Titel

Margarete Susman

Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes

Mit einem Nachwort von Elisa Klapheck

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Der Text folgt der Erstausgabe, die 1946 im Steinberg Verlag Zürich erschien.

eBook Jüdischer Verlag Berlin 2022

Im deutschsprachigen Hauptprogramm: Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2022.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-633-77316-9

www.suhrkamp.de

Einleitung

Es stürmt in mir, meine Seele, ich kann nicht schweigen; es kommt Verderben über Verderben.

JEREMIA 4,19.

In diesem Augenblick einer Weltkatastrophe, die in Leben und Wissen die Menschheit an den Rand des Selbstmords geführt hat, kann eine Ergründung des Schicksals und Problems des jüdischen Volkes nicht mehr als ein sehr bescheidener Versuch sein: ein Versuch, der nur darum gewagt werden kann, weil ein Ansatzpunkt für das Problem in dieser Katastrophe selbst sich bietet, die in der gewaltigsten Aufgipfelung des Judenhasses aller Zeiten den Zusammenbruch alles Menschlichen und Menschheitlichen in der abendländischen Welt darstellt. Wohl ist diesem Geschehen gegenüber jedes Wort ein Zuwenig und ein Zuviel; seine Wahrheit ist allein der Schrei aus den wortlosen Tiefen der menschlichen Existenz. Es ist darum das Buch Hiob, aus dem der Versuch einer Deutung dieses Geschehens unternommen wird.

Aber gerade auch diesem Unterfangen gegenüber drängt aus der heutigen Wirklichkeit ein schweres Bedenken sich auf. In einem Augenblick des Schwankens und Zerbrechens aller Wirklichkeiten und Wahrheiten, in dem vor dem Ausmaß des Geschehens jede menschliche Orientierung versagt, in dem die alten Begriffe und Worte weithin zerfallen sind, um neue überall erst gerungen wird, kann auch die Deutung eines Gegenwartsgeschehens aus den großen geschlossenen biblischen Wahrheiten und Begebnissen nur ein sehr bescheidener Versuch sein. Ein Versuch, der nur dann zu einer Klärung werden kann, wenn es gelingt, in der Gegenüberstellung beider weit auseinanderliegender Wahrheitskreise etwas von dem unzerstörbaren Sinn der Urworte zu retten.

Doch noch ein weiteres Bedenken scheint dem Versuch einer Deutung des jüdischen Schicksals in diesem Augenblick daraus zu erwachsen, daß unmittelbar nach der schwersten Katastrophe seiner Geschichte, die sich in der Menschheit bisher unbekannten Formen vollzogen hat, anstelle einer Aufrüttelung des Weltgewissens durch das Ungeheure heute bereits ein neuer Weltantisemitismus getreten ist, der die Züge einer Zwangserscheinung angenommen hat. Denn so erscheint es im Blick über die Jahrtausende unabweisbar, als wäre das Schicksal des jüdischen Volkes nur der finstere Schatten, den die Menschheit auf ihrem geschichtlichen Wege wirft und der, je tiefer die Sonne am Horizont sinkt und je mehr das Bild der Menschheit selbst sich verzerrt, um so schwärzer, verzerrter und gespenstischer wird. Aber dies wäre kein Einwand gegen seine Ergründung. Denn auch wenn dies wirklich das jüdische Schicksal wäre und wenn es damit, unabänderlich an das Schicksal der Menschheit gebunden, selbst unabänderlich wäre, wenn so jeder äußere Lösungsversuch scheitern müßte: für das jüdische Volk gibt es kein Fatum. Jude sein, heißt sich entscheiden. Denn jeder Einzelne des Volkes wird zwar als Jude geboren; aber er wird Jude erst durch die Entscheidung für dies Sein. Daß dies Volk, anders als alle anderen Völker, nicht aus einem Land, sondern in der Wüste aus einem Aufruf entsprungen ist, in dem ihm die Entscheidung zwischen Tod und Leben als die zwischen Gut und Böse vorgelegt ist, ist für alle Zeiten der Ausdruck seines Verhältnisses zum Sein. Immer erreicht der Aufruf das Volk in der Wüste, am äußersten Rande des Lebens, nicht in einem Sein, sondern im Nichtsein; immer ist die Entscheidung zwischen Tod und Leben in seine Hand gelegt. Gerade in dem Gebanntsein in Rand und Schatten, in der Entwirklichung zum Nichtsein liegt so der unmittelbare Anruf an sein Leben. Jude sein, heißt an den äußersten Grenzen des Lebens und Lebenkönnens die Entscheidung für das Leben leisten.

