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INHALT

EINLEITUNG

HELDEN UND LEGENDEN

3000 V. CHR.–1300 N. CHR.

Nur die Götter wohnen ewig unter der Sonne

Das Gilgamesch-Epos

Sich von den alten Tugenden zu nähren, bringt Beharrlichkeit

Buch der Wandlungen, König Wen von Zhou

Welch Freveltat begehe ich, oh Krishna

Mahabharata, Vyasa

Singe den Zorn, oh Göttin, des Achill

Ilias, Homer

Wie grauenvoll kann das Wissen um die Wahrheit sein, wenn aus ihr keine Hilfe erwächst!

König Ödipus, Sophokles

Das Höllentor steht offen Tag und Nacht; der Abstieg ist leicht

Aeneis, Vergil

Das Schicksal wird sich unweigerlich erfüllen

Beowulf

So Scheherazade begann …

Tausendundeine Nacht

Da das Leben nur ein Traum ist – warum sich vergeblich mühen?

Quan Tangshi

Wirkliche Dinge in der Dunkelheit erscheinen nicht realer als Träume

Die Geschichte vom Prinzen Genji, Murasaki Shikibu

Ein Mann soll für seinen Herrn viel auf sich nehmen

Das Rolandslied

Tandaradei, sang die Nachtigall lieblich

Unter der Linden, Walther von der Vogelweide

Wer nicht der Liebe folgt, der irrt gewaltig!

Der Karrenritter, Chrétien de Troyes

Lass die Wunde eines anderen mir eine Warnung sein

Njáls Saga

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VON DER RENAISSANCE BIS ZUR AUFKLÄRUNG

1300–1800

Ich fand mich mitten in einem Schattenwald wieder

Die Göttliche Komödie, Dante Alighieri

Lasst uns drei Brüderlichkeit schwören und Einheit unserer Ziele wie unserer Gedanken

Die Geschichte der drei Reiche, Luo Guanzhong

Blättre die Seite um und wähl eine weitere Geschichte

Die Canterbury-Erzählungen, Geoffrey Chaucer

Lachen – das ist Menschenrecht! Lebe fröhlich!

Gargantua und Pantagruel, François Rabelais

Und wie die Rose welkt die Schönheit hin

Amoren für Cassandre, Pierre de Ronsard

Wer das Vergnügen liebt, muss dafür fallen

Doktor Faustus, Christopher Marlowe

Jeder ist der Sohn seiner Taten

Don Quijote, Miguel de Cervantes

Sein Leben lang spielt einer manche Rollen

Erste Folio-Ausgabe, William Shakespeare

Alles zu schätzen bedeutet nichts zu schätzen

Der Menschenfeind, Molière

Doch hinter mir höre ich den geflügelten Wagen der Zeit näherkommen

Miscellaneous Poems, Andrew Marvell

Traurig scheide ich von dir; so ist es mit der Muschel: Geht schwer auseinander – wie wir […] im scheidenden Herbst

Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland, Matsuo Bashō

Niemand kann behindern und niemand wird behindert auf der Reise zum Berg des Todes

Liebestod bei Sonezaki, Chikamatsu Monzaemon

Ich bin geboren zu York im Jahre 1632, als Kind angesehener Leute

Robinson Crusoe, Daniel Defoe

Wenn das hier die beste aller möglichen Welten ist, wie sehen dann erst die anderen aus?

Candide, Voltaire

Mut hab’ ich genug, um barfuß mitten durch die Hölle zu gehen

Die Räuber, Friedrich Schiller

In der Liebe gibt es nichts, das schwieriger wäre, als Unempfundenes zu schreiben

Gefährliche Liebschaften, Pierre Choderlos de Laclos

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ROMANTIK UND DER TRIUMPH DES ROMANS

1800–1855

Poesie ist der Atem und der edlere Geist allen Wissens

Lyrical Ballads, William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge

Nichts ist wundervoller, nichts fantastischer als das wirkliche Leben

Nachtstücke, E.T.A. Hoffmann

Es irrt der Mensch, solang er strebt

Faust, Johann Wolfgang von Goethe

Es war einmal …

Kinder- und Hausmärchen, Jacob und Wilhelm Grimm

Denn wozu leben wir, wenn nicht, um unseren Nachbarn Anlass zum Lachen zu geben und dafür umgekehrt über sie zu lachen

Stolz und Vorurteil, Jane Austen

Wer kann die Schrecken meiner heimlichen Mühen erahnen

Frankenstein, Mary Shelley

Einer für alle, alle für einen

Die drei Musketiere, Alexandre Dumas

Doch zum Glück zog es mich niemals hin, es ist meiner Seele fremd

Eugen Onegin, Alexander Puschkin

Lass deine Seele kühl und gefasst vor einer Million von Universen stehen

Grasblätter, Walt Whitman

Ihr habt gesehen, wie ein Mensch zum Sklaven wird; ihr sollt sehen, wie ein Sklave zum Menschen wird

Mein Leben als Sklave in Amerika, Frederick Douglass

Ich bin kein Vogel; und kein Netz vermag mich zu fangen

Jane Eyre, Charlotte Brontë

Ich kann nicht ohne mein Leben leben! Ich kann nicht leben ohne meine Seele!

Sturmhöhe, Emily Brontë

Es gibt keinen Wahnwitz des Tiers auf dieser Erde, der nicht vom Wahnsinn des Menschen unendlich übertroffen wird

Moby-Dick, Herman Melville

Alle Abschiede weisen auf einen großen hin

Bleak House, Charles Dickens

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ABBILDUNG DER WIRKLICHKEIT

1855–1900

Langeweile, diese lautlose Spinne, wob ihr Netz im Finstern über jeden Winkel ihres Herzens

Madame Bovary, Gustave Flaubert

Auch ich bin Kind dieses Landes; auch ich wuchs hier auf

O Guarani, José de Alencar

Der Dichter gleicht dem Wolkenfürsten droben

Die Blumen des Bösen, Charles Baudelaire

Nicht gehört zu werden ist kein Grund zu schweigen

Die Elenden, Victor Hugo

Verquerer und verquerer!

