Titel

Peter Sloterdijk

Wer noch kein Grau gedacht hat

Eine Farbenlehre

Suhrkamp

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

Umschlagabbildung: Gerhard Richter, Italienische Landschaft, 1967, Öl auf Leinwand, 105cm x 100cm, WV-Nr. 167-2, © Gerhard Richter 2021 (0157)

eISBN 978-3-518-77237-9

www.suhrkamp.de

Widmung

»Wer sagt denn, daß die Welt schon entdeckt ist?«

Peter Handke, Die Stunde der wahren Empfindung (1978)

Man möchte gerade so viel schreiben,
daß die Worte einander ihr Leben leihen,
und gerade so wenig,
daß man sie selber noch ernst nimmt.

Elias Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnung (1943)

 
 
 
 
 
Für Bea
im Morgenlicht

Prolog: Unter fahlem Segel über die Gewässer der Gewöhnlichkeit

Wer, gleichsam einer Laune nachgebend, sich von der Neigung erfassen ließe zu behaupten, das Phänomen »Grau« – als Farbe an Dingen, als Schattierung der Raumbeleuchtung oder als Stimmung des Daseins – verdiene eine eingehendere Betrachtung, als es sie bisher in den Sphären der ästhetischen und philosophischen Theorie gefunden hat, könnte sich von dem Ausspruch Paul Cézannes: »Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler«,[1]  zu einer komplementären Behauptung herausfordern lassen: Solange man das Grau nicht gedacht hat, ist man kein Philosoph.

Was Cézanne im Sinn hatte, als er ein Grau forderte, das den Maler ausweise, soll sich an späterer Stelle verdeutlichen.[2]  Daß bei dem Wort »grau« etwas zu denken sei, das mehr bedeute als nur einen quasi neutralen, zwischen Schwarz und Weiß liegenden Farbwert oder einen Hinweis auf Unbuntes und Unentschiedenes – für diese These sollen die folgenden Ausführungen eine Reihe von Indizien zusammentragen.

Das Etwas, das beim Grau zu denken wäre, findet sich, wie zu verdeutlichen bleibt, halben Wegs zwischen einer metaphorischen und einer begrifflichen Größe. Die Sprache des Alltags geht an der kritischen Stelle zumeist mit eingespielter Selbstgenügsamkeit vorüber. Es würde genügen, ihr bei ihren Beinahe-Berührungen mit dem kritischen Sujet etwas aufmerksamer als gewöhnlich zuzusehen, um dem unbeachteten Etwas auf die Spur zu kommen. Denn indem sie für verhangene Novembertage, für Elefantenhäute und Mäusefelle, für in Pfeffer und Salz melierte Böden öffentlicher Pissoirs, für düstere Wolkenfronten und silbrige Alterskopfbehaarung, für zerfallene Gesichtszüge (soll nicht Goethes Miene, nach Auskunft des Weimarer Fürstenleibarztes Carl Vogel, bei der Angstkrise zwei Tage vor seinem am 22. März 1832 eingetretenen Tod »aschgrau« gewesen sein?[3] ), ferner für steife Packpapiere, für fahle Cashmere-Eleganz, für rechtsfreie Zonen wie für unfrohe Zukunftsaussichten, für eheliche Gewohnheiten, für tote Archivalien, staubbedeckte Regale und hundert andere Bewandtnisse den gleichen unpathetischen Ausdruck wählt – das Wörtchen »grau«, zumeist in adjektivisch geduckter Position, seltener in Zusammensetzung mit Nomina wie in Graubrot, Grauwasser, Grauzone, Greyhound –, weist sie dem unscheinbaren Lexem einen ausgedehnten Anwendungsbereich zu, ohne nennenswerte chromatologische Ansprüche, geschweige denn explizite Aussagen über Atmosphärisches damit zu verbinden. In der extensiven Verwendung des Worts verbirgt sich ein Gedanke, ja eine Mehrzahl von Gedanken, von deren Volumen man sich üblicherweise keine Vorstellung macht.

