Dorothee Döring
Familien im Stresstest
Wegen stilistischer Klarheit und leichterer Lesbarkeit wurde im Text auf die sprachliche Verwendung weiblicher Formen verzichtet. Ausdrücklich sei hier festgehalten, dass die Verwendung der männlichen Form inhaltlich für alle Geschlechter gilt und keinesfalls einen sexistischen Sprachgebrauch darstellt.
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44, 53, 55, 60, 68, 69, 71, 77, 83, 92, 93, 94–95, 98, 104, 105, 106–107,
112, 120, 123, 133, 140: © irkus, iStock
Lektorat: Mag. Katharina Schindl, Wien
Typographie und Satz: Florian Spielauer, Wien
Druck: Finidr, Tschechien
ISBN 978-3-99002-140-8 (Print)
ISBN 978-3-99111-526-7 (E-Pub)
Inhalt
Einführung
1Die Familie im 21. Jahrhundert
Die gesellschaftliche Bedeutung der Familie
Das System Familie und seine Dynamik
Intakte und gestörte Familien
Das Idealbild einer perfekten Familie
Familienformen
Die klassische Familie
Die Patchworkfamilie
Die Ein-Elternteil-Familie
Die Regenbogenfamilie
2Familiäre Konfliktquellen
Die Unterschiedlichkeit der Charaktere
Die Unvereinbarkeit verschiedener Bedürfnisse
Mangelnde Wertschätzung
Unerfüllte Erwartungen
Einmischungen, Übergriffe und Grenzüberschreitungen
Eltern und ihre pubertierenden Kinder
Eltern und ihre erwachsenen Kinder
Schwiegereltern und Schwiegerkinder
Bevorzugung und Benachteiligung der Kinder durch die Eltern
Geschwisterkonflikte
Erbschaftskonflikte
Missverständnisse und Unterstellungen
Kommunikations- und Konfliktunfähigkeit
Permanente Überforderung
Die Corona-Pandemie
Familiengeheimnisse und Lebenslügen
Häusliche Pflege
Familiäre Beziehungsstörungen
Beziehungsstörungen auf der Paarebene
Beziehungsstörungen auf der Eltern-Kind-Ebene
Ursachen gestörter Mutter-Tochter-Beziehungen
Ursachen gestörter Vater-Sohn-Beziehungen
Weitere Ursachen für Beziehungsstörungen auf der Eltern-Kind-Ebene
Konfliktfeld Patchworkfamilie
Konfliktfeld Ein-Elternteil-Familie
3Folgen ungelöster Familienkonflikte
Der eskalierende Streit
Schleichende Entfremdung und Kontaktabbruch
Erkrankungen
4Wie das familiäre Miteinander gelingen kann
Konfliktanalyse
Konfliktquellen und Konfliktauslöser
Konfliktmuster
Konfliktverstärker
Sensibilisieren der Wahrnehmung
Eigene Bedürfnisse und die anderer wahrnehmen
Emotionen richtig einschätzen
Konflikt- und Kompromissfähigkeit trainieren
Die Bedeutung von Konflikt- und Kompromissfähigkeit
Wertschätzende Kommunikation
Selbstreflexion und Perspektivwechsel
Toleranz und Wohlwollen
Überempfindlichkeiten abbauen und seelische Widerstandskraft aufbauen
Die Bereitschaft zur gemeinsamen Konfliktlösung
Der behutsame Neuanfang nach einem Konflikt
Der letzte Ausweg – die professionelle Konfliktlösung
Quellen
Stichwortverzeichnis
Einführung
Obwohl sich alle Menschen ein harmonisches Familienleben wünschen, verläuft das familiäre Miteinander nicht immer problemlos. Die Unterschiedlichkeit der Charaktere der Familienmitglieder, die Unvereinbarkeit ihrer Bedürfnisse und unerfüllte Erwartungen sind schon Gründe genug für Streit und für Konflikte untereinander. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Konfliktquellen.
Im ungünstigen Falle eskalieren Streitereien, verfestigen sich Konflikte, spricht man nicht mehr miteinander oder wählt als Ultima Ratio den Kontaktabbruch.
Dieses Buch hilft, die Ursachen und Hintergründe der häufigsten familiären Konflikte zu erkennen, um darauf aufbauend den Weg zu einer Konfliktlösung zu finden.
