EINLEITUNG
ALTE MUSIK
1000–1400
Psalmodie ist die Waffe der Mönche
Choralgesang, anonym
Ut, re, mi, fa, sol, la
Micrologus, Guido von Arezzo
Wir sollten Psalmen auf dem zehnsaitigen Psalter singen
Ordo virtutum, Hildegard von Bingen
Wer singt, betet doppelt
Magnus liber organi, Leonin
Tandaradei, sang schön die Nachtigall
Le Jeu de Robin et de Marion, Adam de la Halle
Musik ist eine Wissenschaft, die dich lachen, singen und tanzen lässt
Messe de Notre Dame, Guillaume de Machaut
RENAISSANCE
1400–1600
Kein einziges Musikstück der letzten vierzig Jahre … ist es wert, gehört zu werden
Missa L’Homme armé, Guillaume Dufay
Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibs voll Herrlichkeit
Missa Pange lingua, Josquin Desprez
Höre das Lob und Gebet
Spem in alium, Thomas Tallis
Der Vater der italienischen Musik
Canticum canticorum, Giovanni Pierluigi da Palestrina
Das … Ziel von Kirche ist nicht der Lärm von Kirchenchören
Great Service, William Byrd
All die Weisen und Madrigale … flüstern leise
O Care, Thou Wilt Despatch Me, Thomas Weelkes
Dieses Fest … entzückte und erstaunte sogar jene, die nie dergleichen hörten
Sonata pian’ e forte, Giovanni Gabrieli
Meine Laute, erwache!
Lachrimae, John Dowland
BAROCK
1600–1750
Eine der großartigsten und kostspieligsten Zerstreuungen
Euridice, Jacopo Peri
Musik muss den Menschen bewegen
Marienvesper, Claudio Monteverdi
Lully verdient aus gutem Grund den Beinamen Prinz der französischen Musiker
Le Bourgeois gentilhomme, Jean-Baptiste Lully
Er hatte ein … Genie, die Energie der englischen Worte auszudrücken
Dido and Aeneas, Henry Purcell
Die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk
Choralvorspiel: Ein feste Burg ist unser Gott, Dieterich Buxtehude
Der neue Orpheus unserer Zeit
Concerti grossi op. 6, Arcangelo Corelli
Die Vereinigung des französischen und italienischen Geschmacks kann die Musik zur Vollkommenheit führen
Pièces de clavecin, François Couperin
Was Engländer lieben, ist etwas, wozu sie den Takt schlagen können
Wassermusik, Georg Friedrich Händel
Erwarte … keine tiefsinnigen … Gedanken, vielmehr ein heiteres erfindungsreiches Spiel der Kunst
Sonate in d-Moll, K. 9 »Pastorale«, Domenico Scarlatti
Der Frühling ist gekommen, und freudig begrüßen ihn die Vögel mit Gesang
Die vier Jahreszeiten, Antonio Vivaldi
Die Endursache aller Musik soll seyn nichts anderes als Gottes Ehre
Matthäus-Passion, Johann Sebastian Bach
Telemann allein ist übers Lob erhaben
Tafelmusik, Georg Philipp Telemann
Sein Herz und seine Seele gehörten ganz dem Cembalo
Hippolyte et Aricie, Jean-Philippe Rameau
Bach ist ein Astronom, der … die wunderbarsten Sterne entdeckt
Die Kunst der Fuge, Johann Sebastian Bach
KLASSIK
1750–1820
Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Catarakt
Sinfonie in Es-Dur op. 11, Nr. 3, Johann Stamitz
Der bewegendste Akt der gesampten Oper
Orfeo ed Euridice, Christoph Willibald Gluck
Aus der Seele muss man spielen und nicht wie ein abgerichteter Vogel
Flötenkonzert in A-Dur, WQ 168, Carl Philipp Emanuel Bach
So musste ich original werden
Streichquartett in C-Dur op. 54, Nr. 2, Hob. III:57, Joseph Haydn
Das ungeheuerste Genie erhob ihn über alle Meister aller Künste und aller Jahrhunderte
Sinfonie Nr. 40 in g-Moll, KV 550, Wolfgang Amadeus Mozart
Der Zweck des Klaviers ist, mit einem Interpreten ein ganzes Orchester zu ersetzen
Klaviersonate in fis-Moll op. 25, Nr. 5, Muzio Clementi
Wir wandeln durch des Tones Macht froh durch des Todes düstre Nacht
Die Zauberflöte, Wolfgang Amadeus Mozart
Ich lebe nur in meinen Noten
Sinfonie Nr. 3 in Es-Dur op. 55, »Eroica«, Ludwig van Beethoven
ROMANTIK
1810–1920
Der Geiger ist ein besonderes menschliches Phänomen … halb Tiger, halb Poet
24 Capricci für Solovioline op. 1, Niccolò Paganini
Geben Sie mir eine Einkaufsliste und ich schreibe die Musik dazu
Der Barbier von Sevilla, Gioachino Rossini
Musik … ist ja wahrlich die Liebe selbst
Der Freischütz, Carl Maria von Weber
Keiner, der den Schmerz des andern, und keiner, der die Freude des andern versteht
Die schöne Müllerin, Franz Schubert
Musik ist eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie
Streichquartett Nr. 14 in cis-Moll op. 131, Ludwig van Beethoven
Die Instrumentation schreitet den übrigen voran
Symphonie fantastique, Hector Berlioz
Einfachheit ist das höchste Ziel
Préludes, Frédéric Chopin
In meinen Sinfonien wäre ich schon bis Opus 100 gekommen, hätte ich sie aufgeschrieben
Sinfonie Nr. 1 in B-Dur, »Frühlingssinfonie«, Robert Schumann
Die letzte Note ging unter in einem Unisono von nicht enden wollenden Applaussalven
Elias, Felix Mendelssohn Bartholdy
Ich liebe die italienische Oper – sie ist so hemmungslos
La traviata, Giuseppe Verdi
Den Teufel halte, wer ihn hält!
