EINLEITUNG
PHILOSOPHISCHE WURZELN
DIE ENTSTEHUNG DER PSYCHOLOGIE
Die vier Temperamente
Galen
Eine vernunftbegabte Seele in der Maschine
René Descartes
Schlafen Sie!
Abt Faria
Vorstellungen werden Kräfte, indem sie einander widerstehen
Johann Friedrich Herbart
Das Selbst sein zu wollen, das man in Wahrheit ist
Søren Kierkegaard
Persönlichkeit besteht aus Anlage und Erziehung
Francis Galton
Die Gesetze der Hysterie sind universal
Jean-Martin Charcot
Eigenartige Schwächezustände
Emil Kraepelin
Die Anfänge des psychischen Lebens reichen ebenso weit zurück wie die Anfänge des Lebens überhaupt
Wilhelm Wundt
Solange uns niemand auffordert, Bewusstsein zu definieren, wissen wir, was damit gemeint ist
William James
Die Adoleszenz ist eine Neugeburt
G. Stanley Hall
24 Stunden, nachdem man etwas gelernt hat, hat man zwei Drittel davon wieder vergessen
Hermann Ebbinghaus
Die Intelligenz eines Individuums ist keine fixe Größe
Alfred Binet
Das Unbewusste sieht den Mann hinter dem Vorhang
Pierre Janet
BEHAVIORISMUS
WIE WIR AUF UNSERE UMWELT REAGIEREN
Der Anblick schmackhafter Speisen lässt dem Hungrigen das Wasser im Mund zusammenlaufen
Iwan Pawlow
Verhaltensweisen, die nicht belohnt werden, werden ausgestanzt
Edward Thorndike
Jeder Mensch kann unabhängig von seinem Naturell grundsätzlich zu allem ausgebildet werden
John B. Watson
Dieses große, gottgegebene Labyrinth, das unsere Welt ist
Edward Tolman
Hat eine Ratte erst unseren Getreidesack entdeckt, können wir auf ihre Rückkehr zählen
Edwin Guthrie
Nichts ist natürlicher für die Katze, als die Ratte zu »lieben«
Zing-Yang Kuo
Lernen ist schlicht nicht möglich
Karl Lashley
Prägung ist unwiderruflich!
Konrad Lorenz
Verhalten wird durch positive und negative Verstärkung geformt
B. F. Skinner
Hören Sie auf, sich die Szene vorzustellen, und entspannen Sie sich
Joseph Wolpe
PSYCHOTHERAPIE
DAS UNBEWUSSTE BESTIMMT DAS VERHALTEN
Das Unbewusste ist das eigentlich reale Psychische
Sigmund Freud
Der Neurotiker hat ständig das Gefühl, minderwertig zu sein
Alfred Adler
Das kollektive Unbewusste besteht aus Archetypen
Carl Gustav Jung
Der Kampf zwischen Lebens- und Todestrieb währt ein Leben lang
Melanie Klein
Die Tyrannei der »Solls«
Karen Horney
Das Über-Ich wird erst dann offenbar, wenn es dem Ich feindselig gegenübertritt
Anna Freud
Wahrheit kann nur ertragen werden, wenn man sie selbst entdeckt
Fritz Perls
Es reicht nicht aus, ein Adoptivkind in die eigene Familie aufzunehmen und zu lieben
Donald W. Winnicott
Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen
Jacques Lacan
Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen ist, sich selbst zu gebären
Erich Fromm
Das gute Leben ist ein Prozess, kein Daseinszustand
Carl Rogers
Ein Mensch hat die Aufgabe, alles zu sein, was er sein kann
Abraham Maslow
Im Leiden kann ein Sinn liegen
Viktor Frankl
Ohne Leiden keine menschliche Reifung
Rollo May
Rationale Überzeugungen führen zu gesunden Gefühlen
Albert Ellis
Die Familie ist die »Fabrik«, in der Menschen gemacht werden
Virginia Satir
Turn on, tune in, drop out
Timothy Leary
»Einsicht« erzeugt Blindheit
Paul Watzlawick
Wahnsinn muss kein totaler Zusammenbruch sein, er kann auch ein Durchbruch sein
Ronald D. Laing
Unsere Geschichte bestimmt nicht unser Schicksal
Boris Cyrulnik
Nur gute Menschen werden depressiv
Dorothy Rowe
Väter stehen unter einem Schweigebann
Guy Corneau
KOGNITIVE PSYCHOLOGIE
DAS RECHNENDE GEHIRN
Instinkt ist ein dynamisches Verhaltensmuster
Wolfgang Köhler
Wir erinnern uns leichter an Aufgaben, bei denen wir unterbrochen werden
Bljuma Seigarnik
Wenn ein Baby Schritte hört, wird ein neuronales Netz angeregt
Donald O. Hebb
Wissen ist ein Prozess, kein Produkt
Jerome Bruner
Ein Mensch mit Überzeugungen lässt sich nur schwer ändern
Leon Festinger
Die magische Zahl 7 plus/minus 2
George Armitage Miller
Die Oberfläche verrät mehr, als ins Auge fällt
Aaron Beck
Wir können immer nur einer Stimme lauschen
Donald Broadbent
Der Pfeil der Zeit schließt sich zum Ring
Endel Tulving
Wahrnehmung ist von außen geleitete Halluzination
Roger N. Shepard
Wir suchen ständig nach Kausalverknüpfungen
Daniel Kahneman
Ereignisse und Emotionen werden gemeinsam gespeichert
Gordon H. Bower
Emotionen sind wie ein Schnellzug ohne Bremsen
Paul Ekman
Ekstase ist ein Schritt in eine andere Realität
Mihály Csíkszentmihályi
Glückliche Menschen sind sehr gesellig
Martin Seligman
Selbst wenn wir von etwas zutiefst überzeugt sind, ist es nicht zwingend auch wahr
Elizabeth Loftus
Die sieben Gedächtnissünden
Daniel Schacter
Du bist nicht deine Gedanken
Jon Kabat-Zinn
Die Angst, dass die Biologie alles entzaubert, was uns heilig ist
Steven Pinker
Zwangshandlungen sind der Versuch, Zwangsgedanken zu kontrollieren
Paul Salkovskis
SOZIALPSYCHOLOGIE
DAS ZUSAMMENLEBEN MIT DEN ANDEREN
Ein System versteht man erst dann, wenn man versucht, es zu verändern
Kurt Lewin
Wie stark ist der Drang nach sozialer Konformität?