Unter dem unscheinbaren Farbwort gehen Wahrnehmungen, Wertungen und Anmutungen eine vage Symbiose ein. Das Gleichgültige, das Trostlose, das Ungefähre, das Ungewisse, das Unentschiedene, das Unbestimmte, das in die Länge Gezogene, das Immergleiche, das Eindimensionale, das Tendenzlose, das Irrelevante, das Amorphe, das Nichtssagende, das Bedeckte, das Nebelhafte, das Monotone, das Zweifelhafte, das Mehrdeutige, das leicht Widerwärtige, das in ferner Vorzeit Versunkene, das von Spinnweben Bedeckte, das Aschenfarbige, das Archivarische, das Novembrige, das Februarische – es ist nicht wenig, was unter dem gleichen fahlen Segel über die Gewässer der Alltäglichkeit fährt. Falls man sagen dürfte, das menschliche Dasein verfüge von sich her über eine implizite Meteorologie, so würde der Zuständigkeitsbereich der existentialen Wetterkunde nicht zuletzt durch den Gebrauch des Grau-Worts angezeigt. Wer sich vornimmt, die Wetterberichte der Seele als unmerklich fortlaufendes Sprachspiel ernst zu nehmen, ja es als eigenes Genre des Nachrichtenwesens gelten zu lassen, kommt nicht umhin, das Graue explizit zu machen.

In jedem sehfähigen Dasein ist das Eintauchen in weltliche Farbigkeiten mitenthalten. Ohne ein Minimum an Farbenlehre kann sich das menschliche Leben nicht vor sich selbst erläutern. Die Urdifferenz von Hellem und Dunklem geht mit der Unausweichlichkeit einer Elementarwahrnehmung aller Erfahrung mit Buntem oder farblich Dezidiertem voraus – wir werden dies später mehrfach kommentieren: einmal im Zusammenhang mit Anmerkungen zu Goethes Farbenlehre, die zu den Problemen der Dunkelheit im Verhältnis zum Hellen, der farbigen Schatten und des Grau bedeutende Erkenntnisse bietet; dann anläßlich einer Erörterung des Phänomens Farbenblindheit, bei welchem die angeborene Grausichtigkeit als Basisqualität des menschlichen Aufenthalts in einem Hell-Dunkel-Raum ohne Farben dramatisch hervortritt, und schließlich bei Gelegenheit der Ausführungen zur Revolution des Sehens durch die Schwarzweißphotographie im mittleren 19. Jahrhundert.

Auch ohne Bezüge auf den physiologisch bedingten Daltonismus bzw. die Achromatopsie und die epochale Verfremdung des Sichtbaren in der ersten Hälfte des photographischen Zeitalters kennt sich das lichtempfindliche Dasein selbst seit je als aktuelles oder virtuelles Ausgesetzsein in eine ausgedehnte Unbuntheit – nicht nur an Nebeltagen. Wo Alltagsschwere sich ausbreitet, nimmt die Empfindung überhand, das gewöhnliche Spiel der farblichen Valeurs sei außer Kraft gesetzt. Es gibt Momente, in denen das Grau, als visuelles Datum und als Stimmung, durch seine Nähe zur Monotonie die Oberhand gewinnt. Wer im existentiellen Tief versinkt, spürt, wie aus chromatischen Kontrasten die Spannung entweicht. Die Kolorite der Dinge ringsum rinnen in einer neutralen All-Farbe, einem empfundenen Dunkelgrau, zusammen. Der Zustand ließe sich annäherungsweise durch den Verweis auf übermüdete Augen erläutern, wenn eine Aversion gegen Wahrnehmungen sie überwältigt; man kann ihn vielleicht auch verdeutlichen durch den Vergleich mit dem cafard eines Masochisten nach dem Exzeß, schwarzgrau und elend wie die Stimmung eines Mitteleuropäers nach den Pandemie-Nachrichten einer spätwinterlichen Tagesschau.

Das Grau, das zu denken gibt, ob man es als Begriff oder als Metapher bzw. als Metonymie auffaßt, ist dem Unentschiedenen zugeordnet, es steht für Mittleres, Neutrales, Unbesonderes, für Einbettung in Gewöhnliches jenseits von Lust und Unlust. Ist es nicht Farbe, heißt es Alltäglichkeit. Als Milieu, als Mittelbereich, als environment aus Sitte, Gerede und Aromen, dem man durch Geburt oder Flucht ausgeliefert ist, wird es zur »Welt« im ganzen. Es bildet den Horizont oder das Wo des In-Seins überhaupt, mitsamt seinem Gefolge aus Tendenzen, Ungewißheiten und vagen Gefahren.

