Gerd R Ueberschär; Rolf D Müller

1945

Das Ende des Krieges

 

 

 

Impressum

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ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-89678-266-3
© 2005 by Primus Verlag, Darmstadt
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt
Einbandmotiv: Flüchtlinge beim Angriff auf Danzig im Zweiten Weltkrieg, März 1945;
picture-alliance/akg-images
Layout: Johannes Steil, Karlsruhe
Satz & Prepresse: Peter Lohse, Büttelborn
eBook ISBN 978-3-89678- 971-6(epub)
Als epub veröffentlicht 2010.

www.primusverlag.de

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Hitlers gescheiterte Kriegspolitik und die alliierte Deutschlandpolitik

Hitlers Krieg

Die Konferenz von Jalta

II. Alltag und Einsatz von Frauen in den letzten Kriegsmonaten

Frauendienstpflicht und Frauenarbeit für den „totalen Krieg“

„Alles muß eingesetzt werden!“

III. Der totale Luftkrieg bis zum Ende

Die Eskalation zum strategischen Luftkrieg

Flächenbombardements als Terrorangriffe gegen die deutsche Zivilbevölkerung

IV. Letzte Aufgebote und Anstrengungen für den „Endsieg“

„Volk steh auf, Sturm brich los!“

„Volksdivisionen“ für den „Volkskrieg“

Die Aufstellung des „Werwolfs“ für den Kampf ohne Ende

Hitler will aus Deutschland eine Wüste machen

V. Die Eroberung und Besetzung des Reiches durch die Alliierten

Der Angriff der Roten Armee zur Oder

Der sowjetische Vorstoß zur Einschließung Berlins

Bringen „Wunderwaffen“ die Wende?

Der Vormarsch der westalliierten Armeen zur Elbe

Die Besetzung Süddeutschlands und der „Alpenfestung“

VI. Der Zusammenbruch des europäischen Faschismus

Hitlers Tod in Berlin

Ende des SS-Staates und NS-Morde bis zum Schluss

Hitlers Verbündete und Kollaborateure

VII. Die Kapitulation unter der „Regierung Dönitz“

Die Illusion der Kontinuität des Dritten Reiches

Die bedingungslose Kapitulation

VIII. Das Ende des Wahns vom „Tausendjährigen Reich“

Die Idee vom deutschen Ostimperium

Flucht und Rückzug aus dem Osten

Die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten

IX. Vom Kriegsende zur Nachkriegszeit

Deutschland und die Nachkriegsordnung auf der Potsdamer Konferenz

Die Nürnberger Prozesse: Neues Völkerrecht gegen Kriegsverbrechen

X. Das Ende des Krieges in Asien

Der Vormarsch der USA im Pazifik

Die Niederwerfung Japans

Hiroshima und Nagasaki: Beginn des Atomzeitalters

XI. Fazit: Kriegsende und Epochenwende

Dokumente zum Kriegsende von deutscher Seite

1. Hitlers Erlass über die Bildung des deutschen Volkssturms vom 18.10.1944

2. Aufruf des Reichsführers SS Heinrich Himmler als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel „an alle Offiziere der Heeresgruppe Weichsel“ vom 10.2.1945 zum fanatischen und „lodernden Haß“ gegen den Bolschewismus

3. Verordnung von Reichsjustizminister Dr. Thierack über die Errichtung von Standgerichten vom 15.2.1945

4. „Führerbefehl“ über die Bildung eines „Fliegenden Standgerichtes“ vom 9.3.1945

5. Hitlers „Nero“-Befehl zu Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet vom 19.3.1945

6. Von Reichsminister Speer erreichter Erlass zur Abschwächung der Zerstörungsmaßnahmen vom 30.3.1945

7. Hitlers letzter Tagesbefehl an die Soldaten der Ostfront vom 16.4.1945

8. Hitlers „politisches Testament“ vom 29.4.1945

9. Hitlers „privates Testament“ vom 29.4.1945

10. Die deutsche Textfassung der Kapitulationsurkunde von Berlin-Karlshorst vom 8./9.5.1945

Dokumente zum Kriegsende aus alliierter Sicht

11. Der Beschluss des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und des britischen Premierministers Winston S. Churchill auf der Casablanca-Konferenz vom 14. bis 27.1.1943 über die „Unconditional Surrender“ als Forderung gegenüber Deutschland

12. Protokoll zwischen den Regierungen der USA, Großbritanniens und der UdSSR über die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen vom 12.9.1944

13. Auszug aus dem Protokoll der Konferenz von Jalta 4. bis 11.2.1945

14. Proklamation Nr. I des Obersten Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte, General Dwight D. Eisenhower, an das Deutsche Volk (vom Frühjahr 1945)

15. Auszüge aus der Berliner Deklaration der Siegermächte vom 5.6.1945 über die Niederlage Deutschlands und die Übernahme der obersten Gewalt in Deutschland

16. Auszüge aus der Mitteilung über die Berliner Konferenz der Drei Mächte in Potsdam vom 2.8.1945

17. Aus dem Bordbuch der Besatzung des US-Bombers „Enola Gay“ über den Einsatz gegen Hiroshima am 6.8.1945

18. Proklamation Nr. 1 des Alliierten Kontrollrates vom 30.8.1945 an das deutsche Volk

19. Kapitulationsurkunde Japans vom 2.9.1945 (Faksimile)

Anhang

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Personenregister

Vorwort

Die Beendigung des Zweiten Weltkrieges im Mai 1945 in Europa und im September 1945 in Ostasien brachte das Ende eines zuvor nicht erlebten mörderischen Ringens, das 1939 von Deutschland entfacht worden war und auf der ganzen Welt während mehrerer Jahre zum vielfachen Tod und Unheil sowie zur Zerstörung und Vernichtung großer Wirtschafts- und Kulturgüter der Menschheit geführt hatte. Denn der Kampf um Vormachtstellungen, ökonomische Ressourcen, ideologische Ziele und militärisch-politische Ansprüche war mit äußerster Härte als „Totaler Krieg“ nicht nur gegen militärisches Personal an den Fronten, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung, wehrlose Gefangene und rassisch Verfolgte im Hinterland geführt worden. Das Jahr 1945 markiert deshalb – trotz vieler Kontinuitätslinien – einen tiefen Einschnitt in der an dramatischen Veränderungen reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Sechzig Jahre danach geben wichtige politische Veränderungen mehrfach Anlass, die Ereignisse des Kriegsendes von 1945 in Erinnerung zu rufen und neu zu betrachten. Vor zehn Jahren, als die erste Fassung dieses Textes als Taschenbuch erschien, vermittelten bereits das Ende des „Kalten Krieges“ im Herbst 1989 und die Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr darauf sowie die Auflösung der Sowjetunion im Dezember 1991 den Eindruck einer neuen Zeitenwende. Beide Wende- und Kulminationspunkte 1945 und 1989/90 stehen in engem Zusammenhang. Sie fixieren die Grenzen einer Epoche, die als „Nachkriegszeit“ die Verbindung zum Zweiten Weltkrieg herstellte und erkennen ließ, dass die Folgen dieses Krieges noch lange nicht überwunden waren. Denn das herausragende Kennzeichen der „Nachkriegszeit“ war die Teilung Europas und der Welt in Ost und West durch die politische Ordnung nach der Konferenz von Jalta. Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition und deren Beschlüsse auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam hatten die Bedingungen geschaffen, die der Nachkriegsepoche ihren Stempel aufdrückten. Die Neuordnung war aber ebenso die Antwort darauf gewesen, dass die Deutschen zweimal im 20. Jahrhundert die Welt in Brand gesetzt hatten, um ihren imperialen Traum mit unvergleichbarer Härte und ideologischer Verblendung zu verwirklichen. Erst im Jahre 1945 war der deutsche „Sonderweg“ zu Ende gewesen. Europa und die Welt wurden von einem Alptraum erlöst.

