Titel

Sébastien Jondeau

Ça va, cher Karl?

Erinnerungen an Karl Lagerfeld

Unter Mitarbeit von Virginie Mouzat

Aus dem Französischen von Bettina Seifried

Insel Verlag

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Die französische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel
Ça va, cher Karl? bei Flammarion, Paris

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4910.

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildungen: Sébastien Jondeau und Karl Lagerfeld, fotografiert von Karl Lagerfeld, mit freundlicher Genehmigung von Karl Lagerfeld International B.V.

eISBN 978-3-458-77345-0

www.suhrkamp.de

Ça va, cher Karl?

Ich höre den Schritten der letzten Besucher nach, die die Treppe hinuntergehen; das Haus hat keinen Aufzug. Dann schließe ich die Tür hinter ihnen. Hinter den letzten zwanzig Jahren meines Lebens. Heute früh mussten wir von Karl Abschied nehmen. Für immer. Sein Körper, seine Seele haben diese Welt verlassen. Es war ein anstrengender Tag, viele Leute überall. Zu viele. Ein paar Freunde – echte Freunde – kamen noch mit zu mir zum Abendessen. Pläne für den nächsten Tag? Habe ich keine. Aber schlafen kann ich jetzt auch nicht. Ich räume auf, spüle ab. So bin ich, hab's gern sauber. Ich leere Aschenbecher und spüle die Gläser. Eigentlich trinke ich kaum Alkohol und rauche fast nie, aber heute … Es waren nicht genug Gläser für alle da gewesen, ich durchforste den Schrank bei der Küche. Die Fenster stehen weit offen, es ist erstaunlich mild für eine Nacht im Februar.

Ein Karton mit alten Fotos fällt mir in die Hände. Heute Nacht habe ich nichts mehr vor. Morgen auch nicht. An Schlaf ist nicht zu denken. Ich fische ein Bild von Muguette und mir als Knirps heraus. Alte Polaroids: Karl und ich 2004 in New York. Wir beide auf Fürst Alberts Hochzeit in Monaco, selbst fürstlich gewandet. Karl während unseres jährlichen Weihnachtsdiners, nur wir beide allein. Blue, meine Savannah-Katze, Karl und Amanda im Privatjet, ein Polaroidfoto von mir beim Grimassenschneiden. Fotos von meinen Freunden, aus einem Urlaub mit L., Karl im Rolls-Royce. Khemis. Choupette, wie sie durchs Flugzeug stolziert. Großmama Jondeau. Éric und ich 2001 in der Villa Elhorria. Karl mit Pharrell Williams, Cara Delevingne und mir. Fotos aus Zeiten vor dem Smartphone, als Karl noch mit seiner kleinen Sony-Kamera oder einer Mini-Polaroid unterwegs war, bevor er die digitale Welt entdeckte. Unmengen von Bildern und Schnappschüssen. Manche sehr privat. Erinnerungen prasseln auf mich ein – Momentaufnahmen meines früheren Lebens.

Villa Elhorria in Biarritz, November 2004

Dort fanden viele Fotoshootings für Werbekampagnen statt. Es war immer etwas kühl und klamm in dem Haus. Sogar im August kletterte das Thermometer manchmal nur knapp über zehn Grad. Karl und ich froren oft wie die Schneider. Mit der Zeit hatte er keine Lust mehr auf Biarritz, das merkte man. Zu viele Leute gingen dort ständig ein und aus. Chanel hatte bereits Wachleute vor der Villa aufstellen lassen, um für Karls Sicherheit zu sorgen. Jean-Michel, Karls Mann für alle Fälle, hätte wirklich alles für ihn getan, aber Security spielen wollte er nicht. Die Villa war riesig und hatte entsprechend viel Personal.

Karl flog fast jedes Wochenende aus Paris ein, um dort im Fotostudio zu arbeiten. Im Jahr 2004 beschloss er, Weihnachten von nun an in Paris zu verbringen, nicht mehr in Biarritz. So kam es damals zu unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsessen, nur wir beide allein, ganz privat. Es wurde zu einem Ritual, das wir viele Jahre lang pflegen sollten. Im selben Jahr war ich auch in mein neues Appartement am Place de Tocqueville gezogen. Es war klein, aber fein, und ich fühlte mich wohl dort. Zweiundzwanzig Monatsgehälter musste ich dafür hinblättern. Karls Finanzverwalter stellte damals eine Bürgschaft für mich aus. Dreiunddreißig Quadratmeter auf der obersten Etage bekam ich dafür, inklusive Blick auf den Innenhof. Meine damalige Freundin M. zog mit mir ein. Sie hatte darauf bestanden, in der Hoffnung, dass ich endgültig einen Strich unter mein wildes Vorleben in Gonesse ziehe und Abstand bekomme von meinen alten Geschichten und Verflossenen dort.

