Wiebrecht Ries
Hans-Georg Gadamers "Wahrheit und Methode"
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ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-534-20861-6
© 2009 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn
Satz: SatzWeise, Föhren
eBook ISBN 978-3-534-70384-5 (epub)
Als epub veröffentlicht 2010.
www.wbg-wissenverbindet.de
Vorwort |
Einleitung |
Teil I Die Freilegung der Wahrheitsfrage an der Erfahrung der Kunst. Zum Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaft |
1. Die Bedeutung der humanistischen Tradition für die Geisteswissenschaften |
2. Subjektivierung der Ästhetik durch die kantische Kritik |
3. Wiedergewinnung der Frage nach der Wahrheit der Kunst |
Teil II Die Ausweitung der Wahrheitsfrage auf das Verstehen in den Geisteswissenschaften |
1. Geschichtliche Vorbereitung |
2. Erhebung der Geschichtlichkeit des Verstehens zum hermeneutischen Prinzip |
3. Analyse des wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins |
Teil III Ontologische Wendung der Hermeneutik am Leitfaden der Sprache |
1. Sprache als Medium der hermeneutischen Erfahrung |
2. Prägung des Begriffs ‚Sprache‘ durch die Denkgeschichte des Abendlandes |
3. Sprache als Horizont einer hermeneutischen Ontologie |
Teil IV Ausblicke |
Exkurs Gadamer und die Dichtung. Hölderlin – Rilke – Celan |
Hölderlin und das Zukünftige (1947) |
Rainer Maria Rilke nach fünfzig Jahren (1976) |
Sinn und Sinnverhüllung bei Celan (1975) |
Literatur |
Personen |
Sachen |
Die ehrenvolle Aufgabe, für die Reihe ‚Werkinterpretationen‘ den Band über Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode zu übernehmen, hat mich bei der Ausarbeitung in die Zeit meines Heidelberger Studiums bei Gadamer zurückversetzt. In dankbarer Erinnerung an diese Zeit bestätigt sich für mich erneut der Wert eines dialogischen Vorgehens für die Philosophie. Diese hermeneutische Erfahrung habe ich versucht, in das vorliegende Buch einzuarbeiten und vor allem an die Generation derer weiterzugeben, die in dieser dürftigen Zeit Philosophie studieren.
Wahrheit und Methode ist ein philosophisch ungemein spannendes, aber kein einfaches Buch. Es setzt beim Leser einen Bildungshorizont voraus, der mit einer tiefen Kenntnis der Geschichte des philosophischen Denkens verbunden ist. Da ein solches Wissen heute nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, habe ich die philosophiegeschichtlichen Exkurse umfangreicher kommentiert, als es üblich ist. Weil sich Gadamers hermeneutisches Denken eng mit den Erfahrungen der Kunst verbindet, wurden Zeugnisse aus der europäischen Dichtung ausgewählt, um die Verschränkung von hermeneutischer und ästhetischer Erfahrung herauszustellen. Darüber hinaus habe ich Wahrheit und Methode in den Kontext der Gesamtausgabe von Gadamers Werken gestellt. Vieles von dem, was er in seinem Hauptwerk ausführt, erhellt sich erst im Licht seiner frühen und späten Arbeiten. Da Philosophie sich für Gadamer im Gespräch vollzieht, ist es unumgänglich, mit den Fragestellungen und Thesen von Wahrheit und Methode in einen Dialog einzutreten, der die Sterilität einer bloß kommentierenden Wiedergabe der in ihm diskutierten Themen hinter sich lässt und die Gedanken Gadamers im Zwiegespräch weiter denkt. An dieser Stelle will ich nicht unerwähnt lassen, dass die Intentionen meiner Werkinterpretation sich in vielfacher Weise den Büchern von J. Grondin über Gadamer verpflichtet wissen. Wenn es mir gelungen sein sollte, dem Leser Wege der Interpretation zu weisen, die ihm in seiner eigenen Lektüre von Wahrheit und Methode von Nutzen sind, dann ist das Ziel des vorliegenden Buches erreicht.
Zu danken habe ich meinem Freund, Herrn Dr. K.-F. Kiesow, für seine freundliche und kritische Durchsicht des Manuskripts, für die vielen Gespräche über Gadamers Hermeneutik, vor allem aber für seine fachkundigen Hinweise, wie die von mir angesprochenen sprachphilosophischen Themen gedanklich besser darzustellen seien als in den ersten Entwürfen des Buches. Meinem Lektor, Herrn Dr. B. Villhauer, danke ich wie immer für seine Geduld und Umsicht, mit der er das anspruchsvolle Projekt betreut hat.
