Endlich mein

Für Ada Pesch

Non cura amante cor, o pur non sente.

 

Die Stimme der Tugend

hilft dem verliebten Herz nicht,

oder es hört nicht auf sie.

GEORG FRIEDRICH HÄNDEL, RODELINDA

Die Frau kniete über ihrem Geliebten, ihr Gesicht, ihr ganzer Körper versteinert vor Entsetzen, starrte sie auf das Blut an ihrer Hand. Er lag auf dem Rücken, einen Arm ausgestreckt, die Handfläche nach oben, als erflehe er etwas; vielleicht sein Leben. Sie hatte ihn an der Brust gepackt, um ihn aufzurütteln, wollte mit ihm fliehen, doch er hatte sich nicht gerührt, und dann hatte sie ihn geschüttelt, den alten Langschläfer, der nie aus den Federn zu kriegen war.

Doch da bemerkte sie das Blut und schlug unwillkürlich die Hand vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken, sie durfte kein Geräusch machen, die andern durften nicht wissen, dass sie hier war. Dann aber siegte das Grauen über ihre Vorsicht, und sie schrie seinen Namen, schrie und schrie, denn sie wusste, er war tot, das war das Ende; das blutige Ende.

Sie sah dorthin, wo ihre Hand gewesen war, und bemerkte die roten Stellen auf seiner Brust: Wie konnte so viel Blut aus ihnen strömen, sie waren doch so klein, so klein? Sie fuhr sich mit der anderen Hand über den Mund, und schon war auch diese rot vom Blut in ihrem Gesicht. In Panik, die Augen starr auf das Blut gerichtet, sagte sie seinen Namen. Es war aus, vorbei. Wieder sprach sie seinen Namen, lauter diesmal, aber er konnte sie nicht mehr hören, ihr nicht mehr antworten, niemandem mehr. Ohne zu überlegen, beugte sie sich über ihn, wollte ihn küssen,

Von links erscholl ein lauter Ruf vom Anführer der Bande, die ihn getötet hatte, und sie presste eine Hand gegen die Brust. Vor Angst versagte ihr die Stimme, sie konnte nur stöhnen, wie ein wundes Tier. Sie drehte sich um und sah die Bande, hörte ihr Gebrüll, verstand aber kein Wort davon: Sie empfand nichts als Entsetzen und plötzlich, da er nun tot war, auch Angst um sich selbst, Angst vor dem, was jene mit ihr vorhatten.

Sie stemmte sich hoch und wich zurück: nur ja kein Blick zurück. Er war tot, alles war dahin: jegliche Hoffnung, jegliche Zukunft, aus und vorbei.

Die Männer, vier von links, fünf weitere von rechts, erschienen auf dem staubigen Dach, wo der Mord stattgefunden hatte. Der Anführer brüllte etwas, das nicht mehr zu ihr vordrang, genauso wenig wie alles andere. Sie hatte nur noch das Bedürfnis zu fliehen, aber die Männer versperrten ihr von allen Seiten den Weg. Sie wandte sich um, aber da war nur die Brüstung, kein anderes Gebäude weit und breit: nichts, wo sie Zuflucht suchen, nichts, wo sie sich verstecken konnte.

Sie hatte die Wahl, doch im Grunde hatte sie keine Wahl: Der Tod war besser als alles, was hier geschehen war oder mit Sicherheit noch geschehen würde, sobald diese Männer sie in ihrer Gewalt hätten. Sie lief los, stolperte einmal, zweimal, erreichte die Brüstung, stieg mit verblüffender Anmut hinauf und sah nach den Männern, die auf sie zugerannt kamen. »O Scarpia, avanti a Dio«, rief sie und sprang.

 

 

Der Vorhang teilte sich langsam in der Mitte, und Flavia Petrelli glitt durch die Öffnung. Sie trug Rot, ein leuchtendes Rot, und ein Diadem, das ihren Sturz in den Fluss unversehrt überstanden hatte. Ihr Blick schweifte über das Publikum, und ein Ausdruck freudiger Verblüffung erhellte ihr Gesicht. Für mich? All dieser Aufruhr für mich? Ihr Lächeln wurde breiter, sie hob eine Hand – wie durch Zauber frei von Blut oder dem, was man stattdessen verwendet hatte – und presste sie gegen ihr Herz, als müsse sie es mit Gewalt daran hindern, ihr angesichts all dieses Jubels die Brust zu sprengen.