Ob dieser Einschnitt für die Deutschen selbst eine „Katastrophe“ oder „Befreiung“ gewesen ist, wurde noch am 40. Jahrestag 1985 heftig diskutiert. Heute führt der Abstand von sechzig Jahren zu einer abgeklärten Distanz, die eine differenziertere historisch-politische Bewertung und Einordnung der Ereignisse ermöglicht, ohne die besondere Verpflichtung der Deutschen für diesen Krieg auszuklammern. Nachkriegsgenerationen und insbesondere jene deutsche Mitbürger, die ausländische Wurzeln haben, wollen verstehen, wie es zu jener deutschen „Katastrophe“ im letzten Jahrhundert kommen konnte, die zumindest allen eine persönliche Verantwortung für die friedliche Gestaltung der Zukunft auferlegt hat.

Zu leicht ist vergessen worden, dass das Kriegsende 1945 auch eine besondere europäische Dimension hatte: Europa war zwar von der Geißel des Nationalsozialismus und Faschismus befreit worden, aber der Osten des Kontinents zahlte dafür mit vier Jahrzehnten Unterdrückung innerhalb des sowjetischen Imperiums. Erst 1990 vollzog sich die Befreiung der ostmitteleuropäischen Staaten vom totalitären Kommunismus. Damit erlangten auch die Geschichtswissenschaften dieser Länder die Chance, Lügen und Verfälschungen der ehemaligen kommunistischen Geschichtspropaganda zu korrigieren. Das Bild des Zweiten Weltkrieges wurde so in den letzten Jahren erheblich differenzierter und weniger gegensätzlich, sodass dadurch auch das Zusammenrücken innerhalb der Europäischen Gemeinschaft erleichtert wurde.

Um das Verständnis für die damalige Zeit zu fördern, bieten die einzelnen Kapitel des Buches knapp gefasste Informationen, die als „historische Ortsbestimmung“ auf fundiertem Forschungsstand beruhen. Das Kriegsende in Europa wird in mehreren Facetten beleuchtet, die es ermöglichen, die Ursachen für den Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ deutlicher zu erkennen. Die Konzentration auf die Ereignisse in und um Deutschland als Hauptfeind der Siegerallianz darf jedoch nicht den Blick verschließen, dass der Zweite Weltkrieg nicht am 8. Mai 1945 mit dem Sieg über die deutsche Wehrmacht, sondern erst am 2. September mit der Kapitulation Japans zu Ende gegangen ist. Die Abwürfe der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 symbolisieren darüber hinaus den entsetzlichen Höhepunkt entfesselter Zerstörungskräfte im „Totalen Krieg“; zugleich markieren sie den Beginn des Atomzeitalters.

Um den einzelnen Resümees eine fundierte Basis zu geben, werden im Anhang ausgewählte Dokumente als wichtige Quellenstücke zum Kriegsende 1945 abgedruckt. Die Verfasser danken den in den Belegstellen und bei den Dokumenten aufgeführten Archiven für die gewährte Hilfe. Wir danken ferner Herrn Wolfgang Hornstein und Frau Regine Gamm für die Unterstützung bei der Herausgabe des Bandes im Primus Verlag.

 

Potsdam/Freiburg, Oktober 2004

Rolf-Dieter Müller / Gerd R. Ueberschär

I. Hitlers gescheiterte Kriegspolitik und die alliierte Deutschlandpolitik

Es war von Anfang an ein gewagtes Spiel gewesen. Aber dies hatte er in Kauf genommen, der Glücksspieler und politische Rattenfänger aus Braunau am Inn, nachdem es ihm gelungen war, in knapp zwei Jahrzehnten eine beispiellose Karriere vom arbeitslosen Herumtreiber bis zum mächtigsten Mann Europas hinter sich zu bringen.1 Adolf Hitler, der Begründer des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“, hatte eigentlich schon 1938 Europa in Brand stecken wollen. Ein neuer Krieg sollte ihn und seine „germanische Herrenrasse“ zur Weltherrschaft führen.

Dieses eigentliche Ziel seiner politischen Laufbahn hatte er zwar nie verschwiegen, aber nachdem er 1933 zum Reichskanzler des Deutschen Reiches ernannt worden war, zog er es doch vor, seine außenpolitischen Ziele zunächst „gemäßigt“ zu formulieren und teilweise zu verschleiern. Das war notwendig, um sein Bündnis mit den alten Führungseliten2 zu festigen, die im Geiste des wilhelminischen Imperialismus durchaus begrenzte Revisionsziele in Europa und Übersee verfolgten. Es schien zudem taktisch klug, die anderen Großmächte gegeneinander auszuspielen und schrittweise den deutschen Einfluss in Europa auszudehnen.

Hitlers Krieg

Die kriegerische Machterweiterung blieb dabei das eigentliche Ziel, denn der Krieg machte diplomatisches Taktieren, alle lästigen Kompromisse und Rücksichten überflüssig, versprach schnellsten und größten Gewinn. Aber obwohl das NS-Regime den Gewaltkult in jeder Form gepredigt und verherrlicht hatte, war die deutsche Bevölkerung – gerade nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges – nicht so leicht und schnell wieder in eine Kriegsbegeisterung zu versetzen.

Auch wenn Hitler und seine Partei nach den scheinbar glänzenden außenpolitischen und ökonomischen Erfolgen der dreißiger Jahre an Popularität alle vorangegangenen Regierungen übertrafen – der beabsichtigte Krieg war 1938 nicht populär in Deutschland. Selbst die Militärs hielten die Zeit noch nicht für gekommen. Sie scheuten das überstürzte Kriegsabenteuer, dessen Ausgang ihnen höchst ungewiss erschien. Bremsen konnten sie den Diktator auf seinem Weg in den Krieg freilich nicht; letztlich fehlte ihnen doch der Schneid, um ihre zeitweiligen Putschpläne zu verwirklichen.