Burgdorf, im März 2009
Wiebrecht Ries
Was heißt ‚verstehen‘? Gadamers philosophische Hermeneutik als der Entwurf einer Philosophie der Endlichkeit
Hermeneutik ist ein gräzisierendes Kunstwort aus dem 17. Jahrhundert. Es geht auf den humanistisch-lateinischen Ausdruck ars interpretandi zurück. Im Griechischen steht hinter dem Ausdruck hermeneia die mythische Gestalt des Botens der olympischen Götter, Hermes. Als Sohn des Zeus in Arkadien geboren, kommen ihm mannigfaltige Funktionen zu. Er ist Gott des Handels, der Diebe, der Wege und der Träume. Als Psychopompos leitet er die Seelen in die Unterwelt. Die bildende Kunst stellt ihn seit dem 5. Jahrhundert als jungen Mann mit geflügelten Sandalen und Heroldsstab dar. In der Antike gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Kunst des hermeneuein und der Mantik, die den Willen der Götter aus ‚Zeichen‘ in einem Doppelsinn von ‚Sprüchen‘ deutet. In einem engeren Sinn versteht man unter Hermeneutik die Kunst der Auslegung. In hellenistischer Zeit wurde sie als eine allegorische Methode ausgebildet, welche die überlieferten Mythen mit einem philosophisch aufgeklärten Bewusstsein in Einklang zu bringen versuchte. In diesem Sinn findet sie ihre Anwendung auch in der Auslegung der ‚Heiligen Schrift‘. Im Zuge der Entstehung des christlichen Dogmas versteht sich Hermeneutik als theologische Textauslegung. So ist zum Beispiel für die ausgehende Antike und das Mittelalter Augustins Schrift De doctrina christiana das wichtigste Lehrbuch der christlichen Hermeneutik. Erst in der Wissenschaftstradition der Neuzeit wird Hermeneutik zu einer theoretischen Grundlage für die historischen Geisteswissenschaften. Als eine Kunstlehre des Verstehens führt sie über F. Schleiermacher zu W. Dilthey und der von ihm aus dem Geist der Historischen Schule entwickelten Neubegründung der Geisteswissenschaft auf der Grundlage einer verstehenden Psychologie. Hermeneutik wird zu einer dem Geist des Deutschen Idealismus verpflichteten Denkrichtung in der Philosophie. Diltheys Aufsatz Die Entstehung der Hermeneutik (1900) verbindet den gesetzmäßigen Gang in der Geschichte der Hermeneutik mit dem Interesse der Geisteswissenschaft, den jeweiligen Lebensausdruck der geschichtlichen Welt über seine „Schriftdenkmale“ zu rekonstruieren. Da aber diese als hermeneutische ‚Wissenschaft‘ ihre eigene Befangenheit in den Vorurteilen des Historismus weitgehend ausblendet, zeigt sie Züge einer Sterilität, die schon von Nietzsche in seiner Historienschrift scharf kritisiert wird. Erst mit dem von E. Husserl vorgelegten Entwurf einer phänomenologischen Bedeutungslehre, vor allem aber durch M. Heideggers Hermeneutik der Faktizität, die von Aristoteles aus und im Anschluss an Kierkegaard den Bruch mit einer idealistischen Hermeneutik besiegelt, kommt es zu einem grundlegenden Neuanfang in der Hermeneutik. Verstehen meint nun „nicht mehr ein Verhalten des menschlichen Denkens unter anderen, das sich methodisch disziplinieren und zu einem wissenschaftlichen Verfahren ausbilden lässt, sondern macht die Grundbewegtheit des menschlichen Daseins aus“ (GW 2, 103). Eine „philosophische Radikalisierung“ (K.-O. Apel) der Hermeneutik bei Heidegger zeigt sich vor allem unter dem Aspekt, dass für ihn Sprache das geschichtliche Medium einer Selbstauslegung des Seins im Selbst- und Weltverständnis des Menschen – „Da-Sein“ als „Lichtung des Seins“ – ist. Gadamer wird diesen Denkansatz seines Lehrers vertiefen, wenn er in der Sprache die Universalität eines jeden hermeneutischen Verstehens als begründet ansieht.