Place des Lices, 2005

Das erste Jahr ohne Shootings in Biarritz. Mit Karl zu arbeiten bedeutete auch, ständig im Flugzeug zu sitzen und mit ihm durch die Welt zu jetten. Auf einem Flug zu Fendi nach Rom fing er auf einmal an, von Saint-Tropez zu erzählen. In den achtziger Jahren hatte er eine Suite im Hotel La Ponche nahe dem Hafen von Saint-Tropez. Das Haus seiner Mutter, erzählte er, befand sich ein paar Meter entfernt am Place des Lices. Im Falcon 900, dem Privatjet, den wir von Jean Reybier für den Flug gemietet hatten, war es möglich, sehr offen und ungestört zu reden. Die Flugbegleiterin war nett. Sie sprach mich später an und fragte, ob sie mir ein Projekt namens La Réserve empfehlen dürfe, das ihr Chef, Reybier, gerade in der Nähe von Saint-Tropez entwickelte. Zuvor hatte er bereits ein Luxusresort in Genf etabliert, nun folgte Ramatuelle, wo er Land erworben hatte, um dort etwas ähnlich Luxuriöses aufzuziehen. Ein paar Villen und Bungalows aus dem Bestand waren schon zu vermieten.

Ramatuelle, April 2005

Nachdem ich das Dossier über La Réserve überflogen hatte, das mir Reybier für Karl hatte zukommen lassen, war ich ziemlich angetan. Es sah traumhaft aus dort. Ich beschloss, ihm die Unterlagen gleich weiterzureichen. Auf Biarritz hatte er definitiv keine Lust mehr. Karl warf nur einen kurzen Blick darauf und bat mich dann, zeitnah einen Besuch in Ramatuelle zu arrangieren. Wie so oft hatte er intuitiv und in Sekundenschnelle seine Entscheidung getroffen. Ich nahm Kontakt mit dem Projektleiter Nicolas Vincent auf. Die Bauarbeiten waren fast beendet.

Mai 2005

Bei einem der nächsten Flüge nach Rom zu Fendi beschloss Karl spontan, einen Zwischenhalt in Ramatuelle einzulegen. Ich war nie zuvor an der Côte d'Azur gewesen. Saint-Tropez war natürlich auch für mich ein Sehnsuchtsort, aber ich hatte es bisher nie geschafft, einmal hinzufahren. Wahrscheinlich auch aus Selbstschutz, damit ich mein Herz nicht an etwas verliere, das ich mir ohnehin nie würde leisten können. Denn was nützen einem Träume, wenn sie unerreichbar sind? Dann schmerzt es nur umso mehr, wenn man sie nicht verwirklichen kann. Ich bin nicht der Typ, der mit großen Augen am Hafen Luxusjachten bewundert, von denen er weiß, dass er keinen Fuß je daraufsetzen würde.

Karl jedenfalls freute sich auf ein Wiedersehen mit Saint-Tropez. Es sei so lange her, erzählte er, seit er zum letzten Mal da war. Er begann, in Erinnerungen zu schwelgen, an Ausflüge auf dem Motorrad, ohne Helm, frei wie ein Vogel. Ich gestand ihm, dass es für mich das erste Mal an der Côte d'Azur sei. Im Lauf der Jahre hatte ich Biarritz ins Herz geschlossen, immerhin war ich seit 1998 regelmäßig in der Villa Elhorria gewesen. Am Anfang noch über CST, das Transport- und Umzugsunternehmen meines Stiefvaters, das Karl immer wieder beauftragte. In seiner Residenz im Baskenland kannte ich jeden und alle. Doch in Saint-Tropez …?

