3Wolfgang Knöbl
Die Soziologie vor der Geschichte
Zur Kritik der Sozialtheorie
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2375.
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-77282-9
www.suhrkamp.de
7Für Ulla
Großflächige, robuste Prozessbegriffe sind in den letzten Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften zunehmend unter Druck geraten, auch wenn die Kritik an ihnen selbstverständlich nicht von allen geteilt wird. Unverkennbar ist freilich, dass solche irgendwie universalgeschichtlich zu nennenden Termini wie »Rationalisierung«, »Differenzierung« oder »Modernisierung« schon aufgrund ihrer Bedeutungsvielfalt und aufgrund der mit ihnen verbundenen, oft unklaren normativen Implikationen nicht mehr restlos zu überzeugen vermögen. Aber auch weniger umfassende Prozessbegriffe (hier wären etwa »Individualisierung«, »Bürokratisierung« oder »Säkularisierung« zu nennen) haben an Plausibilität verloren, weil zum einen Globalhistorikerinnen oder Ethnologen auf »nichtwestliche« Phänomene aufmerksam gemacht haben, die mit diesen Begriffen nicht sinnvoll zu fassen sind, und weil zum anderen selbst im sogenannten Westen die soziale Wirklichkeit sehr viel komplizierter und gebrochener ist, als dies begrifflich solchermaßen eingefangen werden könnte.[1]
Die eben genannte normative und empirische Kritik an soziologischen Prozessbegriffen ging und geht einher mit wissenschaftstheoretischen Zweifeln, bleibt doch oft einigermaßen unklar, was denn genau unter einem »Prozess« zu verstehen sei. Jedenfalls scheint darüber ganz aktuell – und dies wird unter anderem im vorliegenden Buch zu besprechen sein – eine Debatte zu beginnen, die vor einigen Jahren in einer ganz ähnlichen Weise in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen um den Ereignisbegriff[2] geführt wurde. Denn der damals gestellten Frage »Was ist ein Ereignis?« kann man ja zwanglos eine weitere hinzufügen: »Was ist ein Prozess?«,[3] weil Prozesse ja eben Ereignisse verketten.
10Zugegebenermaßen wurden in der Soziologie bereits in den 1980er Jahren »absurde Prozesse«, »eigendynamische soziale Prozesse« oder »Gewaltprozesse«[4] theoretisiert. Aus heutiger Perspektive wird man freilich festhalten können, dass die Debatte, obwohl ab und an aufgegriffen, seither zumindest in Deutschland nicht recht vorangekommen ist. Dies lag zum Teil auch daran, dass in jener schon länger zurückliegenden Auseinandersetzung mit Prozessen letztlich unklar geblieben war, wie verbreitet derartig spezielle Prozessphänomene in der sozialen Realität tatsächlich sind und ob sie somit überhaupt als Ausgangspunkt für die Konstruktion allgemeinerer Wandlungsmodelle dienen können.
Und demzufolge hat man sich dann in der Disziplin mit der Situation insofern arrangiert, als man zwar nach wie vor großflächige Prozessbegriffe verwendet, deren Plausibilität und Tragfähigkeit aber in der Regel nicht hinterfragt oder auch nicht hinterfragen will. Man ist sich allenfalls einig, dass die mit »Individualisierung«, »Bürokratisierung«, »Säkularisierung« etc. bezeichneten Wandlungsformen wohl in den meisten Fällen nicht »eigendynamisch« sein dürften und dass man diesbezüglich auch keine vorschnellen Linearitätsannahmen machen sollte. Aber darüber hinausgehende theoretische Fragen wie etwa danach, von welcher »Prozesshaftigkeit« bei all diesen oft umstandslos verwendeten Prozessbegriffen die Rede ist, ob es also sinnvoll ist, mit Blick auf die diesbezüglich adressierten Wandlungsformen von einem Prozess zu reden, werden eher verdrängt. Dabei sollten sie aber doch für die Sozialwissenschaften absolut zentral sein! Falls die Skepsis gegenüber der Angemessenheit großflächiger Prozessbegriffe nämlich nur halbwegs berechtigt ist, dann stellt sich ja sofort die weitere Frage, ob in den Sozialwissenschaften überhaupt alternative Begrifflichkeiten und Ideen bereitstünden, um strukturierten historischen Wandel zu beschreiben.