Im Sommer 1939 zeigte sich Hitler entschlossen, endlich die Waffen sprechen zu lassen, die er sich in einer wahnwitzigen und wirtschaftlich ruinösen Aufrüstung von nur wenigen Jahren beschafft hatte. Polen sollte das erste Opfer sein, dann würde man weitersehen, ob zunächst die Westmächte geschlagen werden mussten, oder ob die Wehrmacht gleich nach Osten weitermarschieren konnte. Dort in den Weiten Russlands lag der ersehnte „Lebensraum im Osten“, dessen Eroberung und Kolonisierung die Grundlage für eine deutsche Weltmachtposition liefern sollten.3

Der Nichtangriffspakt mit Stalin im August 1939 war der wohl größte politische Überraschungscoup dieses Jahrhunderts gewesen. Mit der Rückendeckung seines langjährigen Erzfeindes konnte Hitler endlich den lang ersehnten Krieg beginnen. Die militärische Niederwerfung und Auslöschung des verhassten polnischen Staates wurden – wie erwartet – zur Blitzaktion; gleichwohl zögerten die Generale, sofort danach im Westen anzugreifen. An weitere schnelle Siege wollten sie nicht glauben. Ein internationaler Kräftevergleich unter Einbeziehung der USA verhieß im Falle eines langen Abnutzungskrieges angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nichts Gutes. Die eigene Rüstung schien auf schwachen Beinen zu stehen.

So wurde die Westoffensive immer wieder verschoben, obwohl Hitler düstere Vorahnungen und das Gefühl des Zeitdrucks plagten. Wieder heraus aus dem Krieg wollte er auf keinen Fall, und da er um die „widerwillige Loyalität“ der deutschen Bevölkerung4 besorgt war, bemühte er sich, die Belastungen des Krieges so gering wie möglich zu halten. Die rücksichtslose Ausbeutung der besetzten polnischen Gebiete und eine nur zögerliche, immer wieder abgebremste Mobilisierung der eigenen Rüstungskapazitäten schufen in Deutschland eine gespenstische „friedliche“ Atmosphäre für fast zwei Jahre.

Engländer und Franzosen blieben im „drôle de guerre“ oder, wie die Deutschen sagten, im „Sitzkrieg“, fast ein halbes Jahr lang in ihren Bunkern und Stellungen fast wie gelähmt auf den tödlichen Schlag wartend. Im April/Mai 1940 war es dann soweit. In einem beispiellosen Siegeszug von Narvik bis zur Biskaya machte die Wehrmacht Tabula rasa, zerstörte sie das damals stärkste Militärpotenzial der Welt – die französische Armee sowie das britische Expeditionskorps.5 Einen ernsthaften Gegner gab es danach – so glaubte man im Generalstab – auf dem europäischen Kontinent nicht mehr. Die Rote Armee war nach ihrer „Enthauptung“ durch Stalin, der Verhaftung und Ermordung von mehr als 50 000 Offizieren zwischen 1937 und 1940, kein ernstzunehmender Faktor.

Die Briten hatte man nach den siegreichen Feldzügen im Westen sowie in Dänemark und Norwegen an die Peripherie gedrängt, und nur zu gern hätte sich Hitler mit ihnen auf eine Teilung der Welt geeinigt, die ihm die Herrschaft über den Kontinent und den Angelsachsen die Kolonien in Übersee beließ. Aber in Winston Churchill, dem Nachfolger von Arthur Neville Chamberlain als britischer Premierminister, hatte er einen Gegenspieler gefunden, der nicht bereit war, Europa den „Nazi-Bestien“ auszuliefern6 und sich – so wie Stalin ein Jahr zuvor – mit Hitler zu verständigen. Fast ein Jahr lang stand Großbritannien allein und musste schwere Rückschläge hinnehmen. Aber der Kampf um die Luftherrschaft über England im Herbst 1940 wurde zur ersten und vermutlich entscheidenden Niederlage Hitlers. Eine Landung auf der Insel kam danach vorerst nicht mehr in Betracht. Die USA begannen gerade erst mit ihrer Aufrüstung und mussten aber längerfristig immer stärker ins Kalkül einbezogen werden. Präsident Roosevelt hatte zwar Mühe, seine isolationistisch eingestellte Bevölkerung von der Notwendigkeit eines Kriegseintritts zu überzeugen, zeigte sich aber entschlossen, die ungeheuren Ressourcen der USA zur Verteidigung der demokratischen Werte einzusetzen.

So ließ Hitler keine Zeit versäumen und bereitete auf dem Höhepunkt seines Triumphes den nächsten, wie er meinte, entscheidenden Schlag vor. Während die Truppen in Paris einmarschierten, hatte der Generalstab schon von sich aus mit Planungen für einen Angriff gegen die Sowjetunion begonnen. Daraus wurde in den nächsten Monaten die Vorbereitung des größten Feldzuges der Weltgeschichte, mit mehr als drei Millionen Soldaten, 500 000 Kraftfahrzeugen und der gleichen Anzahl von Pferden.7

Die kurzfristig improvisierten Feldzüge auf dem Balkan und gegen Griechenland im April 1941 verbesserten Hitlers Ausgangslage und Stellung in Europa, sicherten die Gefolgschaft einer Reihe von Staaten, die vom großen Raubzug des Dreimächtepaktes Deutschland-Italien-Japan zu profitieren hofften. Das Eingreifen in Südosteuropa und im Mittelmeerraum erwies sich als notwendig, um die Briten auf Distanz zu halten und den schwächelnden italienischen Bundesgenossen zu unterstützen. Die sich hier bietenden militärischen Chancen stärker zu nutzen, lehnte Hitler ab. Der Überfall auf die UdSSR hatte nach seiner persönlichen Entscheidung Vorrang.

Auf Japans direkte Mitwirkung gegen die Sowjetunion glaubte Hitler verzichten zu können. Die Soldaten des japanischen Kaisers sollten die USA im Pazifik beschäftigen. In den künftigen deutschen Ostkolonien hatten nach Hitlers Ansicht – bei aller „Freundschaft“ – Asiaten nichts zu suchen. Dort wollte er allein entscheiden und walten können.