Alice im Wunderland, Lewis Carroll

Leid und Schmerz sind der weiten Erkenntnis und dem tiefen Herzen immer eigen

Verbrechen und Strafe, Fjodor Dostojewski

Das Leben der Menschheit oder auch nur einer Nation genau zu beschreiben, scheint unmöglich

Krieg und Frieden, Leo Tolstoi

Nur ein beschränkter Verstand kann nicht ein Subjekt aus verschiedenen Perspektiven betrachten

Middlemarch, George Eliot

Man kann wohl menschlichen Gesetzen trotzen, sich aber nicht den Naturgesetzen widersetzen

Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer, Jules Verne

Wir in Schweden tun nichts, außer Jubiläen feiern

Das rote Zimmer, August Strindberg

Sie ist in einer fremden Sprache geschrieben

Bildnis einer Dame, Henry James

Menschen können schrecklich grausam zueinander sein

Die Abenteuer des Huckleberry Finn, Mark Twain

Er wollte wieder in die Grube hinab, um zu leiden und zu kämpfen

Germinal, Émile Zola

Die Abendsonne erschien ihr nun hässlich wie eine große entzündete Wunde im Himmel

Tess, Thomas Hardy

Der einzige Weg, eine Versuchung loszuwerden, ist, ihr nachzugeben

Das Bildnis des Dorian Gray, Oscar Wilde

Es gibt Dinge, alte und neue, die der Mensch nicht versteht

Dracula, Bram Stoker

Einer der dunklen Orte der Erde

Herz der Finsternis, Joseph Conrad

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BRUCH MIT DER TRADITION

1900–1945

Die Welt ist erfüllt von wahrscheinlichen Dingen, die zufällig von niemandem bemerkt werden

Der Hund der Baskervilles, Arthur Conan Doyle

Gestatten, ich bin ein Kater! Unbenamst bislang. Ich habe keine Ahnung, wo ich geboren wurde

Ich der Kater, Natsume Sōseki

Gregor Samsa fand sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt

Die Verwandlung, Franz Kafka

Dulce et decorum est / pro patria mori

Gedichte, Wilfred Owen

Ich zeige dir die Angst in einer handvoll Staub

Das wüste Land, T.S. Eliot

Der Himmelsbaum der Sterne, behangen mit feuchter, nachtblauer Frucht

Ulysses, James Joyce

Als ich jung war, hatte auch ich viele Träume

Aufruf zum Kampf, Lu Xun

Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als von sich selbst

Der Prophet, Khalil Gibran

Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschrittes und der Aufklärung

Der Zauberberg, Thomas Mann

Wie Motten zwischen Geflüster, Champagner und Sternen

Der große Gatsby, F. Scott Fitzgerald

Die alte Welt muss stürzen, wach auf, du Morgenluft!

Berlin Alexanderplatz, Alfred Döblin

Schiffe in der Ferne haben jedermanns Wunsch an Bord

Und ihre Augen schauten Gott, Zora Neale Hurston

Tote sind schwerer als gebrochene Herzen

Der große Schlaf, Raymond Chandler

Es ist so geheimnisvoll, das Land der Tränen

Der kleine Prinz, Antoine de Saint-Exupéry

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NACHKRIEGSLITERATUR

1945–1970

Big Brother is watching you

1984, George Orwell

Jetzt bin ich siebzehn und manchmal führe ich mich auf, als ob ich dreizehn wäre

Der Fänger im Roggen, J.D. Salinger

Der Tod ist ein Meister aus Deutschland

Mohn und Gedächtnis, Paul Celan

Ich bin unsichtbar, verstehst du – einfach, weil die Leute sich weigern, mich zu sehen

Unsichtbar, Ralph Ellison

Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele

Lolita, Vladimir Nabokov

Wir alle werden verrückt geboren; manche bleiben es

Warten auf Godot, Samuel Beckett

Es ist unmöglich, mit der einen Hand die Ewigkeit und mit der anderen das Leben zu berühren

Der Tempelbrand, Yukio Mishima

Er war »beat« – die Wurzel, die Seele der Glückseligkeit

Unterwegs, Jack Kerouac

Was bei einem Volk gut ist, ist bei einem anderen abscheulich

Alles zerfällt, Chinua Achebe

Selbst Tapeten haben ein besseres Gedächtnis als die Menschen

Die Blechtrommel, Günter Grass

Ich glaube, es gibt nur eine Art von Menschen. Einfach Menschen

Wer die Nachtigall stört, Harper Lee

Nichts ist verloren, solange einer den Mut hat zu sagen, dass alles verloren ist und wir von Neuem beginnen müssen

Rayuela, Julio Cortázar

Er hatte beschlossen, ewig zu leben oder bei dem Versuch zu sterben

Catch-22, Joseph Heller

Alltägliche Wunder und die lebendige Vergangenheit

Tod eines Naturforschers, Seamus Heaney

Mit uns stimmt etwas nicht. Sonst hätten wir das wohl kaum getan

Kaltblütig, Truman Capote

Es endet jeden Moment – beendet aber niemals sein Ende

Hundert Jahre Einsamkeit, Gabriel García Márquez

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ZEITGENÖSSISCHE LITERATUR

1970–HEUTE

Unsere Geschichte ist eine Summe aus letzten Augenblicken

Die Enden der Parabel, Thomas Pynchon

Du schickst dich an, den neuen Roman von Italo Calvino zu lesen

Wenn ein Reisender in einer Winternacht, Italo Calvino

Um nur ein einziges Leben zu verstehen, muss man die Welt schlucken

Mitternachtskinder, Salman Rushdie

Sich selbst zu befreien, war das eine; den Anspruch auf dieses befreite Selbst zu erheben, ein anderes

