das ehrenvolle und gut bezahlte Amt eines Vorstehers in einer der Moskauer Behörden. Diese Stelle hat er durch den Gatten seiner Schwester Anna, Alexej Alexandrowitsch Karenin, erhalten, der einen der höchsten Posten in dem Ministerium einnahm, dem jene Behörde unterstellt war. Aber wenn auch Karenin seinem Schwager diese Stelle nicht verschafft hätte, so hätte Stiwa Oblonskij durch hundert andere Personen: Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten diese oder eine ähnliche Stelle mit etwa sechstausend Rubel Gehalt bekommen, denn so viel brauchte er, da seine Finanzen trotz des nicht unbedeutenden Vermögens seiner Frau in ziemlicher Unordnung waren.
[29] Halb Moskau und Petersburg zählte zu Stepan Arkadjewitschs Verwandten und Freunde. Er gehörte durch seine Geburt zu jenen Leuten, die die Mächtigen dieser Welt waren und wurden. Ein Drittel der hohen Beamtenschaft, alte Herren, waren Freunde seines Vaters und hatten ihn noch als kleines Kind gekannt; mit dem zweiten Drittel duzte er sich; das dritte bestand aus lauter guten Bekannten von ihm; somit waren die Verteiler irdischer Güter in Gestalt von Ämtern, Pachten, Konzessionen alle mit ihm befreundet und konnten ihn als einen der Ihrigen nicht links liegenlassen; Oblonskij brauchte sich also gar nicht besonders anzustrengen, um eine einträgliche Stelle zu erhalten; er durfte nur nicht nein sagen, nicht neidisch sein, sich nicht zanken, nicht empfindlich sein, was er bei seiner angeborenen Gutmütigkeit auch nie tat. Es wäre ihm lächerlich vorgekommen, wenn man ihm gesagt hätte, er könne den Posten mit dem Gehalt, das er brauche, nicht erhalten, um so mehr, als er gar nichts Außerordentliches verlangte; er wollte nur das, was seine Altersgenossen auch hatten, und ein Amt dieser Art ausfüllen konnte er ebensogut wie jeder andere.
Stepan Arkadjewitsch war nicht nur bei allen, die ihn kannten, wegen seines gutmütigen, heiteren Wesens und seiner unantastbaren Ehrenhaftigkeit beliebt, sondern in ihm selbst, in seiner hübschen, strahlenden Erscheinung, seinen blitzenden Augen, seinen schwarzen Brauen und Haaren war etwas, von dem schon rein physisch eine heiter und freundlich stimmende Wirkung auf alle ausging, die mit ihm zusammenkamen. »Ah! Stiwa! Oblonskij! Da ist er ja auch!« sagte man fast immer mit vergnügtem Lächeln, wenn man ihm begegnete. Und wenn es sich manchmal nach der Begegnung mit ihm auch herausstellte, daß sich gar nichts besonders Freudiges ereignet hatte, so waren doch am nächsten, am dritten Tage alle wieder ebenso froh, wenn sie ihn trafen.
Stepan Arkadjewitsch war nun bald drei Jahre Vorsteher [30] einer der Moskauer Behörden und hatte nicht nur die Liebe, sondern auch die Achtung der Kollegen, Untergebenen, Vorgesetzten und aller, die mit ihm zu tun hatten, erworben. Die Haupteigenschaften Stepan Arkadjewitschs, um derentwillen er als Beamter allgemein geschätzt wurde, waren erstens seine große Nachsicht den anderen gegenüber, die auf dem Bewußtsein seiner eigenen Schwächen begründet war; zweitens seine durchaus liberale Gesinnung, die er sich nicht erst aus den Zeitungen geholt hatte, sondern die ihm im Blut steckte und die ihn alle Menschen ganz gleich behandeln ließ, wes Standes und Amtes sie auch sein mochten; drittens aber und vor allem die völlige Gleichgültigkeit gegen seinen Beruf, die zur Folge hatte, daß er sich nie hinreißen ließ und nie Fehler machte.
Im Amt angelangt, begab sich Stepan Arkadjewitsch, gefolgt von dem ehrerbietigen Pförtner, der ihm die Aktenmappe nachtrug, in sein kleines Arbeitszimmer, zog seine Uniform an und ging dann in den Sitzungssaal. Die Schreiber und Beamten erhoben sich alle und grüßten heiter und ehrerbietig. Stepan Arkadjewitsch ging wie immer mit schnellen Schritten auf seinen Platz, wechselte Händedrücke mit den Kollegen und setzte sich. Er scherzte und plauderte genau soviel, als sich ziemte, und eröffnete dann die Sitzung. Niemand vermochte mit größerer Sicherheit als Stepan Arkadjewitsch die Grenze zwischen freimütiger Schlichtheit des persönlichen Verkehrs und amtlicher Würde einzuhalten, deren es bedarf, um die gemeinsame Arbeit angenehm zu machen. Der Sekretär trat heiter und ehrerbietig, wie alle Beamten in Stepan Arkadjewitschs Ressort, mit einigen Aktenstücken vor ihn hin und sagte in jenem familiär-liberalen Ton, den Stepan Arkadjewitsch eingeführt hatte:
»Wir haben die Auskunft aus dem Gouvernement Pensa doch noch erhalten. Wollen Sie vielleicht die Güte haben…«
»Also endlich eingetroffen?« sagte Stepan Arkadjewitsch [31] und schob einen Finger zwischen die Blätter, die vor ihm lagen. »Nun, meine Herren…« Und die Sitzung begann.