Faust-Sinfonie, Franz Liszt
Munter drehen sich die Tänzer in des Walzers wilden Kreisen
Donauwalzer, Johann Strauss (Sohn)
Ich lebe in der Musik wie ein Fisch im Wasser
Klavierkonzert Nr. 2 in g-Moll, Camille Saint-Saëns
Die Oper muss die Leute zum Weinen bringen
Der Ring des Nibelungen, Richard Wagner
Der kommt wie eigens von Gott gesandt
Sinfonie Nr. 1, Johannes Brahms
Die Noten tanzen dort oben auf der Bühne
Der Nussknacker, Peter Tschaikowsky
Die Sinfonie muss sein wie die Welt, sie muss alles umfassen
Also sprach Zarathustra, Richard Strauss
Kunst ist eine Art von Krankheit
Tosca, Giacomo Puccini
Die Musik muss immer ein Sehnen enthalten, ein Sehnen über die Dinge dieser Welt hinaus
Das Lied von der Erde, Gustav Mahler
NATIONALISMUS
1830–1920
Mein Vaterland bedeutet mir mehr als alles andere
Die verkaufte Braut, Bedřich Smetana
Mussorgski verkörpert das russische Genie
Bilder einer Ausstellung, Modest Mussorgski
Meine Musik hat einen Beigeschmack von Kabeljau
Peer Gynt, Edvard Grieg
Ich wollte etwas anderes machen
Requiem, Gabriel Fauré
Die Volksmusik ist wie eine seltene und wunderschöne Blume
Sinfonie Nr. 9, »Aus der neuen Welt«, Antonín Dvořák
Musik ist eine Sprache des Immateriellen
Woodland Sketches, Edward MacDowell
Die Kunst der Musik über allen anderen Künsten ist der Ausdruck der Seele einer Nation
The Dream of Gerontius, Edward Elgar
Ich bin der Sklave meiner Themen und passe mich deren Bedürfnissen an
Finlandia, Jean Sibelius
Spanische Musik mit universellem Akzent
Iberia, Isaac Albéniz
Ein grandioses Labyrinth rhythmischer Gewandtheit
El sombrero de tres picos, Manuel de Falla
MODERNE
1900–1950
Ich werde den Schatten sehen, der du geworden bist
Prélude à l’après-midi d’un faune, Claude Debussy
Ich möchte, dass Frauen sich großen und schweren Aufgaben zuwenden
Strandrecht, Ethel Smyth
Ein Publikum sollte nicht selbstzufrieden zuhören
Pierrot lunaire op. 21, Arnold Schönberg
In meinem Leben habe ich keinen einzigen Takt Musik verstanden, aber ich habe sie gefühlt
Le Sacre du printemps, Igor Strawinsky
Sie schwingt sich höher und höher, unser Tal ist ihr goldener Becher
The Lark Ascending, Ralph Vaughan Williams
Steh’ auf und ertrage deine Dissonanz wie ein Mann
Sinfonie Nr. 4, Charles Edward Ives
Ich habe niemals eine Note geschrieben, die keinen Sinn gehabt hätte
Parade, Erik Satie
Das Leben ist ähnlich wie Jazz. Am besten ist es, wenn man improvisiert
Rhapsody in Blue, George Gershwin
Eine irrwitzige Extravaganz am Rand des Abgrunds
Les Biches, Francis Poulenc
Ich komme mit dem jungen Geist unserer Republik, mit junger Musik
Sinfonietta, Leoš Janáček
Möglichst viele Zusammenhänge sollen geschaffen werden …
Sinfonie op. 21, Anton Webern
Meine einzige Geliebte ist die Musik
Klavierkonzert für die linke Hand, Maurice Ravel
Nur Wissenschaft kann Musik mit junger Kraft erfüllen
Ionisation, Edgard Varèse
Es ist das Volk, das die Musik schafft. Wir Musiker arrangieren sie nur
Streichquartett Nr. 5, Béla Bartók
Ich verabscheue Imitation. Ich verabscheue abgeguckte Vorrichtungen
Romeo und Julia, Sergei Prokofjew
Balinesische Musik … hat eine rhythmische Vitalität, primitiv und fröhlich zugleich
Tabuh-Tabuhan, Colin McPhee
Echte Musik ist immer revolutionär
Sinfonie Nr. 5 in d-Moll op. 47, Dmitri Schostakowitsch
Meine Musik ist natürlich, wie ein Wasserfall
Bachianas brasileiras, Heitor Villa-Lobos
Niemals wieder wurde mir mit solcher Aufmerksamkeit und solchem Verständnis zugehört
Quatuor pour la fin du temps, Olivier Messiaen
Ich muss aus Chaos Ordnung schaffen
A Child of Our Time, Michael Tippett
Die Musik ist so gestrickt … dass sie dich in sehr starke Hände nimmt und in ihre eigene Welt führt
Appalachian Spring, Aaron Copland
Komponieren ist, als würde man im Nebel auf ein Haus zufahren
Peter Grimes, Benjamin Britten
GEGENWART
Der Wortschatz der Natur ist das Geräusch
Symphonie pour un homme seul, Pierre Schaeffer / Pierre Henry
Ich verstehe nicht, warum die Leute so große Angst vor neuen Ideen haben. Ich habe Angst vor den alten Ideen
4′33″, John Cage
Er veränderte unsere Sicht auf Zeit und Form der Musik
Gruppen, Karlheinz Stockhausen
Die Rolle des Musikers … ist ständiges Erkunden
Pithoprakta, Iannis Xenakis
Enge Bindung zu den Menschen ist der natürliche Boden, der mein ganzes Werk nährt
Spartakus, Aram Chatschaturjan
Ich war ergriffen, wie emotional das Werk ist
Threnos, den Opfern von Hiroshima, Krzysztof Penderecki