Solomon Asch
Wir alle spielen Theater
Erving Goffman
Je öfter man etwas sieht, umso besser gefällt es einem
Robert Zajonc
Wer mag kompetente Frauen?
Janet Taylor Spence
Blitzlichterinnerungen werden durch hochemotionale Ereignisse ausgelöst
Roger Brown
Es geht nicht darum, Wissen zu fördern, sondern darum, am Wissen teilzuhaben
Serge Moscovici
Wir sind von Natur aus soziale Wesen
William Glasser
Wir glauben, dass Menschen bekommen, was sie verdienen
Melvin Lerner
Menschen, die verrückte Dinge tun, sind nicht unbedingt verrückt
Elliot Aronson
Menschen tun, was man ihnen zu tun befiehlt
Stanley Milgram
Was passiert, wenn man gute Menschen an einen üblen Ort versetzt?
Philip Zimbardo
Trauma muss als Effekt der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft begriffen werden
Ignacio Martín-Baró
ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGIE
VOM SÄUGLING ZUM ERWACHSENEN
Das Ziel der Erziehung ist, Männer und Frauen zu schaffen, die fähig sind, neue Dinge zu tun
Jean Piaget
Wir werden erst durch andere wir selbst
Lew Wygotski
Ein Kind ist mit keinem bestimmten Elternteil verbunden
Bruno Bettelheim
Alles, was wächst, hat einen Grundplan
Erik H. Erikson
Frühe emotionale Bindungen sind ein integraler Bestandteil der menschlichen Natur
John Bowlby
Körperkontakt ist existenziell wichtig
Harry Harlow
Wir bereiten Kinder auf ein Leben vor, über dessen Verlauf wir nichts wissen
Françoise Dolto
Eine einfühlsame Mutter sorgt für eine sichere Bindung
Mary Ainsworth
Wer lehrt ein Kind, ein Mitglied einer anderen Rasse zu hassen und zu fürchten?
Kenneth Clark
Mädchen bekommen bessere Noten als Jungen
Eleanor E. Maccoby
Die meisten menschlichen Verhaltensweisen werden über Modelle erlernt
Albert Bandura
Moral entwickelt sich in sechs Stufen
Lawrence Kohlberg
Das Sprachorgan wächst wie jedes andere Körperorgan
Noam Chomsky
Autismus ist eine extreme Variante des »männlichen« Gehirns
Simon Baron-Cohen
DIFFERENZIELLE PSYCHOLOGIE
PERSÖNLICHKEIT UND INTELLIGENZ
Nennen Sie möglichst viele Verwendungsmöglichkeiten für einen Zahnstocher
Joy Paul Guilford
Hatte Robinson Crusoe vor Freitags Auftauchen Persönlichkeitsmerkmale?
Gordon Allport
Die allgemeine Intelligenz besteht aus fluider und aus kristalliner Intelligenz
Raymond Cattell
Es gibt eine Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn
Hans J. Eysenck
Leistung lässt sich auf drei Hauptbedürfnisse zurückführen
David C. McClelland
Emotion ist ein im Wesentlichen unbewusster Prozess
Nico Frijda
Ohne Hinweise aus der Umwelt wäre unser Verhalten absurd und chaotisch
Walter Mischel
In psychiatrischen Kliniken lassen sich Gesunde nicht von Kranken unterscheiden
David Rosenhan
Die drei Gesichter Evas
Corbett H. Thigpen, Hervey M. Cleckley
ANHANG
GLOSSAR
DANK
Von allen Wissenschaften ist die Psychologie vielleicht die geheimnisvollste und am häufigsten missverstandene. Obwohl psychologisches Gedankengut in die Alltagskultur eingegangen ist, haben die meisten Menschen nur eine verschwommene Vorstellung davon, worum es in der Psychologie geht und was Psychologen eigentlich tun. Manche sehen Männer in weißen Kitteln vor sich, die eine Station für psychisch Kranke leiten oder Laborversuche an Ratten durchführen. Andere stellen sich vielleicht einen älteren Herrn vor, der seine Patienten, die vor ihm auf einer Couch liegen, psychoanalytisch durchleuchtet. Oder, wenn man einschlägigen Drehbüchern Glauben schenken darf, versucht, Macht über deren Gedanken zu erlangen.
Obwohl diese klischeehaften Bilder übertrieben sind, enthalten sie ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht ist das riesige Spektrum an Themen, die der Psychologie zugeordnet werden (wie auch die verwirrende Bandbreite von Begriffen, die mit der Vorsilbe »psycho-« beginnen) verantwortlich dafür, dass im Hinblick auf Inhalt und Bedeutung dieser Disziplin Konfusion herrscht. Selbst Psychologen können sich nicht auf eine einheitliche Definition einigen. Das Wort »Psychologie« ist vom altgriechischen psyche – »Seele«, »Hauch«, »Atem« – und von logos – »Lehre«, »Wissenschaft« – abgeleitet. In der modernen Wissenschaftssprache trifft die Formulierung »Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen« den Inhalt vielleicht am besten.
Eine neue Wissenschaft
Die Psychologie kann ebenso als eine Brücke zwischen Philosophie und Physiologie gesehen werden. Während die Physiologie die physikalischen und biochemischen Vorgänge im Körper, also auch im Gehirn und in den Nervenzellen, erforscht, widmet sich die Psychologie den mentalen Prozessen sowie ihrer Manifestation in Gedanken, Sprache und Verhalten. Wo die Philosophie sich mit Gedanken und Ideen beschäftigt, fragt die Psychologie, wie diese Gedanken entstehen und was sie über die Arbeitsweise des Geistes aussagen.
»Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte.«
Hermann Ebbinghaus
Alle Wissenschaften sind aus der Philosophie entstanden, und auch philosophische Fragestellungen wurden mit wissenschaftlichen Methoden untersucht. Doch da Untersuchungsgegenstände wie Bewusstsein, Wahrnehmung oder Erinnerung immateriell sind, dauerte es lange, bis die Psychologie den Schritt von der philosophischen Spekulation zur wissenschaftlichen Praxis gemacht hatte. An einigen Universitäten, insbesondere in den USA, wurden die psychologischen Institute in die philosophische Fakultät eingegliedert, an anderen, vor allem in Deutschland, ordnete man sie den Naturwissenschaften zu. Als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin etablierte sich die Psychologie erst am Ende des 19. Jahrhunderts.
1879 gründete Wilhelm Wundt an der Leipziger Universität das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie. Damit war die Psychologie zur »echten« Wissenschaft geworden. Während des 20. Jahrhunderts entwickelte sie sich weiter. Dennoch sind viele der älteren Theorien auch für die moderne Psychologie von Bedeutung. Manche Themen waren und sind wissenschaftliche »Dauerbrenner«, während andere mal mehr, mal weniger im Fokus standen. Nichtsdestotrotz hatten sie einen bedeutenden Einfluss auf nachfolgende Generationen und ebneten so manches Mal den Weg für neue Forschungsfelder.
Um sich mit der ganzen Bandbreite der Psychologie vertraut zu machen, empfiehlt es sich, ihre Hauptströmungen in grob chronologischer Reihenfolge zu betrachten, so wie dieses Buch es vorschlägt: von den philosophischen Wurzeln über den Behaviorismus, die Psychotherapie, die kognitive Psychologie, die Sozial- und Entwicklungspsychologie bis hin zur differenziellen Psychologie.
Zwei Ansätze
In den USA wurzelt die Psychologie in der Philosophie, was zu einem spekulativen, theoretischen Ansatz führte. Dabei standen Begriffe wie »Bewusstsein« und »Selbst« im Mittelpunkt. In Europa hingegen fußt sie auf den Naturwissenschaften. Ihre Vertreter konzentrierten sich darauf, mentale Prozesse wie Sinneswahrnehmungen und Erinnerungen unter kontrollierten Laborbedingungen zu untersuchen. Pioniere wie Hermann Ebbinghaus bedienten sich dazu der Introspektion und machten sich selbst zu Forschungsobjekten. Viele Psychologen der nachfolgenden Generation fanden dieses Verfahren zu subjektiv und suchten nach objektiveren Untersuchungsmethoden.
In den 1890er-Jahren führte der russische Physiologe Iwan Pawlow Experimente durch, die die Entwicklung der Psychologie sowohl in Europa als auch in den USA entscheidend beeinflussten. Er bewies, dass Tiere so konditioniert werden können, dass sie auf einen willkürlich gesetzten Reiz reflexhaft reagieren. Das war der Beginn des Behaviorismus. Die Behavioristen sahen keine Möglichkeit, mentale Prozesse objektiv zu erforschen. Sie fanden es aber relativ einfach, deren äußere Manifestation, sprich die Verhaltensweisen, zu messen. Sie entwickelten Versuche, die unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden konnten, zunächst an Tieren, später an Menschen. Dabei konzentrierten sie sich fast nur auf die Frage, wie sich Verhalten durch Interaktion mit der Umgebung formt. John B. Watson machte diese Reiz-Reaktions-Theorie weltweit bekannt.
Praktisch zeitgleich zur Entstehung des Behaviorismus in den USA begann ein junger Neurologe in Wien eine psychologische Theorie zu entwickeln, die sich als revolutionär erweisen sollte. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, setzte statt auf Laborexperimente auf die Beobachtung von Patienten und Fallstudien. Damit sprach er sich dafür aus, zum Studium subjektiver Erfahrung zurückzukehren. Er interessierte sich für die Erinnerungen, die Kindheit und die zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Patienten und hob den Einfluss des Unbewussten auf das Verhalten hervor. Obwohl Freuds Fokussierung auf das Triebleben seine Zeitgenossen schockierte, stießen seine Ideen schnell auf Resonanz – der Begriff »Redekur« hat sich in der Psychotherapie bis heute gehalten.
»Die erste und oberste konkrete Tatsache … ist die, dass Bewusstsein irgendwelcher Art stattfindet.«
William James
Neue Forschungsfelder
Mitte des 20. Jahrhunderts rückte das naturwissenschaftliche Studium psychischer Prozesse wieder in den Vordergrund. In den USA entstand eine Forschungsrichtung, die auf der ganzheitlich ausgerichteten Gestaltpsychologie basierte: die kognitive Psychologie. Ende der 1950er-Jahre hatte sie allen anderen psychologischen Strömungen den Rang abgelaufen. Die Kommunikationswissenschaften und die Informatik, die schnell an Einfluss gewannen, lieferten nützliche Analogien: So verwendeten Psychologen Modelle der Informationsverarbeitung, um zu Themenbereichen wie Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Erinnern und Vergessen, Sprache und Spracherwerb, Problemlösung, Entscheidungsfindung und Motivation neue Theorien zu entwickeln.
Selbst die Psychotherapie, die aus der ursprünglich psychoanalytischen »Redekur« hervorgegangen war, wurde von der kognitiven Psychologie beeinflusst. Als Alternativen zur Psychoanalyse entstanden die kognitive Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie. Hieraus wiederum entwickelte sich die humanistische Psychologie, die sich auf die vorhandenen Potenziale jedes Einzelnen konzentriert. Im Fokus stand nicht mehr die Heilung von Kranken, sondern die Frage, wie gesunde Menschen sich optimal entfalten und ihrem Leben mehr Sinn geben können.