Das „Unternehmen Barbarossa“ bildete den Wendepunkt des Zweiten Weltkrieges: Der europäische Krieg entwickelte sich zum Weltkrieg, und der Krieg selbst löste alle Fesseln von Humanität und Völkerrecht. Es begann eine Orgie von Gewalt und Vernichtung, der blutigste Kampf der Weltgeschichte, der das 20. Jahrhundert in eine neue Richtung stieß. Aber der geplante „Blitzkrieg“ im Osten, mit dem Hitler den Durchbruch zur Weltmacht erzwingen wollte, war bereits nach wenigen Wochen – gemessen an den Zielsetzungen – gescheitert.

Die deutsche Wehrmacht geriet in einen erbarmungslosen Abnutzungskrieg. Mit der Niederlage vor Moskau im Dezember 1941 und dem gleichzeitigen Kriegseintritt der USA wurde offenkundig, dass der „Endsieg“ in weite Ferne rückte. Und so überfielen Hitler düstere Vorahnungen, schürten zugleich aber auch seine Entschlossenheit zum „Durchhalten“ um jeden Preis. Wenn, wie er meinte, ein „Patt“ der Kräfte erreicht worden war, so kam es aus seiner Sicht darauf an, die Nerven zu bewahren, alle noch brachliegenden Kräfte zu mobilisieren und dem Gegner so schwere Verluste beizubringen, dass am Ende die Feindkoalition erlahmen würde. Hitler war bereit, dafür notfalls auch Frauen und Kinder zu opfern sowie alle Brücken hinter sich abzubrechen. Einen politischen Weg aus dem Krieg sah Hitler, anders als manche seiner engsten Gefolgsleute, jedenfalls nicht.

Für welches Kriegsziel sollten also die Deutschen kämpfen und sterben? Die Verheißung einer neuen Siedlungspolitik im Osten verlor angesichts des erbitterten Widerstandes der Roten Armee rasch ihre Attraktivität.8 So blieb nur das antibolschewistische Feindbild, die Beschwörung der Gefahr aus dem Osten. In der „Festung Europa“ sollten die Deutschen den Ansturm der Feinde erwarten und ausharren, bis die Genialität des „Führers“, die „Vorsehung“ oder neue „Wunderwaffen“ die Wende des Krieges bringen würden. Der unbedingte Glaube an Adolf Hitler sollte also die wachsenden Zeichen einer drohenden Niederlage vertreiben.

Neue Offensiven, der Griff nach dem lebenswichtigen kaukasischen Öl – alles scheiterte trotz hoffnungsvoller Ansätze unter den Schlägen der übermächtigen Feindkoalition. Die Initiative ging verloren; politisch war sie schon im Frühjahr 1941, militärisch spätestens seit der Katastrophe von Stalingrad im Winter 1942/43 verspielt. Mit der alliierten Luftoffensive kam der Krieg seit 1943 immer stärker auch nach Deutschland. Städte und Industrieanlagen wurden mit seinen Spuren überzogen.

Über alle Krisen hinweg aber gelang es Hitler, die große Mehrheit seiner Untergebenen und Handlanger, der Minister, Funktionäre und Generale an seinen Willen zum Durchhalten zu binden. Anders als im Ersten Weltkrieg entwickelten die deutschen Führungseliten wie die Bevölkerungsmassen keine Alternative zum Kriegskurs, setzte die stille Sehnsucht nach Frieden vieler sich nicht in politische Aktion um. Nur wenige fanden sich zum Widerstand gegen Hitler bereit9; dies war ein hoffnungsloses Unterfangen angesichts des noch immer effizienten Unterdrückungsapparates und der erzwungenen Passivität der Bevölkerungsmehrheit. Die Stützen des Regimes, Partei, Staatsapparat, Wehrmacht, Wirtschaft und SS, demonstrierten unerschütterlich Treue zum „Führer“ und Bereitschaft zum „Durchhalten“. Die kleine Gruppe von Offizieren um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, die schließlich am 20. Juli 1944 den Staatsstreich wagte, war isoliert und von Anfang an verloren. Einige Männer haben es geahnt und dennoch die Tat gewagt, um wenigstens das deutsche Ansehen zu retten.

Die Deutschen schafften es nicht, und die meisten wollten es wohl auch nicht, sich aus eigener Kraft von Hitler und seinem Regime zu befreien. Es bot sich ihnen keine Alternative an, seit die Alliierten 1943 eine bedingungslose Kapitulation gefordert hatten. So ging der Krieg auch nach der erfolgreichen Invasion der Alliierten vom Juni 1944 weiter, sogar noch als die geschlagene Wehrmacht auf die Reichsgrenzen zurückgetrieben wurde. Hitlers verzweifelte Bemühungen, die verschiedenen Fronten zu stabilisieren, waren auch im fünften Kriegsjahr vergeblich. So blieb ab Sommer 1944 nur noch die Hoffnung auf eine Zuspitzung der Krise im Feindlager, um die eigene Chance zu erhöhen und neue politische Konstellationen zu schaffen.

Sogar Hitlers fanatischste Gefolgschaft, Himmler und seine schwarzen SS-Schergen, hoffte, den Krieg zu überleben, versuchte selbst Friedenskontakte nach Ost und West zu knüpfen. Hitler freilich hielt von alledem nichts. Er wusste, dass keiner seiner Feinde mit ihm einen Waffenstillstand abschließen würde. Die Casablanca-Forderung nach bedingungsloser Kapitulation des Reiches (vgl. Dokument 11, S. 175) kündigte die Auflösung des Nationalsozialismus, die Sühne der beispiellosen Verbrechen des NS-Regimes sowie die völlige Entmachtung und das Ende des Bismarckschen Nationalstaates an. Hitler wollte nicht wie Kaiser Wilhelm II. ins Exil gehen. Sich rechtzeitig selbst zu opfern, um das eigene Volk zu retten bzw. durch einen Rücktritt womöglich das Regime zu bewahren kam ihm gar nicht erst in den Sinn. Während andere, auch in seiner unmittelbaren Umgebung, nach einem Ausweg aus der drohenden Niederlage suchten, blieb ihm nur die Inszenierung eines eisernen Willen: Sieg oder Untergang.

So suchte er stets nach militärischen Erfolgen und Vergeltung, obwohl die Abwehr der Invasion im Westen scheiterte und die Ostfront unter den Sommeroffensiven der Roten Armee im Juni 1944 zerbrach. Trotz örtlich und zeitlich begrenzter Abwehrerfolge sowie eines erstaunlich hohen Rüstungsausstoßes musste die Wehrmacht auf die Reichsgrenze zurückgehen. Im Dezember 1944 setzte Hitler noch einmal alles auf eine Karte. Der Vorstoß der mühsam zusammengekratzten Kräfte zur Schlacht in den Ardennen scheiterte jedoch.10 Hitler hatte endgültig verspielt. Die Alliierten setzten ab Jahresanfang 1945 zum Sturm auf Deutschland an. In ihrer Hand lag nun das Schicksal des Reiches, das schon längst zum bloßen Objekt bei ihren Tagungen und Konferenzen geworden war.