Aber damit erhebt sich noch ein weiteres Bedenken gegen eine Ergründung des jüdischen Schicksals und Problems in diesem Augenblick: diese Entscheidung kann heute nur von einer tief in ihrem Sinn verstörten, im Sturm ihrer Schicksale und des Weltschicksals fast schon aufgelösten, fast unkenntlich gewordenen Gemeinschaft geleistet werden, zu der als zu einer Einheit wir uns kaum mehr bekennen können. Daß wir uns dennoch gerade heute wieder zu ihr aus der Tiefe einer neu aufgerufenen Verantwortung bekennen, das eben ist es, was dazu zwingt, im Augenblick schwerster Bedrohung von außen und innen aus den Erfahrungen dieser Zeit erneut die Frage nach Sinn und Wahrheit des jüdischen Schicksals zu stellen.

Es handelt sich also in diesem Versuch um ein jüdisches Bekenntnis. Nicht aber im Sinne eines irgendwie gearteten Nationalismus, eines Bekenntnisses zur Nation überhaupt – ein solches widerspräche dem Grundsinn des Judentums –, noch auch im Sinne eines Bekenntnisses zu den alten überkommenen Religionsformen – ein solches hätte in einer Welt, in der mit der Strenge eines klar geformten Lebens auch die Strenge der gedanklichen Zuordnung zu den heiligen Gegenständen verloren ist, keinen Wirklichkeitsraum mehr –, sondern allein im Sinne eines Bekenntnisses zu dem eigensten Problem, das uns im heutigen Schicksal als unsere Lebensfrage gestellt ist, und zu der mit diesem Problem gestellten Aufgabe. Es handelt sich also nicht um den Versuch einer Lösung des Problems – es wäre die Lösung des Menschheitsproblems –, sondern nur um den Versuch seiner klaren Stellung und Herausarbeitung, in dem es gerade in seiner ganzen Schwere und Unlösbarkeit hervortreten wird. Es handelt sich so zunächst um die Frage, zu welcher Wirklichkeit der heutige Jude sich im Judentum bekennt, und damit um die Doppelfrage, was der jüdische Mensch seinem Wesen nach ist, und was er nach allen geschichtlichen Entwicklungen und Wandlungen, durch die er hindurchgegangen ist, heute noch ist und seiner Wahrheit nach sein kann.

Diese Frage kann nur geschichtlich, im Überblick über die Geschichte des jüdischen Volkes vom Ursprung bis zum heutigen Tage gestellt werden. Damit ist aber zugleich gegeben, daß diese Fragestellung niemals nur geschichtlich sein kann. Gerade das ist ja Sinn und Eigenart der jüdischen Geschichte, daß in ihr in den geschichtlichen Begebnissen selbst immer wieder die geschichtsbegründenden Wirklichkeiten und Wahrheiten sich manifestieren, so daß die geschichtliche Fragestellung immer schon die nach einer übergeschichtlichen Sphäre in sich schließt.

Damit ist die Bedeutung gekennzeichnet, die in diesem Versuch der biblischen Wahrheit zukommt. Jenseits des Bekenntnisses zu den festen Religionsformen sich zur Wahrheit des Judentums zu bekennen, kann nur heißen: sich zu dem Prinzip zu bekennen, das in ihnen allen niedergelegt ist, das in der Geschichte Israels und des jüdischen Volkes als ihr innerstes Gestaltungsprinzip hervortritt. Es ist der immer erneute Aufruf des Einen aus dem Vielen, der Anruf des Ewigen an die Zeit, der die Zeit, in der er vernommen wird, zur Sphäre der Wahrheit prägt. Wie der geschlossene, gestalterfüllte Raum die griechische Wahrheitssphäre, so ist die Israels die offene, gestaltlos fließende Zeit. Dort der in sich zurückkehrende Kreis des Kosmos, hier die ins Unendliche fortstrebende Linie der Schöpfung; dort die Welt des Sehens, des Schauens, hier die des Hörens, des Vernehmens; dort Bild und Gleichnis, hier Entscheidung und Tat. Leichter prägt sich ein, was das Auge sieht, als was das Ohr vernimmt; denn das Auge sieht Wirkliches im erfüllten Raum; das Ohr vernimmt erst den Aufruf zum Wirklichen in der leeren Zeit. Im Raum ist Gegenwart und Erinnerung, in der Zeit Gefahr und Hoffnung. Denn die Zeit als leeres Verfließen wird durch den Anruf von oben gestaut, aus ihrer blind vorwärtsdrängenden Richtung aufgestört, im Wirbel eines lebendigen Zentrums aufgehalten, gegen sich selbst herumgewendet und zur Umkehrung gezwungen: zu der Umkehr aus dem Vielen zum Einen, in der sie sich sammelt zum Sinn. Die Zeit, als vorwärtsdrängender, alles mit sich reißender Strom schwerste Gefährdung alles Sinnes, wird so selbst zum Gefäß des Sinnes: des zentral gesammelten Sinnes: des Heils. Gegen das raumhafte Ziel der Vollendung steht das in der Zeit zu gewinnende Ziel der Erlösung.

