Tell

und meinen Vater

in Dankbarkeit

sás köggla berr

frænda hrørs

af f‌letjum niðr.

 

 

Kein heiter Mensch,

der Gebeine trägt

eines verfallen Verwandten

zu Grabe nieder.

 

Aus »Sonatorrek; Söhne-Verlust«, ein Gedicht der rund 800-jährigen Egilssaga, die dem Isländer Snorri Sturluson (11791241) zugeschrieben wird. Sowohl seine Autorschaft, als auch die Möglichkeit, dass der Wikinger Egill Skallagrímsson, Held der Saga, das Gedicht um 960 n. Chr. selbst verfasst haben könnte, sind jedoch umstritten.

»Der Mensch ist nichts weiter

als eine Heuschrecke.«

Mitten auf der Wiese hockt ein Bär. Er hat mich längst bemerkt, sitzt womöglich schon seit einer Weile da, hat mir in aller Seelenruhe zugeschaut, wie ich den Nachttopf neben der Hütte ausgeschüttet habe. Jetzt reckt er die Nase in die Luft und schnuppert. Ich bleibe reglos stehen, während sich der Bodenfrost unter meine Kleider schleicht.

Es ist still im Tal. Selbst das Rauschen des Baches ist verhalten. Vielleicht hat sich in der Nacht eine Eisschicht auf dem Wasser gebildet. Der Bär kratzt sich hinterm Ohr, sieht eigentlich nicht so aus, als wäre er gefährlich. Und doch sitzt mir die Angst genau wie die Kälte in den Gliedern. Ich bleibe einfach stehen.

Jetzt schaut er zum Stall, schnuppert wieder, scheint etwas zu riechen, das ihn interessiert. Die Hühner, die Kühe!, schießt es mir durch den Kopf, und dann bemerke ich Wilhelm, der wie versteinert an die Stallmauer gelehnt steht. Er hat seine Armbrust auf den Bären gerichtet.

Ich will nein rufen, denn ich fürchte, dass uns der Bär angreifen könnte, wenn ihn Wilhelm nicht tödlich trifft. So ein Tier erlegt man schließlich nicht mit einem einzigen Bolzen. Vielleicht ist der Bär gar kein Bär, sondern ein verzauberter Mensch. Wie in den Geschichten. Doch das Fleisch und das Fell könnten wir gut gebrauchen, das schon. Und

Plötzlich fliegt die Haustür neben mir auf. Meine Mutter kommt im Nachthemd ins Freie gestürmt und marschiert beherzt auf den Bären zu. Sie steckt noch immer in ihr, die unerschrockene Aloisa, die ums Verrecken nicht will, dass man sie Großmutter nennt. In jeder Hand hält sie einen Kochtopf, und diese Töpfe schlägt sie nun so fest aneinander, dass sogar ich zusammenzucke. Dazu gibt sie bellende Rufe von sich.

»Hep, hep, hep!«

Das zeigt Wirkung. Der Bär springt erschrocken auf die Füße und rennt davon. Zugleich zieht Wilhelm am Abzug, und mein Herz verliert den Rhythmus. Die Armbrust schnalzt, doch der Bolzen ist nur ein schneller Schatten, zu schnell für mein Auge. Entweder ist er geräuschlos in das dicke Fell gefahren oder hat das Tier gänzlich verfehlt. Egal. Der Bär sucht das Weite, rennt über die Wiese, patscht durch den Bach und verschwindet im Wald. Von da hört man noch das Knacken von Ästen, die Wipfel der kleinen Tannen schwanken hin und her, dann ist es wieder still.

Ich schaue gebannt auf den Waldrand und lausche. Mein Herz rast. Mutter hält die Töpfe noch immer erhoben, als warte sie nur darauf, sich dem Bären erneut zu stellen. Wilhelm bebt, wirft uns einen wütenden Blick zu, aber er sagt kein Wort. Er wendet sich ab und verschwindet im Stall. Mutter schüttelt den Kopf.

»Dieser Draufgänger«, knurrt sie.