Menschenkind, Toni Morrison

Himmel und Erde waren in Aufruhr

Das rote Kornfeld, Mo Yan

Eine Geschichte wie diese ließ sich nicht erzählen, eine solche Geschichte ließ sich nur fühlen

Oscar und Lucinda, Peter Carey

Eine historische Vision, das Ergebnis eines multikulturellen Engagements

Omeros, Derek Walcott

Ich fühlte mich tödlich, am Rande des Wahnsinns

American Psycho, Bret Easton Ellis

Schweigsam fuhren sie den ruhigen und heiligen Fluss hinunter

Eine gute Partie, Vikram Seth

Ein ausgesprochen griechischer Gedanke – zudem ein tiefgreifender. Schönheit ist Terror

Die geheime Geschichte, Donna Tartt

Was wir vor uns sehen, ist nur ein winziger Ausschnitt der Welt

Mister Aufziehvogel, Haruki Murakami

Wahrscheinlich sind nur in einer Welt der Blinden die Dinge das, was sie wirklich sind

Die Stadt der Blinden, José Saramago

Englisch ist ein ungeeignetes Medium für die Wahrheit Südafrikas

Schande, J.M. Coetzee

Jeder Augenblick geschieht zweimal: innen und außen – und beide sind zwei verschiedene Geschichten

Zähne zeigen, Zadie Smith

Die beste Art, ein Geheimnis zu wahren, besteht darin, so zu tun, als gäbe es keines

Der blinde Mörder, Margaret Atwood

Es gab irgendetwas Unangenehmes, das seine Frau und seine Kinder vergessen wollten

Die Korrekturen, Jonathan Franzen

Es rührt alles vom selben Albtraum her – dem, den wir gemeinsam schufen

Der Gast, Hwang Sok-yong

Wie schade, dass man ein ganzes Leben braucht, um zu lernen, wie man leben muss

Extrem laut und unglaublich nah, Jonathan Safran Foer

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Glossar

Danksagungen

EINLEITUNG

Das Erzählen von Geschichten ist so alt wie die Menschheit. Es diente der Weitergabe wichtiger Ereignisse und Überzeugungen von Gemeinschaften. In Form von Mythen und Legenden wurde Geschichte von einer Generation zur nächsten überliefert. Sie boten Erklärungen für die Entstehung des Universums und die Geheimnisse der Schöpfung.

Mit den frühen Hochkulturen tauchten auch die ersten Schriftzeugnisse auf. Zunächst kam der Schrift eine rein praktische Funktion zu: Sie diente vor allem dem Festhalten von Handelsinformationen. Tausende in Ugarit (Syrien) gefundenen Keilschrifttafeln lassen bereits um 1500 v. Chr. ein komplexes Schriftsystem erkennen. Schon bald wurde die Schrift auch zum Bewahren bisher mündlich überlieferter Sitten und Gebräuche, gesellschaftlicher Ideen und Strukturen genutzt. Daraus gingen die ersten Beispiele geschriebener Literatur hervor: die epischen Erzählungen aus Mesopotamien, Indien und dem antiken Griechenland sowie die philosophischen und historischen Texte des alten China. Wie John Steinbeck es in seiner Dankesrede für den Nobelpreis so treffend sagte: »Literatur ist so alt wie die Sprache; sie entstand aus einem menschlichen Bedürfnis und hat sich seither nicht verändert – abgesehen davon, dass wir sie dringender benötigen denn je.«

»Ich fange mit dem ersten Satz an – und vertraue für den zweiten auf Gott, den Allmächtigen.«

Laurence Sterne

Miss Bingley aus Jane Austens Stolz und Vorurteil mag töricht gewesen sein, als sie erklärte: »Wie viel schneller bekommt man alles andere satt als ein Buch!« Doch vielen von uns geht es ähnlich: Literatur stillt auch heute noch ein menschliches Grundbedürfnis und öffnet unseren Geist für die Vielfalt der Welt. Es gibt jahrhundertealte Werke, die uns bis heute in ihren Bann ziehen, vielschichtige postmoderne Texte, die uns gleichermaßen fesseln und herausfordern, und neue Romane, deren Sprache so unverbraucht klingt, als wäre sie eben erst erfunden worden.

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Die Definition von Literatur

Eine einfache Definition von Literatur könnte lauten: »alles, was geschrieben ist«. Der Begriff bezieht sich jedoch üblicherweise auf epische, dramatische und lyrische Werke, denen ein besonderer künstlerischer Wert, etwas Erhabenes, zugeschrieben wird. Auf der Grundlage dieser nicht exakt bestimmbaren Kriterien wird seit Mitte des 19. Jh. immer wieder aufs Neue ein literatischer Kanon (griech. »Maßstab«) zusammengestellt, eine Sammlung von Werken anerkannt hoher Qualität.

Dieser Literaturkanon bestand zunächst fast ausschließlich aus Werken der westeuropäischen Literatur. Doch seit Mitte des 20. Jh. stellen Kultur- und Literaturtheoretiker immer wieder infrage, inwieweit diese Liste von Werken »toter, weißer Europäer« als allgemeiner Maßstab gelten kann. Die Idee eines Kanons »großer Werke« bietet trotzdem nach wie vor einen nützlichen Orientierungsrahmen. Doch statt darin immer dieselben Titel aufzuführen, erstellt heute jede Generation ihren eigenen Kanon und hinterfragt dabei die Ideologien, Machtstrukturen und Ausschlusskriterien, die der bisherigen Auswahl zugrunde lagen. Dieser kritische Diskurs und die Einbeziehung von Entstehungsbedingungen der Literatur kommt uns Lesern zugute.