Sie nahm die Hand vom Herz, streckte erst einen Arm

Da fiel die erste Rose, langstielig und goldgelb wie die Sonne, vor ihr nieder. Unwillkürlich zog sie den Fuß zurück, als fürchte sie, die Rose zu verletzen – oder sich an ihr –, und dann bückte sie sich so langsam, dass die Bewegung wie einstudiert wirkte, und hob sie auf. Sie hielt die Rose mit gekreuzten Händen über ihrer Brust. Ihr Lächeln war kurz erstarrt, als die Rose ihr vor die Füße fiel – »Die ist für mich? Für mich?« –, doch das Gesicht, das sie den oberen Rängen zeigte, strahlte vor Freude.

Wie von ihrem Strahlen ermutigt, kamen jetzt weitere Rosen geflogen: erst zwei, dann drei, einzeln von der rechten Seite, und dann immer mehr und mehr, bis Dutzende ihr zu Füßen lagen, so wie der Scheiterhaufen, der Jeanne d’Arc bis zu den Knöcheln, ja noch höher gereicht hatte.

Flavia lächelte in den donnernden Applaus, verbeugte sich abermals, machte ein paar Schritte zurück und schlüpfte durch den Vorhang. Sekunden später erschien sie wieder, mit ihrem wiederauferstandenen Geliebten an der Hand. Bei seinem Anblick schwoll der Beifall an wie vorher das Gebrüll von Scarpias Schergen und strebte jener

Als eine Nuance im Applaus Flavia zu erkennen gab, dass der Beifall nun dem Tenor galt, trat sie einen Schritt zurück und klatschte ihm mit hocherhobenen Händen zu. Genau in dem Moment, als der Applaus nachzulassen begann, stellte sie sich wieder neben ihn, hakte sich unter, lehnte sich zu ihm hinüber und küsste ihn auf die Wange, ein kameradschaftliches Küsschen, wie man es einem Bruder oder einem guten Kollegen gibt. Darauf fasste er ihre Hand und riss sie zusammen mit seiner eigenen in die Höhe, als verkünde er den Gewinner eines Wettbewerbs.

Der Tenor zertrat noch mehr Rosen, als er Flavia den Vortritt ließ, die ihm voran durch den Vorhang verschwand. Kurz darauf kam der wiederauferstandene Scarpia in seiner noch blutgetränkten Brokatjacke heraus und trat, am Rand des Rosenteppichs entlang, an die Rampe. Er verbeugte sich, einmal, zweimal, kreuzte zum Zeichen seiner Dankbarkeit die Hände vor der blutigen Brust, kehrte zu der Öffnung im Vorhang zurück, griff hinein und zog Flavia hervor, die wiederum den jungen Tenor an der Hand hatte. Scarpia führte die Polonaise dreier Lebender an den vorderen Bühnenrand und zertrampelte dabei Blüten, die der Saum von Flavias Kleid beiseitefegte. Vereint hoben sie die Hände, verbeugten sich und strahlten vor Freude über die Anerkennung des Publikums dankbar um die Wette.

Flavia löste sich von den beiden Männern, schlüpfte

Hinter dem Vorhang war Schluss mit der Schauspielerei. Flavia entfernte sich grußlos von den drei Männern und eilte zu ihrer Garderobe. Der Tenor sah ihr nach und machte ein Gesicht wie Cavaradossi, als der an ihre »dolci baci, o languide carezze« dachte, auf die verzichten zu müssen schlimmer wäre als der Tod. Scarpia zückte sein telefonino und teilte seiner Frau mit, er sei in zwanzig Minuten im Restaurant. Der Dirigent, den an Flavia nur interessierte, dass sie seinen tempi folgte und ordentlich sang, nickte den Kollegen stumm zu und machte sich auf den Weg zu seiner Garderobe.

Auf dem Korridor blieb Flavia mit dem Absatz im Saum ihres tiefroten Gewandes hängen, geriet ins Stolpern und stürzte nur deswegen nicht, weil sie sich gerade noch an einer Kostümassistentin festhalten konnte. Die junge Frau erwies sich als überraschend kräftig und geistesgegenwärtig: Sie umschlang die Sängerin mit beiden Armen und fing so ihr Gewicht und die Wucht auf, ohne dass sie beide zu Boden gingen.