Gadamers 1960 erschienenes Hauptwerk Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik arbeitet im Anschluss an Heideggers „Hermeneutik der Faktizität“ Verstehen als einen Grundzug menschlichen Daseinsverhaltens heraus. Die Voraussetzungen für eine philosophische Hermeneutik liegen in dem Faktum, dass der existentielle Daseinsvollzug nicht determiniert ist, sondern auf Grund der Geschichtlichkeit des Daseins offen steht für die Möglichkeiten jeweiliger Entwürfe eines Sich-selbst-Verstehens. Auf dem Hintergrund einer Verabschiedung der idealistischen Bewusstseinsphilosophie wendet sie sich bei Gadamer gegen die Vorherrschaft des neuzeitlichen Methodenideals, das die Naturwissenschaften bestimmt, aber auch gegen das methodische Selbstverständnis von Positivismus, Historismus und Wissenschaftstheorie. Nach Schleiermachers theologischer Hermeneutik, Diltheys theoretischer Grundlegung der Geisteswissenschaften und Heideggers Philosophie als Hermeneutik des Daseins erhebt sie den Anspruch, im Verstehen ein universales Prinzip identifiziert zu haben, das nicht nur allen geisteswissenschaftlichen Erkenntnisleistungen, sondern darüber hinaus auch aller Traditionsvermittlung zugrunde liegt und damit als eine fundamentale Voraussetzung menschlicher Selbsterkenntnis unentbehrlich ist. Die aus dem Erfahrungshorizont des Daseins erschlossenen hermeneutischen Grundbegriffe lassen sich jedoch nicht definieren, sie sind im Blick auf die drei großen Themen Kunst, Geschichte und Sprache aus der Perspektive eines ästhetischen und sittlichen Weltumgangs zu charakterisieren, in dem sich der grundlegende rhetorische und der hermeneutische Aspekt der Sprache wechselseitig durchdringen. Dass alle Akte des Verstehens zugleich „Spracherscheinungen“ sind, diesen in Wahrheit und Methode entwickelten Grundsatz einer universellen Sprachlichkeit in jedem menschlichen Weltverhalten, betont auch der Beitrag Sprache und Verstehen (1970). Seine radikale These ist, „dass nicht nur der zwischenmenschliche Vorgang der Verständigung, sondern der Prozess des Verstehens selbst auch dann ein Sprachgeschehen darstellt, wenn er sich auf Außersprachliches richtet oder auf die erloschene Stimme des geschriebenen Buchstabens horcht, ein Sprachgeschehen von der Art jenes inneren Gesprächs der Seele mit sich selbst, als das Plato das Wesen des Denkens charakterisiert hat.“ (GW 2, 184). Lesen wir unser Dasein wie einen Text, dann haben die an ihm ablesbaren einzelnen Worte niemals für sich allein „Sinn“, vielmehr bauen sie „erst durch ihre vielstellige Bedeutung den einen Sinn“ auf, „der in vielen Verschlingungen von mitschwingenden Sinnlinien die Einheit des Text- und Redeganzen bewahrt“ (GW 9, 448). In ihr kann die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks nur dann verstanden werden, wenn man auch den Kontext, in dem er steht, verstanden hat.
In dem Versuch, Dasein in seinem inneren Daseinssinn zu verstehen, werden wir beständig auf das rätselhafte Phänomen der Sprache verwiesen. Ihr Da-Sein, das allem Verstehen voraus liegt, übersteigt stets das, was uns zu Bewusstsein kommt. Für Gadamer, der ein langes Leben hindurch der Sprache nachgedacht hat, gewinnt jedes Selbst- und Weltverhalten nur durch sie Ausdruck. Sprache ist nie auf den Begriff einer „isolierbaren Aussage“ reduzierbar, vielmehr eignet ihr jene Offenheit, in der die „Welt als Spielraum des Erscheinenden“ (G. Figal) zur Erscheinung kommt. Versteht man sie als ein subjektfreies Geschehen, hat sie „eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so dass das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewussten geborgen bleibt“ (GW 2, 198).
