Titel

Lale Gül

ICH WERDE LEBEN

Roman

Aus dem Niederländischen von
Dania Schüürmann

Suhrkamp

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Die niederländische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Ik ga leven bei Uitgeverij Prometheus, Amsterdam.
Die Übersetzung dieses Buches wurde von der niederländischen Stiftung für Literatur gefördert.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5235.

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Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagfoto: Annaleen Louwes

eISBN 978-3-518-77264-5

www.suhrkamp.de

ICH WERDE LEBEN

Ich werde Leben

Für meine inzwischen verstorbene Oma und für Defne

»Wie? Ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen?«Friedrich Nietzsche

»Ich will gelesen werden.«Multatuli

»Was macht ihr aus unseren Töchtern, o Sitten! Ihr zwingt sie zum Lügen und Heucheln. Sie dürfen nicht wissen, was sie wissen, nicht fühlen, was sie fühlen, nicht begehren, was sie begehren, nicht sein, was sie sind.«Multatuli

»Das tut kein Mädchen. Das sagt kein Mädchen. Das fragt kein Mädchen. So spricht kein Mädchen.«Multatuli

»Darin liegt das A und O der ganzen Erziehung. Und wenn dann so ein armes, eingeschnürtes Kind glaubt, stille hält, gehorsamt … wenn sie gänzlich unterworfen ihre liebe Blütezeit verbracht hat mit Beschneiden und Kappen, mit Ersticken und Schwächen von Lust, Geist und Gemüt … wenn sie, gehörig verunstaltet, verrunzelt, verdorben, ganz brav geblieben ist – das nennen die Sitten brav! – dann hat sie allenfalls die Aussicht, dass dieser oder jener Lümmel kommt, ihr den Lohn anzubieten für so viel Bravheit, indem er sie anstellt als Aufseherin über seinen Leinenschrank, als von ihm monopolisierter Patentapparat, sein ehrwürdiges Geschlecht zu erhalten. Es ist gewiss der Mühe wert!«Multatuli

»Des Menschen Berufung ist, Mensch zu sein.«

Multatuli

1

Ich hätte mit dem Strom schwimmen können; nichts wäre dann passiert, ich wäre nicht verstoßen worden. Doch heute treffe ich im Wissen um das Übermorgen eine sorglose Entscheidung.

Als Gedankenspiele bereiten viele Dinge im Leben Spaß, man setzt sie jedoch besser nicht in die Wirklichkeit um. Auf die Veröffentlichung dieses Texts trifft das auch zu. Ich gebe daher allen einen guten Rat à la Johan Cruyff: Hüllt euch besser in Schweigen über das, was ihr eines Tages bereuen könntet. Versehe ihn mit der Bitte, mir in meinen Bericht zu folgen. In der Hoffnung, dass ich einen Stein ins Rollen bringe.

Zehn nach elf am Abend, ich bin mit dem Schlüssel an Omas Haustür zugange, drehe ihn im Schloss. Der vertraute schale Geruch, der mir beim Betreten ihres Reichs entgegenschlägt, überwältigt mich auch dieses Mal, doch Sekunden später meine ich ihn nicht mehr wahrzunehmen, zum Glück. Mit üblen Gerüchen ist das so. Kommt man von einer neutralen Umgebung plötzlich an einen Ort des Gestanks – Schultoiletten, Klos im Universitätsgebäude, Umkleidekabinen von Fitness4Ladies Only im Amsterdamer Viertel Bos en Lommer, Freeks vollgerauchtes Zimmer (Hasch), die Wohnung meiner Erzeuger, wenn Mutter frittiert (no Dunstabzugshauben in den Hühnerverschlägen in Amsterdam-West) oder das blutige Schaf fürs Opferfest abgeliefert wird, oder eben Omas Wohnung –, dann wird man erst erschlagen, doch augenblicklich gewöhnt man sich daran; wie an so vieles.

Kaum bin ich in meinem Zimmer, reiße ich die Gardinen zur Seite und das Fenster sperrangelweit auf. Letztens habe ich überall in der Wohnung Duftstäbchen aufgestellt, aber der säuerliche Omageruch vermischte sich einfach mit grünem Apfel und Babypuder; keine Chance. Kann ja nicht wirken, schwant mir, denn der Ursprung allen Miefs besteht fort: Oma. Wie sagt man? Probleme müssen bei der Wurzel gepackt werden.