Während sich die Psychologie zu Beginn ihrer Geschichte vor allem auf das Seelenleben und das Verhalten von Individuen konzentriert hatte, rückte nun die Frage in den Mittelpunkt, wie wir mit unserer Umgebung und anderen Menschen interagieren. Dieses Feld beackerte die Sozialpsychologie. Wie die kognitive Psychologie hatte sie der Gestaltpsychologie viel zu verdanken, vor allem dem Psychologen Kurt Lewin, der in den 1930er- Jahren aus NS-Deutschland in die USA geflohen war. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergaben die Forschungen interessante Erkenntnisse über unsere Einstellungen und Vorurteile, unsere Neigung zu Gehorsam und Konformität und die Gründe für Aggression und Altruismus – Eigenschaften, die in der modernen Gesellschaft immer wichtiger wurden und der Sozialpsychologie einen Boom bescherten.
Freuds Einfluss kam insbesondere in der Entwicklungspsychologie zum Tragen. Das Interesse verlagerte sich von der kindlichen Entwicklung auf die gesamte Lebensgeschichte von der Kindheit bis ins hohe Alter. Psychologen ergründeten die Methoden des sozialen, kulturellen und moralischen Lernens und erforschten, wie wir Bindung aufbauen. Die Entwicklungspsychologie beeinflusste die Pädagogik und – wenn auch nicht ganz so offensichtlich – das Nachdenken über den Zusammenhang zwischen kindlicher Entwicklung und späteren Einstellungen zu Rasse und Geschlecht.
Fast jede psychologische Schule hat sich auf irgendeine Weise mit der Einzigartigkeit des Individuums beschäftigt, doch erst Ende des 20. Jahrhunderts entstand daraus eine eigenständige Disziplin: die differenzielle Psychologie. Sie beschäftigt sich mit der Frage, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht, wie sie sich messen lässt, aus welchen Bestandteilen sich Intelligenz zusammensetzt, welche Maßstäbe für Normalität und Abnormalität gelten und in welchem Maß individuelle Unterschiede auf Umwelteinflüsse und/oder das genetische Erbe zurückzuführen sind.
»Der Schreibtischstuhl, dessen Lehne dem Schreibenden […] den Rücken stärkte, wird abgelöst durch die ›Couch des Psychiaters‹ …«
Marshall McLuhan
Eine einflussreiche Wissenschaft
Die moderne Psychologie deckt alle Facetten des menschlichen Innenlebens und Verhaltens ab. Ihr Anwendungsbereich überschneidet sich inzwischen mit dem vieler anderer Disziplinen, darunter Medizin, Physiologie, Neurowissenschaften, Informatik, Pädagogik, Soziologie, Anthropologie, Politik, Wirtschaftswissenschaften und Jura.
Noch immer beeinflusst sie andere Wissenschaften und wird von ihnen beeinflusst, vor allem auf den Gebieten der Neurowissenschaften und der Genetik. Francis Galtons These, dass die biologische Veranlagung die individuelle Entwicklung stärker formt als die Erziehung, wird bis heute diskutiert. So versucht die Evolutionspsychologie psychische Merkmale als ererbte biologische Phänomene zu erklären, die den Gesetzen der Genetik und der natürlichen Auslese unterliegen.
Die Psychologie ist ein weites Feld, und ihre Erkenntnisse betreffen jeden Einzelnen. Auf die eine oder andere Weise begründet sie viele Entscheidungen, die von Regierungen und Unternehmen sowie im Bereich Werbung und Massenmedien getroffen werden. Sie wirkt auf Gruppen und auf Individuen ein und trägt zur öffentlichen Diskussion über Gesellschaftsstrukturen genauso viel bei wie zur Diagnose und Behandlung psychischer Erkrankungen.
»Das Ziel der Psychologie besteht darin, uns von den Dingen, die wir am besten kennen, eine ganz neue Vorstellung zu geben.«
Paul Valéry
Psychologische Theorien sind Teil unserer Alltagskultur geworden. Das geht sogar so weit, dass viele Erkenntnisse über das menschliche Verhalten und über psychische Prozesse inzwischen einfach als Produkte des »gesunden Menschenverstands« angesehen werden. Doch während manche Thesen unsere instinktiven Annahmen bestätigen, sorgen andere für Kopfzerbrechen. Psychologen, deren Forschungsergebnisse feststehende Überzeugungen erschütterten, schockierten die Öffentlichkeit häufig und brachten sie gegen sich auf.
Selbst während ihrer nur kurzen Geschichte hat die Psychologie unsere Denkweisen stark verändert und viel dazu beigetragen, dass wir uns selbst, andere Menschen und die Welt, in der wir leben, besser verstehen. Sie hat tief verwurzelte Überzeugungen infrage gestellt, unangenehme Wahrheiten ans Licht gebracht und auf komplexe Fragen spektakuläre Antworten gegeben. Dass sie als Studienfach immer populärer wird, zeugt nicht nur von ihrer großen Bedeutung für die moderne Welt, sondern auch von der Inspiration, die mit der Erforschung der geheimnisvollen menschlichen Psyche in all ihren Facetten noch immer einhergeht.
1649
René Descartes publiziert Les Passions de l’âme (Die Leidenschaften der Seele) und behauptet, Körper und Seele seien zwei verschiedene Substanzen.
1816
Johann Friedrich Herbart beschreibt in seinem Lehrbuch zur Psychologie eine dynamische Seele mit einem Bewusstsein und einem Unbewussten.
1859
Charles Darwin veröffentlicht On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten) und propagiert, dass all unsere Eigenschaften vererbt werden.
1869
Francis Galton schreibt in Hereditary Genius (Genie und Vererbung), dass die Vererbung wichtiger sei als die Erziehung.
1812
José Custodio de Faria (Abt Faria) erforscht in seinem Buch De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme die Hypnose.