Aus dem Stall hören wir ihn brüllen:

»Walter, komm!«

Im Gatterwald geht mir die Luft aus. Ich hasse diesen steilen Hang. An meinen Beinen liegt’s nicht, die würden mich sogar bis auf den Engelberg tragen. Aber am Schnauf. Jeder Atemzug sticht in der Brust, schnürt mir den Hals zu. Vater geht noch schneller als zuvor, nimmt mein Japsen gar nicht wahr. Er strebt durch den Wald, klettert der Fluh entlang, hüpft von Stein zu Stein, eilt mit langen Schritten über die Alpwiese, auf der er die Ziegen mit einer mürrischen Handbewegung auseinanderscheucht. Dann wieder bleibt er plötzlich stehen, schaut sich um, lauscht, hält den Atem an. Und geht weiter.

Die Fährte des Bären haben wir schon im Stäfeli verloren, eigentlich hätten wir gleich wieder umkehren können. Oder weiß Vater, wohin der Bär geflohen ist? Weiß er, wie ein Bär denkt? Ich stolpere ihm keuchend hinterher, schaue zu Boden, Schritt für Schritt für Schritt.

Die Gossalp umgehen wir in weitem Bogen. Tobler bemerkt uns trotzdem. Er tritt vor die Hütte, stemmt die Hände in die Seite und schaut uns scharf hinterher. Grosi Marie sagt, dass Tobler gute Augen habe. Er könne seine Viecher von der Hütte aus zählen. Wieso also fragen wir nicht ihn, ob er den Bären gesehen hat?

Aber Vater schaut stur nach vorn, will weder Tobler

Wenn ich einmal groß bin, bleibe ich unten im Tal. Und zwar immer.

Querulant. Hetzt er wieder über meine Wiesen, dieser. Die Ziegen macht mir der Tell noch ganz verrückt. Aufwärts will er, immer aufwärts, wie ein glühender Funke überm Feuer. Und er weiß ganz genau, dass ich ihn längst bemerkt habe. Aber glaubst du, er würde sich zu mir umdrehen? Meine wenige Existenz bezeugen? Vergiss es. Für diesen Hartschädel gibt es nur ihn selbst und niemanden sonst. Sogar als ich ihn aus dem Schnee hinterm Miststock gegraben und am Feuer wieder lebendig gemacht habe, hat er sich nicht bedankt. Kein Wort. Noch heute nicht. Als wär’s eine Selbstverständlichkeit gewesen. Ganz friedlich hat er im Schnee gelegen, fast so, als wolle er ein Nickerchen machen. Das Aufwachen ist ihm schwergefallen, Teufel, der ist schon fast rüber gewesen. Gekrümmt und kraftlos hat er an meinem Feuer gesessen und sich nur unwillig zurück zu den Lebenden gesellt. Vielleicht will man gar nicht zurück, wenn man schon so nah am Totsein ist. Dann ist er einfach gegangen, hat mich nicht einmal angeschaut, obwohl seine Hände noch immer so steif von der Kälte gewesen sind, dass er die Tür nicht aufgebracht hat. Helfen habe ich ihm müssen! Und ihm dann hinterhergeschaut, stumm wie ein geschnitzter Stöpsel.

Ziemlich genau elf Jahre ist’s her. Ein grässlicher Herbst.

Wenigstens hat er heute nicht die Axt dabei, dieser Troll. Wenn er sich noch einmal an meinem Bannwald vergreift, dann … Ach, was wollte ich denn. Tell hört auf nichts und niemanden, schon gar nicht auf mich. Aber wieso diese Hast? Das nähme mich wunder. Ist der Mann auf der Flucht? Glaubt er etwa, der erste Wintersturm lauert schon hinter den Felsen, um übers Tal hinwegzufegen? Wie damals vor elf Jahren.

