Für Laura
Aber auch ich, was suchte ich anderes
als den gleichen Weg, den mein Vater
ins Dickicht einer anderen Fremdheit geschlagen hatte
Italo Calvino, La strada di San Giovanni
Es war kein leichtes Jahr gewesen. Nicht nur, weil es keine leichten Jahre gibt. Meine Familie konnte nicht verstehen, wieso diese Geschichte mit dem Studium gar nicht mehr aufhörte und einfach zu nichts führte. Es belastete meine Eltern, dass ihr Sohn immer weiter studierte, »ohne je ein Mann zu werden«. Logisch, denn »ein Mann zu werden« bedeutete ihrer Meinung nach, eine Arbeit zu haben. Und da Studieren keine Arbeit ist, stand fest, dass ich noch ein mehr oder weniger unbeschwerter Junge war. Kein Mann.
Davon waren meine Mutter und mein Vater felsenfest überzeugt. Viele Leute ihres Alters dachten so, und es gab nicht die geringste Chance, zu Hause Anteilnahme für meine Müdigkeit zu finden, die durchaus die eines Mannes war.
Auch dass ich gern studierte, half nichts. Die mit Lesen oder sogar Schreiben zu Hause verbrachte Zeit war der Beweis, dass ich mich in meinem Dasein als ewiger Student suhlte wie eine Ente im Teich, ohne das Bedürfnis nach Unabhängigkeit zu verspüren, das sie dagegen von frühester Jugend auf empfunden hatte.
»Ich habe mit vierzehn angefangen und dein Vater mit fünfzehn! Und wir sind alle beide ohne unsere Eltern nach Mailand gekommen!«, jammerte meine Mutter, so als wäre ich nicht nur für meine Verspätung verantwortlich, sondern auch für ihre Frühreife. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt.
Großvater dagegen schien mich besser zu verstehen. »Als Dieb hättest du es schneller geschafft …«, spottete er, wenn ich ihm sagte, dass ich nun, da ich auch das Aufbaustudium abgeschlossen hatte, noch wer weiß wie lange brauchen würde, bis ich eine ordentliche Lehrerstelle bekam. »Einen festen Arbeitsplatz«, wie er sich ausdrückte. Während er diese Worte murmelte, war mir nämlich, als beschimpfte er nicht mich als Taugenichts, sondern ärgerte sich vielmehr über all die »Halunken, die dieses Teufelszeug von Diplom, Spezialisierung und Master erfunden haben, das bloß dazu gut ist, Familien zu ruinieren und dir die Lust am Arbeiten zu nehmen, bevor du überhaupt angefangen hast«.
In der Tat, die Angst, alles getan zu haben und dann zu entdecken, dass der Beruf gar nichts für mich war, wuchs ständig. Auch im Schlaf zeigte sie sich. Übrigens war sie berechtigt, ich hatte ja noch nie unterrichtet! Sich heute für diese Arbeit zu entscheiden bedeutet, sich allein auf eine jugendliche Intuition zu verlassen.
Wenn ich Großvater diese Dinge auseinandersetzte, lächelte er, wie gewöhnlich ohne seinen großen Körper eines Kriegers zu rühren, indem er nur leicht die Lippen öffnete und seine aquamarinblauen Augen zu Schlitzen verengte.
Zu der Zeit verbrachte ich ganze Nachmittage mit ihm, fast wie damals in der Kindheit, als jeden Tag, bis meine Mutter von der Arbeit kam, Großvater und Großmutter meine wahren Eltern waren. Großmutter Anna, stets bereit, mir die Nase zu putzen und mir mit der Hand durch die Locken zu fahren; und Großvater Leonardo, der mir noch immer, mit über achtzig, wie ein kraftvoller Riese vorkam, trotz seines vom Asthmahusten ermatteten Gesichts, der Falten, die wie geometrische Linien seine Stirn zerschnitten, der schmalen Lippen, die keine Worte verschwendeten. Sie zogen mir ein frisches Hemdchen an, wenn ich verschwitzt war, sie wachten darüber, dass ich meine Hausaufgaben machte und um vier Uhr eine Pause einlegte, um eine Kleinigkeit zu essen. Sie ließen mich den Schulranzen packen und aufräumen, zehn Minuten bevor meine Mutter kam.
In jenem heißen, windstillen Juni hatte ich wieder begonnen, bei Großvater vorbeizugehen, ehrlich gesagt, weil ich mich einsam fühlte. Nicht, dass es mir an Freunden mangelte, Freunde hatte ich von jeher, und es gab auch die zwei, drei, auf die ich ernsthaft zählen konnte, die von meinen Ängsten und Schwächen wussten, ohne sich darüber lustig zu machen.