Die Sonne strahlte. Das Luxusresort La Réserve lag auf einer Anhöhe, der Quessine, von wo aus man einen grandiosen Blick aufs Mittelmeer hatte. Ich war völlig überwältigt. Und ich glaube, Karl ging's kein bisschen anders. Ein paar Gebäude waren noch eingerüstet, aber Nicolas Vincent zeigte uns die bereits fertigen, unterschiedlichen Typen der villengroßen Bungalows auf dem weitläufigen Gelände. Nummer 10 hatte sechs Zimmer und sagte Karl sofort zu. Ich war nicht sicher, ob das wirklich zu Karl passte, nach dem, was ich bisher so gesehen und erlebt hatte. Aber ihm musste es ja gefallen. Die Pinien hier, sagte er, dienten dem wilden Brokkoli als Sonnenschirme. Die Wälder ringsum waren voll von Brokkoli.

Auf dem Rückflug sprach Karl mit mir über das Projekt und meinte, es gefiele ihm sehr gut in Ramatuelle. Er bat mich, einen ganzen Tag dort an der Mittelmeerküste zu organisieren, weil er auch gerne einmal wieder in Saint-Tropez vorbeischauen wollte. Ich! Ausgerechnet ‌… ich kannte doch nichts und niemanden dort! Da fiel mir aber ein, dass der Sohn einer Bekannten von Karl das Hotel Byblos in Saint-Tropez leitete. Ich rief sie an, sie wiederum telefonierte sofort mit ihrem Sohn. Und so fing alles an.

Ein Tag ganz in Weiß, Juni 2005

Seit 2002 war Brad Kroenig Karls Muse und bevorzugtes Model. Die beiden befanden sich damals für ein Shooting für Fendi in Rom. Brad sollte uns, so wollte es Karl, auf dem Ausflug nach Saint-Tropez begleiten. Dito Steven Gan, der Gründer des V-Magazine. Und nicht zu vergessen Amanda Harlech, eine weitere Muse von Karl, die mit ihm für Chanel arbeitete. Amanda war eine elegante, englische Lady, weltgewandt, geistreich, immer très chic – und eine der Auserlesenen, die schon in Biarritz den Sommer mit Karl verbringen durften. Er war richtig vernarrt in sie. Ein Urlaub mit ihr machte auch wirklich Spaß, sie war witzig, lässig und sehr umgänglich. Amanda brachte immer Farbe herein. Karl hatte mir aufgetragen, mich stets gut um sie zu kümmern, was ich immer sehr gerne tat. Am Anfang hatte ich versucht, ein bisschen Englisch mit ihr zu reden, doch ihr Französisch war fantastisch. So habe ich Englisch erst später mit meinen diversen Girlfriends gelernt.

Karl erwartete natürlich nichts weniger als einen unvergesslichen Tag an der Côte d'Azur. Für mich ein Riesendruck.

An jenem D-Day also landeten wir in Cannes, wo uns ein Schiff zur Weiterfahrt abholen sollte. Karl war ganz in Weiß gekleidet, und er hatte alle mitfahrenden Sommerfrischler gebeten, es ihm gleichzutun. Seit kurzem war er wieder unglaublich schlank, er sah blendend aus. Das vom Byblos gecharterte Schiff erschien pünktlich, um Steven, Amanda, Brad, Karl und mich abzuholen. Karl hatte keine Ahnung, was ich für uns alles vorbereitet hatte: Im Byblos war eine Suite angemietet, in der wir uns frisch machen und die Garderobe wechseln konnten. Auf dem Schiff weigerte sich Karl, seine Schuhe auszuziehen. Alle waren ausgelassen und freudig gespannt. Wir knipsten uns gegenseitig mit kleinen Sony-Kameras.

Karl reiste nie ohne tonnenweise Gepäck, das galt auch für Tagesausflüge. Wie durch ein Wunder erwartete uns keine Reportermeute am Hafen. Obwohl wir ziemlich auffällig waren. Ich hatte am Telefon alles organisiert, ohne irgendwen persönlich zu kennen. Ich wollte Karl überraschen. Er wusste nur, dass wir im Club 55 zu Mittag aßen. Was ich nicht wusste und erst vor Ort realisierte: Um dort hinzukommen, mussten wir in ein Schlauchboot steigen. Karl war alles andere als sportlich. Ich war hypernervös und angespannt, aber letztlich ging alles gut.