Wenn aus dir ein Ismus wird, ist das, was du tust, tot
In C, Terry Riley
Ich möchte einen Klang erreichen, der so intensiv ist wie die Stille
November Steps, Toru Takemitsu
In der Musik … wird nichts besser oder schlechter: Alles entwickelt und transformiert sich
Sinfonia, Luciano Berio
Wenn du mir eine Lüge erzählst, dann eine schwarze Lüge
Eight Songs for a Mad King, Peter Maxwell Davies
Der Prozess, Schläge durch Pausen zu ersetzen
Six Pianos, Steve Reich
Wir waren so weit voraus … weil alle anderen so weit zurückgeblieben waren
Einstein on the Beach, Philip Glass
Das oberste Ziel der Kunst muss sein … uns zu verändern
Apocalypsis, R. Murray Schafer
Ich konnte mit dem Chaos beginnen und allmählich Ordnung darin schaffen
Sinfonie Nr. 4, Witold Lutosławski
Ich bin wie ein Blinder im Labyrinth, der sich herumtastet und immer neue Eingänge findet …
Études pour pinao, György Ligeti
Meine Musik wird für Ohren geschrieben
L’Amour de loin, Kaija Saariaho
Blau … wie der Himmel. Wo alle Möglichkeiten schweben
blue cathedral, Jennifer Higdon
Die Musik verwendet einfache Bausteine und wächst organisch
In Seven Days, Thomas Adès
Dies ist der Kern dessen, wer wir sind und was wir sein müssen
Alleluia, Eric Whitacre
WEITERE KOMPONISTEN
GLOSSAR
ZITATNACHWEIS
DANK
Musik besitzt eine gewisse Magie. Sie kann uns in eine andere Welt entführen, uns zum Tanzen bringen oder uns an geliebte Menschen erinnern. Ein einzelner Akkord kann uns zu Tränen rühren. Die Musik, die den Menschen in der westlichen Welt seit beinahe 1000 Jahren Freude und Inspiration bringt – und heute allgemein als klassische Musik bezeichnet wird –, erfreut nach wie vor die Zuhörer. Dabei ist sie alles andere als elitär. Sie spielt in Kinofilmen mit unseren Emotionen, ihre sinfonischen Wellen verleihen der Handlung von Computerspielen Dramatik und sie verbirgt sich in der Harmonik und den Melodien ganz alltäglicher Popsongs. Ihre Magie ist von einer ganz besonderen Art, einer, die über die Jahrhunderte wuchs, geprägt von Politik, Geografie, Religion – und dem besonderen Genie einer Vielzahl großer Komponisten.
Manchmal reicht es, der Musik einfach nur zuzuhören, ohne zu hinterfragen, warum oder wann oder wie dieses Stück entstand. Der Kanon der klassischen Musik kann jedoch einschüchternd wirken und umfasst viele verschiedene Stile und Genres. Zum Beispiel ist der Choralgesang des frühen Mittelalters Welten entfernt von den Klangkaskaden romantischer Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Tschaikowsky und Brahms oder von den atonalen Experimenten, die Schönberg im frühen 20. Jahrhundert unternahm. Manchmal kann das Erkunden neuer Klangwelten sogar ein wenig unbehaglich sein, was durchaus in der Absicht des Komponisten liegen mag.
Mit Das Klassische-Musik-Buch entdecken Sie die großen musikalischen Werke im Kontext der letzten 1000 Jahre. Zu verstehen, wer die Komponisten waren und was sie antrieb, kann neue Einsichten eröffnen, die den Hörgenuss verstärken. Ein bekanntes Stück wie Vivaldis Vier Jahreszeiten bekommt eine ganz neue Dimension, wenn man erfährt, dass Vivaldi erstmals das große Potenzial der Konzertform demonstrierte und sich sein Ruf von Italien nach Deutschland verbreitete, wo er einen jungen Organisten namens Johann Sebastian Bach inspirierte.
Sie wissen vielleicht, dass Beethoven später im Leben taub war, aber zu wissen, welche seiner Werke er zwar komponierte, aber nie hörte, macht das Hörerlebnis eindringlicher und wundersamer. Zu wissen, dass Mozart tatsächlich ein Popstar im 18. Jahrhundert war, könnte Sie davon überzeugen, es noch einmal mit der Hochzeit des Figaro zu versuchen. Bei der Entstehung einiger der beliebtesten Musikstücke spielten Macht, Mäzenatentum und Zensur eine große Rolle. Wie Sie sehen werden, hielten echte Dramen und Skandale mit der musikalischen Dramatik auf der Bühne und in der Partitur oft Schritt.
Dies sind also die Welten, in die Sie das Buch, das Sie gerade in Händen halten, einlädt. Es wird Sie auf eine Reise durch die verschiedenen Epochen der Musikgeschichte führen und Ihr Verständnis und Ihre Wertschätzung für einige der größten Werke der klassischen Musik vertiefen. Es wird jeden erfreuen, der die klassische Musik bereits liebt, sich aber bis jetzt noch nicht mit ihrer Geschichte und dem musikalischen Vokabular vertraut gemacht hat. Und vor allem wird es, so hoffe ich, Sie zu einer neuen Art des Zuhörens ermuntern.