Auch im vorliegenden Buch sind zahlreiche der traditionell anerkannten »großen Werke« aufgeführt. Gleichzeitig wird erklärt, welchen Platz diese Werke innerhalb der Weltliteratur einnehmen und wie sie sich in der Vielfalt des Schreibens rund um den Globus verorten. Neben ihnen stehen Texte, in denen andere Stimmen zu Wort kommen, die durch die Vorherrschaft europäischer Literatur und aufgrund sozialer Konstrukte wie Kolonialismus und Patriarchat jahrhundertelang zum Schweigen verdammt waren.

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Zur Werkauswahl

»Das Literaturbuch« unternimmt eine Reise durch die Literaturgeschichte der ganzen Welt. Als Wegmarke dienen mehr als 100 literarische Texte aus verschiedenen Kulturkreisen, sodass der Leser auch die eine oder andere Neuentdeckung machen wird. Die ausgewählten Werke repräsentieren jeweils eine Epoche oder einen Stil oder stellen eine literatische Strömung vor, deren Ansatz von anderen zeitgenössischen Autoren aufgegriffen und von nachfolgenden Generationen weiterentwickelt wurde. Die Werke sind chronologisch geordnet, um die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe literarischer Neuerungen zu verdeutlichen: Zum Beispiel entwickelte sich die französische Literatur im 17. und 18. Jh. von Molières neoklassischen Charakterkomödien über Voltaires satirische Kommentare zum Optimismus der Aufklärung hin zur drastischen Beschreibung der dekadenten französischen Aristokratie zu Beginn der Französischen Revolution in Pierre Choderlos de Laclos Gefährliche Liebschaften. Derartige Entwickungen überschneiden sich unweigerlich, da die einen Autoren mit neuen literarischen Techniken experimentierten, die später Allgemeingut wurden, während andere literarische Traditionen weiterführten.

Über Listen lässt sich trefflich streiten – und vermutlich ließen sich die rund 100 in diesem Buch versammelten Werke problemlos durch 100 andere ersetzen. Wir betrachten sie nicht als die definitive Liste von Werken, »die man gelesen haben muss«. Stattdessen wird jedes vorgestellte Werk einer Epoche und einem Genre bzw. einem Stil zugeordnet und im Kontext verwandter literarischer Ereignisse und Meilensteine betrachtet. Dazu kommen Verweise auf Werke, die mit ihm verbunden sind, weil sie von ihm beeinflusst wurden oder es geprägt haben. Zur intensiveren Erkundung der literarischen Landschaft einer jeden Epoche werden über 200 weitere Leseempfehlungen gegeben.

»Manche Bücher lassen uns Freiheit – und manche befreien uns.«

Ralph Waldo Emerson

Literaturgeschichte

Vor rund 4000 Jahren wurden die ersten, auf mündlichen Überlieferungen basierenden Erzählungen wie das Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien und das Mahabharata aus Indien in Versform niedergeschrieben. Reim, Rhythmus und Versmaß (Metrum) waren hilfreiche Gedächtnisstützen für Lieder und mündlich Tradiertes; diese poetischen Techniken machten sich diese ersten Schrifttexte zunutze. Viele der frühen Texte sind religiösen Ursprungs; heilige Texte wie die Bibel oder der Koran haben das Schreiben über Jahrhunderte geprägt. Das griechische Drama nutzte eine balladenartige Form und führte individuelle Charaktere, den Chor für Kommentare sowie die bis heute gültige Unterscheidung zwischen Tragödie und Komödie ein. Die orientalische Geschichtensammlung Tausendundeine Nacht entstammt unterschiedlichen Quellen; in den Prosaerzählungen finden sich Erzähltechniken, die später zu tragenden Säulen des modernen Romans wurden – wie die Rahmenhandlung, innerhalb derer eine oder mehrere Geschichten erzählt werden, die Technik der Vorwegnahme oder die Einführung wiederkehrender Motive.

Wenngleich die Literatur des Mittelalters reich an weltlichen Schlüsselwerken wie dem angelsächsischen Beowulf und höfischen Romanen ist, war sie im Westen doch von religiösen Texten auf Lateinisch und Griechisch dominiert. In der Renaissance öffneten neue philosophische Denkansätze und ein immenser Erfindergeist den Horizont für literarische Neuerungen. Treibende Kraft hinter dieser Entwicklung waren die Neuübersetzungen antiker griechischer und lateinischer Texte; sie befreiten die Wissenschaft vom Dogma der Kirche. Das humanistische Bildungsprogramm berief sich auf die Weisheit der Antike und umfasste Philosophie, Grammatik, Geschichte und Sprachen. Die Bibel wurde in die Volkssprachen übersetzt, sodass Christen nun direkt zu ihrem Gott sprechen konnten. Gutenbergs Druckerpresse brachte Bücher auch in die Häuser gewöhnlicher Menschen, und Autoren wie Geoffrey Chaucer und Giovanni Boccaccio machten das Alltagsleben zum Gegenstand der Literatur.

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Der Siegeszug des Romans

Zu Beginn des 17. Jh. schenkten Miguel de Cervantes und Daniel Defoe der Welt Texte, die als frühe moderne Romane angesehen werden können – und auch die erste Ausgabe von Shakespeares Dramen wurde zu dieser Zeit veröffentlicht. Bis zum Ende des 18. Jh. etablierte sich der Roman als wichtigste literarische Ausdrucksform.