Mein jüngerer Bruder, Halil, er ist achtzehn, beschwert sich jedes Mal: »Mann, Alter, hier steht ja die Luft, macht doch mal die Fenster auf!« Darauf reagiere ich nicht mehr. Was soll man auch antworten? Die Ursache kennt er genau: Unsere kranke Oma stinkt in ihrem Bett vor sich hin, gehüllt in unzählige Kleidungsstücke, fetter jeden Tag. Speckrollen haben die Kontrolle über ihren Körper übernommen, als ob sie in ihnen versinkt, vor allem, wenn sie versucht aufzustehen. An den Knien leidet sie unter Erosion (etwas mit ihren Bändern oder so, Vater konnte es mir nicht erklären, sein Niederländisch ist mies und er redet mit dem Arzt). Außerdem leidet sie an Verkalkung, Asthma, Diabetes, Parkinson und Gott weiß was noch alles. Bewegung also schwierig. Der Arzt hat gesagt, eine Operation sei möglich, wenn sie mindestens 30 Kilo abnehme, sonst berge der Eingriff zu viele Risiken. Wird dann wohl leider nichts. Schon seit Jahren hören wir von den Männern in Weiß, sie müsse dringend Gewicht verlieren – da können die lange warten. Oma scheißt auf ihre Gesundheit. Läge es an ihr, würde sie erst fluchen, dann seufzen und schließlich sterben. »Dann bin ich erlöst«, sagt sie.

Seit Langem ist sie zynisch und von Schwermut befallen, wird nur noch von ordentlich Zucker einigermaßen munter, und das bisschen Genuss, die verfluchten Plätzchen, Apfelkuchen, Limonaden, das Milcheis und die Chips, will ich ihr nicht wegnehmen, sondern decke sie damit ein. Sie kann nicht lesen, kann sich die Zeit nicht wie andere Omas vertreiben. Türkisch beherrscht sie auf Bauernniveau, keinen einzigen Tag hat sie eine Schule von innen gesehen, ihr Vokabular ist armselig, ihr Horizont beschränkt, sogar das türkische Trash-Fernsehen zu hoch für sie. Ihr Allgemeinwissen ist so kläglich, dass sie glaubt, es gäbe nur drei Länder auf der Welt: Amerika, Türkei und die Niederlande. Amerika darum, weil ihr von vielen Menschen oft über diesen Ort des Verderbens, die geografische Verkörperung des Bösen, erzählt worden war. Die moderne Welt war so neu für sie, dass viele Dinge keinen Namen besaßen, um von ihnen zu sprechen, musste sie auf sie zeigen; daher kann ich über vieles nicht mit ihr reden, nur Belanglosigkeiten austauschen. In meiner Abwesenheit litt sie oft unter beunruhigender Ruhe oder auch Langeweile.

Mit meinen Erzeugern ist es ähnlich; als sie mit ungefähr 25 Jahren (Geburtsdaten unbekannt bzw. nicht registriert) in die Niederlande kamen, waren sie ebenfalls Analphabeten. Auch wenn das Problem seither mehr oder weniger aus der Welt geschafft wurde, gibt es genug andere Bereiche, in denen sie aufzuholen haben. Ihnen sind mehr Länder in der Welt bekannt, sie können aktuelle Ereignisse einordnen, doch sie beziehen Nachrichten plus Weltbild über die türkische Schüssel, also zu faktenfreiem, grellem Kitsch aufbereitete Propaganda, zurechtgestutzt für ein reaktionäres, kollektivistisches und ultrareligiöses Publikum. Nicht nur innenpolitische Anliegen, auch Außenpolitik. In letzter Zeit wurde ich ein paar Mal unfreiwillig Zeugin der Botschaften und hörte etwa, der niederländische Premierminister Rutte habe gesagt, die Türken sollten sich gefälligst aus den Niederlanden verpissen, und der Rechtspopulist Wilders habe zugesichert, das Land wieder muslimfrei zu machen. So weit lagen sie wahrscheinlich gar nicht daneben, man muss nur den Leitspruch »Die Niederlande wieder für die Niederländer« betrachten – was auch immer das bedeuten mag – und die Aufforderung, sich zu verpissen, die der Premierminister an Jugendliche mit Migrationshintergrund richtete, aber die Wirkung wäre eine andere gewesen, hätte man korrekt zitiert. Bombastische Toneffekte samt Bildern eines zornentbrannten Geert Wilders waren dem Beitrag hinzugefügt, und alles wurde in Endlosschleife wie auf HSE Shopping wiederholt.