Als das Reich der Selbstverständlichkeiten, das der Phänomenologe, als der philosophische Betreuer der Grauwelten, in mutwillig erhöhter Rezeptivität ausschreitet, so voraussetzungslos wie möglich, unalarmiert aufmerksam (ob er nun Edmund Husserl heißt oder Martin Heidegger, Maurice Merleau-Ponty oder Hermann Schmitz), reich an Beobachtungen, die nicht überreden, sondern erhellen, in lichterloher Mittelmäßigkeit zur Deutlichkeit entschlossen, schmückt sich das so gewürdigte Alltägliche mit dem demütigen, doch selbstbewußten Titel »Lebenswelt« – einem Wort, das vor allem dank seiner Durchführung in Husserls Spätwerk[4]  aufhorchen machte. Es versprach in streitbarer Bescheidenheit, von einem Leben zu handeln, das sich von dem der Biologen toto coelo unterscheidet; es wollte Aufschluß geben über eine in der Alltäglichkeit erschlossene und verborgene Welt, von der die szientistischen Physiker und viele andere Wissenschaftler aufgrund ihrer Objektivitätsillusion sich selber ausgeschlossen haben.

Würde uns die Frage vorgelegt, worin aus kulturdynamischer Sicht das Hauptereignis des 19. und 20. Jahrhunderts bestand, könnte eine der möglichen Antworten lauten: wohl nicht zuletzt in der Umfärbung aller Farbwerte. Von diesem Vorgang hat das Alltagsbewußtsein im Zeitstrom nicht mehr erfahren, als für die Einsetzung einer veränderten Grundstimmung nötig war. Die Veränderung rastete irgendwann nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein, vielleicht sogar erst in den sechziger Jahren, sobald mit einem Mal evident schien, daß alle Farben gleich gut sind und wie vergeblich es wäre, immer noch Verhältnisse der Über- und Unterordnung zwischen ihnen geltend machen zu wollen. Die Vereinigten Farben der Gegenwart erweisen sich gegenseitig Respekt und verzichten darauf, die Nachbarfarben dominieren zu wollen. Durch die neue Empfindungs- und Urteilsweise nahm das durchschnittlich unkreative, trendbestimmte Dasein am Epochenvorgang der Enthierarchisierung teil. Es vollzog ihn nach, als hätte es ihn gewollt. Im Fall der Farben war die Aufhebung der Beziehungen zwischen Höherem und Niederem eng an den gleichzeitig sich vollziehenden sinnverwandten Prozeß der Desymbolisierung gebunden.

Das Farbensehen weiß gewöhnlich nicht, daß es eine Geschichte hat. Modernes Design und seine postmodernen Nachspiele geben sich daran zu erkennen, daß Farben und Bedeutungen weit auseinandertreten. Niemand besteht mehr darauf, die Hoffnung müsse grün codiert sein, während die Ferne, die Weite, die Umhüllung vom Unendlichen nach Blau verlange; wer immer noch meint, Rot sei die deklarierte Liebe, dem wird zu einem besseren Geschmack kaum noch zu verhelfen sein. Die »Stoffe« machen sich das ihre vom arbitraire du signe zu eigen, unter dessen Vorzeichen die von Ferdinand de Saussure inspirierte »strukturalistische« Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert ihren Gang durch die akademischen Korridore angetreten hat. Die Abspreizung der chromatischen Signifikanten von der vormals obligaten symbolischen Fracht der Signifikate vollzieht sich, gleichgültig ob sie asketischen oder neu-barocken Motiven gehorcht, viel eher unter dem Einfluß von kulturweit verbreiteten farbenpsychologischen Konditionierungen – um vom sinnfernen Spiel der Modefarben nicht zu reden – als entlang des Leitfadens alteuropäischer liturgischer, allegorischer oder schultypischer Farbbedeutungen.[5] 