Klassische Musik trägt, wie jede Musik, Leidenschaft im Herzen. Deshalb überdauerten die großen Werke der Vergangenheit Jahrhunderte, deshalb streben zeitgenössische Komponisten immer noch danach, diese Schönheit zu erreichen oder zu übertreffen, und deshalb lieben es Millionen von uns, sie zu spielen oder zu hören. Es gibt so viel wunderbare, leidenschaftliche Musik da draußen – erlauben Sie diesem Buch, Ihre Augen und Ohren dafür zu öffnen.
Katie Derham
Als wichtiger Bestandteil der menschlichen Kultur ist die Musik mindestens schon seit der Jungsteinzeit ein Merkmal jeder Zivilisation, wie Höhlenmalereien und archäologische Funde beweisen. Die Bezeichnung »klassische Musik« bezieht sich auf die kunstvolle, gehobene Musik der westlichen Zivilisation vom Mittelalter bis zur heutigen Zeit. Im weitesten Sinne deckt sie ein breites musikalisches Spektrum ab und nicht nur die Orchester- oder Klaviermusik, die sich so mancher darunter vorstellt. Dieses Buch zeigt auf, wie sich die klassische Musik als wesentlicher Bestandteil der europäischen Kultur entwickelte, sich über die ganze Welt verbreitete und ihre Zuhörer seit Jahrhunderten erfreut, überrascht und immer wieder Wandlungen unterworfen ist.
Die heutige Fülle an musikalischen Traditionen und Stilen, angefangen von mittelalterlicher Kirchenmusik und höfischem Minnegesang bis zur Avantgardemusik des 21. Jahrhunderts, entstand Schritt für Schritt, wurde jedoch immer wieder vorangetrieben von aufsehenerregenden Innovationen. Die ersten Opern zum Beispiel, die Ende des 16. Jahrhunderts aufgeführt wurden, revolutionierten sowohl die weltliche als auch die geistliche Musik. Beethovens Sinfonie Nr. 3, die »Eroica«, schockierte Anfang des 19. Jahrhunderts das Publikum mit einer völlig neuen Struktur und der Missachtung klassischer Konventionen ebenso wie 100 Jahre später die Uraufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps (»Das Frühlingsopfer«) in Paris.
Derartige Sprünge definieren die Hauptepochen der klassischen Musik – Alte Musik, Renaissance, Barock, Klassik, Romantik, Nationalismus, Moderne und Gegenwart –, die sich jeweils in viele weitere Stilrichtungen unterteilen und deren Grenzen häufig fließend sind.
»Musik ist der soziale Akt der Kommunikation unter den Menschen, eine Geste der Freundschaft …«
Malcolm Arnold
Komponist
Wie auch andere Kunstformen wurde und wird die Musik von äußeren Einflüssen geprägt. Zu Beginn war dies vor allem die Kirche. Die westliche klassische Musik entstand in einem von der Kirche dominierten Europa. Der Klerus übte nicht nur beträchtliche politischer Macht aus, er war auch die einzige Bildungsquelle in der Gesellschaft. Die Musik diente nicht der Unterhaltung. Sie war Teil der Gotttesverehrung, bestand aus einem Kanon sakraler Gesänge und wurde von Mönchen ohne Instrumentalbegleitung gesungen.
Lange widersetzte sich die Kirche jeglicher Veränderung dieser einstimmigen liturgischen Gesänge. Deren Auf und Ab in der Melodie wurde in den Handschriften durch sogenannte »Neumen« (grafische Zeichen) angezeigt, bis der italienische Mönch Guido von Arezzo im 11. Jahrhundert eine exaktere Art der Darstellung von Tonhöhen erfand, die die Grundlage der heutigen Notation bildet. Parallel dazu entstanden die ersten, zunächst noch einfachen Formen der Mehrstimmigkeit. Die ersten namentlich bekannten Komponisten wirkten im 12. Jahrhundert im Umfeld der Kathedrale Notre Dame in Paris. Im Laufe der Zeit wurde die mehrstimmigen Vokalwerke immer komplexer und unterlagen auch einer rhythmischen Ordnung.
Mit der Geburt einer neuen kulturellen Bewegung, der Renaissance (1400–1600), begann die Macht der Kirche über Musik und Kultur zu schwinden. Weltliche Musik konnte sich durch die Erfindung des Buchdrucks in ganz Europa verbreiten. Die Musiker standen nicht mehr allein im Dienst der Kirche, sondern arbeiteten auch für mächtige weltliche Herrscher.
Allerdings verlor die Kirche ihre Macht über die Musik nicht ganz. Nach der Reformation strebte man im protestantischen Nordeuropa nach mehr Textverständlickeit, und auch die katholische Obrigkeit versuchte, die Komplexität der Polyphonie zu reduzieren. Der Musikstil wurde daraufhin einfacher, aber auch expressiver, harmonischer.
1610 verwendete Monteverdi in der Marienvesper Elemente dieses neuartigen Stils und beschritt damit neue Wege der Sakralmusik. Etwa zur selben Zeit kombinierte eine Gruppe florentinischer Intellktueller, die sich im Haus des Mäzens, Dramatikers und Komponisten Giovanni de’ Bardi traf, zum ersten Mal Musik und Schauspiel miteinander und erfand so die Oper. Sie begeisterte nicht nur die Aristokratie, die weiterhin als Förderer der Komponisten und Interpreten fungierte – auch im Bürgertum stieg die Nachfrage nach Oper und Musik im Allgemeinen, sodass schon bald Opernhäuser, Konzerthallen und öffentliche Theater errichtet wurden.
Im weiteren Verlauf der Barockzeit nutzten Komponisten wie Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel die Orchester, die ihnen ihre adeligen Gönner zur Verfügung stellten, um immer komplexere Werke zu schaffen. Die Musik des Hochbarock war besonders ausdrucksstark und oft kunstvoll mit Trillern und anderen Verzierungen ausgeschmückt.