Ein anderes Mal vernahm ich, dass die Niederlande türkische Pflegekinder bei homosexuellen Pflegeeltern unterbringen, um Muslime zu ärgern. Die biologischen Erzeuger eines Yunus aus Den Haag sprachen einem begierigen Reporter ihre Geschichte ins Mikrofon. »Wir haben gesagt, das stehe in Widerstreit zu unserem Glauben, aber unsere Vorbehalte wurden ignoriert. Das machen sie extra, weil wir Muslime sind!« Beim nächsten Mal wurde ich informiert, eine Abgeordnete der Sozialistischen Partei gebe sich offen als PKK-Anhängerin zu erkennen, was auch nicht weiter verpönt sei. Frau Karabulut werde gar gelobt und in ihrem Türkeihass von den Niederländern noch befeuert, die gemäß dem Motto »Teile und herrsche« die Türkei in einen Krisenherd und Satellitenstaat verwandeln wollten, denn dafür seien die perversen Bleichgesichter und monströsen Schoßhündchen Amerikas und Israels schließlich bekannt. Kuzu, ein niederländischer Politiker türkischer Herkunft, bemühte in regelmäßigen Abständen das Narrativ, die Niederlande seien durch und durch rassistisch, schlimmer, faschistisch, nicht nur die einfachen Bürger, sondern auch die Richter, Polizisten und eigentlich alle Institutionen. Sogar gegen das Grundgesetz werde verstoßen, wenn es um Muslime oder Menschen anderer Hautfarbe gehe. Er zeigte besonderen Eifer beim Namedropping türkischer Politiker in den Niederlanden, die gegen ihn oder seine Ideen waren, sodass die nach der Ausstrahlung ein Problem mehr hatten und ihren Urlaub in der Türkei vergessen konnten.

In letzter Zeit ging es häufig um die Bekehrung eines ehemaligen Rechtspopulisten zum Islam, von Muslimen auch »Rückkehr« genannt, da wir glauben, jeder werde als Muslim geboren und lediglich durch seine Erzeuger vom Weg abgebracht. Schon der zweite Vertreter von Wilders Partei PVV, der eine Metamorphose hinlegte – für uns ein Glücksfall; von notorischem, ungewaschenem, missratenem Rassisten und Islamhasser zum demütigen Muslim. Einst General der vordersten Front bei den Anti-Islam-Braunhemden Hollands, jetzt ein Held, der von seinen religiösen Fanatikerfreunden mit offenen Armen empfangen wird und ihr Wertefundament bestätigt. Die Gemeinschaft der Muslime hatte einen dicken Fisch an der Angel, ein neues Maskottchen, ein Paradepferdchen, und würde es nun unaufhörlich anpreisen. Religion funktioniert wie ein Unternehmen, man möchte große Namen mit sich in Verbindung bringen; wie bekannte Sängerinnen für eine Limonadenmarke über den Boden robben, hatten auch wir unsere Schlampe, unseren helper-whitey, den wir dem Patriarchat zur Prostitution zuführten.

Es gibt sicherlich seriösere Nachrichtensender im türkischen Fernsehen, ich weiß es nicht; meine Erzeuger hatten immer das Schwachsinnigenprogramm laufen. Das Interview mit Bauer Ali in den Straßen Anatoliens ist mir besonders in Erinnerung. Er wurde zu Charlie Hebdo befragt; Tenor war, tugendhaft sei die Tat nicht, Terror müsse verabscheut werden, aber diese Typen, eine Truppe Humoristen ohne Manieren, sogenannte Vorkämpfer des sogenannten freien Wortes, hätten schon auch darum gebeten. Schlaflose Nächte hätten sie jetzt eher nicht deswegen. »Wer ein bisschen Grips hat, kann sich die Gewalt ausmalen, für den Fall, dass man eine Person verspottet, die für so viele Menschen auf der Welt heilig ist. Deswegen weiß ich nicht, warum die Leute sich so aufregen«, sagte ein Mann. Wer braucht schon Wissen und Fachkenntnis, wenn er gesunden Menschenverstand hat? Aber wer weiß, und er hat Recht. Wählt man seine Feinde, sollte man die wirklich gefährlichen Typen besser links liegen lassen.

Auf jeden Anschlag im Namen unseres Glaubens folgt zuverlässig die Entkopplung von Tat und Motiv in meiner Community, man zeigt sich empört wegen der allgemeinen Empörung.

Was wohl eine Umfrage unter Türken, vor allem in der Diaspora, über unsere Haltung hinsichtlich Hebdo zum Vorschein brächte, würde mich interessieren. Zum Glück bedeutet das Recht auf freie Meinungsäußerung nicht Recht auf eine Bühne.

Der Witz, den wir nicht zum Lachen finden, wird uns bloßstellen. Tiefer als ein guter Witz schneidet nur wenig. Und ich verachte Menschen, die sich von der Pflicht entbunden sehen, zu kränken und zu provozieren, was mächtig ist.