Gadamers Kritik des ästhetischen Bewusstseins beruft sich darauf, dass es „gegenüber dem unmittelbaren Wahrheitsanspruch, der von dem Kunstwerk ausgeht“ (GW 2, 220) sekundär ist. Der Kunst wird ein ontologisches Primat vor dem Leben zugestanden, da sie grundlegende Aspekte an ihm zum Aufleuchten bringt. In dieser Epiphanie kommt ein Seinsgeschehen blitzhaft zur Darstellung. Dieses Geschehen lässt sich weder über die rationale Methode einer systematischen Begrifflichkeit auf dem Boden der cartesischen Reflexion (Husserl) noch durch die Deduktion der für die Konstitution des Erfahrungswissens von Kant aufgezählten Kategorien verifizieren. Es kann aber auch nicht mehr in einem metaphysischen Sinn ausgelegt werden. Es ist, will man es umschreibend andeuten, in der Welt unserer Erfahrung das Aufscheinen einer ‚Transzendenz‘ des Seins. Ihre Spiegelung (Reflexion) zeigt weniger die Philosophie, als vielmehr die Kunst. Ästhetischen Ausdruck gewinnt diese Transzendenz in einer Wort- und Bilderwelt, deren ‚Sprache‘ den Doppelsinn der Erscheinungen, ihre Vielnamigkeit und das Schweigen eines Unausdenkbaren und Unaussagbaren hinter ihr festhält. Man muss diese Bezüge mitdenken, wenn man verstehen will, dass für Gadamer die Kunst dem Menschen eine „verschlossene, das Denken aus der Subjektivität übersteigende Erfahrung“ gewährt, „die Heidegger das Sein nennt“ (GW 1, 105). Kunst beschwört sie durch die Macht der Erinnerung als das,
Was, von Menschen nicht gewusst
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
(Goethe, An den Mond)
Was Wahrheit und Methode in den Rang eines Klassikers der philosophischen Literatur erhoben hat, ist die Verbindung einer ungewöhnlichen Vertiefung hermeneutischer Fragestellungen mit dem eleganten Stil hoher Gelehrsamkeit. Mit überlegener, zuweilen etwas weitschweifend wirkender Ruhe weiß sein Autor darzulegen, wie alles ‚Verstehen‘ unseres Daseins zugleich mit jenen großen theoretischen Fragestellungen verbunden ist, die in der Geschichte der Philosophie sich auf den ‚Sinn‘ von Dasein im Ganzen der Welt richten. Im Verlauf einer Rationalisierung aller Lebensbereiche in der Neuzeit sind diese Fragen mehr und mehr in die einzelnen Wissenschaften ausgewandert und führen in ihnen ein Schattendasein. Die hermeneutischen Reflexionen von Wahrheit und Methode verstehen sich als eine Bewusstmachung dieses Exils. Sie beziehen den Leser in ein Gespräch mit der philosophischen Tradition dieser Fragestellungen ein, wenn er an dem durch sie eröffneten Frage- und Antwortspiel teilnimmt, das das Buch souverän ausbreitet. Diese Teilnahme ermöglicht die Erkenntnis, „dass die Klassiker des philosophischen Gedankens, wenn wir sie zu verstehen suchen, von sich aus einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewusstsein weder abweisen noch überbieten kann“ (GW 1, 2). Wie die klassischen Autoren der philosophischen Tradition diesen ‚Wahrheitsanspruch‘ thematisieren, das hat Gadamer in meisterhaften Einleitungen in dem von ihm herausgegebenen Philosophischen Lesebuch dargelegt. Werden sie in ihrem inneren Zusammenhang gelesen, stellt sich ein Bewusstsein für das ein, was Philosophie im Wandel ihrer geschichtlichen Erscheinungsformen als ein fragendes Denken endlicher Vernunft ist. Es wird aber auch an einem solchen Denken bewusst, dass wir, wie es G. Steiner in seinem Essay Warum Denken traurig macht (2006) mit einiger philosophischer Ungenauigkeit, doch im Ganzen treffend formuliert hat, „einer Antwort auf die Frage, ob der Tod endgültig ist oder nicht, ob es Gott gibt oder nicht, keinen Zoll näher gekommen sind als Parmenides oder Platon.“
Die von Gadamer vorgelegte philosophische Hermeneutik ist durch Fragen geleitet, die bereits von ihrem geschichtlichen Ursprung her über die Grenze hinausdrängen, „die durch den Methodenbegriff der modernen Wissenschaft gesetzt sind“ (GW 1, 1). So der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Denken, der Frage nach der Struktur des Verstehens, in der sich das Dasein im Strom der Zeit zu sich selbst verhält, der Frage nach der Seinsweise einer universellen Sprachlichkeit in allen Akten, die sich auf ein Verstehen von ‚Welt‘ beziehen, der Frage nach der Ontologie des Kunstwerkes, der Frage, welche philosophische Erfahrung in den Texten der Überlieferung aufbewahrt ist. Welche Bedeutung angesichts ihrer einem hermeneutischen Gespräch über Subjektivität in einem nachmetaphysischen Zeitalter (W. Schulz) zukommt, wird in einem fortlaufenden Dialog mit Plato, Aristoteles, Hegel und Heidegger herausgearbeitet.