Doch dann zog das Zeitalter der Aufklärung und der Vernunft herauf, und plötzlich wünschte sich das Konzertpublikum elegantere, ausgewogene und klare Musik, was zur klassischen Epoche führte, von der die klassische Musik ihren Namen hat. In kurzer Zeit etablierten klasische Komponisten wie Mozart, Haydn und Beethoven die musikalischen Grundformen des auch heute noch geläufigen Konzertrepertoires, einschließlich der viersätzigen Sinfonie, des Solokonzerts und des Streichquartetts. Musik zur privaten Unterhaltung, die sogenannte Kammermusik, wurde ebenfalls populär, da die wachsende Mittelschicht mehr Freizeit zur Verfügung hatte und Instrumente wie etwa das Klavier erschwinglicher wurden.
Trotz ihres anhaltenden Einflusses wurde die Klassik bald durch eine neue Strömung ersetzt: Als die Romantik mit ihrer Betonung des Individuums durch Europa schwappte, gewann Ausdruck die Oberhand über Klarheit. Die Komponisten trieben den klassischen Stil bis an die Grenzen und suchten in Kunst, Literatur, Landschaften und Erlebnissen nach Inspiration. Die Romantik war eigentlich eine deutsche Strömung, doch sie brachte auch in anderen Ländern eine Vielzahl nationalistisch gesinnter Komponisten hervor, die sich mit ihrer Musik von der österreichisch-deutschen Dominanz des musikalischen Ancien Régime distanzieren wollten. Russische und tschechische Komponisten integrierten folkloristische Elemente und Themen in ihre Musik, ein Trend, den später auch Komponisten aus anderen Teilen Europas übernahmen.
»Gibt’s Leidenschaft, die bei Musik nicht kam und wich?«
John Dryden
Dichter
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts brachten die harmonischen Exzesse der deutschen Romantik die Fundamente der westlichen Musik zum Einsturz, deren Struktur auf den Harmonien der Dur- und Molltonarten basiert. Es folgte ein Jahrhundert, in dem die Komponisten nach einer völlig neuen musikalischen Sprache suchten. Zwei der einflussreichsten Strömungen jener Zeit waren die Zwölftontechnik, die Arnold Schönberg aufbaute und von Pierre Boulez und anderen in der seriellen Musik weiterentwickelt wurde, und die Aleatorik, bei der der Zufall als kompositorisches Mittel eingesetzt wurde.
Diese musikalischen Experimente fielen zeitlich mit der Entstehung des Jazz und später mit der explosionsartigen Ausbreitung von Pop- und Rockmusik zusammen, deren rhythmische Beats so anziehend waren, dass die klassische Musik viele Anhänger verlor. Doch die Populärmusik inspirierte die klassische Musik und hauchte ihr neues Leben ein, ganz zu schweigen von den neuen Möglichkeiten, die sich durch den technischen Fortschritt in den Tonstudios ergaben und die sich Komponisten wie Karlheinz Stockhausen gern zunutze machten.
Heute berücksichtigen viele Komponisten den allgemeinen Geschmack stärker als noch vor 50 Jahren, doch viele experimentieren weiterhin mit Elementen aus Video, Theater und Einflüssen einer globalisierten Musikwelt.
Für ein besseres Verständnis der in diesem Buch beschriebenen Ideen und Innovationen ist es hilfreich, sich mit den »Bausteinen« der klassischen westlichen Musik vertraut zu machen, die zu einem großen Teil von mittelalterlichen Mönchen entwickelt wurden und auf altgriechischen Konzepten basieren.
Noten sind dabei das grundlegende Baumaterial jeder Art von Musik. Die Tonhöhe einer einzelnen Note, also wie hoch oder tief sie im Vergleich zu anderen klingt, wird in Buchstaben (C, D, E und so weiter) angegeben. Manchmal wird sie durch »Vorzeichen« ( oder
) modifiziert, die sie um einen halben Ton erhöhen oder erniedrigen.
Seit dem 17. Jahrhundert wird in den beiden Tongeschlechtern Dur und Moll komponiert. So kann etwa ein Stück in C-Dur oder in a-Moll stehen. Die Tonart regelt auch die Harmonie, wenn zwei oder mehr Noten gleichzeitig gespielt werden. Akkorde (das Zusammenspiel von drei oder mehr Tönen) könnten konsonant und harmonisch sein – oder aber dissonant und schrill. Durakkorde klingen tendenziell heiter und Mollakkorde eher traurig.
Ein Merkmal von Barock, Klassik und Romantik ist die Dur-Moll-Tonalität, bei der sich eine Komposition auf eine Tonart und einen Grundton als tonales Zentrum bezieht. Bewegt sie sich davon weg, wird Spannung erzeugt, bewegt sie sich darauf zu, wird die Spannung aufgelöst.
»Rhythmus und Harmonie finden ihren Weg zu den inneren Orten der Seele.«
Platon
Verschiedene Musikstile betonen bestimmte Aspekte ihrer Struktur. Manche fokussieren sich auf die Melodie, vielleicht mit harmonischer Begleitung, wie es im Frühbarock üblich war, andere verwenden den Kontrapunkt, die Verflechtung von zwei oder mehr Melodielinien zu einer komplexen Mehrstimmigkeit, der Polyphonie, die eines der wesentlichen Merkmale der westlichen klassischen Musik ist.