Die Konferenz von Jalta

Auch wenn weder Deutschland noch das mit ihm verbündete Japan Anzeichen dafür zeigten, dass sie die seit 1943 geforderte bedingungslose Kapitulation akzeptieren würden, war für die Alliierten die Vollendung ihres Sieges Anfang 1945 nur eine Frage der Zeit. Die „Großen Drei“, nämlich der US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der britische Premierminister Winston S. Churchill und der sowjetische Diktator Josef Stalin, verständigten sich deshalb darauf, die noch immer bestehenden offenen Fragen der künftigen Nachkriegsordnung bei einer neuen Zusammenkunft zu klären.11

Ihr letztes Treffen in Teheran vom 28. November bis 1. Dezember 1943 lag bereits mehr als ein Jahr zurück. Nach der Wiederwahl Roosevelts und seiner Vereidigung auf eine neue Amtsperiode am 20. Januar 1945 war auch der amerikanische Partner wieder voll handlungsfähig. Auf Wunsch Stalins fand die neue Gipfelkonferenz der Anti-Hitler-Koalition in Europa in einer befreiten sowjetischen Stadt statt. So wurde Jalta, der ehemalige zaristische Kur- und Badeort auf der Krim, vom 4. bis 11. Februar 1945 zur Kulisse von Verhandlungen, die den Gang der Weltgeschichte für die nächsten vier Jahrzehnte bestimmen sollten.

Die Stadt erinnerte mit ihren noch sichtbaren Spuren des Krieges und der deutschen Besetzung die Konferenzteilnehmer sehr nachhaltig an das gemeinsame Kriegsziel: Die Vernichtung des NS-Herrschaftssystems in Europa. Ob die westlichen Abgesandten durch diese Szenerie tatsächlich so beeindruckt worden sind, dass sie den sowjetischen Forderungen mit allzu großer Nachgiebigkeit begegneten, lässt sich wohl kaum mit Sicherheit sagen. Tatsächlich war das Ergebnis der Konferenz die Teilung Europas und der Welt.12 In Jalta begann die Epoche der bipolaren Welt, dominiert von den neuen Supermächten USA und UdSSR, und die Konferenz symbolisierte das Ende einer eigenständigen welthistorischen Rolle Europas. Das Klischee der „Bürde von Jalta“ meint die damals vollzogene Auslieferung Ostmitteleuropas an das stalinistische Imperium.13

Diese Kriegsbeute wurde zur Grundlage des Aufstiegs der Sowjetunion zur Weltmacht. Damit wurde das Überleben des kommunistischen Systems für eine weitere Generation lang gesichert, obwohl es im eigenen Land seit fast drei Jahrzehnten Millionen von Menschenleben gefordert hatte. Der Sieg über Hitlers Armeen aber schien dem Stalinismus eine neue Legitimation und Zukunft zu verleihen. Erst späteren Historikern blieb die Einsicht vorbehalten, dass dieser Sieg nicht wegen sondern trotz des Stalinismus möglich geworden ist.14

Haben die westlichen Regierungschefs also in Jalta versagt, haben sie sich von Stalin übertölpeln lassen und sind sie bei der Durchsetzung ihrer eigenen Kriegsziele gescheitert? Betrachtet man das Konferenzergebnis nicht von seinen Folgen, sondern von seiner Vorgeschichte, von der sich erst allmählich herausbildenden und wiederholt veränderten alliierten Deutschlandplanung her, dann wird der Verlauf der Konferenz verständlicher und das Urteil über Churchill und Roosevelt differenzierter.

Als die USA am 7. Dezember 1941 in den Krieg eintraten, stand Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die deutsche Niederlage vor Moskau war in ihrem vollen Ausmaß noch nicht klar erkennbar. Dafür hatten die Japaner mit ihrem Überfall auf die US-Flotte in Pearl Harbor einen spektakulären Erfolg errungen. Die westlichen Demokratien schienen ebenso bedroht zu sein wie die bereits schwer angeschlagene stalinistische Diktatur. Der gemeinsame Feind war Hitler, also mussten sich alle Anstrengungen auf seine Niederwerfung richten. Im Kampf gegen den japanischen Imperialismus standen die Westmächte allein. Sie hatten einen Zweifrontenkrieg zu führen, während Moskau an seinem Neutralitätsvertrag mit Japan festhielt und seine Kräfte an der Front gegen Hitler konzentrieren konnte.

Wo also konnten die gemeinsamen Ziele jenseits des angestrebten militärischen Sieges liegen? Roosevelt und Churchill hatten am 14. August 1941 in der Atlantik-Charta lediglich vage Vorstellungen formuliert. Es sollte keine Eroberungen und Annexionen geben. Mit der Ausschaltung Deutschlands als militärischer Macht sollte eine künftige Bedrohung des Weltfriedens verhindert und eine „bessere Zukunft der Welt“ erreicht werden.15

Diese Formel erinnerte noch an Vorschläge, mit denen 1917 der US-Präsident Woodrow Wilson den Ersten Weltkrieg beenden wollte. Das Diktat von Versailles, mit dem Deutschlands erster Griff nach der Weltherrschaft beendet worden war, fiel zwar 1920 sehr hart aus, hatte aber das Wiederaufleben des deutschen Weltmachtstrebens unter Hitler nicht verhindern können. Eine Wiederholung von Versailles kam nach dieser Erfahrung also nicht in Betracht. Wollte man den „preußisch-deutschen Militarismus“ endgültig zerschlagen, dann musste man das auch mit seiner eigentlichen Basis machen, dem Bismarck-Reich, jener Schöpfung aus Blut und Eisen. So waren im Laufe des Jahres 1942 in Washington erste Pläne für die Aufteilung Deutschlands in drei, fünf oder sieben einzelne Staaten entworfen worden.16 Offizielle politische Vereinbarungen wurden aber noch nicht getroffen, als Churchill und Roosevelt vom 14. bis 24. Januar 1943 erneut, diesmal in Casablanca, zusammentrafen. Dort stand die Formel von der „bedingungslosen Kapitulation“ (= Unconditional Surrender) im Mittelpunkt.17 Stalin, der wegen der Schlacht um Stalingrad in Anspruch genommen war und nicht teilnehmen konnte, sollte mit dieser Formel in seinem Misstrauen beruhigt werden.