Aber die Verwirrung jenes Sommers war neu. Diejenigen, die nicht studiert hatten, arbeiteten schon seit Jahren, waren verlobt und dachten an Schritte, die ich mir nicht einmal vorstellen konnte. Von meinen Studienkollegen war ich der Schnellste gewesen, hatte sie in den Innenhöfen und Bibliotheken zurückgelassen, wo sie die Nachmittage weiter mit Reden, Rauchen und Lesen verbrachten. Mir dagegen war die Welt der Universität schlagartig fremd geworden, vielleicht, weil diese Müdigkeit eines Mannes herausgekommen war, die meine Eltern nicht anerkennen wollten, oder einfach, weil es normal war, dass man diese Orte mit ihrer abgestandenen Luft schließlich satthat.
Dann kamen die ersten Vertretungen. Das verlegene Betreten der Klasse in Hemd und Jackett, um, wie ich hoffte, dadurch mehr Autorität auszustrahlen, das Konfrontiertsein mit Schülern, die häufig größer und stärker waren als ich, das Licht, das durch die Vorhänge auf ihren Gesichtern zerfranste, die schon so anders waren als meines. Doch über das alles konnte ich nicht reden. Also schwieg ich, überzeugt, dass die anderen mich nicht verstehen würden. Ich war auf niemanden böse, wollte aber lieber allein sein, nur abends den einen oder anderen treffen, um ein Bier zu trinken und bis spät zu quatschen und über Politik zu diskutieren.
Am Nachmittag stand Großvater am Fenster und sah mich kommen. Ich ließ den Fahrradlenker los, um ihm mit beiden Armen zu winken, und sah, wie er zur Antwort den Kopf hob und ein Lächeln andeutete. Zur Tür brauchte er genauso lange wie ich zum Fahrradabschließen, daher war Klingeln unten nicht nötig.
»Hast du dein Nickerchen gemacht, Opa?«
»Nur kurz, weil es zu heiß war.«
»Machen wir einen Ausflug?«
»Weit oder nah?«
»Heute weit, wenn du magst.«
Nah bedeutet einen kleinen Ausflug bis zu dem Maisfeld, das immer noch hinter dem Haus der Großeltern liegt. Es bedeutet, eine gerade, wenig befahrene Straße entlangzuradeln, dann die ganze Via Andrea Costa, und nach der Esso-Tankstelle abzubiegen in eine Reihe gewundener Sträßchen, die nach Musikern benannt waren. Am Feld ließen wir, ich und der Rattenschwanz von Cousins, mit denen ich aufgewachsen bin, vor zwanzig Jahren die Räder fallen und warteten, bis Großvater mit dem Eis kam. Wir vesperten alle gemeinsam, vor der ersten Reihe Maishalme sitzend, die einen großen, fächerförmigen Schatten warf. Nachdem er seine Drillichhose hochgezogen hatte, setzte sich der Großvater zu uns auf die Erde ins Kühle. Während wir aßen, erzählte er uns eine Geschichte oder fragte uns der Reihe nach, wie es in der Schule gelaufen war, und manchmal wollte er auch, dass wir ihm ein Gedicht aufsagten, denn Gedichte liebte er, besonders gereimte.
Um den Großvater zu unterhalten, lernte ich von der Grundschule an Unmengen davon. Mir war, als würde ich sein Komplizentum und seinen Schutz als Krieger noch mehr verdienen, wenn ich ihm diese Verse rezitierte, deren Sinn er vielleicht gar nicht verstand, hingerissen, wie er war, von den Wörtern, die zu Musik wurden.
Für uns war es allerdings spannender, wenn er erzählte. Wenn er mit leiser Stimme davon sprach, wie er im Krieg war, wo man sich mit dreckigem Wasser wusch und die faulen Zähne mit dem Messer herausgerissen wurden; wo es manchmal zwei Tage lang nichts zu essen gab und man kilometerweit durch den Wald lief, den verletzten Gefährten auf der Schulter wie einen Kartoffelsack.
Damals kamen mir diese Geschichten vor wie die Taten eines Champions. Jede trug zur Mythisierung meines Helden bei. Später interessierten sie mich dann aus ganz anderen Gründen, aber der Genuss, Großvater in dieser Mischung aus apulischem, wortwörtlich ins Hochitalienische übersetzten Dialekt reden zu hören, blieb derselbe. Italienisch war für ihn eine Sprache, die morgens zusammen mit den Enkeln ins Haus kam und es abends mit ihnen verließ.
Zum Maisfeld strampelt man hin und zurück drei Kilometer. Das ist ein naher Ausflug.
Ein weiter Ausflug dagegen ist etwas ganz anderes, für uns Kleine war es ein echtes Ereignis. Vor allem unternahm der Großvater den weiten Ausflug immer nur mit einem Enkel und auf einem Fahrrad, seinem, das ihm die Arbeitskollegen aus der Montecatini-Fabrik geschenkt hatten, als er in Rente gegangen war, schon mit dem Kindersitz hinten drauf, da sie wussten, dass er sich ganz dem Nachwuchs widmen würde.