1849
Søren Kierkegaards Buch Die Krankheit zum Tode markiert den Beginn der Existenzphilosophie.
1861
Der Neurochirurg Pierre Paul Broca entdeckt, dass die rechte und die linke Gehirnhälfte unterschiedliche Funktionen haben.
1872
Jean-Martin Charcot publiziert seine Leçons sur les maladies du système nerveux (Klinischen Vorträge über Krankheiten des Nervensystems).
1874
Carl Wernicke beweist, dass die Schädigung eines bestimmten Gehirnareals den Verlust bestimmter Fähigkeiten nach sich zieht.
1883
Emil Kraepelin veröffentlicht das Compendium der Psychiatrie.
1887
Granville Stanley Hall bringt die erste Nummer des American Journal of Psychology heraus.
1890
William James, der »Vater der Psychologie«, publiziert das Werk Principles of Psychology (Psychologie).
1879
Wilhelm Wundt gründet in Leipzig das erste Institut für experimentelle Psychologie.
1885
Hermann Ebbinghaus schildert in seinem Buch Über das Gedächtnis seine Versuche mit dem Erlernen sinnloser Silben.
1889
Pierre Janet postuliert, dass Hysterie mit Dissoziation und Persönlichkeitsspaltung einhergeht.
1895
Alfred Binet eröffnet das erste Labor für psychologische Diagnostik.
Viele Fragen der modernen Psychologie beschäftigten lange vor der Entstehung dieser Wissenschaft die Philosophen. Schon im antiken Griechenland versuchten sie Klarheit darüber zu gewinnen, wie die Welt um uns herum beschaffen ist, wie wir denken und uns verhalten. Seither ringen wir mit Dingen wie Bewusstsein und Selbst, Seele, Geist und Körper, Wissen und Wahrnehmung und mit der Frage, wie man eine Gesellschaft am besten aufbaut und ein »gutes Leben« führt.
Die verschiedenen Wissenschaftszweige, die aus der Philosophie hervorgingen, entwickelten ab dem 16. Jahrhundert eine Eigendynamik, die im 18. Jahrhundert in eine »wissenschaftliche Revolution« mündete: Das Zeitalter der Vernunft begann. Viele Fragen zur Welt, in der wir leben, konnten nun beantwortet werden, aber wie die Psyche funktioniert, war nach wie vor ein Buch mit sieben Siegeln. Wissenschaft und Technik erarbeiteten jedoch Modelle, die als Ausgangspunkt genutzt werden konnten, um die richtigen Fragen zu formulieren und Theorien durch das Sammeln von Daten zu überprüfen.
Trennung von Seele und Körper
Eine der Schlüsselfiguren der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, der Philosoph und Mathematiker René Descartes, traf eine Unterscheidung, die sich als entscheidend für die Entwicklung der Psychologie erweisen sollte. Er behauptete, jeder Mensch habe einen maschinenähnlichen Körper und eine immaterielle, denkende Vernunftseele. Spätere Philosophen, darunter Johann Friedrich Herbart, waren noch radikaler und beschrieben mentale Prozesse als das Wirken der Maschine Gehirn.
Die Frage, inwieweit Psyche und Körper voneinander getrennt sind, wurde zum Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen. Wie viel Körper besitzt der Geist, und wie stark wird er durch die Umwelt geformt? Die Debatte über die Bedeutung der Vererbung im Verhältnis zur Erziehung, die der britische Naturforscher Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie befeuerte und die von Francis Galton aufgegriffen wurde, rückte Untersuchungsgegenstände wie den freien Willen, die Persönlichkeit sowie Fragen der Entwicklung und des Lernens in den Fokus. Sie waren von den Philosophen nicht erschöpfend behandelt worden.
Zwischenzeitlich geriet die geheimnisvolle Natur der Psyche über das Phänomen Hypnose wieder stärker ins Blickfeld. Immer mehr ernst zu nehmende Wissenschaftler erwogen, dass das Geistes- und Seelenleben nicht nur aus unmittelbar zugänglichen bewussten Gedanken bestand. Sie begannen das Wesen des »Unbewussten« und seinen Einfluss auf das Denken und Verhalten zu erforschen.
Die Geburt der Psychologie
Vor diesem Hintergrund entstand die moderne Psychologie. 1879 gründete Wilhelm Wundt an der Universität Leipzig das weltweit erste Forschungslabor für experimentelle Psychologie, an europäischen und US-amerikanischen Universitäten wurden neue psychologische Institute eingerichtet. Wie die Philosophie entwickelte sich die Psychologie in unterschiedliche Richtungen: In Deutschland arbeiteten Psychologen wie Wilhelm Wundt, Hermann Ebbinghaus und Emil Kraepelin streng naturwissenschaftlich und experimentell. In den USA hingegen verfolgten William James und seine Nachfolger an der Harvard University einen eher theoretischen und philosophischen Ansatz.
Zudem entwickelte sich eine einflussreiche Strömung in Paris. Sie basierte auf dem Werk des Neurologen Jean-Martin Charcot, der Hysterikerinnen mit Hypnose behandelt hatte, und zog Psychologen wie Pierre Janet in ihren Bann, dessen Auffassung vom Unterbewussten Freuds psychoanalytische Theorien vorwegnahmen.
In den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung der Psychologie. Zum ersten Mal wurden naturwissenschaftliche Methoden auf Fragen der Wahrnehmung, des Bewusstseins, der Erinnerung, des Lernens und der Intelligenz angewandt. Beobachtungen und Experimente führten zu vielen neuen Theorien.
Obwohl diese Theorien oft auf introspektiv gewonnenen Einsichten oder höchst subjektiven Patientenberichten basierten, beflügelten sie zur Jahrhundertwende eine neue Generation von Psychologen. Diese hatten sich der Entwicklung einer objektiven Geistes- und Verhaltensforschung verschrieben und wollten ihre neu gewonnenen Erkenntnisse einsetzen, um psychische Störungen zu behandeln.