Als wir den Club betraten, veränderte sich die Atmosphäre schlagartig. Von allen Tischen her wurden wir neugierig beäugt.

Karl war in Erzähllaune und tischte beim Essen alte Geschichten aus Saint-Tropez auf, denen Brad gebannt lauschte. Bei feinem Essen und teurem Wein war er immer besonders aufmerksam.

Danach ging es zurück auf unser Schiff, der Kapitän tuckerte mit uns am Leuchtturm von Cap Camarat vorbei bis nach Cap Taillat, wo wir ankerten. Ich lieh mir einen Jetski-Scooter und nahm Brad mit; Karl fotografierte ihn und war im Glück.

Abends erfolgte der Abflug vom Kleinflughafen La Môle, es ging zurück nach Paris. An Bord erklärte Karl, der den Tag sehr genossen hatte, wir müssten bald wieder nach Ramatuelle; er wolle gern den Sommer dort verbringen. Auch Jean-Claude und Josette, die sein Luxusappartement Millefiori in Monaco in Schuss hielten, wollte er in den letzten beiden Augustwochen nach La Réserve holen, damit sie in seiner Nähe wären.

Nach einem privaten Kurzurlaub in Spanien bei meinem »Onkel« Khemis war klar, dass ich den Rest des Sommers mit Karl in Ramatuelle an der Côte d'Azur verbringen würde. Im Lauf der Jahre spielte sich so vieles dort ab, dass ich die Gegend heute wie meine Westentasche kenne.

Gonesse 1990

Eine neue Wohnung. Meine Mutter, mein Stiefvater und ich waren wieder einmal umgezogen. Ich hatte die Schule nach der neunten Klasse geschmissen. War zu undiszipliniert. Kein Lycée wollte mich mehr aufnehmen. Mein Stiefvater Christian stellte mich vor die Wahl: Arbeit suchen oder mich verpissen. Meine Mutter ließ etwas mehr Milde walten, war aber im Grunde derselben Meinung. Also musste ich arbeiten. Ich war fünfzehn. Während der Schulferien in den letzten drei Jahren hatte ich bereits in der Firma meines Stiefvaters als Möbelpacker gejobbt und dabei auch Karl getroffen. Von dem da verdienten Geld konnte ich mir mein erstes Mofa kaufen. Nicht jeder in unserem Viertel konnte sich das leisten. Den Urlaub verbrachten wir am Strand von Saint-Cyprien in der Nähe von Perpignan in einer Ferienwohnung.

Nach der neunten Klasse hatte ich die mittlere Reife in der Tasche. Und keine Lust mehr auf Unterricht. Meine Mutter wollte, dass ich auf dem Lycée weitermachte. Aber wie gesagt, keines war bereit, mich aufzunehmen. Ich ließ es gut sein und schlug vor, Vollzeit in der Firma meines Stiefvaters zu arbeiten. Er verdiente sein Geld mit Eillieferungen, Transporten von antiken Möbeln und Kunst, aber auch von radiologischen und anderen medizinischen Geräten. Meine Mutter leitete die Unternehmenszentrale von CST und vergab die Aufträge an die Fahrer. Seit ich fünf Jahre alt war, kannte ich das Business. Mein erstes Taschengeld hatte ich dort als Handlanger verdient. Später war ich als Beifahrer in den Lieferwagen mitgefahren und viel herumgekommen. Ich mochte das Leben on the road. Wir fuhren endlose Strecken und schliefen kaum. Man war einfach frei.

Als ich sechzehn wurde, drückten meine Kumpel noch die Schulbank. Jahre zuvor, auf dem Internat, hatte ich eine Klasse wiederholen müssen, weil mich eine Lehrerin in Sport auf dem Kieker hatte. Sie schikanierte mich und war ein Totalausfall. Deshalb zeigten meine Kameraden und ich ihr, was »sportlich« bedeutet und dass wir es besser konnten als sie. Nachdem sie daraufhin dafür gesorgt hatte, dass ich nicht versetzt wurde, machte ich ihr die Reifen ihres Peugeot Cabrio 205 CTI platt. Prompt wurde ich von der Schule geworfen. Ich bekam massiv Dresche von meiner Mutter. Und von meinem Stiefvater, der mich einen »Strolch« und »Tunichtgut« nannte.