»Ein Wort nach einem Wort nach einem Wort ist Macht.«

Margaret Atwood

Ebenso wie in der bildenden Kunst werden auch Autoren bestimmten Epochen und Strömungen wie dem Barock oder dem Rokoko, einem Stil, einer Technik oder einem Kulturraum zugeordnet. Die Romantik etwa mit ihren gefühlsbetonten Texten und ihren eigenwilligen Charakteren entstand aus der deutschen Bewegung des Sturm und Drang. Die romantischen Dichter in England besangen die heilende Wirkung der Natur auf die menschliche Seele; ähnliche Themen griffen die amerikanischen Transzendentalisten auf. Immer mehr »Genres«, also literarische Untergruppen wie z. B. der Schauerroman (Gothic Novel), entstanden.

Im 19. Jh. wurde die Romantik von einer neuen Form des sozialen Realismus abgelöst. Er fand zunächst Ausdruck in Jane Austens Schilderungen aus den Salons des gehobenen englischen Bürgertums und Gustave Flauberts Darstellung französischer Provinzstädte, wurde aber auch zunehmend genutzt, um die schlechten Lebensbedingungen der Unterschicht darzustellen. Fjodor Dostojewski nannte seinen Roman Verbrechen und Strafe »fantastischen Realismus«; in den düsteren inneren Monologen des Mörders Raskolnikow finden sich Elemente eines Psychothrillers.

Mit der Weiterentwicklung des Romans differenzierten sich auch die Genres und Subgenres und das Vokabular zur Beschreibung verschiedener Schreibstile weiter aus: Die Spanne reicht vom dialogischen Briefroman bis zu den verschiedenen Arten des Entwicklungsromans, von der Dystopie bis zur Holocaustliteratur. Auch die literarische Sprache veränderte sich: Zum Beispiel vergößerten volkssprachliche Elemente die Reichweite der Literatur – das gilt gleichermaßen für die Grimm‘schen Märchen wie für die Bücher von Mark Twain und Harriet Beecher Stowe.

Zu Beginn des 20. Jh. veränderten wissenschaftliche Umwälzungen, technischer Fortschritt, die Industrialisierung und neue Kunstbewegungen die westlichen Gesellschaften tiefgreifend. Im Ersten Weltkrieg starb eine ganze Generation junger Männer. Es folgte ein regelrechter Sturm literarischer Experimente: Die Autoren suchten nach Formen, um die Angst und Entfremdung angesichts dieser sich verändernden Welt zum Ausdruck zu bringen, und arbeiteten mit Techniken wie der Montage oder dem Bewusstseinsstrom (Stream of Consciousness). Nach einer kurzen Periode des literarischen Optimismus ließ der Zweite Weltkrieg, von dem die Autoren auf ganz unterschiedliche Weise betroffen waren – als Kriegsberichterstatter und Propagandisten, durch Zensur, auf der Flucht, im Widerstand oder in der inneren Emigration –, die Literaturproduktion einbrechen.

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Die globale Explosion

Nach der Erfahrung zweier grausamer Kriege war die Welt bereit für eine Veränderung. Im Westen wurde die Literatur in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einer treibenden Kraft der Gegenkultur. Die Texte postmoderner Autoren und Theoretiker forderten den Leser weit mehr als die bisherigen Formen der Erzählung. Fragmente und nicht-linear erzählte Passagen fanden ebenso Eingang in den Roman wie magisch-realistische Elemente, Mehrdeutigkeit und unzuverlässige Erzähler. Zur selben Zeit lockerte sich die Kulturdominanz der westlichen, v. a. englischsprachigen Literatur. In Ländern wie Nigeria, Südafrika und Indien entstand eine postkoloniale Literatur, und mit Autoren wie Gabriel Garcia Márquez wurde eine außerordentlich kreative Gruppe südamerikanischer Autoren international populär. Heute singen die zuvor ungehörten Stimmen von Feministinnen und Bürgerrechtlern, Homosexuellen, Farbigen, Immigranten und indigenen Autoren mit im Kanon moderner Literatur, und die Grenzen zwischen »hoher« und populärer Kultur haben sich aufgelöst. Internationale Medienkonzerne, unabhängige Verlage und Internetpublikationen sowie die wachsende Zahl von Übersetzungen bringen moderne australische, kanadische, südafrikanische, indische, russische und chinesische Werke einem weltweiten Leserpublikum näher. Die riesige Bibliothek der Weltliteratur ist ein Fest der Verschiedenheit und erinnert uns zugleich daran, dass wir alle derselben Menschheit angehören. image

»Lesen ist das einzige Mittel, mit dem wir in die Haut, die Stimme und die Seele eines anderen schlüpfen – unwillkürlich und manchmal hilflos.«

Joyce Carol Oates

HELDEN UND LEGENDEN

3000 V. CHR. – 1300 N. CHR.

um 2600 v. Chr.

Die ältesten bekannten Texte sind in sumerischer Sprache geschrieben und finden sich auf Tontafeln aus Abu Salabih (Südmesopotamien/Irak).

12.–11. JH. V. CHR.

König Wen von Zhou verfasst einen Kommentar zu einer alten Methode der Weissagung, aus dem später das Buch der Wandlungen (I Ging) wird.

UM 8. JH. V. CHR.

Die Homer zugeschriebenen epischen Gedichte des antiken Griechenlands, die Ilias und die Odyssee, entstehen.

508 V. CHR.

Mit der Übernahme einer demokratischen Verfassung in der griechischen Stadt Athen wird die griechische Klassik eingeleitet.

AB 2100 V. CHR.