Hier ein Überblick über den Inhalt dieses Buches:
In Kapitel 1 wird die Familie, das Objekt der Untersuchung, beschrieben,
in Kapitel 2 werden die häufigsten familiären Konfliktquellen diskutiert,
in Kapitel 3 geht es um die Folgen ungelöster Familienkonflikte und
in Kapitel 4 werden Wege vorgeschlagen, um das Ziel einer Konfliktlösung zu erreichen.
Die gesellschaftliche Bedeutung der Familie
Unter „Familie“ wird im herkömmlichen Sinn die kleinste soziale Gruppe, bestehend aus Eltern und deren Kindern, verstanden. Zur erweiterten Familie gehören Verwandte väterlicher- und mütterlicherseits.
Die Bedeutung der Familie geht schon durch ihre explizite Erwähnung im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland hervor. In Artikel 6 wird die Familie als Institution sowie die familiäre Erziehung der Kinder unter den besonderen Schutz des Staates gestellt:
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft …
Auch das Bundesverfassungsgesetz Österreichs garantiert in Artikel 1 den Schutz und die Förderung der Familie und die Achtung des Elternrechts.
(1) Die Republik Österreich (der Bund, die Länder und die Gemeinden) anerkennt die besondere Aufgabe der partnerschaftlichen Ehe und Familie als natürliche Grundlage der menschlichen Gesellschaft und verpflichtet sich zu deren Schutz und Förderung.
Die Familie als Lebens- und Verantwortungsgemeinschaft gilt als ein Grundbaustein der Gesellschaft. Sie vermittelt prägende Wertvorstellungen und gewährleistet einen Raum, der den Menschen Annahme und Vertrauen sowie Rückhalt in einer sich stetig verändernden Welt bietet.
Familien sind für Gesellschaft und Staat unverzichtbar und daher systemrelevant. Ihre Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsleistung ist unverzichtbar. Familien ziehen neben Erwerbsarbeit mit Absicherung ihrer eigenen Altersvorsorge die nächste Generation der Steuerzahler groß und sorgen auch durch Care-Arbeit in der häuslichen Pflege dafür, dass der Generationenvertrag funktionieren kann. Care-Arbeit beschreibt die Tätigkeiten des Sorgens und Sich-Kümmerns. Darunter fallen Kinderbetreuung und Altenpflege, aber auch familiäre Unterstützung, häusliche Pflege oder Hilfe unter Freunden.
Die besondere Wertschätzung der Familie, die in der österreichischen Verfassung und im Grundgesetz der BRD zum Ausdruck kommt, beruht darauf, dass sie nach Ansicht des Verfassungsgebers das ideale Umfeld für das Heranwachsen von Kindern ist, ohne die auf Dauer keine staatliche Gemeinschaft existieren kann. Sie wird als „Keimzelle des Staates und der Gesellschaft“ geschützt und durch Förderung unterstützt, denn sie erfüllt zentrale Bedürfnisse nach Anerkennung und Wertschätzung im Rahmen verlässlicher Beziehungen. Ihre Kernfunktion besteht insbesondere in der Sozialisation. Die Familie ist für Staat und Gesellschaft die wichtigste Erziehungsinstanz und die erste Sozialisationsinstanz, der ein Kind in seinem Leben begegnet. Später kommen noch der Kindergarten und die Schule hinzu, um Aufgaben der Erziehung und Bildung zu übernehmen. Die Familie nimmt insofern eine prägende Rolle in der Persönlichkeitsbildung eines Kindes ein.
Das System Familie und seine Dynamik
Man kann Familie als ein System bezeichnen, in dem alle Familienmitglieder untereinander in bestimmten Beziehungen stehen. Dieses System stellt sich in äußerst unterschiedlichen Ausprägungen dar. Das geht schon allein aus den verschiedenen Familienformen hervor (s. Kap. „Familienformen“, S. 21). Einerseits ist die Zahl der Familienangehörigen variabel, andererseits sind die Beziehungen der Familienangehörigen untereinander sehr unterschiedlich.
Das System Familie ist nicht statisch, sondern unterliegt Veränderungen. Diese begründen eine Familiendynamik. Die Familiendynamik ist vor allem von der Position und der Rolle der Familienmitglieder innerhalb der Familie abhängig. Am deutlichsten wird die Familiendynamik innerhalb der Familie erkennbar, wenn das Familiensystem gestört wird. Das Familiensystem, das bis dahin stabil war, gerät dann in Gefahr instabil zu werden. Es ist wie ein Mobile: Jeder seiner Teile hängt an einem oder mehreren Fäden und als Ganzes ist es stabil in einem – vielleicht mühsam erarbeiteten – Gleichgewicht von Nähe und Distanz.
Hier drei Beispiele für Störungen des Familiensystems:
1. Der Tod eines Familienmitgliedes
Durch den Tod eines Familienmitgliedes „entgleist“ das ganze System und muss sich grundlegend neu ausbalancieren. Um bei der Metapher „Mobile“ zu bleiben: Wenn man einen Faden abschneidet, gerät alles ins Ungleichgewicht. Neben dem persönlichen Erleben des Verlustes eines Familienmitgliedes und der Trauer bedeutet es für alle Hinterbliebenen eine große Verunsicherung, weil sich das ganze Familiensystem neu finden muss, wobei anfangs noch unklar ist, wo der eigene Platz dann sein wird.
Ein Beispiel: Vater, Mutter, 2 Kinder (6 und 14 Jahre), 4 Großelternteile
Der Vater stirbt. Die Mutter trauert um die Liebe ihres Lebens, die Kinder verlieren ihren Vater, gehen mit dem Tod jedoch ganz unterschiedlich um, da sie ihn altersgemäß unterschiedlich erfassen. Die Großmutter väterlicherseits steht am Grab ihres Kindes und verliert das Vertrauen in das Leben, weil ihr Kind gestorben ist. Das Familiensystem, das bisher zuverlässig funktionierte, gibt es so nicht mehr.
2. Die Trennung oder Scheidung der Eltern
Auch durch Trennung oder Scheidung der Eltern wird das Familiensystem gestört.
Isabel, 36:
Blicke ich auf meine eigene Lebensgeschichte zurück, dann fiel die Scheidung meiner Eltern genau in meine Pubertät. Aber pubertäres Verhalten konnte und durfte ich mir nicht leisten. Ich musste als Älteste vernünftig sein, denn es gab ja noch zwei jüngere Geschwister. Bewusst geworden ist mir das allerdings erst sehr viel später – damals habe ich funktioniert. |
Trennungs- oder Scheidungskinder versuchen oft, durch ihr „Funktionieren“ das auseinanderfallende Familiensystem zu stützen. Die Familiendynamik zeigt sich in diesem Beispiel darin, dass die älteste Tochter Verantwortung für die Familie übernimmt und sich verbietet, altersentsprechend zu reagieren.
3. Die Suchtproblematik eines Familienmitgliedes
Ein weiterer Grund für die Veränderung der Familiendynamik kann die Suchtproblematik eines Familienmitgliedes sein. In diesem Fall versuchen der nicht süchtige Ehepartner und oft auch die Kinder, die Sucht nach außen zu tarnen und damit das System Familie zu schützen. Sie werden so zu Co-Abhängigen.
Ein Beispiel:
Sebastians Vater ist „Spiegeltrinker“. Er sorgt ständig für einen gewissen Alkoholspiegel, den ihm aber niemand anmerkt. Er ist beruflich erfolgreich und stets darauf bedacht, dass sein Alkoholproblem nicht auffällt. Seine Frau sorgt für ein positives Image der Familie, indem sie sich als ehrenamtliche Helferin engagiert. So steht die Familie nach außen glänzend da, und doch sitzt Vater und Mutter ständig die Angst im Nacken, dass das Familiengeheimnis „Sucht“ irgendwann herauskommen könnte.
Sebastian spürt die innere Anspannung seiner Eltern. Unbewusst steht er unter großem Druck, seinerseits das Ansehen der Familie hochzuhalten. Mit seinen guten Noten und seinem vorbildlichen Verhalten trägt er seinen Teil dazu bei, das Alkoholproblem in seiner Familie zu kaschieren. Für die Eltern ist ihr selbstständiger und leistungsfähiger Sohn eine Entlastung. „Mein Großer, wenn ich dich nicht hätte“, sagt die Mutter oft zu Sebastian. Doch wirkliche Liebe und Zuwendung bekommt Sebastian von seinen Eltern nicht. Dazu sind sie viel zu sehr mit sich und der Sucht beschäftigt.
Intakte und gestörte Familien
Schon ein Baby spürt, wenn es in eine intakte Familie geboren wurde: Es wird von seinen Eltern liebevoll versorgt und Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel nehmen von Anfang an Anteil an seinem Leben. Alle, die zur Familie gehören, sind Bezugspunkte eines Babys, nehmen es in den Arm, kümmern sich um sein Wohlergehen und werden durch sein Lachen belohnt.
Was aber kennzeichnet eine intakte Familie? Eine intakte Familie ist an einer sich ausbalancierenden Familiendynamik erkennbar, gekennzeichnet von Wohlwollen und emotionaler Verbundenheit trotz mancher Interessenkonflikte und Auseinandersetzungen. Zum gegenseitigen Schutz wird auf nachvollziehbare Regeln und Grenzen geachtet. Der Umgang miteinander ist wertschätzend und von gegenseitiger Akzeptanz geprägt. Die Familienmitglieder versuchen stets, sich gegenseitig so anzunehmen, wie sie sind. Sie gehen nachsichtig mit Fehlern, Schwächen und dem Versagen der anderen um und verzeihen einander. In einer intakten Familie sind Ehrlichkeit und offene Aussprachen sehr wichtig, gepaart mit Fairness und gegenseitigem Respekt. Die Familienmitglieder tauschen sich untereinander aus und halten in Krisen zusammen.
Während eine intakte Familie für alle Familienmitglieder eine Kraftquelle ist, wirkt sich eine gestörte Familie kraftraubend aus und kann auch zu physischen, psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen einzelner oder aller Familienmitglieder führen.
Was kennzeichnet eine gestörte Familie? Die Rechte und Pflichten der Familienmitglieder sind auf der Kinder- bzw. Elternebene nicht gleichwertig verteilt. Als Folge ist in diesen gestörten (dysfunktionalen) Familien häufig eine Rollenumkehrung (Parentifizierung) zu beobachten. Gemeint ist die Übernahme der Elternrolle oder manchmal sogar der Partnerrolle durch die Kinder, um das gestörte Familiensystem zusammenzuhalten.
Zum Beispiel wird die Elternrolle häufig von Kindern übernommen, deren Eltern aufgrund von Sucht oder Depressionen ihre elterlichen Aufgaben nicht oder nur unzulänglich wahrnehmen können. Meist fühlt sich das älteste Kind genötigt, die Elternrolle zu übernehmen. Selbst während der Pubertät gelingt es diesen Kindern oft nicht, aus ihrer Elternrolle herauszukommen, zu rebellieren und sich von den Eltern abzulösen. Wenn jüngere Geschwister von ihnen als „Ersatzeltern“ abhängig sind, wird der Ausstieg aus diesem Umfeld noch schwieriger.
Ein anderer Grund für eine Rollenumkehr liegt vor, wenn z. B. der Vater ständig abwesend ist, viel arbeitet, fremdgeht oder sich nur um seine eigenen Bedürfnisse kümmert. Das kann dazu führen, dass die Mutter still leidet, ihre eigene Sehnsucht auf ihren Sohn projiziert und ihn zu ihrem Ersatzpartner macht.
In dysfunktionalen Familien werden Muster schädlichen Verhaltens geschaffen, indem die Individualität ihrer Mitglieder nicht respektiert wird. In solchen Familien gibt es immer eine Person, die ihre eigenen Bedürfnisse vor die aller anderen stellt, d. h. sich mehr Rechte nimmt.
Auf der Kinderebene tyrannisiert z. B. ein Junge seine jüngere Schwester, indem er ihr Stück Kuchen isst, ihrer Puppe das Bein abreißt oder sie – wenn er sich unbeobachtet fühlt – tritt, kneift oder schlägt.
Auf der Elternebene nimmt sich ein Vater z. B. das Recht heraus, ohne Absprache mit seiner Frau einem unangemessen teuren Hobby nachzugehen, und bringt dadurch seine Familie in finanzielle Schwierigkeiten.
Das Idealbild einer perfekten Familie
Obwohl es durchaus intakte Familien gibt, in denen die Beziehungen der Familienmitglieder grundsätzlich untereinander stimmig und wohlwollend sind und etwaige Konflikte fair ausgetragen werden, ist die Vorstellung von einer perfekten Familie irreal.
Woher kommt das Bedürfnis bzw. die Sehnsucht nach einer perfekten Familie?
Das Bedürfnis vieler Menschen nach einer perfekten Familie ist begründet
in der Sehnsucht nach permanenter Harmonie, bei der die Tagesform und etwaige Auseinandersetzungen ausgeschlossen werden,
in unrealistischen Erwartungen an die Familienmitglieder, für das Glück aller verantwortlich zu sein,
in der Sehnsucht, dass einem jemand Wünsche von den Augen abliest und diese erfüllt,
im Wunsch nach verlässlichen Beziehungen, die emotionale Sicherheit geben und stets das Gefühl vermitteln, geliebt und geschützt zu werden,
in der Sehnsucht nach einem paradiesischen Ort, an dem man jederzeit sein darf, wie man ist, und trotzdem wertgeschätzt und geliebt wird,
in der Erwartung, dass es stets ehrlich, fair und gerecht zugehen muss.
Genährt wird diese Illusion von der Vorstellung der klassischen Familie (s. Kap. „Die klassische Familie“, S. 21), so, wie sie in der Werbung idealisiert dargestellt wird. Diese Idealisierung findet ihre Fortsetzung in den Familieninszenierungen in sozialen Medien.
Wie aber sieht die Familie tatsächlich aus? Das Bild dieser „perfekten Familie“ steht im krassen Gegensatz zur Realität.
Die Individualisierung in unserer Gesellschaft hat zur Folge, dass sich Familien sehr verändert haben und neue Familienformen (s. Kap. „Familienformen“, S. 21) entstanden sind. Es ist erstaunlich, dass in unseren unsicheren Zeiten, in denen z. B. in Städten jede zweite Ehe vor dem Scheidungsrichter endet, die „perfekte Familie“ als Hort der Beständigkeit, der Ruhe, der Geborgenheit gilt. Das Bild der perfekten Familie steht offenbar umso klarer und strahlender da, je brüchiger der Rahmen geworden ist. Gab es bis vor wenigen Jahren noch klare Rollenvorschriften für die Mutter bzw. den Vater, müssen Beziehungen und Rollen heutzutage neu austariert und Zuständigkeiten verhandelt werden.
Die Diskrepanz zwischen dem Wunschbild einer „perfekten Familie“ und der Realität ist besonders zu Weihnachten und im Erbfall erkennbar. Kein Fest ist so sehr mit Sentimentalität, Harmoniepflicht und überzogenen Erwartungen verbunden wie Weihnachten. Aus meiner Erfahrung als Konfliktberaterin weiß ich, dass bei vier von fünf Frauen mit Weihnachten ein hoher Stressfaktor einhergeht. Dieser kann bestehende Konflikte verstärken und Beziehungen vor das Aus stellen.
Während das ganze Jahr über familiäre Harmonie eher eine untergeordnete Rolle spielt, soll zu Weihnachten alles funktionieren, was sonst nie klappt. Zu Weihnachten „macht man einfach auf Familie“ und täuscht sich selbst und anderen etwas vor. Zu den gefühlsbetonten Liedern wie „Süßer die Glocken nie klingen“ versucht man, eine zuckersüße weihnachtliche Stimmung zu inszenieren. Doch unterschiedlichste Erwartungen können sich zu einer hochexplosiven Mischung entwickeln. Das Festessen, der an den Festtagen üblicherweise erhöhte Alkoholkonsum, das mehr oder weniger ausgeprägte Bedürfnis nach einem Besuch der Christmette und der „lieben Verwandten“ und nicht zuletzt die Enttäuschung über Geschenke können die Stimmung kippen lassen. Viele kleine Anlässe können die Spannung ansteigen und in einen oft recht heftigen Streit münden lassen, der gerade zum Fest des Friedens belastend ist, weil man sich doch so sehr darauf gefreut und es mit viel Energie vorbereitet hat. Oft fließt auch noch Unerledigtes aus früheren Auseinandersetzungen in den augenblicklichen Zwist mit ein. Und tiefsitzende Partnerschafts- und Familienprobleme treten gerade in dieser Zeit besonders zutage, wenn viel Zeit miteinander verbracht wird und es infolgedessen Reibung gibt. Aber auch die ungewohnte „Dauernähe“ und der „Zwangskontakt“ zu Angehörigen, zu denen man einen weniger guten Draht hat, begünstigen Konflikte und Stress. Gleichzeitig bemüht sich jeder krampfhaft, bloß keinen Streit vom Zaun zu brechen.