Die Erfahrung der Philosophie, der Kunst und der Geschichte verweist auf eine Wahrheit, die mit der Methode der Wissenschaft nicht verifiziert werden kann. Wie aber, so Gadamer, lässt sich diese ‚Wahrheit‘ philosophisch legitimieren? Die Antwort, die er in der Einleitung gibt, beruft sich darauf, „dass nur die Vertiefung in das Problem des Verstehens eine solche Legitimation bringen kann“ (GW 1, 2). Die von ihm angesprochene ‚Vertiefung‘ erfordert zunächst eine Klärung, was Sprache ist und wie wir, durch sie gelenkt, uns in ein tätiges Verhältnis zu Welt und Dasein setzen. Verhalten wir uns zu ihnen verstehend, dann stellt sich das Problem, wie das Verhalten zu Umwelt und Mitwelt durch die Regeln der Sprache und ein über sie kodifiziertes ‚System‘ von Normen der Tradition bestimmt ist. Die Hermeneutik Gadamers reflektiert dieses Verhältnis jedoch weder im Sinne einer Semiotik noch thematisiert sie es auf dem theoretischen Niveau des Strukturalismus. Sie entfaltet es an einem sprachlichen Sinn von Verstehen, der auf die Grenze der Methode reflektiert. So schreibt er in einem Beitrag seines Ergänzungsbandes von Wahrheit und Methode:
„Hermeneutische Reflexion übt so eine Selbstkritik des denkenden Bewusstseins, die alle seine Abstraktionen, auch die Erkenntnisse der Wissenschaften, in das Ganze menschlicher Welterfahrung zurückübersetzt. Philosophie vollends, die immer, ausdrücklich oder nicht, Kritik der überlieferten Denkversuche sein muss, ist ein solcher hermeneutischer Vollzug, der die Strukturtotalitäten, die die semantische Analyse herausarbeitet, in das Kontinuum des Übersetzens und Begreifens einschmilzt, in dem wir bestehen und vergehen.“ (GW 2, 183)
Im 1. Teil von Wahrheit und Methode geht es um die Wahrheit in der Kunst. „Dass an einem Kunstwerk Wahrheit erfahren wird, die uns auf keinem anderen Weg erreichbar ist, macht die philosophische Bedeutung der Kunst aus“ (GW 1, 2). Die ihr gewidmeten Ausführungen dienen der Abgrenzung von einem Verständnis der Geisteswissenschaften, das sich hinsichtlich seiner Geltung in Konkurrenz zu den Naturwissenschaften auf eine methodische Grundlegung ihrer Kategorien beruft, ohne doch über den Historismus des 19. Jahrhunderts hinaus zu kommen. Gadamers eigene Hermeneutik entwickelt sich aus seinem Gespräch mit Dilthey und Heidegger. Sie ist keine Methodenlehre der Geisteswissenschaften wie bei Dilthey, „sondern der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstverständnis hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet“ (GW 1, 3). Dieser Versuch ist mit prägenden Erfahrungen verbunden, die Gadamer in seinen ‚philosophischen Lehrjahren‘ aufgenommen und in seiner Hermeneutik eigenständig weitergedacht hat: die phänomenologischen Deskription Husserls, die „Weite des geschichtlichen Horizontes“, die Dilthey dem Denken erschlossen hat, und vor allem die Denkanstöße des Lehrers Heidegger, die die Frage nach dem Sinn von Sein stellen. Alle diese Erfahrungen werden von ihm daraufhin fokussiert, dass Verstehen als ein sprachliches Geschehen nie auf einen mit sich selbst identisch bleibenden Sinngehalt dessen, was wir meinen verstanden zu haben, reduzierbar ist, sondern als ein immer erneutes Anders-Verstehen seinen Ort im Gespräch mit den uns über die Geschichte, die Philosophie und die Kunst vermittelten und eröffneten Sinnhorizonten endlicher Vernunft besitzt.