Sowie Flavia wieder sicher stand, löste sie sich aus der Umarmung der Jüngeren und fragte: »Sie haben sich doch nichts getan?«

»Nichts passiert, Signora«, sagte die Assistentin und rieb sich die Schulter.

Flavia legte ihr eine Hand auf den Unterarm. »Danke, das war Rettung in höchster Not.«

Flavia nickte, bedankte sich noch einmal und ging weiter zu ihrer Garderobe. Sie wollte schon die Tür öffnen, doch da erfasste sie ein Zittern, das sie innehalten ließ, von dem knapp verhinderten Sturz, aber auch all dem Adrenalin, mit dem eine Aufführung ihren Körper überflutete. Benommen stützte sie sich mit einer Hand am Türpfosten ab und schloss sekundenlang die Augen. Erst als am Ende des Korridors Stimmen ertönten, riss sie sich zusammen, öffnete die Tür und ging hinein.

Rosen hier, Rosen da, Rosen, Rosen überall. Es verschlug ihr den Atem, der ganze Raum war vollgestellt mit Vasen, deren jede Dutzende von Rosen enthielt. Sie schloss die Tür hinter sich. Regungslos musterte sie das gelbe Blütenmeer, und ihr Unbehagen wuchs noch, als sie bemerkte, dass es sich bei den Vasen nicht um die üblichen billigen Dinger handelte, wie sie die meisten Theater für alle Fälle in Reserve haben: angeschlagen oder mit Farbe beschmiert, und deshalb aus der Requisite aussortiert.

»Oddio«, flüsterte sie und wich durch die Tür zurück, die sich soeben für die Garderobiere geöffnet hatte. Die dunkelhaarige Frau war alt genug, dass sie die Mutter der Kostümassistentin hätte sein können, die Flavia eben vor dem Sturz bewahrt hatte. Wie nach jeder Vorstellung wollte sie Flavias Kostüm und Perücke abholen und in den Fundus zurückbringen.

Flavia trat zur Seite und fragte mit einer Handbewegung, die das Zimmer umfasste: »Marina, haben Sie gesehen, wer diese Blumen gebracht hat?«

, rief Marina. »Was die gekostet haben müssen! Das sind ja Hunderte!« Und dann fielen auch ihr die Vasen auf. »Wo kommen die denn her?«, fragte sie.

»Gehören die nicht dem Theater?«

Marina schüttelte den Kopf. »Nein. So etwas haben wir nicht. Die hier sind echt.« Als Flavia verwirrt dreinsah, zeigte Marina auf eine große Vase, auf der sich weiße und durchsichtige Streifen abwechselten. »Aus Glas, meine ich. Die ist von Venini«, erklärte sie. »Lucio hat dort gearbeitet, daher weiß ich das.«

Flavia, die sich nur wundern konnte, wie das Gespräch sich entwickelte, wandte der Frau den Rücken zu und bat: »Können Sie mir den Reißverschluss öffnen?«

Sie hob die Arme, und Marina half ihr aus Schuhen und Kostüm. In ihrem Morgenmantel setzte Flavia sich vor den Spiegel und begann sich abzuschminken. Marina hängte das Kleid an die Tür, trat hinter Flavia und half ihr beim Abnehmen der Perücke, indem sie mit den Fingern von hinten unter die Perücke fuhr und sie hochhob. Nachdem das geschafft war, schälte sie ihr die engsitzende Gummikappe von den Haaren. Endlich! Flavia seufzte erleichtert auf und massierte sich eine volle Minute lang mit beiden Händen die Kopfhaut.

»Alle sagen, das ist das Schlimmste«, meinte Marina. »Die Perücke. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie Sie alle das aushalten.«

Flavia spreizte die Finger und fuhr sich mehrmals durchs Haar; in dem überheizten Raum würde es schnell trocknen. Es war kurz wie das eines Jungen, einer der Gründe, warum sie auf der Straße so selten erkannt wurde, denn ihre Fans

Das Telefon klingelte; zögernd meldete sie sich mit ihrem Namen.

»Signora, können Sie mir sagen, wie lange Sie noch brauchen?«, fragte eine Männerstimme.