»Wenn sie wüßten«, dachte er, während er mit würdevoll gesenktem Haupte dem Bericht zuhörte, »daß ihr Vorsitzender vor einer halben Stunde im Bewußtsein seiner Schuld dagestanden hat wie ein dummer Junge!« Und seine Augen lachten bei der Verlesung des Berichts. Bis zwei Uhr mußte ohne Unterbrechung verhandelt werden, um zwei Uhr trat eine Frühstückspause ein.
Es war noch nicht zwei Uhr, als die große Glastür des Sitzungssaales plötzlich aufging und jemand eintrat. Alle Beamten unter dem Kaiserbild und hinter dem Gerichtsspiegel blickten, erfreut über die kleine Ablenkung, nach der Tür hin; aber der Diener, der dort stand, wies den Eindringling sofort hinaus und machte die Glastür hinter ihm zu.
Als das Aktenstück verlesen war, erhob sich Stepan Arkadjewitsch, reckte sich, zog, um der liberalen Zeitströmung Rechnung zu tragen, seine Zigarettentasche noch im Sitzungssaale hervor, entnahm ihr eine Zigarette und begab sich dann erst in sein Zimmer. Zwei Kollegen, der im Dienst ergraute Bureaukrat Nikitin und der Kammerjunker Grinewitsch, schlossen sich ihm an.
»Wir werden auch noch nach dem Frühstück damit fertig«, sagte Stepan Arkadjewitsch.
»Und wie!« fiel Nikitin ein.
»Dieser Fomin muß ein Erzhalunke sein«, äußerte sich Grinewitsch über eine der Personen, die in die zur Untersuchung stehende Sache verwickelt war.
Stepan Arkadjewitsch runzelte die Stirn, um Grinewitsch fühlen zu lassen, daß es unschicklich sei, vor der Zeit ein Urteil zu fällen, und verzichtete auf jede weitere Antwort.
»Wer wollte vorhin herein?« fragte er den Türhüter.
»Ein ganz fremder Mensch, Exzellenz, drängt sich herein, ohne zu fragen, grade als ich mich einmal abgewandt hatte. Er [32] fragte nach Ihnen. Ich sagte ihm: wenn die Herren von der Sitzung kommen, können Sie…«
»Wo ist er denn geblieben?«
»Wohl auf den Flur hinausgegangen; erst lief er hier immer auf und ab. Da ist er ja«, sagte der Diener und zeigte auf einen kräftigen, breitschultrigen, krausbärtigen Mann, der, ohne seine Pelzmütze abzunehmen, mit schnellen, leichten Schritten die abgenutzten Stufen der Steintreppe emporeilte. Ein magerer Beamter, der mit einigen anderen, die Mappe unter dem Arm, hinunterging, blieb stehen, warf einen mißbilligenden Blick auf die Füße des Laufenden und sah dann Oblonskij fragend an.
Stepan Arkadjewitsch stand oben an der Treppe. Sein gutmütig strahlendes Gesicht über dem gestärkten Kragen der Uniform wurde noch strahlender, als er den Heraufkommenden erkannte.
»Wirklich, du Lewin, endlich einmal!« sagte er mit freundschaftlich-spöttischem Lächeln, den auf ihn zueilenden Lewin musternd. »Du hast es also nicht verschmäht, mich in in dieser Räuberhöhle aufzusuchen?« fuhr Stepan Arkadjewitsch fort und begnügte sich nicht mit einem bloßen Händedruck, sondern küßte seinen Freund. »Schon lange hier?«
»Ich bin eben erst angekommen und wollte dich sehr gern sprechen«, erwiderte Lewin und sah sich verlegen und zugleich ärgerlich und unruhig im Kreise um.
»Nun, so komm in mein Zimmer«, sagte Stepan Arkadjewitsch, der die empfindliche, verbitterte Schüchternheit seines Freundes kannte, nahm seine Hand und zog ihn mit sich, als ob er ihn durch drohende Gefahren hindurchführen wollte.
