Volker Ebersbach
Irdene Zeit
Gedichte
Herausgeber: Dr. Heidrun Popp
ISBN 978-3-96521-624-2 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien 1999 im Heidrun Popp Verlag, Grimma (Band 3 der Grimmaer Reihe).
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Mit der „Grimmaer Reihe" ehren wir den Verleger, Drucker, Buchhändler und Schriftsteller Georg Joachim Göschen (1752-1828), der von 1797 bis zu seinem Tode in Grimma, der wunderschönen Stadt an der Mulde, Werke Goethes, Schillers, Wielands, Klopstocks, Ifflands, Seumes und weiterer Geistesgrößen dieser Zeit der Öffentlichkeit übergab und so der Nachwelt hinterließ.
Von großer Bedeutung ist auch Göschens Beitrag zur Buchkunst in Deutschland. So maß er neben einer sorgfältigen Lektorierung (Seume wirkte mehrere Jahre als Lektor und Korrektor hei Göschen) auch der Typografie, der Illustration, dem Druckpapier – der gesamten Buchgestaltung besonderen Wert bei.
Diesem Vorbild nachzueifern ist uns, einem in Grimma ansässigen Verlag, Ehre und Verpflichtung.
In der „Grimmaer Reihe“ werden belletristische Werke, vor allem Prosa und Lyrik, zeitgenössischer Schriftsteller sowie früherer Meister des Ortes veröffentlicht, aber auch Biografien berühmter Gestalten des kulturellen Lehens, Reiseberichte, Essays, literaturwissenschaftliche Darstellungen u.a.m.
Heidrun Popp
Grimma, im Frühjahr 1999
Dass diese Gedichte inzwischen Geschichte sind, ist leicht zu sehen. Im Grunde gilt das für jedes Gedicht, sobald der Dichter den letzten Vers endgültig festgelegt hat. Leser denken nur nicht immer daran. Da liegt der Vorteil später Veröffentlichung: Immer wieder liest der Verfasser seine Verse mit einem unzufriedenen Gefühl; lange kann er an ihnen feilen. Leser wollen ein Gedicht erleben, als Gegenwart sich aneignen, und wissen doch im nächsten Atemzug: Was die Verse sagen, ist vergangen, nur Boten des Vergangenen finden in Gestalt verbundener Worte in die Gegenwart des Lesens.
Damit ist die Frage nach der Entstehungszeit aufgeworfen. „Irdene Zeit ist eine lange gereifte Sammlung, eine Summe. Entstehungszeit heißt für sie nicht ein Jahr, ein Datum, eine Tageszeit, sondern eine Zeitspanne, während der immer wieder daran gearbeitet wurde. Leser haben jeweils die vorläufig letzte von mehreren Fassungen in der Hand. Oft haben sich im Lauf von Jahren nur einzelne Worte, einzelne Verse oder Teile von Versen geändert; manchmal verschwand eine ganze Strophe, ein andermal kam eine neue hinzu. So entstand eine Zusammenfassung von beinahe vier Jahrzehnten, in denen sich überall viel verändert hat, noch mehr aber geblieben ist, wie es war. Über beides mag man sich die Augen reiben, über das Veränderte wie über das Gebliebene. Die Pleiße ist nicht mehr schwarz. Aber die Bäume sterben noch. Bagger sind eine Weile verstummt und brüllen doch wieder. Ich darf meine Meinung sagen, ohne gerügt und benachteiligt zu werden. Aber noch immer denken sich andere mich aus. Sie haben gewechselt und sind doch dieselben. Das Einhorn kommt so wenig zur Ruhe wie die Liebesmühle, die Blätter fallen weiter, und Sisyphos wäre nicht er selbst, fände sein Stein festen Halt. Kolumbus ist unentwegt auf der Suche, denn was er fand, war nie das, was er suchte. Nichts von dem, was wir tun, erreicht genau den Zweck, zu dem wir es beginnen. Manchmal führen wir ein Unheil gerade mit den Mitteln herbei, die es abwenden sollten. Es gibt, wie vieles auch „nicht mehr so“ ist, zu allem noch ein Noch. Irdene Zeit geschieht, solange die Erde dauert. Der Teppich wiedergefundener Zeit fährt endlos davon. Und vielleicht Lehrt Sappho noch einmal wieder?
Volker Ebersbach
Sophienhöhe, im Januar 1999
Verwunschen und unzertrennlich –
ein Paar: Saale und Damm.
Sie, schlammig und schlampig,
trägt träge ihren faulen Zauber,
die Fron der Abwässerlast,
auf ruhigen Strecken still
selbstgedrehte Strudellöcher rauchend,
Schaum auf den Wellenlippen
und stärker riechend im
Schleppdienst der Dampfer,
an Mühlwehren und Schleusen.