Émilienne, die Mutter meines Stiefvaters, war Wahrsagerin. Sie hasste Kinder. Und bastelte ständig Skulpturen aus allem möglichen Zeugs. Sie hatte magische Kräfte und wohnte in einem kleinen Häuschen in Romainville. Meine Halbbrüder (die Söhne meines Stiefvaters) und ich waren total beeindruckt von ihrem Haus. Eines Tages sagte Émilienne zu meiner Mutter: »Ich sehe deinen Sohn in einer Kapitänskluft, er wird viel auf Reisen sein.« Worauf der Bruder meiner Mutter, Onkel Jean-Claude, erwiderte: »Du meinst wohl diese gestreifte Kluft, wie sie Knastbrüder tragen, oder?« Das war das Bild, das meine Familie von mir hatte.

Mein Turf waren zwei oder drei Hochhaussiedlungen in der Banlieue, in denen ich allerdings den zweifelhaften Ruf eines »Direktorensöhnchens« hatte, obwohl auch ich aus der Banlieue kam, dieselben Mädchen gut fand, die gleichen Dummheiten machte und denselben Scheiß in den Läden klaute wie alle anderen dort. Der große Unterschied bestand darin, dass mein Stiefvater in der Lage war, sich ein kleines Haus in der Nähe von Meaux zu leisten, als Rückzugsort auf dem Lande. Ich fand es ganz schlimm dort und wollte nie mitkommen, sondern lieber mit meinen Kumpels auf dem Fahrrad die Gegend unsicher machen. Und noch größere Dummheiten als sie anstellen, nur um zu beweisen, dass ich einer von ihnen war.

Doch trotz anderslautender Vorurteile sind nicht alle Menschen aus der Banlieue Hallodris und Kriminelle. Meine Clique bestand aus den Brüdern Saïd und Saber, dann noch Peth, Fred und Ewan, Willy und Diego, Sedina und Moïse, und auch Éric, Sébastien und Tony waren Teil der Blase. Mit ihnen trieb ich mich herum, während meine Mutter in der Zentrale von CST an die hundert Kraftfahrer dirigierte und mein Stiefvater sogar die Wochenenden im Betrieb verbrachte.

Rue de l'Université, Juli 1990

Ich arbeitete damals im Lager von CST, mit Éric als Chef und José. Wir waren zuständig für den Transport und den Aufbau von radiologischen Geräten. Manchmal auch von Kunstwerken. Eines Tages rief ein gewisser Patrick Hourcade bei CST an, er wollte, dass wir auf einem Anwesen von Karl Lagerfeld Arbeiten erledigten. Meine Mutter Muguette, die großen Respekt genoss, teilte die Fahrer und Teams ein. Im Hause von Monsieur Lagerfeld war man auf der Suche nach einem neuen Transportunternehmen auf uns gekommen. Es galt, wertvolles Mobiliar aus einem Salon in einen anderen Raum eines Hauses im 7. Pariser Arrondissement zu verfrachten. Wir kamen an in der Rue de l'Université 51, und ich hatte keine Ahnung, bei wem und wo wir da gelandet waren. So stand ich auf dem Vorplatz eines prachtvollen Stadthauses in meiner Arbeitskluft mit der Aufschrift »CST« auf dem Rücken, es war zwei Uhr nachmittags und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus: Es sah aus wie ein Märchenschloss, und mir wurde klar, dass es sich hier nicht um einen gewöhnlichen Kunden handeln konnte. Wir mussten erst mal im Hof auf Einlass warten, innen dann standen überall Möbel aus dem 18. Jahrhundert herum. Erneut mussten wir uns gedulden. Clément, der Hausdiener, informierte, dass Monsieur noch nicht im Haus war. Geschlagene drei Stunden mussten wir auf seine Rückkehr warten. Ich wurde immer ungeduldiger und wäre am liebsten gleich wieder abgehauen. Als Monsieur endlich eintraf, war ich auf hundertachtzig. Mein Blick fiel auf seine im Nacken zusammengebundenen Haare. Er trug eine Brille mit getönten Gläsern. Eigentlich wirkte er nicht unsympathisch. Er entschuldigte sich sehr, dass er uns hatte warten lassen, und gab jedem von uns die Hand zur Begrüßung. Zu mir sagte er: »Sind Sie nicht viel zu jung für diese schwere Arbeit?« Ich erwiderte, es sei nur ein Ferienjob. Ich war der Einzige der Truppe, mit dem er ein paar Worte wechselte. Wohl, weil ich noch wie ein Kind wirkte. Dann machten wir uns unter Karls Anweisungen ans Werk. Eine halbe Stunde später war alles erledigt. Monsieur drückte jedem von uns 500 Francs in die Hand, und ich war völlig platt: Die Geste hatte nichts Arrogantes, sondern war begleitet von aufrichtiger Herzlichkeit. Wow, dachte ich, das nenne ich spendabel! Normalerweise mussten wir uns nach dem Schleppen eines tonnenschweren Röntgengeräts 200 Francs Trinkgeld untereinander teilen – 10 Francs pro Kilo Kupfer, ein Franc pro Kilo Stahl, 4 Francs pro Kilo Blei …