11Sind die hier vorgenommenen Anmerkungen zur disziplinären Verwendung von Prozessbegriffen auch nur einigermaßen plausibel, so wird man kaum die Forderung abweisen können, den vermeintlich sicheren wandlungstheoretischen Wissensbestand sozialwissenschaftlicher Disziplinen gründlich zu durchforsten und gegebenenfalls zu entrümpeln. Innerhalb der Postcolonial Studies wird dies ja seit einiger Zeit energisch versucht, wobei allerdings die Ergebnisse nicht immer zu überzeugen vermögen, weil man sich, erstens, oft nur auf die Dekonstruktion herkömmlicher sozialwissenschaftlicher Termini beschränkt und dann so viel Konstruktives auch nicht anzubieten hat und weil die Dekonstruktion zweitens häufig mithilfe von Theorieversatzstücken erfolgt, die ihre Herkunft aus ganz bestimmten westlichen Diskussionskontexten kaum verleugnen können, die jedenfalls selten mit dem gleichen Eifer dekonstruiert werden wie die üblichen sozialwissenschaftlichen Großkonzepte. Übrig bleibt dann wenig mehr als ein Plädoyer für eine ganz andere Sozialwissenschaft, das zwar normativ irgendwie sympathisch wirkt, analytisch wie empirisch (gerade mit Blick auf die Untersuchung langfristiger historischer Abläufe) aber nicht recht weiterführt.
Letztlich steht auf der Tagesordnung also das Problem (und es ist das große Verdienst der Postcolonial Studies, darauf aufmerksam gemacht zu haben), mit welchen analytischen Werkzeugen sich überhaupt noch auf die Historie zugreifen lässt, ohne in ethnozentrische und sonstige Fallen zu tappen. Dies ist vermutlich nicht nur eine Schwierigkeit der Soziologie, sondern eine all derjenigen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, die sich nicht auf die Analyse von lokalen und punktuellen Vorkommnissen beschränken, sondern mit sogenannten Makrobegriffen arbeiten und in diesem Zusammenhang dann oft auch lange Zeiträume »überbrücken« wollen. Zu beantworten sind mithin ja folgende Fragen: Wie wird überbrückt, auf welche historischen Daten kann und soll man sich hier stützen, welche kann man ignorieren, und wie überzeugend können derartige Überbrückungsversuche überhaupt sein? Hier stößt man auf eine (nachhegelianische) Problemstellung, die schon zur Mitte des 19.Jahrhunderts von Johann Gustav Droysen (mit Blick auf die sich institutionalisierende Geschichtswissenschaft) folgendermaßen formuliert wurde: Unter welchen Relevanzgesichtspunkten muss Geschichtswissenschaft betrieben 12werden, wenn nicht mehr – wie bei Hegel – die Vernünftigkeit des Geschichtsprozesses als Ganzes unterstellt werden kann? Soll – so fragt Droysen mit rassistischem Einschlag – die Geschichtswissenschaft wirklich alle »Hottentotten- und Eskimostaaten«[5] untersuchen, jede obskure Familie, jedes Individuum? Die allgemeine Geschichte – so Droysen – würde im Fall einer positiven Antwort auf diese Frage in eine Fülle von »Spezialgeschichten« zerfallen, was nicht sein dürfe. – Nun muss man sich Droysens Problemstellung in dieser Schärfe sicherlich nicht zu eigen machen: Auf die Auffindung eines archimedischen Punktes, von dem aus sich das Ganze der Welt(geschichte) fassen und begreifen ließe, wird man ohnehin nicht mehr hoffen wollen und sollen. Und im Übrigen waren und sind die von Droysen genannten Staaten nicht weniger interessant als Preußen oder das heutige China. Andererseits stellt sich schon die Frage, wie die Globalgeschichte, wie eine für Globalisierungsfragen offene Soziologie etc. betrieben werden soll,[6] die sich einerseits nicht der völligen Willkür der (je zufälligen) Perspektiven ausliefern will, andererseits aber auch angesichts der angesprochenen empirischen wie wissenschaftstheoretischen Probleme mit einigem Recht zögert, die von den Klassikern ererbten großflächigen Prozessbegriffe einfach weiterzuverwenden.