Wo der Zug zur Enthierarchisierung und der zur Desymbolisierung sich trafen, entstand eine strategische Allianz – vielleicht auch nur eine zufällige Wirkungsgemeinschaft – gegen die Sonder- und Spitzenstellung des Weißen. In der Eminenz der Farbe Weiß resümierte sich eine im mediterranen und okzidentalen Raum jahrtausendmächtige Überlieferung solarmythologischer, lichtmetaphysischer und farbtheologischer Motive mitsamt ihren Spiegelungen in kirchlichen Liturgiefarben und dynastischen Bildsprachen; sie reichen vom obligaten Weiß der Tauben, die dem Heiligen Geist die Flugtauglichkeit attestieren, über den Glanz fürstlicher Krönungsmäntel zu den unbeirrbar weißen Lilien des Hauses Bourbon. Wenn es je von Vorteil war, aus dem Brunnen der Vergangenheit zur Gegenwart heraufgestiegen zu sein, dann ist es das Weiß, das hiervon zu profitieren verstand. Es galt seit je als älter denn die Geschwisterfarben, und allein mit der Schwärze hätte es eine Vorrangfrage zu klären gehabt. In ihm schienen das Leuchten und das Von-weit-her-Kommen eins geworden zu sein. Indem es den Erscheinungswert einer visuellen Kategorie annahm, geriet das Weiß zur stabilisierten Epiphanie. Als Franz von Baader, der Theosoph in dürftiger Zeit, den Blitz zum Vater des Lichts erklärte,[6]  wurde das Weiß das Ingrediens eines Gottesbeweises aus der Farbe. Als der All-Farbe kam ihm der Rang einer Überfarbe zu. Durch sie ging das Sein-zum-Auge ins Sein aus reinem Denken über. Wenn Johannes Scotus Eriugena im 9. Jahrhundert dozierte: omnia quae sunt lumina sunt – Alles, was ist, ist lichtartig –, knüpfte er nicht nur an die lichtmetaphysischen Spekulationen der Spätantike an, er bot zugleich ein Portrait Gottes als des wahren Suprematisten. Seiner überhellen Natur gemäß konnte dieser nicht anders, als alle Unterscheidungen, die die Welt erzeugen, innerhalb einer Farbe, der Überfarbe, anzulegen. Gott ist der Künstler, der sich nur Weiß-in-Weiß artikuliert. Er bewegt sich in einem Lichtweiß-Spektrum, das sich zum Nuancensturm ausweitet, umtönt vom unvernehmlichen Brüllen des ein-namigen Seins.

Der oft beschworene revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts weist unvermeidlich einen farbphilosophischen Aspekt auf. Als umwälzungsfähig, ja als gezielt rotierbar werden nun nicht nur die Glücks- und Schicksalsräder aufgefaßt: In deren Lauf greift eine aktivierte Avantgarde der Menschheit ein – Aufklärung will fürs erste ein Unternehmen zur »Sabotage des Schicksals«[7]  sein: Mit einem Mal werden Farbenkreise gedreht, Wertpyramiden umgekehrt, Hierarchien untergraben. »Die Münze umprägen« ist ein Wahlspruch, der in Epochen frei flottierender Respektlosigkeit wiederkehrt.[8]  Solche Umwälzungen, Umfaltungen und Kehren machen, sobald sie an der Zeit sind, vor dem Institut der Gottes- und Königsfarbe nicht halt. Es wäre sinnlos, von modernen Zeiten zu sprechen, würde in ihnen nicht auch das Ancien régime der Farben an sein Ende gebracht. Zum Tableau der seit dem 18. Jahrhundert aufkommenden Unruhen mit langen Folgen gehört der Königsmord im Reich der Farben, durch den das Weiß seiner Eminenz entkleidet wurde.

Bevor die Republik der farblichen Gleichberechtigung proklamiert werden konnte und die United Colors of Everything die Auslagen bestimmten, mußte es zumindest einmal zum offenen Affront gegen die Königin kommen – so wie die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 die Singularität in der politischen Geschichte darstellte, die der Tendenz zur Ablösung monozephaler (monarchischer) durch polyzephale Systeme die ereignishafte Spitze aufsetzte. Vom Verlauf dieses Affronts berichten herkömmliche Kunst- und Kulturgeschichtserzählungen nichts; sie berühren das Sujet bestenfalls indirekt – in diesem Kontext ergäbe sich Gelegenheit, das eingangs erwähnte Wort Cézannes, auf das zurückzukommen bleibt, wiederaufscheinen zu lassen; es verrät seinerseits kaum etwas vom Drama des Theozids auf der Bühne der Farblichkeiten.