Das Gilgamesch-Epos gehört zu den frühesten Beispielen der Schriftliteratur.

9.–4. JH. V. CHR.

In Indien werden die Sansrit-Epen Mahabharata und Ramayana verfasst.

551–479 V. CHR.

Der Philosoph Konfuzius stellt mit den Fünf Klassikern einen frühen Kanon chinesischer Literatur zusammen.

5. JH. V. CHR.

Die griechischen Tragödiendichter Aischylos, Euripides und Sophokles wetteifern um den Titel des größten Dramatikers von Athen.

29–19 V. CHR.

Vergil schreibt sein Meisterwerk – die Aeneis –, das wohl bekannteste Epos in lateinischer Sprache.

618–907 N. CHR.

Die chinesische Lyrik (Shi) erreicht ihren Höhepunkt in der Tang-Dynastie mit Werken von Dichtern wie Li Bai und Du Fu.

930

Nordische Siedler gründen in Island das Althing, die gesetzgebende Versammlung (das Parlament) ihres neuen Freistaats.

UM 8.–13. JH.

Während des »Goldenen Zeitalters« des Islams erlebt die klassische arabische Poesie eine Blüte, und die ersten Erzählungen aus Tausendundeine Nacht entstehen.

UM 1175–1181

Mit Lanzelot führt Chrétien de Troyes im Kontext der Arthussage die Idee des höfischen Romans ein, dessen bedeutendster Vertreter er wird.

5. JH. N. CHR.

Der indische Dichter Kalidasa schreibt die Sanskrit-Epen Raghuvamsha und Kumarasambhava sowie das Theaterstück Shakuntala.

868

Das älteste gedruckte Buch – das Diamant-Sutra, ein buddhistischer Text – wird in China mithilfe des Block- oder Holztafeldrucks hergestellt.

8.–11. JH.

Das angelsächsische Epos Beowulf entsteht – es ist das älteste überlieferte epische Gedicht in altenglischer Sprache.

11. JH.

Murasaki Shikibus Geschichte vom Prinzen Genji und Sei Shonagons Kopfkissenbuch spielen vor dem Hintergrund des Lebens am japanischen Kaiserhof zur Heian-Zeit.

Schriftsysteme wurden zunächst zur Aufzeichnung von Verwaltungs- und Handelstransaktionen genutzt. Mit der Zeit wurden sie immer ausgefeilter und dienten zunehmend auch dem Bewahren alter Weisheiten, historischer Berichte und religiöser Vorschriften, die bis dahin nur mündlich weitergegeben worden waren. In allen alten Zivilisationen – ob in Mesopotamien, China, Indien oder Griechenland – bestand der erste Literaturkanon aus Texten zur Geschichte und Mythologie.

Die ältesten Werke der Literatur waren Epen. Diese Großgedichte erzählten in Versform Legenden von großen Kriegern oder Herrschern und ihren Kämpfen gegen Feinde und die Mächte des Bösen. Historische Ereignisse und mythologische Abenteuer wurden zu so spannenden wie einprägsamen Darstellungen des kulturellen Erbes eines Volkes kombiniert.

Geschichten von Göttern und Menschen

Die ersten großen Epen, darunter das Gilgamesch-Epos sowie die Sanskrit-Epen Mahabharata und Ramayana, erzählen vom Ursprung ihrer jeweiligen Zivilisation oder einem entscheidenden Moment ihrer frühesten Geschichte. Anhand der heroischen Taten eines Einzelnen oder einer Herrscherfamilie erklären sie zudem den Einfluss der Götter, oftmals durch den Kontrast zwischen deren Macht und den Schwächen menschlicher Helden.

Um dieses Thema kreisen auch die späteren, Homer zugeschriebenen griechischen Epen. Seine Helden, Achill und Odysseus, erscheinen nicht nur als edle Kämpfer im Krieg gegen Troja, sondern zugleich als zutiefst menschliche Charaktere, die sich mit dem ihnen zugedachten Schicksal und mit den eigenen Schwächen auseinandersetzen mussten.

Später entwickelten römische Dichter ihre eigene Form des Epos und übernahmen, wie Vergil in der Aeneis, die Geschichte vom trojanischen Krieg, um einen Gründungsmythos für Rom zu erschaffen. Insofern bilden Homers Epen mit ihrer inhaltlichen Tiefe und poetischen Struktur das Fundament für die westliche Literatur.

Das griechische Drama

Ein weiteres Produkt antiker griechischer Erzähltradition ist das Drama. Es geht auf kultische Gesangsriten zurück. Durch die schauspielerische Darstellung von Charakteren gewann die Form an Lebendigkeit und wurde immer komplexer. Das Theater war ein integraler Bestandteil der griechischen Demokratie, und die Tragödien und Komödien von Dramatikern wie Aischylos, Sophokles und Euripides lockten Tausende von Besuchern an.

Von Europa bis Asien

In Nordeuropa überlieferte man Geschichten weiterhin mündlich; erst ab dem 8. Jh. begannen die Kulturen im Norden, ihre Erzählungen zu verschriftlichen. Das früheste vollständig erhaltene angelsächsische Epos Beowulf erzählt die Geschichte und Mythologie der skandinavischen Vorfahren der Engländer. Die später entstandenen Islandsagas gehen ebenfalls auf die nordischen Mythen zurück.

Zur gleichen Zeit ließ sich der Adel Zentraleuropas von professionellen Dichtern unterhalten. Einige bezogen ihre Themen aus der Mythologie der antiken Griechen und Römer. Die Troubadoure in Südfrankreich besangen die Abenteuer Karls des Großen und seiner Männer im Kampf gegen die muslimischen Mauren und Sarazenen. Nordfranzösischen trouvères wiederum stellten Erzählungen von Ritterlichkeit und höfischer Liebe aus dem Umfeld des legendären König Artus in den Mittelpunkt ihrer Lieder.