Gegenstand der Geisteswissenschaften ist für Dilthey der Strom des historischen Werdens. Im Gegensatz zum Neukantianismus, der Geschichte als Wissenschaft begründen wollte, sieht er seine Gesetzlichkeit in der inneren Erfahrung des Menschen fundiert. Die Differenz zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften fasst er in den Satz: „Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.“ (Ges. Schriften V, 144). Während die Naturwissenschaften als strenge Wissenschaft die physische Welt durch die methodische Erfassung der in ihr herrschenden Kausalität erklären, führen die Geisteswissenschaften die objektiven Zusammenhänge der historischen Wirklichkeit auf eine Typologie des geistigen Lebens zurück. Sie bildet für Dilthey die Grundlage des historischen Verstehens, die zugleich eine Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen ist. Das Leben kann nur in der Vielfalt seiner geschichtlichen Erscheinungen verstanden werden.
Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Position hermeneutischer Fragestellungen, die Anfang des 20. Jahrhunderts durch den an einer Methodenlehre der Wissenschaft orientierten Neukantianismus verdeckt wurde, setzt Gadamer im ersten Teil von Wahrheit und Methode eine erneute Reflexion auf ein in der Kunst verborgenes Wahrheitsgeschehen in Gang. Sie knüpft an Hegels Deutung der Kunst als der Vermittlung von Idee und Erscheinung an und zeigt, wie wir in der Begegnung mit dem Kunstwerk die Erfahrung mit einer ‚Wahrheit‘ machen, die unser Sehen verändert, wenn sie den Blick auf eine im Wirklichen verborgene geistige Welt richtet, deren Darstellung in der Kunst die Hermeneutik offen legt.
Die Auslegung der Welt am Leitfaden der Kunst führt bereits bei Nietzsche zu einer ästhetisch erweiterten Vernunft, die das, was wir meinen, verstanden zu haben, plötzlich ganz anders sehen lässt. Die Erfahrung, die uns durch die Kunst zuteil wird, lässt die durch die subjektive Leistung unseres Bewusstseins konstruierte Einheit unserer Welterfahrung brüchig werden und bringt an dieser Bruchlinie die andere Seite der Dinge, das Fremde und Unvertraute an ihnen zum Vorschein. In der Begegnung mit einem Kunstwerk, einem philosophischen oder literarischen Text, eröffnet sich für uns eine neue Perspektive auf die Welt, die unsere gewohnte Sicht auf die Dinge erschüttert und uns auffordert, aus einer fremden Sicht mit den Dingen in einen Dialog einzutreten. In seiner Einführung zu der Abhandlung seines Lehrers Heidegger Der Ursprung des Kunstwerkes (1936) schreibt Gadamer, dass dessen Sein nicht darin besteht, dass es zum Erlebnis wird: „Es ist selbst durch sein eigenes Dasein ein Ereignis, ein Stoß, in dem sich Welt öffnet, die so nie da war.“1 Dass im Kunstwerk die Offenheit der Welt als eine in sich ruhende Gestalt zum Scheinen kommt, ist ein Grundgedanke Heideggers. Der ‚Stoß‘, den es dem Betrachter versetzt, stellt den Menschen vor eine Wahrheit, die, gegen Hegel formuliert, in keiner Wahrheit des philosophischen Begriffs aufgehoben ist. Es ist die Begegnung mit den Werken der Kunst, die dem Verstehen unseres Daseins eine riskante Tiefendimension zu verleihen vermag. Es sind die großen Kunstwerke, die uns in unserer Daseinshaltung erschüttern und darüber belehren, dass Kunst nie nur ‚ästhetisch‘ verstanden werden kann. Die Erfahrung mit ihr erlaubt den Schluss, dass eine wissenschaftliche Beschreibung von Lebensphänomenen die ihnen zu Grunde liegenden Strukturen zwar mit Hilfe theoretischer Modelle zu erklären vermag, der Vieldeutigkeit des Lebens jedoch nie gerecht wird. Die wundersamen Epiphanien, die wir den Werken der Kunst verdanken, öffnen den Blick auf fremde Dimensionen der Wirklichkeit und ihrer Resonanz im Bereich des Seelischen, die durch keine wissenschaftliche Disziplin auf einen einheitlichen Begriff gebracht werden können. Eine Methodenlehre der Geisteswissenschaften, wie sie im Rahmen einer Kritik der historischen Vernunft Dilthey vorgelegt hat, verwickelt sich in Aporien, wenn sie in der inneren Erfahrung einer universellen Geschichtlichkeit des Bewusstseins, in der Erleben und Ausdruck als Objektivierung von Sinn und Verstehen einen unauflösbaren Zusammenhang bilden, die Bedingung der Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis der ‚Tatsachen‘ des Lebens sieht. Ihr gegenüber steht das Urteil Gadamers, dass es keine hermeneutische Methode gibt. Zwar teilt er im Begriff der ‚Geschichtlichkeit‘ Diltheys Erkenntnis, dass der Mensch ein durch die Geschichte bedingtes Wesen ist, seine Skepsis gilt jedoch der noch im Schatten Hegels stehenden Überzeugung, das historische Bewusstsein als der Sinn der geschichtlichen Entwicklung sei in einer ‚Metaphysik des Lebens‘ begründet.