Es ist bemerkenswert, wie Medien Menschen beeinflussen, auch ohne zu lügen. In der regionalen Presse konnte man neulich lesen, Wilders sei verurteilt worden für seine Frage »Wollt ihr weniger oder mehr Marokkaner?« (woraufhin die Menge »Weniger, weniger« skandierte), während die türkischen Blätter »Trotz Genozidsprache keine Strafe für Wilders« titelten. Beim letzten Mal, als ich unfreiwillig beschallt wurde, lief gerade eine Interviewreihe mit Türken aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden, die medizinische Eingriffe lieber in der Türkei durchführen ließen. Ihrer Überzeugung nach war die medizinische Versorgung dort besser, sie erzählten Anekdoten von Familie und Freunden, die in den Niederlanden zu hören bekamen, körperlich würde ihnen nichts fehlen, ihre Schmerzen und Beschwerden seien stressbedingt, in ihren Herkunftsländern aber entdecken mussten, dass sich ein wucherndes Krebsgeschwür in ihnen breitmachte und sie schon zu viel Zeit verloren hatten. Bei Tante Kadriye, Eierstockkrebs im Endstadium, ist das so gewesen.

Auch die anderen Interviewpartner ließen, Popschutz unter der Nase, verlauten, sie würden lieber im eigenen Land unterm Messer liegen, denn der Rassismus, Hass, die Fremdenfeindlichkeit in den Niederlanden, Gefühle, die sich auch in der Brust ihrer Ärzte regen konnten, würden ihnen Sorge bereiten. Eine schlicht gekleidete Frau fasste es folgendermaßen in Worte: »Die rechtspopulistische Partei wird von vielen gewählt, auch der Arzt von mir und meinen Kindern ist vielleicht darunter. Blind kann ich dem nicht vertrauen und Vertrauen ist wichtig.« Wollte man Brücken bauen, wäre Vertrauen tatsächlich wichtig, aber mir schien vielmehr, dass die bestehenden, wenn auch wackligen Brücken abgerissen wurden. Die Gräben wurden tiefer, Feinde konnten sich nicht mehr in die Augen blicken, geschweige denn miteinander sprechen.

Heute Mittag wurde ich von demselben Sender informiert, dass eine Gruppe Strenggläubiger in den USA gegen Abtreibung auf die Straße gegangen war. Die Todesstrafe solle auch für Mörder ungeborener Babys gelten. Ich bin genauso Anhängerin der Todesstrafe, aber nur für die, die das Kind in sich selbst getötet haben.

Von allen häuslichen Aufgaben ist Oma befreit. Ich kümmere mich, auch wenn Mutter in letzter Zeit zugegebenermaßen mehr tut als ich, da ich kaum noch zu Hause bin, seit ich zwei Nebenjobs habe, einem Studium nachgehe und dazu noch eine heimliche Fernbeziehung führe.

Die Medikamente, die Oma jeden Tag einnehmen muss, kann man riechen, sie dringen aus ihren Poren. Es ist nicht gerade hilfreich, dass sie selbst nie auf die Idee kommt, die Balkontür oder ein Fenster aufzumachen, vor allem, wenn ich den ganzen Tag außer Haus bin. Ich habe Oma häufiger gebeten, habe es mal angeordnet, sie ein anderes Mal angefleht, die Wohnung in meiner Abwesenheit zu lüften. Sie weigert sich. Geht ihr alles am Arsch vorbei. Sie ist eben ein Häufchen Elend, beschädigt, rundum betrogen von ihrer Vergangenheit, lebensmüde, trübsinnig schon seit Jahrzehnten und zu normalem Funktionieren schlicht nicht in der Lage – unmöglich, ihr böse zu sein. Viel Misere hat Oma durchgestanden, es gleicht einem Gotteswunder, dass sie noch nicht unter die Räder gekommen ist, schließlich war ihr von den Göttern reichlich beschieden: ein Aufwachsen in extremer Armut als Waise mit einem dahinsiechenden, kränklichen, unfähigen Vater, Zwangsverheiratung als Zwölfjährige mit ihrem Cousin, mehrmalige Vergewaltigung und Misshandlung in der Ehe, häusliche Gewalt unfassbaren Ausmaßes, Mutterschaft mit dreizehn, ein spielsüchtiger Partner, der alles Geld verlor und sich als brutaler, unberechenbarer Typ erwies, im Suff regelmäßig bösartig wurde, mehrere ihrer Kinder ermordet oder schwer misshandelt hat (unter anderem meinen Vater) und Onkel Bahattin behindert geprügelt hat, der sich dann, einmal in den Niederlanden angekommen, von Oma scheiden ließ und inzwischen mit einer vierzig Jahre jüngeren Dame aus einem gottverlassenen türkischen Dorf verheiratet ist, die er durch seinen niederländischen Pass – ergo Geld – dazu hat verleiten können. Inzwischen hat er fünf Kinder mit ihr, das jüngste, so sagt man, wenige Tage alt. Opa ist über siebzig, sein Fortpflanzungsapparat funktioniert aber anscheinend prächtig.