Vermählt ist sie dem Lindwurm
aus Kies, Schotter und Sand
mit dem rasselnden Grillenpanzer:
Gescheitelt das zottige Rückgrat,
der Schopf aus Disteln und Ginster,
vom Radpfad der Kalikumpel.
Die streicheln mit surrendem Pneu
ihm täglich den Klettenbuckel,
den wachsam gebeugten, da
wo sie vor Zeiten auf Abwege kam,
die Prinzessin unter den Flüssen.
Da darf er nicht weichen
von ihrer Seite, da muss er
ihr heimleuchten mit Königskerzen,
da katzbuckelt sie manchmal,
da schmiegt sie sich leckend
an seine weichen Stellen –
verjagt ihm die Wühlmäuse
aus den schuppigen Flanken,
heimlich mit ihnen verbündet.
Da schielt sie noch naschhaft
nach Schwarzerde und Lette.
Auf die Erlösungsformeln
knorriger Eichen und Weiden
pfeifen die Lokomotiven. Entzaubert
ist nun die Landschaft:
Der Fluss macht gern Umwege? Nur
durch Zuckerfabriken und Mühlen!
Der Kirchglucke am Gräberhügel
die Schädeleier wegrollen?
Den Humus umquartieren?
Das macht jetzt der Bagger
für Ziegel und Kali.
Das ist eine Ehe!
Gewundene, geschraubte,
schilfträumende Memoiren
in die Niederung schreiben,
von Dorf zu Dorf, von Burg zu Burg
einfach das Bett wechseln,
auf verflossenen Liebespfaden
wie einst die Prinzessin
der Flüsse: Tanderadei –
an der Saale hellem Strande
ist das nun vorbei.
Wandernde Kupferstichwolken,
im Weichbild
scharf gestochen von gotischen Türmen,
auf Vogelschwärmen und Staub.
Von Westen naht die Schraffur
eines Regens über den Hügel, da
hockt eine Bockmühle flügellahm.
Kinder schreien ihn an, den
Ritter von der staubigen Gestalt,
Lerchen geben ihm ein letztes Geleit.
Majestätisch wälzt sich zum Himmel
das Qualmbanner. Die Schlote zielen
auf den liehen Gott und die Engel.
Sie keuchen ein Staubgebet. Mehr
ist nicht zu opfern, ein Pudergruß
den Püppchen im Wolkenaltar.
Der Zug schluckt das Gelerch.
Regen wischt über die Kupferstichwolken.
Im Fenster schwindet das Weichbild.
Der Sommer befiehlt
seinen Heureitern den Rückzug
südwärts über die Hügel,
blickt aus goldener Brille
in die Partituren der Wälder,
schlägt seine Orgeln
zum Requiem.
Geschlagen hat er die Schlacht
mit Finkengeschmetter und Mäusegepfeif,
mit Regengetrommel und Hagelgeklirr.
In der Dürre ließ er
sein Pulver trocknen, bis es
verrauchte aus brüllenden
Gewittertürmen.
Regenbögen trug er
landum,
verkündend den Ruhm
vorläufiger Siege.
Der Winter befiehlt seinen Winden
Vormarsch: Aufzieht Schneegewölk,
allwissend und untätig –
vorläufig siegreich.
Ohne die Traubenlast
richten die Rebranken sich auf,
welken die Blätter.
Auf dem Berg geht die Sonne
durch Dornengestrüpp
und läuft nicht aus:
Die kannst du nicht keltern!
Messinghell jagt sie die Ebene
hinab.
Eine Wolke wischt sie aus.
Im Pappellauh geht ein Wind
wie Regen.
Zwei Feuer fressen am Zwielicht
zwischen den Zotten des Grases.
Glasig krümmt sich am Haselspieß
Speck den Gluten entgegen.
Tropfend flüstert das Fett mit dem Rauch.
Von den gebeugten Rücken
wehen die Mäntel.
Im Winter werden sie schwer sein.
Auf dampfendem Wein
schwimmen Gewürznelken.
Klar steht im Glas der Pálinka,
trocken am Himmel der Mond.
Dein langgemasertes Haar:
Frisch aufgeschnittenes Holz.
Überall weht es mir nach.
Papierschiffe schaukeln darauf,
tragen den Sommer davon.
Ein Eckladen in Kispest:
Ein Treibhaus prismatischer Gewächse!
Beim Eintritt der blecherne
Dreiklang, der
hangelt sich durchs Zischen des Schleifsteins.
Hinter gewölbten
Brillengläsern ein
schleifsteingrauer, schleifsteinfeuchter Blick.
Leise, damit im Wägelchen das Kind nicht aufwacht,
ruft der blasse Mann die blasse Frau.
Wir wählen. Und sie
kassiert,
Er aber nimmt mit dem Löffelstiel
klingenden Abschied von jedem Glas.