Spätestens da hatten wir kapiert, dass dieser Kunde wirklich etwas ganz Besonderes war.

Bei CST, 1991

In dem Jahr hatte ich die Schule geschmissen und im September angefangen, fest bei CST zu arbeiten, auf Mindestlohnbasis, aber ich machte viele Überstunden, so kam ich am Monatsende gut aufs Doppelte. Da meine Mutter an Krebs erkrankt war, konnten wir in dem Sommer nicht nach Saint-Cyprien ans Meer fahren. Ich war etwas angefressen und maulte herum. Mein »Onkel aus Amerika«, Jackie, der in Wahrheit aus einer Hochhaussiedlung im 13. Arrondissement stammte und früher mit illegalen Boxkämpfen viel Kohle gemacht hatte, verdiente sein Geld nun mit Festzeltbetrieben auf Rummelplätzen. Er nahm sich meiner an und schlug vor, dass ich während des Sommers für ihn auf dem Jahrmarkt in Argelès-Plage jobben könnte. Er bot mir auch ein Zimmer in seiner Wohnung in Argelès-Village an, das keine zehn Kilometer von Saint-Cyprien entfernt war. Jackie wusste, wie ich ticke. Er überließ mir sein Rad, mit dem ich nachts mit meinen Kumpels aus Saint-Cyprien herumfuhr. Übernachten tat ich bei irgendwelchen Mädels oder bei einem Kumpel. Wir klauten Fahrräder, kifften viel, und ich kam ständig zu spät zur Arbeit auf dem Rummelplatz. Eine Weile nistete ich mich bei einer Frau ein, die etwas älter war als ich. Ihr Typ bekam es spitz, machte mich rund und nahm mir meine Klamotten weg. Manchmal verdünnisierte ich mich auch tagelang und tauchte überhaupt nicht bei der Arbeit auf. Ich pennte im Freien auf einer Bank vor der Ferienwohnung in Saint-Cyprien. Total übermüdet. Oft auch total zugedröhnt. So ging das fast zwei Monate lang. Jackie war völlig abgenervt.

Alle meine Kumpel sind Blacks oder Araber. Freundschaft hat für mich keine Farbe. Ich stehe voll zu ihnen. Doch schon damals gab es im Süden viele Faschos. Einmal übernachtete ich bei meinem Freund Yann, der vietnamesische Wurzeln hat. Auf dem Dorffest in Saint-Cyprien liefen wir acht Skinheads in die Arme, alle etwa um die zwanzig herum. Es kam zu Beleidigungen. Ich gab derbe zurück. Setzte noch eins drauf, weil ich mich mindestens so nordafrikanisch wie meine Kumpel fühlte. Wer meine Kumpel anmacht, beleidigt auch mich. Das Resultat waren wüste Fußtritte und ausgekugelte Gelenke. Auch bei Yann.

Kurz vor der Abreise hatte ich meine Mutter noch im Krankenhaus in der Rue de la Convention besucht. Sie hatte sich ein Staphylokokken-Ekzem im Gesicht zugezogen. Mein Stiefvater wollte nicht, dass ich sie so sehe.