Weiter im Osten – während des »Goldenen Zeitalters« der islamischen Kultur und Wissenschaft im ausgehenden Mittelalter – waren epische Erzählungen wie diejenigen in Tausendundeine Nacht überaus geschätzt, wenngleich als höchste Form der Literatur die Poesie galt. Auch im alten China sah man Heldenlegenden eher als eine Art Folklore an. Die ersten schriftlichen Zeugnisse klassischer chinesischer Literatur befassten sich mit Geschichte, Philosophie und kulturellen Bräuchen. Neben diesen Sachtexten setzten einige Gedicht- und Liedsammlungen über Jahrhunderte den Maßstab für die chinesische Dichtkunst, die während der Tang-Dynastie ihren Höhepunkt erreichte.

Japan, das lange Zeit von der chinesischen Kultur dominiert wurde, entwickelte erstmals im 11. Jh. eine eigene Literatur in japanischer Sprache: Aus den Chroniken der Herrscherdynastien entstanden fiktionale Erzählungen vom Leben am Hof der Heian-Kaiser, die in gewisser Weise die Entstehung des europäischen Romans vorwegnahmen. image

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NUR DIE GÖTTER WOHNEN EWIG UNTER DER SONNE

DAS GILGAMESCH-EPOS (AB 2100 V. CHR.)

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Literatur der Bronzezeit

FRÜHER

30. Jh. v. Chr. In Mesopotamien und Ägypten tauchen die ersten Schriftsysteme auf.

um 2600 v.Chr. Die ältesten bekannten (nicht-literarischen) Texte werden in Abu Salabih (Mesopotamien/Irak) auf Tontafeln festgehalten.

um 2285–2250 v. Chr. Die früheste bekannte Autorin, die akkadische Prinzessin und Hohepriesterin Enheduanna, lebt und schreibt in der Stadt Ur (Mesopotamien/Irak).

SPÄTER

um 1700–110 v. Chr. In Nordwestindien wird der Rigveda, der erste von vier heiligen Hindutexten, den Veden, verfasst.

um 1550 v. Chr. Das Ägyptische Totenbuch ist der erste Totentext der Ägypter, der auf Papyrus statt auf Stein oder Ton geschrieben wurde.

Die älteste Schrift tauchte zu Beginn der Bronzezeit (um 3300–1200 v. Chr.) in Mesopotamien auf. Keilschriftsymbole – zunächst aus Zahlzeichen für die Buchhaltung entwickelt – wurden zu einem Instrument zur Niederschrift der sumerischen und akkadischen Sprache.

Auf den 1853 von dem syrischen Altorientalisten Hormuzd Rassam gefundenen Tontafeln finden sich Textfragmente mit Geschichten um den legendären König Gilgamesch von Uruk; sie gehören zu den ältesten Beispielen der Schriftliteratur. Die ehemals mündlich überlieferten Erzählungen verbanden Historisches mit Mythologischem.

Vom Tyrannen zum Helden

Das Gilgamesch-Epos, wie die Geschichtensammlung genannt wurde, erzählt vom tyrannischen Herrscher der mesopotamischen Stadt Uruk und der Lektion, die er zu lernen hat, um ein Held zu werden. Um Gilgamesch für seine Arroganz zu strafen, schicken die Götter den »wilden« Urmenschen Enkidu. Nach einem Zweikampf werden die beiden jedoch Freunde und bestehen gemeinsam eine Reihe von Abenteuern. Diese Entwicklung erzürnt die Götter, und sie verurteilen Enkidu zum Tode. Gilgamesch verzweifelt angesichts des Verlusts seines Freundes und wird sich gleichzeitig der eigenen Sterblichkeit bewusst.

Der zweite Teil des Epos schildert Gilgameschs Suche nach dem Geheimnis des ewigen Lebens und seine Rückkehr nach Uruk – als nach wie vor sterblicher, doch nun weiser und edler Herrscher. image

»Das Leben, das du suchst, wirst du niemals finden.«

Gilgamesch-Epos

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SICH VON DEN ALTEN TUGENDEN ZU NÄHREN, BRINGT BEHARRLICHKEIT

BUCH DER WANDLUNGEN (12.–11. JH. V. CHR.), KÖNIG WEN VON ZHOU ZUGESCHRIEBEN

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Die Fünf Klassiker

FRÜHER

um 2800 v. Chr. Chinas mythologischer erster Kaiser Fu Xi entwickelt eine Methode der Weissagung mithilfe von Trigrammen – die Basis des chinesischen Schriftsystems.

SPÄTER

um 500 v. Chr. Das Buch der Riten schildert chinesische Sitten und Hofzeremonien; es wird zunächst Konfuzius zugeschrieben.

um 200 v. Chr. Während der Han-Dynastie wird der Konfuzianismus zur Staatsphilosophie. Die »Fünf Klassiker« werden zum konfuzianischen Kanon erklärt – das herausragenste Werk ist laut Kaiser Wu das Buch der Wandlungen.

960–1279 In der Song-Zeit erweitert Zhu Xi den Kanon um die vor 300 v. Chr. entstandenen »Vier Bücher«.

Das Buch der Wandlungen ist ein Art Orakelbuch. Die ihm zugrundeliegende Methode der Weissagung soll der legendäre Kaiser Fu Xi entwickelt haben. Unter dem Namen Zhou yi stellte der Zhou-König Wen (1152–1056 v. Chr.) 64 Hexagramme zusammen, die möglichen Kombinationen beim Wurf von Münzen oder Schafgarbenzweigen entsprechen. Jede Kombination besteht aus sechs Zeichen und wird mit bestimmten Situationen und Umständen assoziiert, zu denen Wen Deutungen anbietet. Spätere Gelehrte fügten in den sogenannten »Zehn Flügeln« weitere Kommentare hinzu; zusammen wurde daraus das Buch der Wandlungen.