Ebenso wichtig ist die musikalische Form eines Musikstücks. Es kann aus verschiedenen Teilen, vielleicht in gegensätzlichen Tonarten, bestehen. Zum Beispiel wird in der dreiteiligen »ABA«-Form ein musikalisches Motiv vorgestellt, gefolgt von einem zweiten Motiv und abschließender Wiederholung des Eröffnungsmotivs. Musikformen und Gattungen reichen von kurzen Kunstliedern, wie sie Franz Schubert und Robert Schumann populär machten, bis hin zu mehrsätzigen Sinfonien.
Für den Zuhörer zeigt sich der auffälligste Unterschied zwischen einer Renaissancekomposition und einer voll ausgearbeiteten Sinfonie des 19. Jahrhunderts im Klang der Instrumente, denn viele von ihnen wurden im Lauf der Zeit weiterentwickelt und manche neu erfunden.
Jedes Instrument hat sein unverwechselbares Timbre und kann allein gespielt oder mit anderen Instrumenten und menschlichen Stimmen kombiniert werden: von A cappella (Chorgesang ohne Instrumentalbegleitung) und Soloinstrumenten wie dem Klavier über kleine Kammerensembles wie dem Streichquartett bis hin zum kompletten modernen Orchester aus über 70 Musikern mit Streich-, Holzblas-, Blechblas- und Schlaginstrumenten und – seit etwa 1950 – auch mit elektronischen Klangerzeugern.
»Die Zeiten, in denen Musik für einen kleinen Kreis von Ästheten geschrieben wurde, sind vorbei.«
Sergei Prokofjew
Wie Komponisten aus diesen musikalischen Elementen verschiedene Gattungen der klassischen Musik entwickelten und welche Faktoren sie beeinflussten, wird in diesem Buch erklärt. Es präsentiert Meilensteine in der Geschichte der klassischen Musik: nicht nur die großen Komponisten und ihre Werke, sondern auch einige weniger bekannte, deren Musik exemplarisch für einen Stil oder eine Periode ist. Durch die chronologische Einordnung in den historischen Kontext lässt sich gut darstellen, wie sie ihre Gesellschaft und Kultur widerspiegeln.
Jeder Artikel konzentriert sich auf ein Werk, das eine besondere Entwicklung in der Musik darstellt, und erläutert dessen herausragende Merkmale und seine Bedeutung in Bezug auf andere Werke desselben Komponisten oder Stils. Am Ende des Buches befindet sich ein Verzeichnis weiterer bedeutender Komponisten und ihrer Werke sowie ein Glossar musikalischer Grundbegriffe.
UM 600
Papst Gregor I. sammelt und vereinheitlicht liturgische Gesänge der katholischen Kirche.
UM 800
Karl der Große weist seine Musiker an, wie römische Sänger zu intonieren, und trägt so zur Entwicklung der neumierten Notation bei.
UM 935
In Frankreich benennt Odo von Cluny in seinem Werk Dialogus de musica erstmals die Tonhöhen mit den Buchstaben A bis G.
UM 1151
Hildegard von Bingens liturgisches Drama Ordo virtutum handelt vom Kampf zwischen Tugenden und Teufel um die menschliche Seele.
UM 750
Karolingische Herrscher vereinheitlichen die liturgischen Gesänge: Der gregorianische Choral ist eine Synthese altrömischer und gallikanischer Gesänge.
UM 900
In dem anonymen Traktat Musica enchiriadis wird zum ersten Mal das mehrstimmige Singen thematisiert.
UM 1026
Guido von Arezzo schreibt sein Traktat Micrologus und widmet es Tedald, dem Bischof von Arezzo in der Toskana.
UM 1240
Der Musiktheoretiker Johannes de Garlandia beschreibt in De mensurabili musica die Notation von Tonlängen.
UM 1320
Die Messe von Tournai, das Werk mehrerer anonymer Autoren, ist die erste bekannte polyphone Messe, die in einem Manuskript aufgeschrieben wird.
UM 1360–1365
Der Franzose Guillaume de Machaut komponiert die polyphone Messe de Notre Dame.
UM 1170
In Paris präsentiert sich Leonin mit seinem Magnus liber organi als wichtiger Vertreter der frühen Mehrstimmigkeit.
UM 1280
Adam de la Halles Le Jeu de Robin et de Marion, das als erstes weltliches Singspiel gilt, wird in Neapel uraufgeführt.
UM 1322
Philippe de Vitry entwickelt in seiner Abhandlung Ars nova notandi die Mensuralnotation von Franco von Köln weiter.
Was heute als westliche klassiche Musik bezeichnet wird, entwickelte sich aus der Kirchenmusik des mittelalterlichen Europas, deren Wurzeln wiederum in der jüdischen sowie in der altrömischen und altgriechischen Musik liegen. Unsere Kennntnisse über diese frühe Musik sind jedoch begrenzt, da es sich dabei um eine mündliche Tradition handelte, die von den Musikern auswendig gespielt und von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde.
Das wenige uns Bekannte stammt aus zeitgenössischen Berichten, die fast ausschließlich von geistlicher Musik handeln, denn die Kirche hatte damals das Bildungsmonopol. Die Geschichte der klassischen Musik beginnt mit geistlichen lateinischen Texten, die Mönche während des Gottesdienstes sangen. Dabei handelte es sich um Vokalmusik ohne Begleitung, bestehend aus einer Einzelmelodie, die von einer Stimme oder unisono von einem Chor gesungen wurde. Jede Region besaß eine eigene Sammlung dieser Choralgesänge. Während seiner Amtszeit (590–604) versuchte Papst Gregor I. jedoch im Rahmen seiner Bemühungen, die Liturgie zu vereinheitlichen, die regionalen Varianten dieser Gesänge zu sammeln, zu ordnen und zu standardisieren.