Damit sind der Ausgangspunkt und der zentrale Fokus dieses Buches umrissen. In ihm geht es in der Hauptsache um die Frage, warum die modernen Sozialwissenschaften und hier insbesondere die Soziologie zwar einerseits von Anfang an robuste Prozessbegriffe benutzten, um ihre jeweilige Gegenwart zu erklären (eine soziologische Zeitdiagnose, die ohne Begriffe wie Individualisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung, Modernisierung etc. auskäme, scheint bis heute kaum denkbar zu sein), aber andererseits genau diese Begriffe und die mit ihnen verbundenen Aussagen und Thesen periodisch immer wieder kritisierten, weil man sich offensichtlich dann doch nicht so ganz sicher war und ist, wie gut sich damit 13Vergangenheit und Gegenwart fassen lassen. Besonders spektakulär zeigte sich diese Ambivalenz in letzter Zeit in den Debatten um den Säkularisierungsbegriff, der lange als schier unverzichtbares Instrumentarium galt, um die religiöse Verfasstheit der »Moderne«, ihrer Gewordenheit und ihrer gegenwärtigen oder sogar zukünftigen Tendenzen, zu verstehen und zu erklären. Wie aber spätestens seit den 1980er Jahren deutlich wurde, hat die etwa aus der Soziologie heraus artikulierte Kritik an diesem Begriff zugenommen – verstärkt durch ähnlich gelagerte Attacken aus den Nachbarfächern wie der Anthropologie oder der Geschichtswissenschaft, die sowohl die empirische Nützlichkeit dieses Begriffs wie auch seine internen Konstruktionsprinzipien in Zweifel zogen. Hans Joas, ein scharfer Kritiker allgemeiner Säkularisierungsthesen, hat deshalb gerade auch mit Bezug auf die Rede von der Säkularisierung (aber eben auch mit Blick auf »Rationalisierung« und »Modernisierung«) von »gefährlichen Prozessbegriffen« gesprochen,[7] durch die seiner Meinung nach die sozialwissenschaftliche Debatte oft in ein falsches Fahrwasser gerät.
Hier setzt das Buch an und ein, versucht aber das Problem anders zu fassen. Es wird nicht in erster Linie darum gehen, bestimmte Prozessbegriffe zu kritisieren und dann andere als unproblematisch bzw. unbedenklich einzustufen. Vielmehr will ich viel grundsätzlicher argumentieren, soll doch die These vertreten und verteidigt werden, dass die Sozialwissenschaften von Anfang an – und zwar infolge des Erbes der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus und der später vom Historismus aufgezeigten Problemlagen – enorme Schwierigkeiten hatten, überhaupt einen adäquaten Zugang zur Vergangenheit zu finden. Anders formuliert: Die Sozialwissenschaften waren entweder nie in der Lage, ihr geschichtsphilosophisches Erbe abzuschütteln, obwohl sie dies geradezu verzweifelt immer wieder neu versuchten; oder sie waren nie bereit anzuerkennen, dass in den von ihnen geprägten oder verwendeten großformatigen Prozessbegriffen fast immer auch eine gehörige Portion Geschichtsphilosophie steckte. Die Konsequenz war, dass 14es bis in die 1970er und 1980er Jahre hinein kaum ernsthafte Versuche gab, sich der Problematik dieser Prozessbegriffe in einer systematischen Weise zu stellen. Groß gebessert hat sich diesbezüglich die Lage auch heute noch nicht, die theoretische Auseinandersetzung mit »Prozessen« wird auch heute noch eher zaghaft und in der Regel von Einzelfiguren betrieben, was erhebliche Auswirkungen hat auf die vielen höchst unterschiedlichen Zeitdiagnosen, die in ihrem Kern mit genau diesen (problematischen) Begriffen operieren und die (vielleicht gerade deshalb?) seit diesen Jahrzehnten in immer kürzeren Zeitabständen auf den Markt geworfen werden, deren Halbwertszeit also kontinuierlich abzunehmen scheint.