»Fünf Minuten«, antwortete sie wie immer, ganz gleich, ob sie tatsächlich nur noch fünf Minuten brauchte oder eine halbe Stunde. Die anderen würden warten.

»Dario«, sagte sie, bevor er auflegen konnte. »Wer hat diese Blumen gebracht?«

»Die wurden mit einem Boot angeliefert.«

Was in Venedig ja wohl auch kaum anders möglich war, doch sie fragte nur: »Wissen Sie, wer sie geschickt hat? Wessen Boot das war?«

»Keine Ahnung, Signora. Zwei Männer haben alles hier vor die Tür gestellt.« Dann fiel ihm noch ein: »Das Boot habe ich nicht gesehen.«

»Haben sie einen Namen genannt?«

»Nein, Signora. Ich dachte … na ja, ich dachte, bei so vielen Blumen werden Sie schon wissen, von wem sie kommen.«

Flavia ignorierte das. »Fünf Minuten«, wiederholte sie und legte auf. Marina war mit Kleid und Perücke verschwunden, Flavia blieb allein in der stillen Garderobe zurück.

Sie starrte in den Spiegel, nahm eine Handvoll

Die heutige Vorstellung war erst die dritte ihres Gastspiels, also warteten draußen bestimmt noch Fans. Sie zog

An der Tür blieb sie stehen und sah sich noch einmal um: War dies die Wirklichkeit, als die sich der Traum vom Erfolg entpuppte? Eine kleine, unpersönliche Kammer, die nacheinander von verschiedenen Leuten benutzt wurde? Ein Schrank; ein von Glühbirnen umrahmter Spiegel, genau wie im Kino; kein Teppich; ein winziges Bad mit Dusche und Waschbecken. Sonst nicht viel: Und das machte einen zum Star? Sie hatte es, also musste sie ein Star sein. Aber sie fühlte sich nicht so, nur – sie sah dieser Tatsache bewusst ins Gesicht – wie eine Frau in den Vierzigern, die gut zwei Stunden lang geschuftet hatte wie ein Tier und jetzt hinausgehen und irgendwelchen namenlosen Leuten zulächeln musste, die sich nach ihr sehnten, die ihr Freund, ihr Vertrauter oder womöglich gar ihr Geliebter sein wollten.

Sie selbst wollte nur ins nächstbeste Restaurant, etwas essen und trinken, dann nach Hause, ihre beiden Kinder anrufen, hören, wie es ihnen ging, und ihnen gute Nacht sagen. Schließlich, wenn das Adrenalin sich verflüchtigte, wieder ein wenig Normalität eintrat, zu Bett gehen und hoffentlich etwas Schlaf finden. Bei Inszenierungen, an denen ihr bekannte oder befreundete Kollegen mitwirkten, freute sie sich immer auf die gesellige Runde beim gemeinsamen Essen nach der Vorstellung, die Scherze und Anekdoten über Agenten, Intendanten und Regisseure, das

Während sie noch da stand, fiel ihr auf, dass sie die Blumen erfolgreich verdrängt hatte. Und die Vasen. Für den Fall, dass der Mann, der das alles geschickt hatte, am Ausgang wartete, sollte sie sich beim Verlassen des Theaters eigentlich mit wenigstens einem der Sträuße blicken lassen. »Zum Teufel mit ihm«, sagte sie zu der Frau im Spiegel, die ihr mit weisem Nicken zustimmte.

Begonnen hatte es vor zwei Monaten in London, nach der letzten Vorstellung der Hochzeit des Figaro, als ihr beim ersten Vorhang und dann bei allen weiteren gelbe Rosen vor die Füße regneten. Kurz darauf, bei einem Soloauftritt in St. Petersburg, kamen sie zusammen mit einer Menge konventionellerer Sträuße. Sie war gerührt gewesen, als etliche Russen, hauptsächlich Frauen, nach der Vorstellung zur Bühne drängten und ihr die Sträuße heraufreichten. Flavia sah gern die Augen der Leute, die ihr Blumen schenkten oder Komplimente machten: Das war irgendwie menschlicher.