Seine Armbrust trägt er auf dem Rücken, ich seh’s genau. Ach was, Tell ist nicht auf der Flucht. Er ist auf der Jagd, nichts weiter. Vielleicht wartet da oben ein Wolfsrudel auf ihn, oder ein Bär. Er wird in den Felsen sein Ende finden wie sein Bruder damals. Wenn nur nicht sein Sohn dabei wäre. An Walter ist nichts auszusetzen, ein tüchtiger Bub, aufrichtig, wenn auch ernst. Er hat das Zeug dazu, eines Tages den Tellhof zu übernehmen. Aber auf ein freundliches Lächeln wartet man auch bei ihm vergebens. Sein Vater, dieses Rindvieh, hat ihm wahrscheinlich die Lebensfreude aus dem Leib geprügelt und ihm dafür alle Sorgen aufgeschultert. Ein Sturschädel ist’s! Sakrament.

Im Bösenboden kommen wir nur mühsam voran. Wenn der Bär hier oben wäre, hätten wir ihn längst bemerken müssen. Auf einem bemoosten Stein rutsche ich aus und schlage mir das Schienbein wund, lasse mich stumm auf den Hintern fallen und beiße die Zähne zusammen. Blut quillt aus der Wunde und rinnt auf meinen Fußrücken. Vater bleibt stehen und wirft mir einen Blick zu.

»Tölpel«, murrt er und geht weiter.

Mein Blick verschwimmt. Ich rapple mich auf und hinke meinem Vater hinterher. Die dummen Tränen. In der Herbstsonne wird das Blut schnell dick und schwarz. Es schmerzt nicht mehr so, und bald hole ich Vater wieder ein.

Er dreht sich um und schaut über mich hinweg auf den Talkessel hinab, kneift die Augen zusammen, atmet ruhig, als sei er nicht eben erst einen halben Berg hochgestiegen. Ich lasse mich erschöpft auf die Steine fallen. Meine Hände zittern, meine Lippen sind trocken. Die Wundstelle am Schienbein pocht, schmerzt aber nicht. Ich weiß, wieso Vater stehen geblieben ist. Wenn wir von hier aus noch ein paar Schritte weitergehen, können wir unseren Hof nicht mehr sehen. Aber noch ist er zu erkennen, auch wenn es nur ein brauner Punkt auf dem Talboden ist, da, wo mein Ururgroßvater vor hundert oder tausend Jahren eine

Aloisa ruht sich nach der ganzen Aufregung bestimmt aus, und Grosi Marie ist vielleicht bei den Hühnern oder sitzt auf der Bank vor dem Haus und sonnt sich in den letzten Strahlen des Herbstes. Manchmal nimmt sie ihr Kopftuch ab und streicht sich mit steifer Hand über den Schopf. Ich glaube, man könnte ihre Haare zählen.

Meine kleine Schwester Lotta liegt in der Krippe und schläft oder wird gerade von meiner Mutter gestillt. Wie gerne wäre ich bei ihr. Es gibt nichts Lustigeres, als wenn mein Schwesterchen an meinem Finger saugt und Schmatzgeräusche macht, dann zu strampeln beginnt und meine Hand wütend wegstößt, weil sie aus meinem Finger keinen Tropfen Milch bekommt. Manchmal lege ich meine Lippen an ihren winzigen Hals und pruste laut, dass sie quietscht und zappelt. Nichts auf dieser Welt ist weicher, als –

»Weiter«, sagt Vater, dreht sich ab und sticht die Bergflanke hoch.

»Hier oben ist der Bär nicht!«, entfährt es mir, doch Vater tut so, als hätte er mich nicht gehört.

Endlich erreichen wir die Breitplanggen. Der Pfad führt

Der Berg ist erstaunlich warm. Die Herbstsonne ist kräftig hier oben. Unten im Tal ist es kälter, schattiger. Plötzlich starrt Vater vor sich auf den Boden, stampft mit dem Fuß, einmal nur, und nun bemerke auch ich das zusammengeringelte Tier, das ganz nah vor Vater auf einem Felsvorsprung liegt. Es schlängelt geschwind die Felswand hoch zu einer fingerbreiten Spalte, verschwindet so plötzlich, dass ich nicht sicher bin, wirklich eine Kreuzotter gesehen zu haben. Die sind giftig. Schade hat sie ihn nicht gebissen, die Schlange. Dann wären wir nämlich wieder umgekehrt. Aber selbst die Tiere weichen ihm aus, machen einen Bogen um ihn, als fürchten sie sich vor meinem Vater.