Es ist die Erfahrung mit der Welt der Kunst, mit der Sprache des Kunstwerkes, die den von Gadamer vorgelegten Entwurf einer philosophischen Hermeneutik davor bewahrt, ein in der Zeitlichkeit unseres Daseins fundiertes ‚Wahrheitsgeschehen‘ aus vorgegebenen Prinzipien der klassischen Philosophie oder aus einer ‚monadischen‘ Einheit des Bewusstseins abzuleiten. Seine hermeneutische Ausdeutung dieses Geschehens ist selbst Kunst. Sie orientiert sich an Hegels Idee einer Universalität des geistigen Seins und lässt in der vielfarbigen Textur unseres Lebens jene kunstvoll aus Erzählungen, Begriffen und Reflexionen eingewebten Muster sichtbar werden, die dem Verstehen unseres Daseins zu Grunde liegen. In einem engeren Sinn besteht die Aufgabe der Interpretation für ihn als Lehrenden im Anschluss an Platons Schriftkritik darin, einen Weg von den schriftlich fixierten Zeichen in den klassischen Texten der philosophischen Tradition hin zu dem lebendigen Wort zu finden, um so den durch die moderne Lebenswelt zerrissenen Zusammenhang des Gesprächs zwischen den Zeiten wieder herzustellen. Die Betonung einer inneren Kontinuität im Wandel der geschichtlichen Überlieferung, vermittelt durch das philosophische Gespräch über den Abstand der Zeiten hinweg, zielt auf eine ethische Einsicht in das, was als ‚das Gute‘ zu allen Zeiten im Sinne einer humanen Praxis den begründeten Anspruch auf Geltung erhebt.
Die Kunst der Lehre, die Gadamer bei Heidegger studiert hat, zielt darauf, in einem inneren Gespräch mit der philosophischen Tradition ihre uns hinterlassenen Zeugnisse so zum Sprechen zu bringen, dass sie anfangen, in einer neuen Sprache zu uns zu reden. Im Hören auf sie verwandelt sie uns in unserem erstarrten Selbstverständnis. Der Augenblick, der uns die Möglichkeit dieser Verwandlung bewusst macht, ist der kairos des Verstehens, dem alle Mühe des Studiums gilt. Aus ihm resultiert die Einsicht, dass eine historische Rekonstruktion der ‚Aussagen‘ der Philosophie aus dem ‚Geist der Zeit‘ nicht genügt, da er ihren überzeitlichen Wahrheitsgehalt relativiert und ihn in die Unverbindlichkeit des bloß historischen Wissens rückt.
Der 2. Teil thematisiert den Entwurf von Grundzügen einer Theorie des Verstehens, und verbindet ihn mit einer Ausweitung der Wahrheitsfrage auf die Besonderheit der Verstehensvollzüge in den Geisteswissenschaften. Geschult an der Phänomenologie Husserls und an Heideggers Entfaltung der existentialen Struktur des Verstehens, richtet er sich gegen den Historismus des 19. Jahrhunderts. Die von Heidegger explizierten Weisen des Verstehens, in denen sich das Dasein in seinem In-der-Welt-Sein versteht, sind Bewegtheitsstrukturen im Horizont der Zeit. Über sie als ontologische Bestimmungen des menschlichen Daseins konstituiert sich die Erschließung des ‚Sinns‘ von Sein als Möglichkeit der Erschließung von Welt. Die in Sein und Zeit entwickelte Daseinsanalytik hat einen starken Einfluss auf Gadamers Theorie des Verstehens. Mehr aber als das bei Heidegger der Fall ist, wird die Sprachlichkeit in allen Akten des Verstehens von ihr herausgearbeitet. Wie I. M. Fehèr in seinem Beitrag Zum Sprachverständnis der Hermeneutik Gadamers (2000) gezeigt hat, richtet sich dessen Kritik an der gegenwärtigen Sprachphilosophie vor allem gegen eine instrumentalistische Zeichentheorie, die der „innigen Einheit von Wort und Sache“ (GW 1, 407) nicht gerecht wird.