Er hatte mit zwölf angefangen zu arbeiten, in einem Altöl-Betrieb. Er hatte damals keine andere Wahl. Seit 1981 war er begeisterter Flieger gewesen, hatte sich sogar ein Stück Land gekauft, um daraus eine kleine Rollbahn zu machen. Als mein Kumpel Saïd die mittlere Reife schaffte, bekam er von seinem Vater einen Motorroller. Ich hingegen hasste meine Eltern dafür, dass sie mich zwangen, so hart zu arbeiten. Manchmal besuchte ich meine Halbbrüder Éric, Christophe und Thierry in der Marcel-Cachin-Siedlung in Romainville. Der Jüngste von ihnen war damals schon 23 Jahre alt. Die Ex-Frau meines Stiefvaters, Thérèse, nahm mich als Kind oft in Obhut, wenn meine Eltern in der Firma arbeiteten. Auch meine Halbbrüder fingen an, bei der Firma ihres Vaters zu arbeiten, die nun regelmäßig von Monsieur Lagerfeld beauftragt wurde. Ich sah ihn zunächst nicht wieder, weil mein Onkel Jean-Claude die meisten Aufträge für ihn erledigte.

Im September endete die Kirmes in Argelès, und ich sollte mit Jackie zurück nach Paris fahren. Ich kam eine Stunde später zum Treffpunkt als verabredet, und Jackie war ohne mich abgezischt. Ich war sechzehn, hatte kaum Geld in der Tasche und keine Ahnung, wohin. Also schlug ich bei Yann in Saint-Cyprien auf. Ein paar Tage später quetschten wir uns zu fünft ins Auto seiner Eltern und fuhren zurück nach Paris.

Weston plus Celio

Wieder zuhause, stellte mein Stiefvater mich erneut vor die Wahl: arbeiten oder mich verpissen. Deshalb fing ich noch im September an, Vollzeit bei CST zu malochen. Im Oktober bekam ich meinen ersten Lohn, von dem ich mir sofort ein Paar Weston-Boots kaufte. Mein zweites Gehalt floss in einen Kredit zum Kauf einer Motocross-Maschine. Den feierte ich mit Yann und meinem älteren Bruder Lionel in der Diskothek Le Central auf den Champs-Élyseés; natürlich in den neuen Westons. Außerdem hatte ich mir von meinem Stiefvater eine Pilotenjacke von Avirex »geborgt« und von Celio die passende Hose und ein Hemd dazu besorgt. Gegen fünf Uhr früh fuhren Yann und ich mit der ersten Schnellbahn zurück. Am Gare du Nord stieg eine Gang zu, vielleicht fünfzehn Mann stark. Yann und ich ahnten gleich, dass das in Ärger ausarten würde. Verschiedene Banden bekriegten sich da und raubten sich gegenseitig aus, auch ich war ein Teil davon. Das machte man einfach, wenn man in der Banlieue lebte.

Als der Zug in Pierrefitte-Stains einfuhr, meinte Yann, ich solle mitkommen und bei ihm pennen. Ich lehnte ab, weil ich nach Hause wollte. Er drückte mir unauffällig seine Tränengaspistole in die Hand, für alle Fälle. Dann stieg er aus. An der nächsten Station, Garges-Sarcelles, stieg niemand aus. Es war mittlerweile sechs Uhr früh. Dann kam meine Station: Villiers-le-Bel. Die Typen waren aus einer anderen Ecke von Gonesse als ich. Ich stieg aus und ging schnellen Schrittes durch die Unterführung, raus aus dem Bahnhof, auf die Bushaltestelle zu. Die ersten Läden, der Bäcker, der Metzger, öffneten gerade. Die Bande war mir gefolgt. Einer von ihnen hatte mich fast erreicht, als ich mich abrupt zu ihm umdrehte. Er fuchtelte mit einer Tränengaspistole herum, ich zückte meine und sprühte ihm eine ordentliche Ladung ins Gesicht. In Sekundenschnelle hatten sich die anderen auf mich gestürzt und prügelten auf mich ein. Auf allen vieren kroch ich rückwärts gegen eine Mauer. Als der Metzger merkte, was da vor sich ging, ließ er blitzschnell sein Gitter wieder herunter. Ein heranfahrender Busfahrer blockierte die Türen, sodass niemand einsteigen konnte. Keiner wollte mir helfen. Ganz allein musste ich mich gegen die wüsten Hiebe verteidigen. Bevor sie das Weite suchten, zogen sie mir schließlich auch noch meine Westons aus. Während ich hoffte, dass nun alles vorbei sei, machten vier von ihnen noch einmal kehrt, um mir auch noch die Pilotenjacke meines Stiefvaters zu klauen. In Strümpfen, mit blutender Nase, ohne Jacke und Westons stand ich da. Der Busfahrer hatte endlich ein Einsehen und öffnete die Tür, obwohl ich weder Geld noch eine Monatskarte bei mir hatte. Um halb acht war ich zuhause, wo mich meine Mutter und mein Stiefvater schon erwarteten. Ich dachte, wir würden nun zur Polizei gehen, um Anzeige zu erstatten. Doch mein Stiefvater war so wütend, dass er sein Jagdgewehr schnappte, sich hinters Steuer klemmte und mich anherrschte, einzusteigen. Ich hatte Angst, er könnte eine Dummheit begehen. Wir hielten vor der Metzgerei und warteten. Doch keiner der Typen tauchte mehr auf. Unverrichteter Dinge fuhren wir nach Hause zurück. An jenem Morgen waren mir nicht nur meine schönen Treter und die Jacke abhandengekommen, sondern auch jegliche Furcht. Ganz gleich, wie brenzlig manche Situationen in meinem späteren Leben auch sein würden – sie kehrte nie mehr zurück.