Er sagt kein Wort, schaut sich auch nicht nach mir um, geht einfach weiter, als wäre nichts geschehen. Als ich an dem Spalt vorbeikomme, in dem die Kreuzotter verschwunden ist, rast mein Herz, meine Handflächen werden feucht, und doch kann ich den Blick nicht abwenden. Ich habe Angst, dass die Schlange mir plötzlich ins Gesicht schnellt, doch ich bleibe stehen und starre ins Dunkel. Im Spalt ist aber nichts als die Schwärze des Berginnern.

Heimat, fremde Heimat. Dieser rötlich schimmernde Berg erinnert mich an den Hochkönig. Wie viele Sommer habe ich als Bub an seinem Fuße verbracht? Wenn ich gewusst hätte, dass es die schönsten Sommer meines Lebens sein würden … Jetzt bleibt mir nur dieser rote Fels, der kein Hochkönig ist, aber immerhin, ein Fels. Die Firnen, ihre weißen Hörner, und die Gletscher dieser Berggiganten sind doch immer dieselben. Nachts rumpelt es tief in ihrem Innern, gelegentlich schicken sie Schlaglawinen in die Täler. Es sind die nackten Elemente, Wasser und Stein, von Gott dem Allmächtigen erschaffen. Der Mensch ist nichts weiter als eine Heuschrecke. Und doch fühle ich mich seltsam geborgen, als gehöre ich hierhin, obwohl die Luft anders ist, härter, schneidender. In diesen Höhen sind alle Menschen auf ihr Fundamentales reduziert. Hier oben sind wir alle, selbst Könige, nur Gotteskinder. Heuschrecken.

Die tiefstehende Herbstsonne treibt mir die Tränen in die Augen. Ich wische mir flüchtig übers Gesicht. Harras bemerkt es nicht. Kann es nicht sehen. Er ist gut dreißig Schritt hinter mir, knurrend, rutschend, fluchend. Er trägt schwer an seiner Waffe, die ihm mit jedem Schritt an den Oberschenkel patscht. Dieses Schwert, das er »Durst« nennt und nie von sich legt, es bringt ihm hier oben nichts.

Ich bekreuzige mich.

Ist man in den Bergen Gott näher?

Lieber wäre ich allein unterwegs, ohne Harras und seinen »Durst«, weitab der feindseligen Bauernschar. Wenn ihre Blicke töten könnten. Dabei sind sie im Kriegshandwerk so ungeschickt, sie können nicht einmal mit einem Schwert richtig umgehen, würden sich selbst die Gliedmaßen abschlagen. Aber hier oben treiben sich keine Bauern herum. Sie fürchten sich vor diesen Giganten, den Riesen und Eishexen, die in den Felsen hocken. Ängstliche, misstrauische Kreaturen sind sie, die sich zwischen ihren Kühen und Ziegen verkriechen. Hier oben habe ich meine Ruhe.

Harras steht mir in diesem Alpenland am nächsten – und ist zugleich mein größter Feind. Aber ich fürchte mich nur unten im Tal vor ihm, in der Höhe bin ich ihm überlegen. Harras hat eine fast platte Nase und wulstige, knollige Ohren. In jungen Jahren muss er sich oft geprügelt haben. Vielleicht war er ein Preiskämpfer, vielleicht wurde er als

Ich muss auf der Hut sein, denn der Weg führt steil nach unten in die Felswand. Immer ist der Abstieg gefährlicher als der Aufstieg, das habe ich schon als Bub an den Flanken des Hochkönigs gelernt. Jetzt gilt höchste Konzentration, denn ein einziger Fehltritt kann ins Verderben führen. Wenn Harras hinter mir scheppernd und brüllend die Felswand hinunterfällt, werde ich mich nicht einmal umdrehen, das nehme ich mir vor.