Und hier ging es weiter, schon bei der Premiere,

Sie zögerte, sie wollte jetzt nicht entscheiden, was mit den Blumen zu tun sei, sie hatte auch keine Lust, Programmhefte zu signieren und mit Fremden oder, was manchmal noch schlimmer war, mit gewissen Fans zu plaudern, die immer wieder zu ihren Vorstellungen kamen und sich einbildeten, das allein berechtige sie zu plumpen Vertraulichkeiten.

Sie hängte die Baumwolltasche über ihre Schulter und fuhr sich noch einmal durchs Haar; es war trocken. Dann brach sie auf, und als sie am Ende des Korridors die Garderobiere sah, rief sie nach ihr.

», Signora«, antwortete die Frau und kam auf sie zu.

»Marina, Sie können die Rosen gern mit nach Hause nehmen, wenn Sie wollen. Sie und Ihre Kolleginnen, alle, die sie haben möchten.«

Zu Flavias Überraschung antwortete Marina nicht sofort. Wie oft bekamen Frauen Dutzende Rosen geschenkt? Dann aber strahlte Marinas Miene in heller Freude auf. »Das ist sehr nett von Ihnen, Signora, aber möchten Sie nicht auch welche mitnehmen?« Sie zeigte in den Raum, der von den Rosen geradezu erleuchtet wurde.

Flavia schüttelte eilig den Kopf. »Nein, Sie können sie alle haben.«

»Aber Ihre Vasen?«, fragte Marina. »Denken Sie, die sind hier sicher?«

Flavia wusste, sie hatte sehr lange zum Umkleiden gebraucht, und hoffte, wenigstens einige von den Leuten, die warteten, hätten mittlerweile aufgegeben und seien entmutigt nach Hause gegangen. Sie war müde und hungrig: Nach fünf Stunden in einem vollen Theater, bedrängt von allen Seiten, hinter, auf und vor der Bühne, ersehnte sie ein ruhiges Plätzchen, wo sie ungestört essen konnte.

Im Erdgeschoss angekommen, ging sie den langen Flur zur Pförtnerloge hinunter, vor der die Besucher warteten. Sie begannen schon zu klatschen, als Flavia noch zehn Meter von ihnen entfernt war, und Flavia setzte ihr strahlendstes, nur für ihre Fans bestimmtes Lächeln auf. Jetzt war sie froh, dass sie die Spuren der Erschöpfung so gut es ging übermalt hatte. Sie beschleunigte ihren Schritt, ganz die Sängerin, die freudig ihren Fans entgegeneilt, um mit ihnen zu plaudern, Autogramme zu geben und ihnen für ihre Geduld zu danken.

Zu Beginn ihrer Karriere hatten Flavia diese Begegnungen immer in Hochstimmung versetzt: Die Leute warteten, weil ihnen so viel an ihr lag, sie wollten ihre Anerkennung, ihre Aufmerksamkeit, irgendein Zeichen, dass ihr Zuspruch Flavia etwas bedeutete. So war es damals, so war es jetzt. Flavia war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass sie diesen Zuspruch immer noch brauchte. Wenn sie es nur ein wenig schneller erledigen könnten: einfach sagen, wie

Zwei erkannte sie schon von weitem, ein Ehepaar – alt und geschrumpft seit ihrer ersten Begegnung vor mehreren Jahren. Sie lebten in Mailand, kamen zu vielen von Flavias Vorstellungen und schauten hinterher kurz vorbei, um ihr die Hand zu geben und sich zu bedanken. Sie hatte sie all die Jahre gesehen, wusste aber immer noch nicht den Namen. Hinter ihnen stand noch ein Paar, jünger und weniger bereit, nur kurz danke zu sagen. Bernardo, der mit dem Bart – daran erinnerte sie sich, weil beides mit B anfing –, begann jedes Mal mit Lob für eine bestimmte Stelle oder auch nur einen einzelnen Ton, offenkundig zum Beweis, dass er von Musik genauso viel verstand wie sie. Der andere, Gilberto, stand daneben und fotografierte, während sie das Programmheft signierte, gab ihr die Hand und bedankte sich pauschal, nachdem Bernardo sich um die Details gekümmert hatte.