Die Stichworte »deutscher Idealismus« und »Historismus« deuten schon an, dass es im Folgenden in der Tat nicht nur um Soziologie gehen wird, sondern – und dies wird im ersten Teil des Buches schnell deutlich – eben auch um Philosophie und Geschichtswissenschaft bzw. um deren Einfluss auf soziologische Debatten. Falsch wäre es aber, aus den Stichworten zu schließen, dass hier eine deutsche Problemlage verhandelt werden würde, ein Problem der deutschen Soziologie etwa. Vielmehr beginnt Kapitel 2 an einem Frühstückstisch im Rom der 1970er Jahre, an dem zwei Größen der damaligen Soziologie (der Franzose Raymond Aron und der US-Amerikaner Talcott Parsons) saßen und in symptomatischer Weise aneinander vorbeiredeten, bevor es dann einen Blick wirft auf das Paris der Zeit der Volksfrontregierung, wo – so die These – die beiden (in der Soziologie weitgehend ignorierten und/oder vergessenen) Dissertationsschriften von Raymond Aron verteidigt und publiziert wurden, die noch heute den Blick dafür öffnen könnten, warum es lohnt, sich mit Geschichtsphilosophie, Historismus und Soziologie gleichermaßen zu beschäftigen. Mit anderen Worten: Die Skizze der fehlgeschlagenen Kommunikation zwischen Aron und Parsons samt ihrer Hintergründe soll den Blick dafür öffnen, dass die Institutionalisierung der Soziologie als eine im Wesentlichen ahistorisch verfahrende Ordnungswissenschaft alles andere als selbstverständlich war, dass also auch ein anderer Weg möglich gewesen wäre.
Erst Kapitel 3 führt den Leser dann zurück ins Deutschland des langen 19.Jahrhunderts, als – überwiegend in Berlin – die Schlachten zwischen der Hegel’schen Geschichtsphilosophie und den vermeintlich rein empirisch verfahrenden historistischen Historikern 15wie etwa Leopold von Ranke oder Gustav Droysen geschlagen wurden, die freilich weder klare Verlierer noch klare Sieger hatten: Völlig abgeräumt werden konnte die Geschichtsphilosophie nämlich nicht, weil – wie sich schnell zeigte – die Historiker ganz ohne geschichtsphilosophische Versatzstücke auch nicht arbeiten wollten oder konnten, hätte man doch andernfalls vor dem Problem der willkürlichen Geschichtsinterpretation, der arbiträren Selektion von Fakten, kapitulieren müssen. Geschichtsphilosophische (manchmal auch religiöse oder metaphysische) Konstruktionen boten hier scheinbar Halt und Orientierung. Mit diesem »Unentschieden« in den genannten Schlachten hatten nun freilich auch die sich Ende des 19.Jahrhunderts etablierenden Sozialwissenschaften zurechtzukommen, standen sie doch vor dem gleichen Problem wie die Historiker. Wie selbst Max Weber noch erfahren musste, war es schwer, der Geschichtsphilosophie zu entkommen, was sich etwa an dem von ihm geprägten Begriff der »Rationalisierung« deutlich ablesen lässt.