Um die einheitliche Darbietung der Gesänge in der gesamten Christenheit zu garantieren, wurde eine Form der Notation entwickelt, die »Neumen«. Frühe Zeugnisse finden sich im 9. Jahrhundert. Dabei handelt es sich um kleine Symbole, die über den Text gesetzt werden und die Melodie grafisch darstellen. Parallel dazu etablierte sich die Heilige Messe als eine standardisierte Form des Gottesdienstes, deren verschiedenen Abschnitten bestimmte Gesänge zugeordnet wurden. Auch die Notation wurde verfeinert, und zwar mit einer horizontalen Linie zur bessern Unterscheidung der Tonhöhe.
In musikalischer Hinsicht besonders bedeutend war die Entwicklung des Organums, einer einfachen Mehrstimmigkeit mit zwei bis maximal vier Stimmen. Eine Stimme sang den Choral, die andere parallel dazu ein paar Töne höher oder tiefer. Mit zunehmender Komplexität der Musik verfeinerten sich auch die Möglichkeiten, sie aufzuschreiben. Im 12. Jahrhundert setzte sich ein System aus quadratischen und rautenförmigen Noten durch, die auf vier oder mehr Linien platziert wurden: die Quadratnotation – der Vorläufer unserer heutigen Musiknotation.
Die Notation half nicht nur, die Interpretation musikalischer Werke zu vereinheitlichen, sondern auch, neue Musik zu schreiben. Etwa ab dem 12. Jahrhundert entwickelte sich die klassische Musik so, wie wir sie heute kennen. Sie war nicht länger anonym und wurde nicht nur mündlich weitergegeben, sondern von namentlich bekannten Komponisten schriftlich verfasst. Schon bald wichen die einfachen Harmonien des Organums einem innovativen und komplexeren Stil, der Polyphonie, bei der jede Stimme eine eigene Melodielinie sang. Diese von Leonin und Perotin in Paris im Umfeld der Kathedrale Notre Dame entwickelte Technik breitete sich schnell in ganz Europa aus.
Zur selben Zeit erblühte auch die weltliche Musik. Fahrende Musikanten unterhielten die Adeligen an den Höfen und das Volk auf den Straßen. Sie waren sowohl Dichter als auch Komponisten und Interpreten und boten ihre Lieder im Gegensatz zu den Kirchenmusikern mit Instrumentalbegleitung dar. Sehr wahrscheinlich spielten sie auch instrumentale Tanzmusik, doch da die weltliche Musik nach wie vor nur mündlich weitergegeben wurde, ist sie nicht überliefert.
Zur Darstellung des Rhythmus wurde in der Notre-Dame-Epoche die relativ starre Modalnotation verwendet. Diese wurde um die Mitte des 13. Jahrhunderts, in der Ars-antiqua-Epoche, von der flexibleren Mensuralnotation abgelöst und im 14. Jahrhundert, in der Ars-nova-Epoche, verbessert und den steigenden Anforderungen einer immer komplexer werdenden Mehrstimmigkeit angepasst.
Der neue Stil blieb nicht allein den Messgesängen vorbehalten. Es wurden auch kurze Stücke mit neuem Text, sogenannte Motetten, verfasst. Manchen lagen geistliche Texte zugrunde, aber eine ganze Reihe »seriöser« Komponisten schrieb polyphone Motetten auf der Grundlage weltlicher Gedichte. Mit der heraufziehenden Renaissance verlor die Kirche ihren Alleinanspruch auf Musik. Geistliche und weltliche Musik wurden ebenbürtig und begannen Seite an Seite zu florieren.
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Choralgesang
FRÜHER
Um 1400 v. Chr. In der Stadt Ugarit in Nordsyrien werden religiöse Hymnen in fragmentarischer Notation auf einer Lehmtafel festgehalten.
Um 200 v. Chr.–100 n. Chr. Das »Seikilos-Lied« auf einem Grabstein nahe Ephesos in der Türkei ist das älteste, vollständig erhaltene, in Notation verfasste Musikstück.
SPÄTER
1562–1563 Das Kirchenkonzil von Trient verbietet das Singen von Sequenzen, einer Ausschmückung des schlichten Choralgesangs.
1896 Mit dem Liber Usualis versuchen die Mönche der Abtei zu Solesmes, den durch jahrhundertelangen Gebrauch verfälschten gregorianischen Gesängen ihre ursprüngliche Form wiederzugeben.
Die frühe christliche Kirche begann als jüdische Sekte, deshalb hatten die Liturgien dieses neuen Glaubens viel mit denen der jüdischen Gottesdienste gemeinsam, wie etwa das wiederholte Sprechen oder Singen von heiligen Texten und Gebeten. Die Christen konzentrierten sich insbesondere auf bestimmte Rituale wie das Nachstellen des letzten Abendmahls und das Singen von Psalmen, das Lesen der Bibel und das Gebet, mit denen die Feste und Feiertage der neuen Kirche begangen wurden. Im Lauf der Zeit entwickelten sich daraus die Heilige Messe und das Stundengebet (mehrmals tägliche Zusammenkünfte einer Ordensgemeinschaft zum Gebet).
Der hl. Ambrosius in seinem Studierzimmer (Holzschnitzerei um 1500). Für den römischen Bischof war die Hymne, ein Lobgesang, ein elementarer Teil des Gottesdienstes.
Mit dem Christentum verbreiteten sich auch dessen Zeremonien. Diese wurden in den Sprachen der Gemeinschaften gefeiert, in denen sie wurzelten, etwa Aramäisch in Palästina und Griechisch in Rom. In der Folge entwickelten sich unterschiedliche Riten wie der mozarabische in Spanien, der gallikanische im römischen Gallien und der ambrosianische, benannt nach Ambrosius, einem mailändischen Bischof des 4. Jahrhunderts.