Mein rechter Fuß rutscht ab, ich klammere mich an der Felswand fest und schaue zurück. Harras ist zum Glück damit beschäftigt, nicht über sein Schwert zu stolpern. Seine O-Beine eignen sich nicht für Bergwanderungen, aber er ist ein guter Reiter. Unsere Pferde warten in St. Jakob. Der Hocherhabene von Emmen, der sich für eine Herbstwanderung zu vornehm dünkt, passt auf sie auf. Zwar ist er in einem dieser Täler geboren und aufgewachsen, aber er gibt sich als Adeliger und versucht, seinen Dialekt zu überspielen und so zu reden wie ich. Dabei hat er noch immer Angst vor diesen Bergen, ganz wie das ansässige Bauernpack. Der Aberglaube klebt ihm wie Dreck an den Kleidern.

Vermaledeite Kraxelei! Zum Kuckuck mit diesen verzapften Wanderungen! Jetzt ist es offiziell: Hermann Gessler ist ein Schwindkopf, er hat einen Schaden und zwar einen gewaltigen.

Verdammte Felswand. Nicht runtergucken. Reiß dich zusammen. Nie wieder, sag ich! Nie wieder mach ich diesen Unfug mit. Von jetzt an kann er allein hier oben herumsteigen. Meinetwegen soll ihn ein Bär oder ein Rudel Wölfe zerfleischen. Wie gerne würde ich ihn kreischen hören! Denn das würde er, kreischen wie ein Mädchen. Ich würde zusehen, wie er zerfleischt würde, und ich würde lachen.

Mit seinem Vorgänger hat man wenigstens seinen Spaß gehabt. Da hat’s immer genug zu futtern und prächtig was zu vögeln gegeben. Mann, wie wir gelacht haben! Saxer hat saufen und Geschichten erzählen können wie kein zweiter. Er ist ein ganzer Mann gewesen, nicht so ein Hochgeschissener. Teufel, wie haben wir geplündert! Die Leute haben gewusst, was Sache ist. Ein Aufmüpfen hat genügt, ein krummer Blick von so einem dreckigen Bauern, und schon hat sich Saxer vom Pferd geschwungen, scheinbar gelassen, aber mit teuflischem Grinsen auf der Fratze, und dann hat er seiner »gesetzgeberischen Gewalt« Genüge getan, wie er immer zu sagen pflegte, seiner »guten Christenpflicht«.

Es fuchst mich noch heute, dass ich nicht dabei gewesen bin, als er sich den Kopf hat spalten lassen, dieser Deppert. Vielleicht hätte ich es verhindern und den wildgewordenen Bauern überwältigen können. Saxer nimmt sich dessen Tochter, der Vater reißt sich los, und Friesshardt träumt, ist zu blöd, um zu merken, dass man diese verfilzten Bauern nie aus den Augen lassen darf, selbst wenn sie – oder gerade weil sie – stumm zu Boden starren. Bis Friesshardt endlich die Gefahr erkennt, liegt der Landvogt schon mit eingeschlagenem Schädel auf dem Mädchen und macht seine letzten Zuckungen.

Saxer hat mein wahres Potential erkannt. Ich hätte das Zeug zum Anführer, Hurensohn hin oder her. Er werde dafür sorgen, dass ich in die Ränge aufgenommen werde, sobald wir uns die Wilden untertan gemacht hätten. Teufel, das hätte mir gefallen.