IM KONTEXT
ANSATZ
Vier-Säfte-Lehre
FRÜHER
um 400 v. Chr. Der griechische Arzt Hippokrates behauptet, dass sich die Eigenschaften der vier Elemente Erde, Luft, Feuer und Wasser in den Körperflüssigkeiten widerspiegeln.
um 325 v. Chr. Der griechische Philosoph Aristoteles nennt vier Quellen des Glücks: Lust, Besitz, Tugend und Vernunft.
SPÄTER
1543 Der Anatom Andreas Vesalius veröffentlicht in Italien das Buch De humani corporis fabrica (Anatomia). Es zeigt Galens Irrtümer auf, Vesalius wird wegen Ketzerei angeklagt.
1879 Wilhelm Wundt führt die Ausprägung der Temperamente darauf zurück, wie stark die Gefühle sind und wie schnell sie wechseln.
Der griechische Philosoph und Arzt Galen teilte die Menschen auf Grundlage der antiken Vier-Säfte-Lehre in vier Persönlichkeitstypen ein. Diese Lehre geht zurück auf den griechischen Philosophen Empedokles (um 495–435 v. Chr.), laut ihm bestehen alle bekannten Stoffe aus den vier Grundelementen: Erde (kalt, trocken), Luft (warm, feucht), Feuer (warm, trocken) und Wasser (kalt, feucht). Darauf beruht auch das medizinische Modell des Hippokrates (460–370 v. Chr.), er ordnete die Eigenschaften der Elemente den vier Körperflüssigkeiten zu, die »Säfte« genannt wurden.
Galen wandte die Vier-Säfte-Lehre darüber hinaus auf die Psyche an: Er sah eine direkte Verbindung zwischen der Vorherrschaft eines Saftes und bestimmten Verhaltensneigungen – den Temperamenten. Galen identifizierte vier davon: Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker und Melancholiker. Sanguiniker haben seiner Auffassung nach zu viel Blut (lat. sanguis), sind warmherzig, fröhlich, optimistisch und selbstbewusst, können aber auch egoistisch sein. Phlegmatiker (von griech. phlegma – Hitze, Entzündung, Schleim) hingegen sind ruhige, freundliche, kühle, rationale und beständige Persönlichkeiten, die zu Langsamkeit und Schüchternheit neigen. Choleriker (von griech. chole – Galle) haben ein hitziges Temperament und zu viel gelbe Galle. Im Gegensatz dazu leiden Melancholiker (von griech. melancholia – schwarze Galle) an einem Überschuss an schwarzer Galle, sie gelten als Künstlernaturen, die oft von Traurigkeit und Angst heimgesucht werden.
Ein Ungleichgewicht der Säfte ist ausschlaggebend für den Persönlichkeitstypus und die Neigung zu bestimmten Erkrankungen.
Ungleichgewicht der Säfte
Nach Galen haben manche Menschen eine Disposition für ein bestimmtes Temperament. Damit einhergehende psychische Probleme werden seiner Auffassung nach durch ein Ungleichgewicht der Säfte verursacht. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass dieses Ungleichgewicht durch eine Ernährungsumstellung und Bewegungsübungen ausgeglichen werden kann. In schweren Fällen empfiehlt er Einläufe und Aderlässe als Therapeutika. Der Blutüberschuss eines Sanguinikers wird zum Beispiel durch eine Einschränkung des Fleischkonsums oder durch Aderlass kuriert.
Galens Lehren dominierten die Medizin bis zum Beginn der Renaissance; von da an begann sein Stern zu sinken. 1543 stellte der in Italien praktizierende Arzt Andreas Vesalius (1514–1564) mehr als 200 Irrtümer in Galens anatomischen Beschreibungen fest. Obwohl die medizinischen Ausführungen Galens zunehmend in die Kritik gerieten, beeinflussten sie die Psychologie bis ins 20. Jahrhundert. 1947 behauptete Hans Jürgen Eysenck, dass das Temperament genetisch bedingt sei und die von ihm identifizierten Persönlichkeitsdimensionen – Neurotizismus und Extraversion – die alten Temperamente widerspiegelten.
Auch wenn die Vier-Säfte-Lehre in der Psychologie keine Rolle mehr spielt, basiert so manche moderne Therapieform auf Galens Gedanken, dass viele Krankheiten psychosomatisch bedingt sind.
Galen
Galenus von Pergamon war ein griechischer Arzt, Chirurg und Philosoph. Sein Vater Aelius Nikon, ein wohlhabender Architekt, ermöglichte ihm eine gute Ausbildung und gab ihm Gelegenheit zum Reisen. Galen ließ sich in Rom nieder und diente mehreren Kaisern als Leibarzt, unter anderem Marc Aurel. Bei der Behandlung von Gladiatoren lernte er viel über die Therapie von Traumata. Er schrieb über 500 medizinische Bücher und hielt das Sezieren von Tieren und das Studium der Anatomie für die besten Methoden, um sich medizinisches Wissen anzueignen. Obwohl Galen die Funktionen vieler innerer Organe entdeckte, glaubte er irrtümlich, dass Tiere wie Affen oder Schweine dem Menschen anatomisch gleich seien. Sein Todesdatum ist umstritten, Galen wurde aber auf jeden Fall über 70 Jahre alt.
Hauptwerke
um 190 De temperamentis
um 190 De naturalibus facultatibus
in mehreren Teilen Methodi medendi (16 Bücher zu verschiedenen Medizinbereichen)
IM KONTEXT
ANSATZ
Dualismus von Körper und Seele
FRÜHER
4. Jh. v. Chr. Der griechische Philosoph Platon behauptet, der Körper entstamme der materiellen Welt, die Seele hingegen der immateriellen Welt der Ideen.
4. Jh. v. Chr. Der griechische Philosoph Aristoteles sagt, dass die Seele nicht ohne den Körper existiert; sie bewegt und formt den Leib.