Der locus classicus für die Umwertung des höchsten Farbwerts findet sich im 42. Kapitel von Herman Melvilles 1851 erschienenem Roman Moby-Dick, or: The Whale, in dem das Motiv des weißen Leviathans seinen Auftritt feiert. In der Gestalt eines sehr alten, vielmals gejagten, in allen Künsten der Selbsterhaltung und des Gegenangriffs erprobten, listigen, anthropophoben Albino-Meerungeheuers verkörpert sich aus der Sicht des Erzählers ein Rest all dessen, was sich aus mittelalterlichen Anschauungen über den »Fürsten dieser Welt« in die neuere Zeit mitsamt ihrer ozeanisch geweiteten Welterfahrung hinübergerettet hat. Sie bringt nicht weniger zum Vorschein als eine neu-gnostische Doktrin von der Umwertung der Werte.

Melvilles Erzähler hat nicht vergessen, wie tief das Weiß von alters her mit erhabenen Vorstellungen verbunden war. Verkörperte sich nicht Zeus in einem weißen Stier? Trugen nicht die katholischen Priester unter dem Meßgewand ein der antiken weißen Tunika nachempfundenes Chorhemd, genannt die Albe, die als Taufhemd die Zugehörigkeit der Offizianten zum corpus Christi symbolisierte? Gingen in den Visionen des Johannes von Patmos die Erlösten nicht weißgekleidet in die Ewigkeit ein, auf kollegialem Fuß mit den weißgeflügelten Boten? Und hieß es nicht von jenem, »der aussah wie ein Mensch«, dem verewigten Sohn mit dem aus dem Mund ragenden Schwert, sein Haupt und sein Haar sei weiß gewesen »wie Wolle, leuchtend weiß wie Schnee« (Apk 1,49)? Dennoch, so versichert der Erzähler, lauere »etwas schemenhaft Unfaßbares im tiefsten Sinn dieser Färbung«.[9]  »Dieses Unfaßbare« sei »die Ursache«, »warum die Vorstellung des Weißen, wenn es aus freundlicheren Beziehungen gelöst und mit etwas an sich Entsetzlichem gepaart erscheint, das Entsetzen bis zum höchsten Grade steigert«,[10]  mag es auch lange Zeit als »das bedeutsamste Symbol geistiger Dinge« gedient haben.

»Ist es, weil das wesenlose Weiß an die frostig leeren, die unermeßlichen Räume des Weltalls gemahnt und weil uns deshalb der Dolch des Gedankens an Auflösung und Nichts heimtückisch durch die Seele fährt, wenn wir die weißen Abgründe der Milchstraße betrachten? Oder ist es, weil Weiß im Grunde nicht so sehr eine Farbe als die sichtbare Abwesenheit jeder Farbe und gleichzeitig die Summe aller Farben ist; weil daher eine weite Schneelandschaft uns so inhaltlos schweigt und so bedeutungsschwer redet: eine farblose, allfarbige Welt ohne Gott [a colourless, all-colour of atheism], vor der wir zurückbeben?«

Folglich:

»[W]enn wir dies alles erwägen, dann liegt das Weltall gelähmt und aussätzig vor uns«.

Wer ungeschützt auf die mächtige Gegenwart der unerträglichen Allfarbe sich einließe wie ein leichtsinniger Reisender in Lappland, der auf die Sonnenbrille verzichten wollte,

»starrt […] sich blind an dem unendlichen weißen Leichentuch, das rings alles Sichtbare umhüllt«.[11] 