Das Buch der Wandlungen (Yijing oder I Ging) gilt als einer der Fünf Klassiker – neben dem Buch der Urkunden (Shujing), dem Buch der Riten (Lijing), dem Buch der Lieder (Shijing) und dem Buch der Frühlings- und Herbstannalen (Chunqui); sie alle soll nach damaliger Auffassung der große Dichter und Philosoph Konfuzius (551–479 v. Chr.) zusammengestellt haben. Seine Gesellschaftsphilosophie bildete seit 200 v. Chr. das ideologische Fundament Chinas.

Viel später, im 12. Jh., erweitert der Gelehrte Zhu Xi den Kanon des Konfuzianismus: Er fasste kürzere Texte, die ebenfalls Konfuzius zugeschrieben wurden oder auf seinen Lehren basieren, zu den »Vier Büchern« zusammen.

Quelle der Weisheit

Die Fünf Klassiker bildeten zusammen mit den Vier Büchern den Bezugsrahmen für den Konfuzianismus als Staatsideologie. Auf den ersten Blick scheint das Buch der Wandlungen nicht recht in dieses rationale Denkgebäude zu passen. Gleichwohl hat es seine Berechtigung neben der konfuzianischen Philosophie, Geschichte, Etikette und Dichtkunst: Bis heute nutzen es die Menschen in China nicht nur als Orakelbuch, sondern auch als praktischen Ratgeber, in dem beschrieben wird, wie »der Edle« sich in bestimmten Situationen verhalten sollte. image

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WELCH FREVELTAT BEGEHE ICH, OH KRISHNA?

MAHABHARATA (9.–4. JH. V. CHR.), VYASA ZUGESCHRIEBEN

IM KONTEXT

EINORDNUNG

Die großen indischen Epen

FRÜHER

3. Jt. v. Chr. Der Legende nach schreibt der Weise Vyasa die Urfassung des Mahabharata.

um 1700–1500 v. Chr. Aus mündlich überlieferten Texten entstehen die vier in Sanskrit verfassten Veden (Rigveda, Yajurveda, Samaveda, Atharvaveda), die ältesten heiligen Schriften des Hinduismus.

SPÄTER

um 5.–4. Jh. v. Chr. Valmiki schreibt Ramayana. Sein Shloka (»Ruf«), wird zur Standardstrophenform der Sanskritepik.

um 250 v. Chr.–1000 n. Chr. Entstehung der Puranas, die zu den wichtigsten hinduistischen Texten gehören. Sie umfassen eine Genealogie der Götter und Erzählungen zur Entstehung des Universums.

Die Heldenepen des indischen Subkontinents gehören zu den ältesten literarischen Texten der Welt und entwickelten sich aus einer langen Tradition mündlicher Überlieferung und Rezitation. Wie in anderen frühen Literaturen entwickelten sich auch diese Texte über Jahrhunderte hinweg aus einer Mischung von Mythen, Legenden und historischen Berichten, bis sie schließlich verschriftlicht wurden.

Neben der Heldendichtung gehören zu den frühen indischen Schriften die Veden. Diese zentralen Texte des Hinduismus wurden seit Mitte des 2. Jt. v. Chr. zusammengetragen. Aufgezeichnet wurden all diese Texte in Sanskrit, der klassischen Sprache der Brahmanen und der Literatur im alten Indien, aus der sich zahlreiche indoeuropäische Sprachen entwickelten.

»Dichter erzählten sie einst, Dichter erzählen sie heute; auch künftig werden Dichter diese Geschichte auf Erden erzählen.«

Mahabharata

Bis zum 1. Jh. v. Chr. bildeten die Veden gemeinsam mit den beiden großen Versepen Mahabharata und Ramayana das Herzstück der Sanskritliteratur. Obwohl sich das Ramayana aus Mythen, historischen Erzählungen und Volksmärchen zusammensetzt, scheint es das Werk eines einzelnen Dichters zu sein und wird in der Regel dem Weisen Valmiki zugeschrieben. Die Entstehungsgeschichte des bekannteren und umfangreicheren Mahabharata ist weit länger und komplexer.

Ein Geschenk Vishnus

Erste Fassungen des Mahabharata entstanden vermutlich im 9. Jh. v. Chr. In der seither tradierten Form aus rund 100 000 Doppelversen (Shlokas), die in 18 Bücher (Parvas) untergliedert sind, wurde es erst rund 500 Jahre später niedergeschrieben. Neben dem Kampf zweier verfeindeter Königsfamilien erzählt das Epos die Geschichte Indiens und damit zusammenhängend die des Hinduismus. Gleich zu Beginn erläutert der Erzähler des ersten Buches, Adi Parva (Buch der Urspünge): »Alles, was hierin enthalten ist, findet sich auch anderswo. Was aber nicht hier ist, ist auch nirgend sonst.«

Der Legende zufolge – und so steht es auch in der Einleitung – wurde das Mahabharata von dem Dichter und Weisen Vyasa niedergeschrieben; er soll im 3. Jt. v. Chr. gelebt haben und eine Inkarnation des Hindugottes Vishnu gewesen sein. Über weite Strecken der Erzählung fungiert Vaisampayana, ein Schüler Vyasas, als Erzähler, und noch zwei weitere Erzähler tauchen auf: der Barde Ugrasrava Sauti und Sanjaya, der Wagenlenker am Hof der Kaurava.