Es ist dieser in der Zeit selbst erweckte Widerstand gegen die Zeit als leeres Verfließen, der in der vorwärtsgerichteten Geschichte immer wieder zum Scheitern verurteilt ist und, indem er sich immer neu in ihr erhebt, Geschichte im eigentlichen Sinne erst erschafft. Weil so die Zeit beides in sich trägt: die Gefahr der Auflösung und die Möglichkeit der Erlösung, darum steht das Volk der größten Verheißung auch in der größten Gefahr, darum hängt am Vernehmen des die Zeit wendenden Aufrufs alles, ist jeder der immer neuen Bundesschlüsse Gottes mit dem Volk das Siegel auf ein erneutes Vernehmen, ist der Sinn der gesamten Prophetie der, in jeder geschichtlichen Stunde den Aufruf wieder vernehmbar zu machen: als den Anruf eines alles Zeitliche bedrängenden und es immer neu in die Katastrophe stürzenden Ewigen und Unbedingten, von dem Bild und Gleichnis verboten sind, dessen Name unaussprechbar ist, von dem der Mensch nichts aussagen, das er nur unmittelbar erfahren, aus dem er nur leben und sterben, für das er nur einstehen, von dem er nur Zeugnis ablegen kann.

In diesem allem Denken inkommensurablen, quer durch alles Zeitliche hindurchwirkenden Offenbarungs- und Zeugnischarakter ist die Ewigkeit der biblischen Wahrheiten begründet, die nicht Dauer ist, sondern Durchbrechung aller Dauer. Die Wahrheiten der Schrift gelten darum für uns durchaus; sie gelten für uns genau so weit, wie sie sich in unserer Geschichte lebendig manifestieren, wie wir in unserem realen Schicksal aus ihnen leben. Und es ist genau dies, was auch das zerfallene, unkenntlich gewordene, das im Wortsinn fragwürdig gewordene Volk zu einer Einheit zusammenschließt, die als aus seiner Wahrheit entspringende Schicksalseinheit weit über alle nur nationale Einheit und auch noch über die der Bekenntnisformen hinausgeht. Die Frage nach Sinn und Wahrheit des jüdischen Volkes ist heute wie zu allen Zeiten die, wie weit in seinem zeitlichen Schicksal die ewigen Wahrheiten noch erfaßbar sind.

Das bedeutet nicht, daß sie dem Bewußtsein der Einzelnen gegenwärtig sind oder sein müssen; selten nur und nur punktweise wird es in unserer von ganz anderen Wirklichkeiten geformten und entformten Welt, in der nicht mehr der Kult – und dies ist sein durch nichts zu ersetzender Wert – das Bewußtsein immer neu in das Ganze des Wahrheitszusammenhanges einfügt, dessen Tiefe erreichen. Es bedeutet nur, daß die ewigen Wahrheiten so lange lebendig sind und bleiben, wie sie auch unabhängig vom Bewußtsein des Einzelnen das Schicksal des Volkes gestalten.

Aber nicht unverwandelt können wir heutigen Menschen diese Wahrheiten in unsere Welt herübernehmen. Damit sie für uns erfaßbare Wahrheit werden, müssen sie aus der offenbarenden, immer ein Ganzes aussagenden Sprache des Ursprungs, die die der Gewißheit vom Göttlichen und Menschlichen ist, in unsere sie nur noch begrifflich und damit nachträglich fassende Sprache, die die der Ungewißheit vom Göttlichen und Menschlichen, die vollends heute die des Zerfalls alles Göttlichen und Menschlichen ist, erst übersetzt werden. Wohl sind gerade in der Not des Zerfalls und der Krise neue Lebenstiefen wieder aussagbar geworden, hat die Sprache sich aus diesem Abgrund selbst bereichert. Dennoch bleibt die Aufgabe einer Übersetzung der Wahrheiten der Offenbarung und des Zeugnisses in eine Sprache, die weder Offenbarungs- noch Zeugnischarakter hat, schwer und fast unmöglich. Auch schon in der Bibel ist ja der Wahrheit der Offenbarung gegenüber das Wort nur die den Sterblichen schonende Decke, die der, der vom Unbedingten zeugt, auf sein vom Glanz des Gestaltlosen glänzendes Antlitz gelegt hat. Aber durch die mythische Hülle des Schriftwortes scheint der Glanz hindurch; unserer für das Göttliche undurchsichtig gewordenen Sprache ist diese Hülle selbst das Letzte. Darum kann in ihr jedes Wort nur ein deutender Hinweis nicht auf die offenbarte Wahrheit der Schrift, sondern auf die mythische Hülle des Schriftwortes sein. Dennoch muß um der im Begreifen der Welt und seiner selbst so tief verschütteten Wahrheit des jüdischen Volkes willen heute der Versuch einer solchen Übersetzung gewagt werden. Er wird hier im vollen Wissen um seine Unzulänglichkeit, in letzter Bescheidung vor der Größe der Aufgabe unternommen.