SPÄTER
1710 In Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis schreibt der irische Philosoph George Berkeley, dass der Körper nur eine Wahrnehmung der Seele sei.
1904 In seinem Essay Does ›Consciousness‹ exist? führt William James aus, dass das Bewusstsein eine Funktion bestimmter Erfahrungen sei.
Der Gedanke, dass Seele und Leib getrennt voneinander sind, geht auf Platon und die alten Griechen zurück. Doch René Descartes gebührt das Verdienst, die Beziehung zwischen Körper und Vernunftseele erstmals im Einzelnen beschrieben zu haben. 1633 verfasste er seine erste philosophische Abhandlung, die später unter dem Titel Traité de l’homme (Über den Menschen) erschien und in der er den Dualismus zwischen Seele und Körper darstellte: Während die immaterielle Vernunftseele in der Zirbeldrüse sitze und das Denken besorge, sei der Körper wie eine Maschine, die von »Lebensgeistern« angetrieben werde. Diese strömten durch das Nervensystem, um Bewegung zu erzeugen. Einen ähnlichen Gedanken hatte im 2. Jahrhundert n. Chr. schon Galen formuliert, doch Descartes war der Erste, der ihn in allen Einzelheiten ausformulierte.
In einem Brief an den französischen Philosophen Marin Mersenne stellte Descartes dar, dass die Zirbeldrüse der Sitz des Denkens und damit auch der Vernunftseele sein müsse, denn das eine lasse sich nicht vom anderen trennen. Diese Erkenntnis erschien ihm deshalb so wichtig, weil es andernfalls zwischen Vernunftseele und Körper keinerlei Verbindung gäbe.
Descartes war der Ansicht, dass Körper und Vernunftseele über die im Körper zirkulierenden Lebensgeister interagieren. Werde die Vernunftseele sich dieser Lebensgeister bewusst, entstehe eine bewusste Wahrnehmung. Auf diese Weise könne der Körper Einfluss auf die Vernunftseele nehmen. Umgekehrt beeinflusse diese den Körper, indem sie die Lebensgeister in bestimmte Körperregionen schicke und damit eine Tätigkeit auslöse.
»Ich bemerke nämlich, dass … ein großer Unterschied zwischen Seele und Körper ist …«
René Descartes
Descartes fand, die Zirbeldrüse sei ideal platziert, um die Eindrücke der paarigen Sinnesorgane Auge und Ohr zu einer einzigen Wahrnehmung zu verschmelzen.
Der Geist ist wie ein Brunnenmeister
Inspiriert von den Brunnen in der Parkanlage des Versailler Schlosses, verglich Descartes in Über den Menschen die Lebensgeister, die Nerven und Muskeln antreiben, mit der Wasserkraft, die ein Quellmeister kontrolliert und in die richtigen Bahnen lenkt: »Und wenn schließlich eine vernunftbegabte Seele in dieser Maschine sein wird, wird sie ihren Hauptsitz im Gehirn haben und dort wie ein Quellmeister sein, der den Verteiler, an dem alle Röhren dieser Maschinen zusammenkommen, bedienen muss, wenn er in irgendeiner Weise ihre Bewegungen beschleunigen, verhindern oder verändern will.«
Während Philosophen bis heute darüber streiten, ob Geist und Gehirn zwei getrennte Einheiten sind, setzen die meisten Psychologen die Psyche mit der Gehirntätigkeit gleich. In praktischer Hinsicht ist zwischen seelischer und körperlicher Gesundheit oft nur schwer zu unterscheiden: Psychischer Stress kann körperliche Erkrankungen auslösen, und eine Störung der chemischen Prozesse im Körper kann sich auf das Gehirn auswirken.
René Descartes
René Descartes wurde in La Haye (Touraine) geboren. Seine Mutter infizierte ihn mit Tuberkulose und starb kurz nach seiner Geburt. Mit acht Jahren kam er aufs Jesuitenkolleg von La Flèche (Anjou), wo er es sich angewöhnte, wegen seiner schwachen Gesundheit jeden Morgen zu »meditieren« – über Philosophie, Wissenschaft und Mathematik. Von 1612 bis 1628 unternahm er zahlreiche Reisen. 1649 lud Königin Christina von Schweden ihn ein, sie zu unterrichten, doch die frühmorgendlichen Audienzen und das raue Klima ruinierten seine Gesundheit endgültig. Er starb am 11. Februar 1650. Offizielle Todesursache: eine Lungenentzündung. Einige Historiker glauben aber, dass Descartes vergiftet wurde, weil er die protestantische Königin davon abhalten wollte, zum Katholizismus überzutreten.
Hauptwerke
1637 Discours de la méthode
1664 Über den Menschen (geschrieben 1633)
1647 Beschreibung des menschlichen Körpers
1649 Die Leidenschaften der Seele
IM KONTEXT
ANSATZ
Hypnose
FRÜHER
1027 Der persische Philosoph und Arzt Avicenna (Ibn Sina) schreibt in seinem Buch der Heilung über die Trance.
1779 Der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer publiziert seine Abhandlung über die Entdeckung des thierischen Magnetismus.
SPÄTER
1843 Der schottische Chirurg James Braid prägt in seinem Buch Neurypnology den Begriff »Neurohypnotismus«.
1880er-Jahre Der französische Psychologe Émile Coué entdeckt den Placeboeffekt und seine Bedeutung.
1880er-Jahre Sigmund Freud beschäftigt sich mit der Hypnose und setzt die hypnotische Suggestion als therapeutisches Mittel ein.
Das Erzeugen von Trancezuständen zu therapeutischen Zwecken ist kein Phänomen der Moderne. Schon für die alten Ägypter und Griechen war es völlig normal, sich in »Schlaftempel« zu begeben, wo sie von Priestern in einen schlafähnlichen Zustand versetzt und mithilfe von Suggestion behandelt wurden. 1027 beschrieb der persische Philosoph und Arzt Avicenna die Wirkung der Trance. Lange wurde sie vernachlässigt, bis der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer sie im 18. Jahrhundert erstmals wieder zu Therapiezwecken einsetzte. Mesmer behandelte seine Patienten, indem er mit Magneten und Energieübertragung auf den »animalischen Magnetismus« im menschlichen Körper einzuwirken versuchte. Manche Patienten bekamen nach dieser »Mesmerisierung« einen Krampf. Anschließend fühlten sie sich angeblich besser.