Ich habe Opa noch nie gesehen. Er wohnt auch in Amsterdam, vielleicht ist er mir schon über den Weg gelaufen. Nur Vater hat sporadisch Kontakt, der Rest von uns kennt ihn ausschließlich aus Erzählungen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Manchmal spricht Oma noch von Ayse und Atikè, ihren beiden Töchtern, die als Säuglinge von ihrem Vater erdrosselt wurden. Sie plärrten zu viel, das trieb ihn in den Wahnsinn. Als Oma ihn verfluchte, ihn wüst beschimpfte – ihr Mut unerprobt, unanständig –, kriegte sie den Topf kochender Milch über ihre Beine. Nur eine von unzähligen Anekdoten, aber ich belasse es hierbei.

In ihrer Jugend war Oma hübsch, Verehrer bzw. um ihre Hand anhaltende Männer gab es reichlich, aber egal, ihr Vater hatte bereits bei der Geburt die Verheiratung mit dem Cousin besiegelt. In jenen Gegenden sprach man von Wiegenschwur. Erzeuger bestimmten, dass zwei Babys – meistens aus einer Familie, das war so schön vertraut – verheiratet werden sollten, wenn sie denn reif dafür waren. Körperlich reif.

Also ja, Oma macht keiner mehr was vor. Ihr Leidensweg hat sie zu einer müden Frau gemacht. Eine konsequent gelebte Antriebslosigkeit ist radikaler als Selbstmord. Und Gleichgültigkeit eine Gnade. Sie hielt sicheren Abstand zu jedem Fünkchen Begeisterungsfähigkeit. Selbstschutz auf Kosten anderer.

Die Tragik der Geschichte: sie ist inkontinent, kann noch zur Toilette, um einen abzuseilen, aber das Pinkeln wird in ihren Pampers erledigt. Und das riecht man. Tagein, tagaus. Die Wohnung mieft, vor allem im Sommer ist es kaum auszuhalten. Die aus Holz gebauten und renovierungsbedürftigen Wohnungen hier sind winzig, man tritt sich gegenseitig auf die Füße, kann sich nicht ungehindert umdrehen, ohne mit seinem Hintern irgendwo anzustoßen, was das Zusammenleben mit Oma nicht komfortabler macht, dennoch sind alle Nachteile verschwindend gering gegenüber dem einen Vorteil, den ich bei Oma genieße: Sie ist nett zu mir. Sie ist mein Kumpel.

Die Wohnungen haben jeweils zwei Schlafzimmer, es knarrt, knirscht, die Wände sind hellhörig, man kann eigentlich gleich bei offener Tür kacken. 48 m2 sind sie groß und bezahlbar, darum wohnen wir hier. 450 Euro, ein Spottpreis für ein Loch in Amsterdam. Meine Kommilitonen müssen allein 700 für ihr Ein-Zimmer-Studio zahlen. Wir wohnen nicht etwa günstig, weil die Wohnungsbaugesellschaften Menschenfreunde sind, sondern weil wir hier schon mehr als zwanzig Jahre wohnen. Bei einem Auszug würde die Miete sofort angepasst, wahrscheinlich auf 750 Euro für einen vorsintflutlichen Schuhkarton im Problemviertel. Oder Powerviertel. Oder Wowviertel. Oder meinetwegen Gebiet mit besonderem Aufmerksamkeitsbedarf. Weil es sozialer Wohnungsbau ist. Vom freien Markt ganz zu schweigen.

Unser Viertel hatte es damals in die Zeitung geschafft; Kolenkitbuurt wurde offiziell als die schlechteste Wohngegend der Niederlande ausgezeichnet, da der Bezug von Transferleistungen bemerkenswert hoch war, so bemerkenswert wie die sprachlichen Defizite, die Jugendkriminalität, das Ausmaß an Vandalismus und die katastrophalen schulischen Leistungen. Auf dem Foto zum Artikel war Oma abgebildet, die damals noch draußen herumlaufen konnte. Die ganze Nachbarschaft sprach über Oma in der (Gratis-)Zeitung, der Inhalt wurde ignoriert; wahrscheinlich konnten die meisten sie nicht lesen.