Auch das 4. Kapitel bleibt weitestgehend in Deutschland, und zwar in demjenigen der Zeit der Weimarer Republik, insofern hier schlaglichtartig nachgezeichnet wird, wie (spätere) Größen des Faches versuchten, mit dem Erbe des Historismus (und der Geschichtsphilosophie) zurechtzukommen. Soziologen wie Alfred Weber, Karl Mannheim und Norbert Elias, Sozialphilosophen und Philosophen wie Ernst Bloch, Max Horkheimer oder Walter Benjamin legten hier zum Teil neuartige Entwürfe vor, die versprachen, den vom Historismus aufgezeigten Schwierigkeiten entkommen zu können oder jedenfalls einen angemessenen Zugriff auf die Vergangenheit zu erlauben und Zeitlichkeit zum Thema zu machen. Jedoch wurde schnell deutlich, dass man daran scheiterte und/oder selbst zu geschichtsphilosophischen Konstruktionen griff, die man nur als »gewagt« bezeichnen konnte. Damit endet der erste Teil des Buches.
Der zweite Teil beginnt in Kapitel 5 mit einem Blick in die USA und auf die dort in den 1950er Jahren formulierte Modernisierungstheorie, weil diesbezüglich dreierlei bemerkenswert ist bzw. deutlich wird. Zunächst lehnten sich die wandlungstheoretischen Thesen oft einigermaßen unreflektiert an Argumentationsmuster der Geschichtsphilosophie des 19.Jahrhunderts an, nicht zuletzt deshalb, weil man mit den in Europa gerittenen historistischen Attacken auf 16die Geschichtsphilosophie wohl so recht vertraut nicht war. Sodann wurden im Umfeld der Modernisierungstheorie Begrifflichkeiten (fort-)entwickelt wie diejenige der »Differenzierung«, die wichtige Theorieströmungen (wie die Systemtheorie) bis heute prägen und – insbesondere in Deutschland – Eingang gefunden haben in ganz andere Theoriedesigns, obwohl auch dieser Begriff seine geschichtsphilosophische Herkunft bzw. seine problematische Konstruktionsweise kaum zu verbergen vermochte. Schließlich führte die Debatte um die Modernisierung zur Kanonisierung des Epochenbegriffs der »Moderne«, der die wandlungstheoretischen Schwierigkeiten, mit denen die Soziologie seit jeher zu kämpfen hatte, nur noch weiter verstärken und zur Perpetuierung einer wenig reflektierten Geschichtsphilosophie in soziologischem Gewande beitragen sollte.
In Kapitel 6, das sich hauptsächlich den 1970er und 1980er Jahren widmet, zeigen sich in dem bis dato ziemlich düsteren Gemälde zum ersten Mal insofern hellere Flecken, als mit Blick auf die deutsche Geschichtswissenschaft und Soziologie, aber auch mit Blick auf Debatten in den französischen und US-amerikanischen Sozialwissenschaften herausgearbeitet wird, dass es punktuell – begrenzt auf einige wenige Autorinnen – durchaus vielversprechende Versuche gab, die meist unreflektiert gebliebenen Probleme von Prozessbegriffen zum Thema zu machen, also zu fragen, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit man überhaupt sinnvoll von Prozessen reden kann, und welche »Nebenfolgen« dabei immer mit zu bedenken sind. Die damaligen Auseinandersetzungen stellten teilweise schon die begrifflichen Instrumente zur Verfügung, die sich noch heute verwenden lassen, um zu einer konstruktiven Kritik von Prozessbegriffen beizutragen.