Die Prägung unserer kulturellen Identität durch die Sprachen religiöser und philosophischer ‚Wahrheiten‘ im Sinne von Deutungen des Menschenlebens, die noch im Vergessen lebendig bleiben, ist für Gadamer eine unhintergehbare Vorbedingung seines Verständnisses von Hermeneutik. Insofern er „die hegelsche Bewusstseinsgeschichte in eine Geschehensgeschichte des Bewusstseins übersetzt“,2 kommt dem, was bei ihm ‚Geschichtlichkeit‘ heißt, besondere Bedeutung zu. Sie besagt, dass der Mensch Geschichte in den Akten des Verstehens seiner durch sie geprägten Historizität aus der Situation seiner Stellung in der Welt der Praxis ‚für sich‘ und ‚auf sich hin‘ auslegt, ohne dass diese Auslegung in der Verschränkung von ‚Nachverstehen‘ und ‚Selbstverstehen‘ (O. Pöggeler) in einem ‚historischen Objektivismus‘ aufgeht.
„Der Begriff der Geschichtlichkeit will nicht etwas über einen Geschehenszusammenhang aussagen, dass es wirklich so war, sondern über die Seinsweise des Menschen, der in der Geschichte steht und in seinem Sein selber von Grund auf nur durch den Begriff der Geschichtlichkeit verstanden werden kann.“ (GW 2, 135)
Das im 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der hegelschen Philosophie sich herausbildende ‚historische Bewusstsein‘, gegen dessen erdrückende Präsenz sich Nietzsches unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben polemisch zur Wehr gesetzt hat, ist auf ein ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ hin zu erweitern. Es reflektiert auf die Überlagerung von nie völlig transparent zu machenden Sinnhorizonten der geschichtlichen Überlieferung. Sie sind in der Welt menschlicher Erfahrung immer durch bestimmte kulturell vermittelte Vorurteile geprägt. Auf dem Hintergrund dieses Gedankengangs erfordert die bereits von Dilthey anhand einer Theorie der Erkenntnis des Lebenszusammenhangs thematisierte hermeneutische Zirkelstruktur des Verstehens besondere Beachtung. Ausdruck gewinnt sie in dem Vorverständnis eines geschichtlich vermittelten Sinnganzen und der Auslegung seiner Teile auf dieses Ganze hin. Für den Akt des Verstehens der auf ihre Bedeutung hin interpretierten Lebensphänomene kommt ihr ein produktives Element zu. Es zeigt sich daran, dass sie die Perspektivengebundenheit des Erkennens in der Weise in sich aufnimmt, dass sie der Vieldeutigkeit der Weltphänomene gerecht zu werden vermag. Im Unterschied zu der von Hegel in der Phänomenologie des Geistes entwickelten Dialektik, an deren Ende die zu sich selbst gekommene Einheit des absoluten Geistes steht, ist der hermeneutische Zirkel als ein Zeichen endlicher Vernunft unhintergehbar. Er lässt sich weder auf den idealistischen Geistbegriff Hegels noch auf ein Sein im Sinne Heideggers zurückführen.
Jedes individuelle Verstehen ist in ein überindividuelles Überlieferungsgeschehen eingebettet. In dieser Horizontverschmelzung (Gadamer) ist Ältestes und Vergessenes im Gegenwärtigen anwesend. Noch immer segelt in unseren Träumen Odysseus auf dem weinfarbenen Meer nach Ithaka, sitzt Penelope am Webstuhl, steht Ödipus auf dem Weg nach Theben vor der Sphinx. Die Arbeit des Denkens, diese Odyssee des Geistes, schärft den Blick für die Verschränkung des eigenen Verstehenshorizontes mit ganz fremden Verstehenshorizonten, wie sie zum Beispiel in den überlieferten Werken der griechischen Tragiker oder in der Spruchweisheit Heraklits Ausdruck gewinnen. An ihnen kommt das eigene Verstehen in der Begegnung mit dem ihm fremd gegenüber stehenden ‚Anderen‘ zu dem Bewusstsein seiner Gebundenheit an die eigene Epoche. Das heißt: weder kann die Moderne antik, noch die Antike modern interpretiert werden.
Zeit Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz