Für Siegfried

Otto Niemeyer-Holstein Lebensstrategie

„Im Alter muss man so viel eigene Arbeit haben, dass man von seinen eigenen Arbeiten angeregt wird“. Otto Niemeyer-Holstein bemüht sich, jeden Tag zu arbeiten. Damit hat er 1917 begonnen und sich so aus einer Lebenskrise befreit. Er beginnt zu zeichnen. Er wird bis ins hohe Alter versuchen, jeden Tag zu arbeiten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2022 Ingeborg Bauer

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7557-5082-6

Ein Tag im Februar 1963 während der See-Gfrörne am Bodensee

Grau und neblig – ohne Konturen, ohne Raum erinnere ich die Fläche des Bodensees, keine Farben, allein Geräusche. Eine Klassenkameradin und ich wollten Eislaufen auf dem gefrorenen See. Es war die See-Gfrörne im Winter 1963. Gedacht war wohl an ein vergnügliches Gleiten auf Schlittschuhen in Ufernähe. Doch verführte die Fläche wohl weiter hinaus zu fahren – schließlich konnten wir das zurückliegende Ufer nicht mehr ausmachen. Über eine offene Stelle war eine Leiter gelegt, an manchen Stellen konnte man verhalten glucksendes Wasser, ein gedämpftes Rauschen vernehmen … Ich erinnere mich nicht, dass wir miteinander geredet hätten, auch liefen wir nicht eigentlich zusammen über das Eis. Jede für sich, allein in dem konturlosen Dämmergrau. Schließlich kam das andere Ufer in Sicht. Wir liefen schneller, das Schweizer Ufer schien ein sicherer Hafen. Die Angst trieb uns vorwärts. Wir kannten niemanden am fremden Ufer, wir hatten kein Geld dabei, keinen Ausweis. Handys würde es noch lange nicht geben. Wir mussten zurück, ohne Verzug. Inzwischen war die Dämmerung weit fortgeschritten, wir fuhren einfach geradeaus ins Dunkel. Ich glaube, wir haben auch jetzt nicht geredet. Jede fuhr für sich. Wir waren allein mit der Weite, der Kälte, dem gelegentlichen dumpfen Rauschen unter uns. Wir waren aus der Zeit gefallen. Schließlich leuchteten in der Ferne, zunächst ganz schwach, Lichter auf, das deutsche Ufer. Wir würden es schaffen. Wir hatten es geschafft.

Inhalt:

IM DIALOG MIT SICH SELBST UND DEM MEER

Uwe Kolbe im Februar 1963 auf Usedom 1

Der vierzehnjährige Uwe ist auf Klassenfahrt für ein paar Tage auf der Insel Usedom. „In Trassenheide war es die fünf Tage, die ich und meine Klassenkameraden dort verbrachten, dunkel. Wir schrieben Februar. Es war dunkel und wurde höchstens dämmrig. Für uns herrschte Dunkelheit.“ 2

Man kam an und wollte sogleich zum Meer. „Auf dem Weg musste ich innerlich das Wir verlassen oder, anders gesagt, mich vom Kollektiv verabschiedet haben. Es gab etwas, was ich nicht teilen konnte […] das Herzklopfen, wenn der Weg absehbar Richtung Meer führte. Wenn es wirklich ans Meer ging […]. Das Ereignis des Himmels zuvor gehörte dazu. Wie er sich weitete und weitete. Wie die Horizontlinie schwand, sich zurückzog, ins schiere Nichts abkippte, wegtauchte […]. Da war die Einsamkeit auf der Oberfläche des Planeten gesucht. Nur ich, nur ich und das Meer.“ 3

„Jenseits des schmutzig wirkenden Strands lag eine weite schneebedeckte Fläche. Sie war von Verwerfungen durchzogen. An den Bruchlinien ragten Eiskanten auf. Das Meer war in den letzten Wochen, nach Temperaturen von unter minus zwanzig Grad Celsius, gefroren. […] Irgendwo weit hinten oder besser gesagt vorn, da draußen war ein dunkelgrauer Streifen offenen Wassers auszumachen.“4

„Am nächsten Tag ging es vormittags auf Strandwanderung, endlos unter dem grauen Himmel entlang.“ In Zinnowitz sehen sie eine Art von Architektur, die Kolbe als „Laubsäge-Barock“ bezeichnet, mit Verzierungen, die er von den Vororten Berlins, wo seine Großeltern wohnen, kennt. Diese Häuser waren „überwuchert von hölzernen Ornamenten. Hier hatte man sie meist weiß angestrichen, irgendwann einmal.“

„Für einen der Tage […] war […] der Besuch in einem Künstleratelier vorgesehen. […] Der Maler sei sehr bedeutend. Er lebe hier schon sehr lange. Er sei weit über die Insel hinaus bekannt. Hier auf Usedom jedenfalls sei er die berühmteste lebende Persönlichkeit. Seine Bilder würden die Insel sehr schön abbilden. Und sein Haus, das sei eine extra Überraschung.“ 5

„Das Grundstück mit dem Atelier befand sich auf der schmalsten Stelle der Insel, wurde uns erklärt. […] Das Achterwasser lag vor uns unter Eis und Schnee, die See irgendwo jenseits von Bahndamm und Straße. Unter der grauen Windstille war nicht zu ahnen, dass es hier die Insel schon einmal durchtrennen konnte, wenn bei starkem Nordost schwere See über das Land kam. Knapp einhundert Jahre bevor wir hier halbwegs trockenen Winterschuhs Richtung Künstleratelier stapften, war das zweimal geschehen. […. Wir betrachteten] den S-Bahn-Wagon, der vor vielen Jahren hierher verfrachtet worden war. […] Nun saßen wir in dem Atelier, über dessen Tür TABU stand, um ungebetene Gäste abzuschrecken. […] Wir schauten die Bilder an, aufgestellt wie zu einer Ausstellung. [… Ich ahne], dass wir andächtig dort saßen. Otto Niemeyer-Holstein war damals 75 Jahre alt und eine imposante Erscheinung. Die Aura des Künstlers füllte den Raum und erzeugte Zurückhaltung. Die Bilder, nun, sie bildeten etwas ab, das da draußen zu anderen Jahreszeiten anders aussah oder überhaupt erst vorhanden war: Blumen und Sträucher im Garten, die Küste, die Bäume. Mal war es auch eine Figur oder ein Gesicht, dort auf der Staffelei.“ 6

Der Junge kennt schon Van Gogh. „Niemeyer-Holstein, in dessen Atelier wir noch immer saßen, hatte, so schien es, van Goghs Bilder auch irgendwann einmal auf sich wirken lassen. Wir […] hatten vor allem schon Caspar David Friedrich gesehen. Seine Ansichten vom Meer bestimmten das Bild. […] Friedrichs ‚Eismeer’, das Bild mit dem Mönch am Meer, seine Hafenansichten, die Darstellung der Lebensalter vor den stillliegenden Segelschiffen, sie hatten uns erwischt. […] Sie wurden Ikonen des inneren Auges und als solche Begleiter fürs Leben.“ 7

Am Abend löst sich der Vierzehnjährige aus der Gruppe der Gleichaltrigen aus Enttäuschung darüber, dass ein anderer ihm das Mädchen weggenommen hat, dem er sich scheu zugewendet hat, „ohne dass es einer gesehen oder geahnt hätte, schon gar nicht sie selbst. […] Mir war zum Heulen. Ich zog mir die Jacke an, ging hinaus und davon.“ 8

„Es war dunkel und kalt. Es war vor allem kalt, eiskalt. Was mir dunkel vorkam, war ein bewegtes, eher mittleres Grau. Die Wolken schienen zum Greifen nah. Sie zogen als Fetzen in allen Schattierungen von Grau über den Spätabendhimmel. Oder vielleicht war es noch gar nicht spät?“ Ein eisiger Wind „blies von der See her. Meine Wangen waren schon ganz taub. Ich erreichte die Düne. Es war ein Schock. […] Was wir in den Tagen zuvor nebenher schön, gewiss sogar beeindruckend gefunden […], da war es. Unerhört. Unglaublich. Fremd. Erregend.“

„Der Himmel stürzte heran. Ich fühlte die Geschwindigkeit der Wolken, sie trieben mir entgegen und über mich hin, als risse jemand die Decke eines geschlossenen Raums rasend fort, das Gewölbe eines Tunnels, der in seinen Ausmaßen alles übertraf. Die Sicht war nicht gut. Es war diesig.“ Der Junge erfährt [das Eis] als „pure Gefahr“, als „pure Erregung […]. Wenn nun das erste Mal hoch aufgeschobenes Eis vor dir liegt, aufgebrochenes, im Bersten erstarrtes Eis, dann denkst du unvermittelt, das sei ‚wie auf dem Bild von Caspar David Friedrich’. Dabei war das hier selbstverständlich besser, oder nicht? Es war doch ‚das wirkliche Ding’.“ Der Junge war angezogen „vom Erhabenen“, „vielleicht durch die Ikone des Bildes im Kopf verstärkt […] Das Wirkliche war größer als die Kunst. […] Aber das Wirkliche war noch größer, weil es die Kunst gab. […] Ich trat in etwas Gigantisches ein, allein. […] Mein Privileg war die Einsamkeit. Mein Privileg war das Große und ich, miteinander im Zwiegespräch.“ Er kämpfte sich vor an die Kante: „die Schroffen und Schrunden der Bruchkanten […]. Hier konnte dieses Ich der Mittelpunkt sein, alleinsam [sic!], grandios.“ Eine Scholle kippt und er steht plötzlich im eisigen Wasser. Er erschrickt und findet jetzt „das große Drohende nur noch kalt, nass, schrecklich und stolperte und stakste vorsichtig zurück.“ Zurück in der Jugendherberge schreibt er sein erstes Gedicht. „Die Überschrift lautete ‚Ich’. Es ging um den Dreiklang von Ich, Eis und See.“ 9


1 Uwe Kolbe, Mein Usedom – Abschied von Vineta (Hamburg 2014) - Uwe Kolbe, geboren 1957 in Ostberlin, übersiedelte 1988 nach Hamburg, wo er heute nach Jahren in Tübingen und Berlin, wieder lebt. Er ist in erster Linie Lyriker, schrieb aber im selben Jahr wie „Mein Usedom“ einen autofiktionalen Roman: „Die Lüge“ (2014).

2 Uwe Kolbe a.a.O. S.7

3 Uwe Kolbe a.a.O. S.9-10

4 Uwe Kolbe a.a.O. S.10

5 Uwe Kolbe, a.a.O. S.11

6 Uwe Kolbe, a.a.O. S.13 - ONH war damals nicht 75, sondern 67 Jahre alt.

7 Uwe Kolbe, a.a.O. S.16

8 Uwe Kolbe, a.a.O. S.18-19

OTTO NIEMEYER-HOLSTEIN – LEBEN UND SCHAFFEN AUF USEDOM

Das Grau meines Februartages auf dem zugefrorenen Bodensee und das nächtliche Erleben von Uwe Kolbe am Strand von Usedom stehen in einem gewissen Kontrast zu dem Bild, das Otto Niemeyer-Holstein in „Usedomer Strand im Winter“ 1964 malt. Es ist ein Meisterwerk. Ein sonnig kalter Tag, in dem Farbe und Form einander finden.

ONH, Usedomer Strand im Winter / Eisbarriere am Usedomer Strand“, 1964

„Wenn ich [etwas] wirklich erfasse und einen Organismus schaffe, der dem entspricht: da muss die ganze Welt drin sein.“

Otto Niemeyer-Holstein

Jedes Jahr auf Usedom führt uns auch nach Lüttenort in das Anwesen, die Galerie des Malers Otto Niemeyer-Holstein. Ich denke, es war das erste Bild, das mich nicht mehr losließ, der „Usedomer Strand im Winter“, das auch den weiteren 10