Was ein guter Familienzusammenhalt wert ist, zeigt sich oft erst im Erbfall (s. Kap. „Erbschaftskonflikte“, S. 50), in dem allzu oft ein erbitterter Geschwisterkrieg eine Familie entzweit. In einem Seminar brüsteten sich einige Frauen, wie außerordentlich gut der Familienzusammenhalt in ihrer Familie sei. Daraufhin stellte eine andere die schlichte Frage: „Habt ihr schon einmal geerbt?“ Betretenes Schweigen war die Folge dieses Einwurfs. Bei kaum einer anderen Familienangelegenheit geht es so hart zur Sache wie beim Erben, und niemals wird mit härteren Bandagen gekämpft.
Heilsam kann es sein, sich von Idealisierungen zu befreien, indem man sich bewusst macht, welche Merkmale eine intakte Familie kennzeichnen. Es ist auch wichtig zu erkennen, dass eine bestimmte organisatorische Form der Familie nicht Voraussetzung für eine intakte Familie ist, dass aber verschiedene Familienformen, wie sie im Folgenden dargestellt werden, unterschiedliche Anforderungen stellen, damit das Zusammenleben gelingen kann.
Familienformen
Die klassische Familie
Die klassische Familie, auch traditionelle Familie oder Kernfamilie genannt, besteht aus Frau und Mann, die verheiratet sind und ein oder mehrere Kinder haben. Sie war lange das Idealmodell einer Familie.
Diese Form des Zusammenlebens ist in Deutschland und Österreich nach wie vor beliebt und dominant. Es ist allerdings erkennbar, dass sich die Familienkonstellationen und das Familienleben verändern. Die Zahl der Ehepaare geht zurück, vielfach entscheiden sich die Eltern, erst nach der Geburt des Kindes vor den Traualtar zu treten.
Das, was heute noch als traditionelles Familienbild angesehen wird, stammt aus den 50er-Jahren: Vater, Mutter, Kind. Die Rollenverteilung war ganz klar: Die Mutter war für die Küche, die Kinder und den Haushalt zuständig, der Vater hatte das Einkommen für die Familie zu erwirtschaften. Die klassische Familie der Gegenwart, gepriesen als Ort der Harmonie und des Glücks, ist aber auch ein Ort von Konflikten, die ihren Ursprung vor allem in der Änderung der Rollenverteilung haben. Heute ist es selbstverständlich, dass beide Partner berufstätig sind, dass gemeinsam über die Verwendung des Einkommens bestimmt wird und dass Haus- und Erziehungsarbeit partnerschaftlich geteilt werden.
Die Patchworkfamilie
Patchworkfamilien, auch Stieffamilien genannt, sind keine Erfindung unserer Zeit. Auch in früheren Zeiten war es aus verschiedenen Gründen notwendig, dass sich Eltern und Kinder aus verschiedenen Familien zu einer neuen zusammenfanden. Während Stieffamilien früher wegen des Todes eines Partners gegründet wurden, gilt heute als Hauptgrund eine erhöhte Scheidungs- und Trennungsquote.
Eine Patchworkfamilie entsteht, wenn sich einer der leiblichen Elternteile mit einem neuen Partner verbindet, der die Rolle des Stiefvaters oder der Stiefmutter einnimmt. Sie ist eine äußerst komplexe Familienform, insbesondere wenn man noch das verwandtschaftliche Netz der Ursprungsfamilien berücksichtigt, also Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen usw.
Eine Patchworkfamilie ist nicht als Neugründung wie die herkömmliche Familie denkbar. Daraus ergibt sich bereits ihr Grundproblem: Sie wächst nicht wie eine klassische Familie von Anfang an organisch zusammen. Man kann auch sagen, dass die Patchworkfamilie keine „Erstfamilie“ ist, sondern eine Zweit-, Dritt- oder „Fortsetzungsfamilie“.
Patchworkfamilien starten unter völlig anderen Voraussetzungen als traditionelle Familien. Sie haben ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten und müssen mit einer Reihe spezifischer Herausforderungen fertig werden. Das Leben in der Formation einer Patchworkfamilie erfordert die Neuordnung der Familiensysteme