Doch dann schickt der König so ein Bübchen, um Saxer zu ersetzen. Es ist und bleibt mir ein Rätsel, wie Gessler zu dieser Position gekommen ist. Wegen seinem Vater? Den würd ich ja gern mal kennenlernen, mit dem könnte man sich wenigstens unterhalten. Er soll König Rudolf höchstpersönlich vom Schlachtfeld gezerrt haben, als dieser zu Dürnkrut vom Ross fällt, wie ein Käfer auf dem Rücken liegt und sich in seiner schweren Rüstung kaum noch rühren kann. Nicht zu glauben, dass Hermann Gessler der Sohn eines Helden sein soll, dieser Hasenfuß, dieser

Wieso eigentlich? Wieso kümmert’s mich überhaupt? Wieso lass ich ihn nicht allein in den Bergen herumkraxeln? Oder soll ich ihn schubsen? Da vorne, da, über die Felskante. Jetzt gleich, heute. Dann wär’s erledigt. Landvögte sind ganz einfach zu ersetzen. Gessler ist schließlich schon mein dritter. Mein Bauch sagt mir, dass er nicht mein letzter sein wird. Und doch: Ein Sturz vom Berg wäre zu gnädig für diesen Jammerlappen. Er soll den Tod kommen sehen. Am besten in der Gestalt eines stinkenden Bauern. Diesmal will ich dabei sein, wenn sich der Landvogt den Schädel spalten lässt.

Da ist jemand. Weiter unten in der Felswand. Jemand kommt uns entgegen. Ein Mönch vielleicht, ein Gaukler auf der Flucht vor dem Winter. Will wohl über die Berge in den Süden klettern. Könnte ein Schmuggler oder ein Jäger sein. Er hat einen buschigen, schwarzglänzenden Bart, trägt keine Kopfbedeckung, es wird ein Einheimischer sein. Flink und behende klettert er, scheint jünger zu sein als er aussieht. Sowieso sind die Alpenbewohner schwer einzuschätzen. Selbst die Kinder sehen wie kleine Erwachsene aus. Er muss mich ebenfalls wahrgenommen haben, ich verstecke mich schließlich nicht, doch er steigt unverdrossen weiter. Hinter ihm klettert ein Junge, leichtfüßig und genauso flink. Sein Junge, das sieht man. Der Mann trägt eine Armbrust auf dem Rücken. Jäger. Ich drehe mich zu Harras um. Er klammert sich mit beiden Händen am Felsen fest, hat noch nicht bemerkt, dass wir Gesellschaft bekommen haben. Neben uns fällt die Wand steil ab. Der Pfad ist grob in den Stein geschlagen, zwei Leute kommen kaum aneinander vorbei. Ich schaue mich nach einer Stelle um, wo es sich kreuzen ließe, da steht der Bärtige plötzlich vor mir, zum Anfassen nah, und schaut auf meine Brust. Sagt kein Wort, starrt nur.

»Aufgepasst, Herr!«, ruft jetzt Harras.

»Mach Platz, Bauer!«, befiehlt Harras, doch der Bauer nimmt ihn gar nicht wahr, schaut nur durch mich hindurch, als sei er tief in Gedanken versunken, als warte er darauf, dass ich mich in Luft auflöse. Oder bewundert er die Stickereien in meinem Gewand?

»Wohin willst du?«, frage ich.

Der Bauer hebt den Arm und zeigt mit dem Finger an meinem Kopf vorbei, kommt meinem Gesicht unangenehm nahe. Ich weiche zurück und ärgere mich über meine Schreckhaftigkeit. Harras hätte in meiner Situation nicht mit der Wimper gezuckt. Die Hand des Bauern ist sehnig, braun gebrannt, abgeschuf‌tet. Fast kann ich die Arbeit riechen. Seine Augen drohen in den tiefen Augenhöhlen zu versinken. Vielleicht ist gerade deshalb ein seltsames Leuchten in ihnen auszumachen.

»Aufwärts«, gibt er zur Antwort.

»Die Jagd auf Wild ist den Bürgern von Uri verboten«, sage ich sachlich.

»Hm«, brummt der Bauer.

»Mach Platz, du Tölpel!« Harras donnert. Er versucht, so schnell er kann aufzuholen. »Weißt du denn nicht, wer dir gegenübersteht?«

Ich hebe schlichtend die Hand. Der Mann dreht sich zu seinem Sohn um.