Der sowjetische Diktator fürchtete nämlich, dass seine westlichen Verbündeten mit der Errichtung der von ihm dringend geforderten „zweiten Front“ absichtlich zögerten und womöglich mit einem Separatfrieden zu seinen Lasten liebäugelten. Dabei pokerte er selbst mit angeblichen Friedensfühlern in Richtung Berlin, um seine Verbündeten unter Druck zu setzen. Mit ihrer Forderung nach totaler und bedingungsloser Kapitulation Deutschlands wollten die Westmächte zugleich verhindern, dass die Deutschen später wieder zu einer „Dolchstoßlegende“ Zuflucht nehmen konnten. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg sollten die Deutschen die völlige Niederlage begreifen und diese Einsicht als Chance zu einem wirklichen demokratischen Neuanfang nutzen können. Vor allem aber gewährte diese Formel den Alliierten freie Hand bei der Gestaltung einer künftigen Friedensordnung in Deutschland und Europa.

Die westalliierten Aufteilungspläne waren im Laufe des Jahres 1943 innerhalb der US-Administration zum Streitfall geworden. Außenminister Cordell Hull und Kriegsminister Henry Stimson lehnten sie ab. Auch auf der Konferenz der drei Außenminister in Moskau im Oktober 1943 unterblieb eine exakte Abstimmung der Deutschlandpolitik. Man bekräftigte lediglich die Forderung nach der bedingungslosen Kapitulation und verständigte sich darauf, das Reich völlig zu besetzen, die deutschen Streitkräfte zu demobilisieren, das NS-Regime zu beseitigen und die deutsche Wirtschaft durch internationale Gremien zu kontrollieren.

Die Idee einer neuen Weltorganisation wurde zum eigentlichen Ziel des US-Präsidenten, das er auf den nachfolgenden Konferenzen hartnäckig verfolgte. Roosevelt konzentrierte sein Interesse auf die Verwirklichung dieses Traumes von der „Einen Welt“. Den Schlüssel dazu sah er in der Gründung der „Vereinten Nationen“ als einer Weltsicherheitsorganisation, die vor allem von den USA und der UdSSR getragen werden sollte.

Bei der ersten Kriegskonferenz der „Großen Drei“ in Teheran vom 28. November bis 1. Dezember 1943 sollten eigentlich die noch offenen Detailfragen, etwa über die Errichtung von Besatzungszonen und die Festlegung von Reparationen von Deutschland, geklärt werden. Einigkeit wurde zumindest darin erzielt, eine Europäische Beratungskommission (European Advisory Commission = EAC) mit Sitz in London zu gründen18, die sich darum kümmern sollte.

Die Gespräche in Teheran widmeten sich hauptsächlich der weiteren militärischen Zusammenarbeit und dem Problem der polnischen Nachkriegsgrenzen. Man ging davon aus, dass Polen „im Westen gewinnen solle, was es im Osten verliert“.19 Churchill demonstrierte das Verfahren durch drei Streichhölzer, die auf der Landkarte „ganz einfach“ nach Westen verschoben wurden. Obwohl Roosevelt diesem Abweichen von der Atlantik-Charta nicht ausdrücklich zustimmen wollte, verständigten sich Stalin und Churchill bereits auf die Oder als neue Westgrenze Polens.

Damit erkannte der Westen zwangsläufig die Annexionen an, die Stalin 1939/40 dank seines Paktes mit Hitler hatte durchführen können. Trotz dieses, wenn auch noch nicht förmlich besiegelten Zugeständnisses zeigte sich Stalin jedoch nicht geneigt, die in London residierende und westlich orientierte polnische Exilregierung zu akzeptieren. Beim Einmarsch der Roten Armee in Polen installierte er im Herbst 1944 vielmehr in Lublin ein eigenes Satellitenregime und dokumentierte so eindeutig seinen imperialen Herrschaftsanspruch.

Zu diesem Zeitpunkt, nach der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944, beschäftigte man sich in den USA mit gänzlich abgehobenen Vorstellungen zur Zukunft Deutschlands. Finanzminister Henry Morgenthau jr. hatte Präsident Roosevelt für die totale Entmilitarisierung und Zerstörung der Industrie des Reiches gewinnen können.20 Ruhrgebiet, Rheinland und das Gebiet um den Nord-Ostsee-Kanal sollten internationaler Verwaltung unterstellt werden. Die Deutschen würden künftig nur noch von Ackerbau und Viehzucht leben.

Morgenthaus radikale Vorstellungen wurden aber schon im eigenen Regierungslager als „Pläne voll blinder Rache“ charakterisiert und nicht zuletzt auch deshalb kritisiert, weil ein derartig zerstörtes Deutschland leicht zur Beute des Bolschewismus werden konnte. Obwohl Morgenthau und Roosevelt auf der Konferenz von Quebec (11. bis 16. September 1944) sogar Churchill für diese Idee gewinnen konnten, musste bald ein Rückzieher gemacht werden. Angesichts der heftigen Reaktionen in der öffentlichen Meinung beiderseits des Atlantiks entschloss sich Roosevelt, den Morgenthau-Plan aus dem Wahlkampf um seine Wiederwahl im November 1944 herauszuhalten. Man kam nicht wieder darauf zurück.21

Umso drängender wurde es zum Jahresende 1944 jedoch, sich mit Stalin endlich über die künftige Europa- und Deutschlandpolitik zu verständigen. Schon im Juli hatte Roosevelt eine neue Konferenz der „Großen Drei“ vorgeschlagen. Der Termin musste mehrmals verschoben werden. Athen, Konstantinopel und Jerusalem waren als Tagungsorte im Gespräch gewesen. Schließlich hatte man sich Ende Dezember auf Jalta geeinigt.

Eine Grundlage für das Gipfelgespräch bildeten die Arbeitsergebnisse der EAC. Es lagen vor der Entwurf für die Urkunde zur bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, ein am 12. September 1944 unterzeichnetes Protokoll über die Aufteilung der drei Besatzungszonen mit einer Änderung vom 14. November sowie ein an diesem Tag verabschiedetes Abkommen über die Kontrolleinrichtungen im Nachkriegsdeutschland. Churchill hatte Wert darauf gelegt, zunächst eine britisch-amerikanische Vorkonferenz durchzuführen. Sie fand vom 30. Januar bis 2. Februar 1945 in Malta statt. Dieser Besprechung hatte Roosevelt aber nur sehr zögernd zugestimmt. Er fürchtete das Misstrauen Stalins, mit dem er gerade doch in Jalta ein offenes, unbelastetes Gespräch führen wollte.

Durch die Zurückhaltung der USA war also in Malta eine genaue Abklärung der angloamerikanischen Vorstellungen unterblieben. Roosevelt und Churchill flogen getrennt nach Jalta. Mit seiner Haltung kam der US-Präsident dem sowjetischen Diktator weit entgegen. Churchill stand mit seinen Bemühungen, eine europäische Balance herzustellen und das machtpolitische Ausgreifen der UdSSR einzudämmen, praktisch allein.22 Es war längst deutlich geworden, dass die militärische und ökonomische Stärke Großbritanniens und Frankreichs im Nachkriegseuropa nicht ausreichen würde, um ein Gegengewicht zur Sowjetunion zu bilden. Jalta brachte dann zutage, dass London nicht mehr als gleichberechtigter Partner im Kreis der „Großen Drei“ agieren konnte. Als „Juniorpartner“ musste sich der britische Premierminister letztlich nach den Leitlinien der USA richten. Die Delegation Roosevelts aber zeigte sich entschlossen, strittige Fragen über Deutschland bis auf die Zeit nach dem Kriegsende in Europa zu verschieben.