Stepan Arkadjewitsch duzte sich mit fast allen seinen Bekannten: mit sechzigjährigen Greisen und zwanzigjährigen Jünglingen, mit Schauspielern, Ministern, Kaufleuten, Generaladjutanten, so daß sehr viele von seinen Duzfreunden an [33] den beiden entgegengesetzten Enden der gesellschaftlichen Stufenleiter standen und sehr erstaunt gewesen wären, wenn sie erfahren hätten, daß sie durch Oblonskij etwas miteinander gemein hatten. Er duzte sich mit allen, mit denen er Champagner getrunken hatte, Champagner aber trank er mit allen möglichen Leuten. Wenn er nun in Gegenwart seiner Untergebenen mit einem seiner »schmachvollen Duzfreunde« zusammenkam, wie er viele seiner Freunde scherzend nannte, verstand er es mit dem ihm eigenen Takte den unangenehmen Eindruck auf seine Untergebenen zu mildern. Lewin war zwar kein »schmachvoller Duzfreund«, Oblonskijs Taktgefühl aber sagte ihm, daß Lewin vielleicht glaube, er, Oblonskij, wolle in Gegenwart seiner Untergebenen seine Intimität mit ihm nicht zu deutlich zeigen, und daher führte er ihn schleunigst in sein Arbeitszimmer.
Lewin war fast ebenso alt wie Oblonskij und nicht nur dank dem Champagner sein Duzfreund. Lewin war sein Studiengenosse und der Freund seiner ersten Jugend. Sie hatten einander sehr gern, trotz der Verschiedenheit ihrer Charaktere und Neigungen, wie eben Freunde sich gern haben, die sich schon in früher Jugend nahe getreten sind. Trotzdem aber, wie das bei Leuten verschiedener Berufe häufig der Fall ist, verachtete jeder von ihnen die Tätigkeit des anderen, obgleich er bei ruhiger Überlegung auch manches zu ihrer Rechtfertigung anzuführen bereit war. Jeder sah das Leben, das er selbst führte, als das einzig richtige an, das Leben des Freundes aber nur als ein Scheindasein. Oblonskij konnte beim Anblick Lewins ein leichtes, spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. So viele Male schon hatte er ihn vom Lande nach Moskau kommen sehen, – vom Lande, wo er irgend etwas trieb, wofür Stepan Arkadjewitsch nicht das geringste Verständnis hatte und was ihn auch gar nicht interessierte. Wenn Lewin nach Moskau kam, war er immer erregt, in großer Hast, etwas befangen und durch diese Befangenheit gereizt; [34] auch äußerte er immer ganz neue, überraschende Ansichten über die verschiedensten Dinge. Stepan Arkadjewitsch lachte darüber und hatte es gern. Ebenso verachtete Lewin im Grunde seines Herzens die städtische Lebensweise seines Freundes und seine Amtstätigkeit, die er für nutzlose Zeitvergeudung hielt, und spottete darüber. Der Unterschied bestand nur darin, daß der Spott Oblonskijs, der nichts tat, als was alle anderen Menschen auch taten, selbstbewußt und gutmütig war, während Lewin dieses Selbstbewußtsein nicht besaß und leicht in Zorn geriet.
»Wir haben dich schon lange erwartet«, sagte Stepan Arkadjewitsch, als sie in sein Zimmer traten, und ließ Lewins Hand los, gleichsam um zu zeigen, daß die Gefahr nun vorüber sei. »Ich bin sehr, sehr erfreut dich zu sehen«, fuhr er fort. »Nun, wie geht’s? Wie steht’s? Wann bist du angekommen?«
Lewin schwieg und blickte auf die ihm fremden Gesichter der beiden Kollegen Oblonskijs, besonders aber auf die Hand des eleganten Grinewitsch mit ihren weißen, langen Fingern, den langen, gelben, an den Spitzen gekrümmten Nägeln und den großen, funkelnden Manschettenknöpfen. Diese Hände schienen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen und hinderten ihn am freien Denken. Oblonskij bemerkte das sofort und lächelte.
»Ach ja, darf ich die Herren miteinander bekannt machen«, sagte er. »Meine Kollegen: Philipp Iwanowitsch Nikitin, Michail Stanislawowitsch Grinewitsch –« und dann, auf Lewin zeigend: »Eifriges Mitglied des Semstwo, Vorkämpfer der neuen Zeit, Athlet, der mit einer Hand fünf Pud hebt, Viehzüchter, Jäger und mein Freund, Konstantin Dmitrijewitsch Lewin, ein Stiefbruder von Sergej Iwanowitsch Kosnyschew.«
»Sehr angenehm«, sagte der alte Herr.
»Ich habe die Ehre, Ihren Bruder Sergej Iwanowitsch zu [35] kennen«, sagte Grinewitsch und reichte ihm seine schmale Hand mit den langen Nägeln.
Lewin runzelte die Stirn, drückte ihm kühl die Hand und wandte sich sofort zu Oblonskij. Obgleich er seinen Stiefbruder, einen in ganz Rußland bekannten Schriftsteller, sehr hoch schätzte, konnte er es doch nicht ausstehen, wenn man ihn nicht als Konstantin Lewin, sondern als den Bruder des berühmten Kosnyschew begrüßte.
»Nein, ich bin nicht mehr im Semstwo tätig. Ich habe mich mit allen verzankt und besuche die Versammlungen nicht mehr«, sagte er zu Oblonskij.
»Das ist schnell gegangen!« sagte Oblonskij lächelnd. »Aber wieso? Warum?«