Nächster in der Reihe war ein großer Mann mit einem leichten Mantel über den Schultern. Flavia bemerkte den Samtkragen und versuchte sich zu erinnern, wann sie so etwas das letzte Mal gesehen hatte, wohl eher nach einer Premiere oder einem Galakonzert. Sein weißes Haar bildete einen starken Kontrast zu den gebräunten Zügen. Er küsste ihr die Hand, sagte, vor einem halben Jahrhundert habe er in Covent Garden die Callas in dieser Rolle gehört, und dankte ihr, ohne sie durch irgendwelche Vergleiche in Verlegenheit zu bringen, ein Zartgefühl, das sie zu schätzen wusste.

Dann eine junge Frau mit zartem Gesicht, braunen

»Sind Sie Sängerin?«, fragte Flavia unwillkürlich.

»Gesangsschülerin, Signora«, sagte die andere, und die schlichte Antwort traf Flavia im Innersten wie der tiefste Ton eines Cellos.

»Wo?«

»Am Pariser Konservatorium, Signora. Ich bin im letzten Jahr.« Flavia entging nicht, dass die junge Frau vor Nervosität schwitzte, aber ihre volltönende Stimme schwankte so wenig wie ein Schlachtschiff bei stiller See. Während sie sich weiter unterhielten, begann Flavia die zunehmende Unruhe im Rest der Schlange zu spüren.

»Also dann, alles Gute«, sagte Flavia und gab ihrem Gegenüber noch einmal die Hand. Wenn sie mit dieser Stimme auch sang – was nicht so oft vorkam –, stünde in wenigen Jahren sie hier an ihrer Stelle; dann wäre sie es, die ihren dankbaren Fans Freundlichkeiten sagte und mit den Kollegen essen ging, statt verschüchtert vor ihr zu stehen.

Im Hintergrund der noch Herumstehenden bemerkte sie einen dunkelhaarigen Mann mittleren Alters, der mit gesenktem Kopf einer Frau neben ihm zuhörte. Die Frau war interessanter: naturblond, kräftige Nase, helle Augen, wahrscheinlich älter, als sie aussah. Sie lächelte über irgendeine Bemerkung des Mannes, stupste ihn mit dem Kopf mehrmals an der Schulter, trat dann zurück und sah zu ihm auf. Der Mann legte einen Arm um sie und zog sie an sich, bevor er sich reckte und nachsah, was sich vorne an der Schlange abspielte.

Jetzt erkannte sie ihn, obwohl es Jahre her war, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sein Haar hatte mittlerweile graue Strähnen, sein Gesicht war schmaler geworden, und vom linken Mundwinkel bis zum Kinn hinunter zog sich eine Falte, die dort früher nicht gewesen war.

Sie erwiderte seinen Händedruck. »Schön«, sagte sie. »Tosca ist ein sehr guter Anfang.« Er nickte, seine Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ich hoffe, es hat Ihnen Lust auf mehr gemacht«, fügte Flavia hinzu.

»O ja. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr das …« Er zuckte die Schultern über sein Unvermögen, sich genauer auszudrücken, und als er noch einmal ihre Hand nahm, fürchtete sie schon fast, er werde sie an seinen Mund ziehen und küssen. Aber er ließ wieder los, sagte nur »Danke« und ging.

Nach vier weiteren Fans kamen der Mann und die blonde Frau an die Reihe. Er gab Flavia die Hand und sagte: »Flavia, ich habe dir ja gesagt, dass meine Frau und ich dich gerne einmal singen hören würden.« Sein Lächeln vertiefte die Falten in seinem Gesicht. »Das Warten hat sich gelohnt.«

»Und ich habe dir gesagt«, ging Flavia über das Kompliment hinweg, »dass ich dich und deine Frau gern zu einer Vorstellung einladen würde.« Sie reichte seiner Begleiterin die Hand und sagte: »Sie hätten mich anrufen sollen. Ich hätte Ihnen Karten besorgt. Wie versprochen.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte die Frau. »Aber mein Vater hat ein abbonamento, er hat uns die Karten überlassen.« Als wolle sie den Eindruck verscheuchen, sie seien vielleicht nur da, weil ihre Eltern keine Lust

Flavia nickte. Außer den beiden war niemand mehr da. Wie sollte der Abend jetzt weitergehen? Sie hatte allen Grund, diesem Mann dankbar zu sein, seitdem er sie vor Schlimmem bewahrt hatte … vor was im Einzelnen, wusste sie selbst nicht, weil seine Hilfe so schnell und so umfassend gewesen war. Zweimal hatte er sie gerettet, nicht nur einmal, und beim zweiten Mal hatte er auch den Menschen gerettet, der ihr damals am meisten bedeutet hatte. Danach hatte sie ihn noch einmal zum Kaffee getroffen, und dann war er verschwunden; beziehungsweise sie hatte es anderswohin verschlagen im Zuge ihrer kometenhaften Karriere, mit Engagements in anderen Städten und an anderen Theatern, fern dieser Provinzstadt und dieses sehr provinziellen Theaters. Ihr Lebensradius, ihr Horizont, ihr Talent – alles war weitreichender geworden, und sie hatte seit Jahren nicht mehr an ihn gedacht.