Durch den späten Termin des Gipfels hatte sich Stalins Position erheblich verbessert. Der neue Vorstoß der sowjetischen Streitkräfte am 12. Januar 1945 von der Weichsel zur Oder brachte die Rote Armee bis auf 60 km an Berlin heran, während die Westalliierten in den Ardennen erst die nochmals vorgedrungenen Deutschen zurückwerfen mussten. Es sah alles danach aus, dass es die Russen sein würden, die dem Hitler-Reich den Todesstoß versetzen würden. Moskau interpretierte dementsprechend den bevorstehenden Sieg als eigenes Verdienst; zudem beherrschte es inzwischen große Teile Osteuropas. Das von polnischen Kommunisten auf Geheiß Stalins gebildete Lubliner Komitee war als provisorische Regierung bereits in Warschau etabliert worden, während die Westmächte noch immer versuchten, die Exilregierung in London ins Gespräch zu bringen.

Roosevelts Erwartung, die Konferenz von Jalta in einem Klima der Freundschaft, der gegenseitigen Achtung und des allgemeinen Vertrauens zu einem raschen Abschluss zu bringen, wurde enttäuscht. Stalin stimmte zwar dem Lieblingsprojekt des US-Präsidenten, der Gründung der Vereinten Nationen, zu; aber dafür verlangte er auf nahezu allen Gebieten Zugeständnisse der westlichen Alliierten zu seinen Gunsten. Unter der Wiederherstellung der Demokratie in Europa im Sinne der Atlantik-Charta verstanden beide Seiten nun einmal etwas anderes, auch wenn man in Jalta eine „Erklärung über das befreite Europa“ verkündete.23 Darin wurde ein gemeinsames Vorgehen bei der Lösung der politischen und wirtschaftlichen Probleme des Kontinents „auf demokratischer Grundlage“ vorgesehen.

Diese Prinzipien blieben aber von Anfang an nur papierne Absichtserklärungen. In der Realität setzte Moskau in den „befreiten“ Staaten Ost- und Südosteuropas schrittweise eigene Marionettenregime ohne demokratische Legitimation ein, gestützt allein auf die Bajonette der Sowjetarmee. Für die britische Regierung war besonders der Fall Polen schmerzlich, denn man war schließlich 1939 zur Verteidigung der Unabhängigkeit dieses Landes in den Krieg gezogen. Hinzu kam, dass nun den Kommunisten jene territorialen Kompensationen in Deutschland zugestanden werden mussten, die sich aus der Verschiebung der polnischen Ostgrenze ergaben. Das Ausmaß dieser „Entschädigung im Westen“ blieb jedoch umstritten. Die ursprüngliche Vereinbarung hatte die Oder als Grenze vorgesehen, doch nun verlangte Stalin die Anerkennung der erweiterten Oder-Neiße-Linie.

Um Churchills Einwände gegen diese Linie zu entkräften, stellten Stalin und der sowjetische Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow mehrmals im Verlauf der Konferenz die falsche Behauptung auf, dass die gesamte deutsche Bevölkerung aus den betroffenen östlichen Reichsgebieten bereits geflüchtet sei. Aber es ging bei diesem Schacher wohl nicht so sehr um moralische Skrupel oder humanitäre Bedenken. Churchill selbst formulierte zynisch seinen Zweifel, ob es klug sei, „wenn man die polnische Gans dermaßen mit deutschem Futter mäste, daß sie an Verdauungsbeschwerden eingehe“.24 Man verständigte sich schließlich darüber, zunächst die Meinung der polnischen Regierung einzuholen und die endgültige Westgrenze Polens erst auf der späteren Friedenskonferenz festzulegen. Daraus wurde dann im August 1945 bei der Potsdamer Konferenz die Anerkennung der von Moskau geschaffenen Realitäten und somit die Überlassung der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie an die polnische Verwaltung.

Trotz seiner machtpolitisch-territorialen Erfolge hatte Stalin in Jalta allerdings auch selbst eine herbe Enttäuschung einstecken müssen. Er war bemüht gewesen, die Frage der Reparationen Deutschlands ins Gespräch zu bringen. Seine Forderung bezifferte er schon einmal auf zehn Milliarden Dollar, d. h. 50 Prozent der angenommenen Gesamtsumme von 20 Milliarden. Die Westmächte stimmten dieser Forderung aber nicht zu und überwiesen die Klärung der Frage an eine alliierte Reparationskommission, die – soweit das Zugeständnis an den drängenden Bundesgenossen – in Moskau eingerichtet werden sollte.

Auch bei den von westlicher Seite favorisierten Teilungsplänen (Dismemberment of Germany) kam man zu keiner Einigung. Ein weiteres spezielles Komitee sollte zunächst einmal detaillierte Entwürfe anfertigen. Der Grundsatz der Zerstückelung des Reiches wurde zwar im EAC-Entwurf für die Kapitulationsurkunde aufgenommen, doch eine praktische Folge ergab sich daraus nicht. Die Siegermächte zogen es nämlich später vor, an der Fiktion einer Einheit Deutschlands festzuhalten und die Aufteilung in Besatzungszonen nur als vorübergehende Lösung zu bezeichnen.

Neben der Frage der Vereinten Nationen hatte dem todkranken US-Präsidenten noch ein anderes Problem am Herzen gelegen. Auch hier fiel es Stalin leicht, dem Wunsche Roosevelts entgegenzukommen. Es ging um den Krieg gegen Japan. In einem Geheimprotokoll sicherte Moskau zu, zwei bis drei Monate nach Abschluss des Krieges in Europa an der Seite der Westmächte in den Krieg gegen Japan einzutreten und damit den bilateralen Nichtangriffsvertrag mit dem fernöstlichen Kaiserreich zu brechen. Dieses Ergebnis ist später heftig kritisiert worden, denn militärisch erwies sich das sowjetische Eingreifen im August 1945 als überflüssig, da Japan – erst recht nach dem Einsatz der US-Atombombe – ohnehin am Ende war. Dagegen erhielt Stalin die Chance, auch im Fernen Osten den sowjetischen Einfluss erheblich zu erweitern. Roosevelt allerdings baute im Februar 1945 auf die Prognose seiner Militärs, dass der Krieg gegen Japan nach der Niederlage Deutschlands noch mehr als zwölf bis 18 Monate andauern könnte und hohe Verluste befürchtet werden mussten. Insofern buchte er Stalins Zusage als großen Erfolg für sich.