Kapitel 7 schließlich versucht darzulegen, dass die Verwendung großflächiger Prozessbegriffe in der Tat fast immer und unvermeidlich auch bestimmte geschichtsphilosophische und -theoretische Annahmen impliziert, denen man sich dann aber auch ernsthaft zu stellen hat. Die These wird hier sein, dass sich ohne eine systematische Berücksichtigung erzähltheoretischer Argumente eine einigermaßen stringente Debatte über Prozesse nicht führen lässt. Historische Daten oder soziologische Fakten sind nicht einfach gegeben und müssen dann nur gesammelt und zusammengefügt werden; das »Wie« der Aneinanderreihung von derartigen Daten und Fakten ist vielmehr eine höchst voraussetzungsreiche Angele17genheit, in der eine ganze Reihe von Problemen steckt, denen man sich bewusst sein sollte, wenn man nicht in argumentative Fallen laufen will. Die Soziologie soll und kann von der Literaturwissenschaft eine ganze Menge lernen, wenn ihr wirklich daran liegt zu erfahren, was sie tut, wenn sie etwa mit Prozessbegriffen arbeitet. In diesem Zusammenhang werden dann auch noch einmal ganz grundsätzliche Fragen nach dem Verhältnis von Kausalität und Erzählung gestellt, bevor dann – am Ende des Kapitels – an drei sehr unterschiedlichen Prozessbegriffen, dem der Industrialisierung, der Demokratisierung und der Individualisierung, durchbuchstabiert werden soll, was ein reflektierter Zugang zu Prozessen bedeutet und erfordert.
Das Buch endet mit einem kurzen Schluss, in dem der diesem Buch zugrunde liegende Versuch einer Historisierung und Kritik der Sozialtheorie nochmals resümiert und das Verhältnis zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft reflektiert wird.
Der Entstehungskontext des Buches ist schnell erzählt. Es geht zurück auf einen im Februar 2012 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) und dort in der damaligen School of History von Hans Joas und mir veranstalteten interdisziplinären Workshop zum Thema »Weltgeschichtsschreibung und Makrosoziologie«, in dessen Verlauf plötzlich die Frage zentral wurde, was man eigentlich unter einem (globalen) Prozess zu verstehen habe und wie genau ein solcher überhaupt zu definieren sei bzw. gefasst werden könne. Es gab meinem Eindruck nach diesbezüglich einige Ratlosigkeit – nicht nur bei mir selbst, sondern auch im Kreis der in Freiburg versammelten illustren Kolleginnen und Kollegen. Der Grad meiner Ratlosigkeit und Irritation war so hoch, dass ich das Thema immer wieder aufgriff – und dann wieder liegenließ. Erst in jüngster Zeit konnte ich mich dazu motivieren, der Frage kontinuierlich nachzugehen, vielleicht auch deshalb, weil man einer Irritation wie der Covid-Pandemie psychologisch vielleicht am besten dadurch begegnen kann, dass man sich intensiv mit anderen irritierenden Fragen (mithin mit solchen nach der Fassbarkeit und Darstellbarkeit von Prozessen) beschäftigt. Es wird schon seine Gründe haben, warum Franz Kafkas vielleicht wichtigstes Romanfragment Der Proceß heißt!
Danken will ich dem FRIAS für die äußerst kreative Arbeitsatmosphäre und den damaligen Direktoren der School of History, 18Ulrich Herbert und Jörn Leonhard. Und danken will ich Hartmut Bleumer, Hella Dietz, Mauricio Domingues, Adalbert Hepp, Christoph Jamme (†), Achatz von Müller, Michael Schumann, Jürgen Straub und Peter Waldmann, den Kolleginnen und Kollegen des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HSI), insbesondere Thomas Hoebel und Aaron Sahr, den Bibliothekarinnen und Bibliothekaren des Instituts und der Verwaltungsleiterin des HIS, Sabrina Broocks, die mir immer den Rücken freigehalten hat. Ein Dank auch an Jan-Erik Strasser, der dieses Buch so sorgfältig lektoriert hat. Und zuletzt: Es war immens hilfreich und beglückend zu wissen, dass – in schwerer Zeit – auf Claudia und Michael, Rebekka, Regina und Brigitta, Christine und Achatz, Gudrun und Wolfgang, Ruth, Ina und Claus, Hilal und Christina, Luise, Lea und David, Julian, Eleana und Naima (na ja, auf Letztere nicht so ganz) immer Verlass war.