Sein Sohn macht sich dünn, klebt beinahe an der Felswand, schaut dabei ängstlich in die Ritzen im Stein. Der Vater macht es ihm gleich. Zwischen seinen Füßen ist Platz für meinen.

»Gottes Dank«, sage ich, trete vorsichtig auf die freie Stelle und halte mich an der Schulter des Bauern fest. Seine Kleidung ist fettig und stinkt nach Kuhmist. Ich halte die Luft an und sorge mich um mein Gewand. Ich hasse den Gestank, lasse die Schulter des Bauern los und schnappe nach Luft, nicke seinem Sohn zu, der mich anstarrt, als sehe er ein Gespenst. Das Manöver gelingt. Aber meine Hände riechen nach Kuhmist. Bis zum nächsten Bach werde ich damit leben müssen. Die zwei Einheimischen, Vater und Sohn, stehen jetzt zwischen mir und Harras. Der ist wütend, verwirft die Hände, so gut er in dieser Situation eben kann.

»Die beiden haben hier oben nichts verloren! Sie sollen umkehren!«, befiehlt er. Er ist kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Ich fühle mich überlegen.

»Hier oben entscheidet Gott, wer auf den Pfaden zugelassen ist und wer nicht!«, gebe ich zurück.

»Für solche Rede würde Sie der König in den Spielberg werfen!« Harras dampft. Jetzt ist er beim Jäger angekommen. »Und dich auch!«

Der Jäger schaut ihn kurz an, wütend, hart, aber auch besorgt und verwirrt. Es ist diese Härte der Bauern, diese stechenden Augen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen.

»Richte deinen Blick gefälligst zu Boden, wenn dir ein

»Harras! Konzentrieren Sie sich! Auf flachem Boden stampft es sich besser!«

Harras verstummt und klettert vorsichtig am Jäger vorbei, hält ihn mit beiden Händen fest, würde ihn mit sich in den Tod reißen, wenn das Gleichgewicht abhandenkäme. Den wimmernden Jungen packt er gar am Schopf, lässt ihn erst wieder los, als er sich an ihm vorbeigezwängt hat.

»Das wird ein Nachspiel haben, Gessler!«, droht mir Harras außer sich vor Wut.

Der Mann ist von der Höhenangst geplagt und steht neben sich. Ich will ihm verzeihen. Doch es wäre mir lieber gewesen, er hätte meinen Namen nicht erwähnt.

Diese Kleider! Was sind das nur für Farben? Nicht blau, nicht grün, aber so, wie der See manchmal ist. Nicht rot, nicht gelb, aber so, wie der Abendhimmel manchmal glüht. Habsburger. Adelige! Der Vordere hat lange blonde Haare. Sie leuchten richtig. Ob man diese Haare überhaupt spürt, wenn man sie anfasst? Der hinter ihm macht mir Angst. Er trägt ein Schwert, das ihm schwer an der Seite baumelt. Wenn es an den Felsen schlägt, klingt es wie das Bimmeln einer Geißglocke. Es muss ihm bloß einmal zwischen die Beine geraten, dann stolpert er, und es ist Schluss mit ihm.

Der Blonde klettert geschickt und sehr vorsichtig an Vater vorbei, nickt mir freundlich zu und mustert mich gar. Ich starre ihn an, obwohl das sicher verboten ist. Aber ich kann nicht anders. Seine Hände und sein Körper sind so zart, als wäre er eine junge Frau. Dann klettert er an mir vorbei, berührt mich dabei kaum, seine Haare streifen mich flüchtig. Er duftet wie Weihrauch. Und schon ist es vorbei.

Doch jetzt verliert sein Gefolgsmann hinter ihm fluchend die Beherrschung. Er stinkt nach Schweiß und Wein. Als er vor mir steht, packt er mich an den Haaren, dass ich fast den Halt verliere, doch dann lässt er los und eilt seinem Herrn hinterher. Er ruft ihn »Gessler« – diesen Namen habe ich schon mal gehört! Er ist der Landvogt!

»Weiter!«