Als zum Abschluss der Jalta-Konferenz eine Presseerklärung und ein Schlusskommuniqué veröffentlicht wurden (vgl. Dokument 13, S. 176 ff.), waren die unterschiedlichen Standpunkte in vielen Fragen deutlich zu erkennen. Auch die Ankündigung, dass Frankreich künftig als vierte Besatzungsmacht in den Kreis der Siegermächte aufgenommen werden sollte, war kein Zeichen der Einigkeit, denn Stalin hatte dieser Regelung nur zugestimmt, weil sie zu Lasten Großbritanniens und der USA ging. Roosevelts Bemühungen, die Sowjetunion in eine von westlichen Vorstellungen geprägte Weltfriedensordnung einzubinden, blieben illusionär. Zweifellos hatte der Präsident eine Teilung Europas nicht beabsichtigt, aber er war zu schwach gewesen, den machtpolitischen Gelüsten des überlegen agierenden sowjetischen Diktators entgegenzutreten.25

Die Anti-Hitler-Koalition stand offenbar vor ihrer Auflösung, denn außer dem gemeinsamen Feindbild verband die Alliierten praktisch nichts. Das Vertrauen, das Roosevelt als Vorschuss für ein künftiges Zusammengehen in Jalta eingebracht hatte, wurde von der anderen Seite nicht erwidert. Unter diesen Umständen aber musste der Traum einer Weltfriedensordnung auf den Trümmern des besiegten „Dritten Reiches“ unerfüllt bleiben.

II. Alltag und Einsatz von Frauen in den letzten Kriegsmonaten

Eigentlich sollte die deutsche Frau nach der Ideologie der Nationalsozialisten einen umsorgten Platz als Hausfrau und Mutter in Heim und Familie haben. Doch als Hitlers Reich im Krieg stand, ging man von dieser Vorstellung Schritt für Schritt ab. Schließlich stellte der Diktator am 2. März 1945 – als sich die militärische Niederlage bereits abzeichnete – unverhohlen fest, auch Frauen müssten für den Waffendienst genommen werden, um dadurch eine neue Front aufbauen zu können. Nun war ihm dieser früher abgelehnte Gedanke „völlig gleichgültig“; er erklärte: „Es melden sich jetzt so viele Weiber, die schießen wollen, daß ich auf dem Standpunkt stehe: auch die muß man sofort nehmen.“1 Diese Einstellung hätte man sich zuvor niemals träumen lassen: Bewaffnete Frauen und Mädchen sollten als letztes Aufgebot das „Tausendjährige“ Reich, das bereits nach zwölf Jahren am Abgrund stand, verteidigen.

Kampf und Waffendienst galten nun einmal als Männersache in Deutschland, auch schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Die NS-Bewegung hatte sich von Anfang an als Männerbund verstanden. Konservativ und rückwärts gewandt, beharrte sie auf einem Rollenverständnis, das von der Vorherrschaft des Mannes ausging und den weiblichen Lebensbereich auf Familie, Kinder und Haushalt eingrenzte. Schon bei der ersten Mitgliederversammlung der Partei im Jahre 1921 wurde beschlossen, dass Frauen in der NSDAP keine Führungspositionen einnehmen durften.2 Ferner wurde in Artikel 21 des 25 Punkte umfassenden Parteiprogramms der Mutterschutz als Hauptziel künftiger NS-Sozial- und Familienpolitik betont.3

Viele Frauen hatten diese politische Entmündigung und die entwürdigende Reduzierung ihrer Persönlichkeit auf die biologische Funktion keineswegs als bedrückend empfunden. Sie schwärmten für den „Führer“ Adolf Hitler, der als Idol der Massen ängstlich jeden Einblick in sein Privatleben vermied. Dankbar empfanden die Frauen die umfassenden sozialpolitischen Maßnahmen des Regimes zur Förderung von Ehe, Mutterschaft und Hausfrauentätigkeit.4 Sie übersahen dabei zumeist die Kehrseite der Medaille: Eheverbote nach dem „Blutschutzgesetz“, Sterilisierung angeblich minderwertiger Frauen, sittliche Entgleisungen der SS bei der Züchtung „rassisch wertvollen“ Nachwuchses, die bis zum Kindesraub in den eroberten Ländern führten, und die verbrecherische Vernichtungspolitik gegen Millionen rassisch unerwünschter Menschen im deutschen Machtbereich während des Zweiten Weltkrieges – in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Viele wussten davon oder ahnten doch zumindest das Ausmaß dieser Verbrechen, von denen die Männer auf „Heimaturlaub“ während des Krieges unter dem Druck schwerer seelischer Belastung oder nur in Andeutungen berichteten, sofern sie Augenzeugen dieser verbrecherischen Aktionen geworden waren.

Die „Ritterlichkeit“, mit der die Nationalsozialisten gern ihr Verhältnis zur deutschen, „arischen“ Frau umschrieben, demaskierte sich gegenüber den Frauen in den eroberten Gebieten, den Fremdarbeiterinnen im Reich, weiblichen KZ-Insassen und jüdischen Frauen rasch in voller Brutalität. Neben Sklavenarbeit und „Vernichtung durch Arbeit“ umfasste das entsetzliche Spektrum eine Vielzahl anderer verbrecherischer Maßnahmen: Heranziehung als lebendes Objekt für medizinische Versuche, Folter, Erhängen, Erschießen und Vergasen. Hier kehrten der Rassismus und die biologistische Denkweise der Nationalsozialisten seine menschenverachtenden, barbarischen Grundlagen bis zur letzten Konsequenz hervor.

Die Frauen der deutschen „Volksgemeinschaft“ wurden dagegen auch während des Krieges mit ungewöhnlicher „Schonung“ behandelt. Während z. B. in Großbritannien und der Sowjetunion Frauen in den Produktionsprozess eingespannt wurden – ähnlich wie in Deutschland während des Ersten Weltkrieges –, verzichtete die NS-Führung darauf, das Potenzial von etwa fünf Millionen zusätzlicher weiblicher Arbeitskräften nutzbar zu machen. Neben der Rücksicht auf die Stimmung an der „Heimatfront“ war es vor allem die Sorge um die Gebärfreudigkeit der deutschen Frauen, die für die Besiedlung des „Großgermanischen Reiches“ nach dem „Endsieg“ benötigt wurde.

Appelle zum freiwilligen Arbeitseinsatz blieben ohne große Resonanz, wie der folgende Auszug aus dem Nachrichtendienst der Reichsfrauenführung zeigt:

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