»Es war hinreißend«, sagte die Frau. »Eigentlich mag ich diese Oper nicht so sehr, aber heute kam sie mir ganz wirklich vor, sehr bewegend. Jetzt verstehe ich, warum sich so viele Leute dafür begeistern.« An ihren Mann gewandt, meinte sie: »Obwohl der Polizist ja nicht sehr gut wegkommt, oder?«

»Ein typischer Arbeitstag, meine Liebe, mit allem, was wir so gut können«, erwiderte jener freundlich. »Sexuelle Nötigung, versuchte Vergewaltigung, Mord, Amtsmissbrauch.« Und zu Flavia: »Ich habe mich wie zu Hause gefühlt.«

Sie lachte laut auf und erinnerte sich, dass er ein Mann

Er bemerkte ihre Unentschlossenheit und nahm ihr die Entscheidung ab. »Und genau da müssen wir jetzt hin«, sagte er. »Nach Hause.« Dass er nicht drum herumredete, nahm sie dankbar zur Kenntnis.

Sie gerieten ins Stocken, und Flavia fiel nur noch ein: »Ich bin noch eine Woche hier. Vielleicht können wir uns auf einen Drink treffen?«

Die Frau überraschte sie mit der Frage: »Dürfen wir Sie für Sonntagabend zum Essen einladen?«

Flavia hatte mit den Jahren eine Verzögerungstaktik entwickelt und schützte gewöhnlich eine andere Einladung vor, wenn sie nicht sicher war, ob sie ein Angebot annehmen sollte, oder noch Zeit zum Überlegen brauchte. Jetzt aber dachte sie an die Rosen und dass sie ihm davon erzählen könnte. »Ja, gern«, sagte sie. Damit die beiden nicht auf die Idee kämen, sie fühle sich einsam und verlassen in dieser Stadt, fügte sie hinzu: »Morgen Abend habe ich zu tun – aber Sonntag passt mir sehr gut.«

»Hätten Sie etwas dagegen, uns bei meinen Eltern zu treffen? Nächste Woche«, erklärte die Frau, »fahren sie nach London, und das ist unsere einzige Chance, sie vor der Abreise noch einmal zu sehen.«

»Können Sie mich denn einfach so …?«, fing Flavia an. Sie siezte die Frau, während sie den Mann geduzt hatte.

»Einladen? Aber ja«, erklärte die Frau resolut.

»Wenn das so ist«, sagte Flavia, »komme ich gern.«

»Wenn du jemanden mitbringen möchtest«, begann der Mann, brach dann aber ab.

»Sehr freundlich«, sagte sie höflich, »aber ich komme allein.«

»Aha«, sagte er, und ihr entging sein Tonfall nicht.

»Das Haus steht in Dorsoduro, nicht weit vom Campo San Barnaba«, erklärte seine Frau und ging nun ebenfalls dazu über, Flavia zu duzen: »Du nimmst die calle links von der Kirche, auf der anderen Seite des Kanals. Die letzte Tür links. Falier.«

»Um wie viel Uhr?«, fragte Flavia, die wusste, wo das war.

»Halb neun«, kam die Antwort, worauf der Mann sein telefonino hervorzog und sie die Nummern austauschten.

»Gut«, sagte Flavia, nachdem sie die Nummern der beiden eingegeben hatte, »danke für die Einladung.« Innerlich noch immer mit der Frage nach der Herkunft der Blumen beschäftigt, sagte sie: »Ich muss noch mit dem Pförtner sprechen.«

Flavia Petrelli gab ihnen die Hand und wandte sich der Pförtnerloge zu, während Paola Falier und Guido Brunetti nach Hause gingen.