Monsieur Chanel

Die Anstellung bei CST führte mich eines Tages erneut in die Rue de l'Université 51, dieses Mal unter dem strengen Regiment meines Onkels Jean-Claude, des Bruders meiner Mutter. Ich wusste mittlerweile, wer Karl Lagerfeld war, aber irgendwie war es mir auch schnuppe. Für mich war er Monsieur Chanel, der in einem Schloss mitten in Paris lebte und bombastische Trinkgelder gab. Und das war das Wichtigste.

A., 1992

A. war halb Französin, halb Jugoslawin und süße sechzehn. Mit ihren blonden Haaren und den braunen Augen war sie die hübscheste der drei Schwestern. Sie wohnte in Le Thillay, und ihre Großeltern hatten einen Reiterhof. Ich war siebzehn und meistens mit dem Fahrrad unterwegs. Der Einzige, der schon einen Führerschein hatte, war Christophe, entsprechend klebten wir ihm an den Hacken. Eines Tages beschlossen wir aber, zur Abwechslung einmal reiten zu gehen. Warum? Keine Ahnung mehr. Ich glaube, es war Angèles Idee. A. ritt damals mit uns aus. Sie war so schön. Ich hatte Schlag bei Mädchen, aber nichts so richtig fürs Herz. Doch für A. wollte ich sofort Reiten lernen. Meine Kumpel zogen mich deshalb auf. Ihre Leute, behaupteten sie, wären ständig nur am »Fetemachen«. Ich wusste nicht, was das war. A. und ihre Freundinnen waren aus gutbürgerlichem Haus, wo Geburtstage gefeiert wurden. Das kannten wir gar nicht. Mein Freund Willy ging später mit A.s Cousine aus. So kamen wir mit dieser anderen sozialen Schicht in Berührung. Ich lernte durch A. auch eine Menge Jugos kennen, unter denen ich mich immer sehr wohl fühlte.

Meine Mutter hielt nichts von einer festen Beziehung. Sie meinte, ich solle meine Jugend genießen, und wollte, dass ich glücklich war. Von Anfang an, seit ich mit Mädchen ausging, hatte sie mir eingetrichtert, ja Pariser zu benutzen. Meinem Stiefvater war's egal.

A. ging aufs Gymnasium, und sie war meine erste große Liebe, mit der ich den Alltag teilte und auch in den Urlaub fuhr. Meine Kumpel und ich waren eine eingeschworene Clique, doch A. hatte kein Problem damit, sie mochte sie alle. Peth, dessen Eltern aus Laos kamen, ging mit ihrer Schwester. Willy, Peth und ich, die Schwestern und die Cousine, wir wurden eine große Familie, die fast neun Jahre lang zusammenhielt. Als ich mich in sie verliebte, war ich noch ziemlich grün hinter den Ohren. Gemeinsam mit ihr bin ich reifer geworden. Es gab viele »erste Male«, die wir zusammen erlebten. Nicht zuletzt den Beginn meines Lebens mit Karl. Sie wartete auch auf mich, während ich beim Sicherheitstrupp des Heeres in Biscarrosse meinen Militärdienst absolvierte, von April 1994 bis Februar 1995. Wir wurden gemeinsam erwachsen.