In der höhnischen Außerordentlichkeit der Albino-Kreatur, die durch die Ozeane kreuzt, leuchtet, wie mit der Gewalt des Zum-letzten-Mal, das Hierarchiegefühl der alteuropäischen Farbenmetaphysik auf, invertiert und auf die Spitze des Bösen gestellt. Weiß ist nicht mehr die Summe des Schönen; zum Unheimlichen erhöht, ist es des Schrecklichen Anfang, Mitte und Ende. Seinen ersten großen Auftritt hatte es in Edgar Allan Poes Roman Die Erzählung des Arthur Gordon Pym aus Nantucket (1838), als eine schneeweiß verhüllte Riesengestalt vor dem in den antarktischen Abgrund stürzenden Schiff auftauchte. Melvilles spätmetaphysisch appretiertes Pathos nimmt die Sorge Nietzsches um den guten Gebrauch der Umwertung aller Werte vorweg: Auch der Amerikaner zur See redet noch einer Polumkehrung ohne Nachlassen der Höhenspannung das Wort. Er antwortet, freiwillig ungeheilt von der transzendenten Neurose Alteuropas, auf den althergebrachten metaphysischen Zug von oben. Der übersetzt sich in ein Zurückschrecken vor unlebbarer Höhe.

Im weiteren sollte sich zeigen, wie umweglos Umwertungen in Abwertungen münden und wie leicht statt alternativer Hochspannungen Enthemmungen, Entlastungen und Erleichterungen aufkamen, die die Räume unter sich aufteilen. In der nachmetaphysisch »präzisierten Welt«[12]  stellen die Verhältnisse sich dar, als sei der Ratschlag aus Walter Serners Handbrevier für Hochstapler – »Banalisiere die Dinge und du wirst Erfolg ernten und Chancen säen«[13]  – auf breiter Front rezipiert worden.

Entsymbolisierung und Enthierarchisierung haben der alten Farbenordnung ihre Gehalte entzogen und ihre Gewalt neutralisiert. Das Nebeneinander der Farbtöne erweist sich als eines der Felder, auf denen alles geht. Die flachen Hierarchien des guten Geschmacks erleichtern das Leben und Geltenlassen. Wie Konstellationen machen Saisonfarben geneigt, sie zwingen nicht. Sie verbreiten sich im Modus milder Infektionen, sie vermischen sich leicht und bringen den überdrußgetriebenen Wandel voran. Am liebsten verstünde sich die scheinentspannte Welt als das Reich der freien Spektren, in denen alles an alles grenzt. Eine Deklaration wie die des De-Stijl-Gründers Theo van Doesburg, wonach Weiß »die spirituelle Farbe unserer Zeit« sei, klang schon im Jahr 1929 so monomanisch wie anachronistisch, wenn sie auch nicht ganz so kunstmessianisch versessen war wie Yves Kleins (1928-1962) Vorschlag an die Internationale Atomenergiebehörde, Kernwaffen sollten künftig so gebaut werden, daß sie Atompilze in seinem patentierten Yves-Klein-Blau hervorbrächten.

Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät. Aus der Summe der Einzelfarben entsteht, wie Experimente zeigen, keine leuchtende Allfarbe, vielmehr ergibt sich ein stumpfes bräunliches Grau. Von Melvilles Weiß ist keine Rede mehr. Dreckfarbigkeit bildet das unumgängliche Resultat der postmodernen Mixophilie. Indem sie dies ausspricht, stellt die aktuelle Farbenlehre ein starkes pro nobis an ihren Anfang. Grau ist der maßgebliche Farbwert der Gegenwart. In tausend Stufen deklinierbar, erschreckt diese Farbe ihre Betrachter nicht mehr wie vormals die weiße Dämonie, doch besitzt sie auch nicht die mobilisierende Kraft, die dem Roten und Schwarzen in den Tagen ihrer hohen Attraktorstärke zukam.

Was bei Pigmentmischungen entsteht, hatte schon Newton unverblümt niedergeschrieben, und Goethe übersetzt hier die Prosa seines Kontrahenten (dem er die Behauptung nicht verzeiht, das weiße Licht sei aus den Spektralfarben »zusammengesetzt«) mit grimmigem Entzücken: Der Mischung entspringt, um Newtons Ausdrücke wiederzugeben, etwas, das »mäusefarben, aschfarben, etwa steinfarben oder wie Mörtel, Staub oder Straßenkot […] und dergleichen« vor Augen liegt.[14]  Keine Politik der Pigmente wird Graues aus seiner Lethargie reißen, wenn sie auch neugrüne oder altrote Kokarden aufsteckt. Jenseits von Gefallen und Mißfallen gibt Grau den Zeitgenossen unserer Tage die farblose Allfarbe der entfremdeten Freiheit zu sehen.