Ein paar Jahre später studierte der in Indien geborene portugiesische Abt Faria Mesmers Werk und kam zu dem Schluss, dass der Gedanke, Magnete seien für den Heilungsprozess entscheidend, vollkommen absurd sei. Tatsächlich verfüge jedes Individuum selbst über die Fähigkeit, in Trance oder »luziden Schlaf« zu fallen. Entscheidend sei allein die Macht der Suggestion, besondere Kräfte seien nicht notwendig.
Luzider Schlaf
Faria wollte seinen Patienten helfen, in den dafür richtigen Geisteszustand hineinzufinden. In De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme beschrieb er seine Methode: »Nachdem ich geeignete Patienten ausgewählt habe, bitte ich sie, sich in einem Sessel zu entspannen, die Augen zu schließen und an Schlafen zu denken. Wenn sie ruhig auf weitere Anweisungen warten, sage ich sanft oder bestimmt: ›Schlafen Sie!‹, und sie fallen in luziden Schlaf.«
Franz Anton Mesmer versetzte seine Patientinnen in Trance, indem er ihnen Magnete auflegte. Das sollte den Körper wieder in ein harmonisches Gleichgewicht bringen.
Auf der Grundlage des Konzepts von Faria prägte der schottische Chirurg James Braid 1843 den Begriff »Hypnose« (von griech. hypnos = Schlaf). Nach seinem Tod flaute das Interesse an der Hypnose ab, bis der französische Neurologe Jean-Martin Charcot sie systematisch zur Behandlung von Hysterikerinnen einsetzt. So wurden auch Josef Breuer und Sigmund Freud auf sie aufmerksam. Sie fragten nach den Antriebskräften, die im Zustand der Hypnose wirksam wurden, und entdeckten schließlich die Macht des Unbewussten.
»Nichts kommt vom Magnetiseur, alles kommt vom Subjekt und findet in seiner Vorstellung statt.«
Abt Faria
Abt Faria
José Custódio de Faria wurde in der portugiesischen Kolonie Goa geboren. Als sich seine Eltern trennten, er war gerade 15, reisten er und sein Vater nach Portugal – in der Tasche Empfehlungsschreiben für den portugiesischen Hof. Beide schlugen die Priesterlaufbahn ein. Als der junge Faria dort in der Privatkapelle der Königin predigte, geriet er in Panik. Doch sein Vater flüsterte ihm zu: »Das sind alles Strohköpfe, drisch das Stroh!« Daraufhin sprach Faria flüssig weiter. Später fragte er sich, wieso dieser einfache Satz ihn so schnell hatte beruhigen können. Später zog er nach Frankreich, nahm an der Revolution teil und landete im Gefängnis, wo er die Technik der Autosuggestion verfeinerte. Später wurde er Professor für Philosophie, doch seine öffentlichen Demonstrationen zum »luziden Schlaf« untergruben seinen Ruf. 1819 starb er an einem Schlaganfall, er wurde anonym auf dem Montmartre in Paris begraben.
Hauptwerk
1819 De la cause du sommeil lucide ou Étude de la nature de l’homme.
IM KONTEXT
ANSATZ
Strukturalismus
FRÜHER
1704 Der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz setzt sich in seinen Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand mit »petites perceptions« (Bewusstseinsdifferenzialen) auseinander.
1869 Der deutsche Philosoph Eduard von Hartmann publiziert sein viel gelesenes Werk Philosophie des Unbewussten.
SPÄTER
1895 Sigmund Freud und Josef Breuer veröffentlichen mit ihren Studien über Hysterie das erste Werk der Psychoanalyse.
1912 Carl Gustav Jung entwickelt in seinem Werk Wandlungen und Symbole der Libido seine Theorie vom kollektiven Unbewussten, das er als psychisches Erbe der Menschheit betrachtet.
Der deutsche Philosoph Johann Friedrich Herbart beschäftigte sich unter anderem mit der Frage, wie der Geist arbeitet, insbesondere damit, wie er mit »Vorstellungen« umgeht. Obwohl jeder Mensch im Lauf seines Lebens unzählige Vorstellungen hat, entsteht daraus keine zunehmende Verwirrung. Wie kann das sein? Herbart kam zu dem Schluss, dass der Geist über eine Art Differenzierungs- und Speichersystem verfügen müsse. Auch wollte er zeigen, dass manche Vorstellungen jenseits des Bewusstseins existieren. Gottfried Wilhelm Leibniz hatte im 18. Jahrhundert als Erster die Existenz solcher Vorstellungen vermutet und sie »petites perceptions« genannt – wörtlich: kleine Wahrnehmungen. Unter anderem hatte er dargelegt, dass wir uns häufig an bestimmte Details eines Geschehens erinnern können, selbst wenn wir sie gar nicht bewusst wahrgenommen haben.
Gedanken und Gefühle enthalten laut Herbart Energie. Ähnliche Vorstellungen ziehen einander an, unterschiedliche stoßen einander ab.
Dynamische Vorstellungen
Vorstellungen bilden sich Herbart zufolge, indem sich Sinneswahrnehmungen verbinden. Sie umfassen Gedanken, innere Bilder und Gefühlszustände. Herbart sah sie nicht als statische, sondern als dynamische Elemente, die interagieren können. Vorstellungen, so meinte er, können wie Magnete einander anziehen und sich mit anderen Vorstellungen oder Gefühlen verbinden oder einander abstoßen. Ähnliche Vorstellungen wie etwa Farbe und Farbton ziehen einander an und verschmelzen zu einer komplexeren Vorstellung.