Von diesen frühen Liturgien blieben nur die römischen und ambrosianischen Choräle erhalten. Wegen ihrer einfachen Melodien ohne Begleitung, die in einer Art Sprechgesang die unmetrische Prosa von Gebeten, Psalmen und der Heiligen Schriften wiedergeben, wurden sie auch Cantus planus (lateinisch für ebener, einfacher Gesang) genannt. Trotz ihrer Unstrukturiertheit folgte diese Musik weitestgehend dem altgriechischen modalen System der siebentönigen Oktaven mit fünf Tönen und zwei Halbtönen.
Es gab responsoriale und antiphonale Choräle. Unter Ersterem versteht man kunstvollere Solo-Gesänge mit einer Antwort des Chors. Die Melodien der antiphonalen Choräle sind einfacher, und der Gesang wechselt zwischen Chor und Gemeinde.
Sowohl der römische als auch der ambrosianische Choralgesang kannten diese beiden Formen, doch der ambrosianische war eleganter und feierlicher als der römische. Er griff verstärkt auf das Melisma zurück, bei dem eine ganze Tonfolge oder Melodie auf einer Silbe gesungen wird, wie es auch heute noch im Nahen Osten und in Asien üblich ist.
Um die Mitte des ersten Jahrtausends gab es so viele unterschiedliche Riten und Choräle, dass Papst Gregor I. (590–604) versuchte, sie zu vereinheitlichen. Er stärkte den römischen Ritus und soll die Gründung einer päpstlichen schola cantorum (Chorschule) initiiert haben.
Der gregorianische Choral Hodie Cantandus (»Heute müssen wir singen«) des irischen Mönchs Tuotilo aus dem 10. Jh. wurde in dieser Handschrift mit Neumen versehen.
Unter Pippin und Karl dem Großen wurden römische Gesänge durch Elemente des ebenfalls gebräuchlichen gallikanischen Stils bereichert. Aus dieser erweiterten Sammlung erwuchsen schließlich die heute noch gesungenen gregorianischen Choräle. Sie bilden die Grundlage für die weitere Entwicklung der Musik und ihrer Notation in Mittelalter und Renaissance.
Die Heilige Messe
Erst etwa im 11. Jahrhundert nahm die Heilige Messe ihre endgültige Form an. Ihre Musik, das Graduale, ist in einem gleichnamigen Chorbuch enthalten, das sich wiederum in das Ordinarium (gleichbleibende Texte) und das Proprium (nach Anlass wechselnde Texte) unterteilt.
Das Ordinarium beinhaltet fünf Gesänge. Der erste, Kyrie eleison (»Herr, erbarme dich«), ist ein altgriechischer Text (die Sprache des römischen Ritus bis etwa zum 4. Jahrhundert); der zweite, Gloria in excelsis Deo (»Ehre sei Gott in der Höhe«), wurde im 7. Jahrhundert eingeführt; der dritte, das Credo (»Ich glaube«), wurde 1014 aufgenommen (soll jedoch aus dem 4. Jahrhundert stammen); und der vierte Gesang, das Sanctus (»Heilig«), wurzelt in der jüdischen Liturige und wurde vor Papst Gregors I. Reform Teil des römischen Ritus. Der fünfte, Agnus Dei (»Lamm Gottes«), wurde im 7. Jahrhundert von einem syrischen Ritus übernommen.
Der Ritus der Heiligen Messe basiert auf dem letzten Abendmahl von Jesus und seinen Jüngern (Illustration aus einer Handschrift des 6. Jh.).
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Frühe Formen der Notation
FRÜHER
500 Der römische Senator und Philosoph Boethius verfasst das Lehrbuch für Musiktheorie De institutione musica, das noch im 16. Jh. im Gebrauch ist.
935 In Frankreich benennt Odo von Cluny in seinem Werk Dialogus de musica die Tonhöhen zum ersten Mal mit den Buchstaben A bis G.
SPÄTER
1240 In Paris verfasst Johannes de Garlandia De mensurabili musica, in dem er die Notation von Rhythmus beschreibt.
Um 1280 Franco von Köln stellt in Ars cantus mensurabilis die Mensuralnotation vor, die Vorläuferin der heutigen Darstellung von Tonlängen.
Die moderne westliche Notation nahm Ende des ersten Jahrtausends ihren Anfang in den europäischen Klöstern. Die ältesten musikalischen Symbole, die sogenannten Neumen, waren einfache Pinselstriche, die den Mönchen beim Singen der Choräle anzeigten, ob die Melodie anstieg, abfiel oder auf gleicher Höhe verharrte. Erste Zeugnisse finden sich bereits im 9. Jahrhundert.
Diastematische, die Tonhöhe anzeigende Neumen brachten mehr Klarheit in die Notation, da eine einzelne Querlinie auf dem Notenblatt fortan eine Art Horizont bot, an dem sich der Sänger in der Tonhöhe orientieren konnte. Dennoch boten die diastematischen Neumen viel Raum für Fehlinterpretation, sodass eine Präzisierung nötig war.
Die Lösung wird Guido von Arezzo zugeschrieben, einem italienischen Mönch und Musiktheoretiker (der jedoch vermutlich nur formalisierte, was bereits Praxis war). Er zog vier horizontale Linien im Terzabstand für die Notation, sodass der Sänger die Bewegung der Melodie genau erkennen konnte. Bei der guidonischen Notation wurde manchmal die C-Notenlinie gelb und die F-Linie rot gezeichnet. Damit war nicht nur die Tonhöhe von Note zu Note festgelegt; der Sänger wusste auch auf einen Blick, mit welcher Note er beginnen musste.
Die Guidonische Hand