Fünf oder sechs Mal durfte ich den weiten Ausflug mit ihm machen, und immer kamen wir an Orte, die mich außerordentlich beeindruckten und an denen ich Jahre später zerstreut vorbeilief, fast ohne mich zu erinnern. Die Brera-Akademie, das Stadion von San Siro und die Pferderennbahn, das Castello Sforzesco, der Friedensbogen …
Ich saß auf dem Kindersitz und umklammerte den Großvater, der ab und zu die Hand nach hinten streckte und mir zweimal auf den Schenkel klopfte: »Geht’s gut?«, fragte er dann, was heißen sollte: »Sitzt du bequem?« Wir radelten schweigend, lauschten auf den Wind und betrachteten die Autos, die uns überholten. Achten musste man nur auf die Kommandos des Fahrers: »Halt den Winker raus«, oder »Lehn dich ein bisschen rüber«, damit ich ihn mit dem Körper unterstützte, wenn er in die Kurve ging.
Sobald wir irgendwo angekommen waren, erfasste mich ein Gefühl, weit weg zu sein von zu Hause, das ich beim Fahren nicht spürte, beschützt, wie ich war, vom Rücken des Großvaters, der die Welt verdeckte. Die Idee, wir würden es nicht schaffen, rechtzeitig zurück zu sein, bevor Mama kam, gefiel mir irrsinnig gut – bestimmt würde sie sich um mich sorgen bei der Vorstellung, dass ich weit weg war an einem Ort, den sie nicht kannte. Dann würde mein Vater mich um die Abendessenszeit mit dem Auto abholen, und niemand würde mich ausschimpfen, da ich mit dem Großvater unterwegs gewesen war.
An einem weit entfernten Ziel angekommen, gewann ich eine Bedeutung, die ich unterwegs nicht hatte. Ich wurde für Großvater zum Führer, denn beim Spazierengehen las ich ihm jedes Ladenschild, jedes Werbeplakat vor.
Großvater Leonardo war nämlich Analphabet. Doch auch dies schien mir in der Kindheit nur ein Grund zum Scherzen zu sein, und jeder Gedanke an sein Leben und den Unterschied zwischen seiner und meiner Geschichte lag mir fern, obwohl es von Entbehrungen und Opfern gekennzeichnet war, die schon meinem Vater fremd waren.
Erst später begriff ich, welchen Schmerz er empfinden musste, weil er die Zeichen nicht deuten konnte, von denen es in der Stadt wimmelte. Jetzt schäme ich mich bei der Erinnerung, dass wir ihm unsere Schulhefte unter die Nase hielten und er so tat, als würde er sie kontrollieren; doch wenn ein Kind den Blick eines alten Mannes durchdringen könnte, hätte es die Verwirrung auf seinem Gesicht bemerkt, rund um die aquamarinblauen Augen, die sich zusammenzogen vor Anstrengung, etwas zu entziffern.
Dieser Schmerz – der einzige, der Verlegenheit und Scham bei ihm weckte – blieb mir verborgen, bis Großmutter Anna eines Tages, als Großvater sein Nickerchen hielt (so nannten die beiden die Siesta nach dem Mittagessen, und wir Enkel lernten, uns auch so auszudrücken), erzählte, dass auch sie erst spät entdeckt hatte, dass ihr Mann Analphabet war. Die ganze Verlobungszeit hindurch gelang es dem Großvater, sie zu täuschen, indem er in überlegenem Ton sagte, er sei bis zur dritten Klasse zur Schule gegangen, was hieß, dass er nicht nur lesen und schreiben, sondern auch gut rechnen konnte. Nicht übel für einen Bauernjungen, der in frühen Jahren den Vater verloren hatte. Sechster von acht Kindern.
Sehr geschickt gelang es Großvater Leonardo ein Jahr lang, alle – im Grunde ohnehin seltenen – Gelegenheiten zum Lesen zu vermeiden, die sich ergaben, wenn er nach der Arbeit kurz bei seiner Verlobten vorbeischaute. Bei Großmutter zu Hause gab es ab und zu eine Zeitung, ein Blättchen, das aus irgendeinem Laden stammte und die wesentlichen Tagesereignisse zusammenfasste. Eine Nachbarin legte es ihr am frühen Nachmittag aufs Fensterbrett zwischen die Basilikumtöpfe, und Großmutter Anna brachte es gegen Abend einer anderen Nachbarin, einer Bäuerin, die das Papier eher brauchte, um das Obst einzuwickeln, das sie verkaufte, als um sich zu informieren. Wenn Großmutter darin blätterte, weil sie etwas kommentieren wollte, nickte Großvater wie ein Alleswisser und erwiderte, er habe schon Zeitung gelesen, und zwar genau dieses Blättchen, das ein Arbeitskollege von ihm jeden Morgen bei seinem Bruder, dem Zeitungshändler, abholte. So gelangte Großmutter Anna zu der Auffassung, dass ihr zukünftiger Mann auch ein aufmerksamer, gewissenhafter Leser sei.
An diesem Punkt blieb nur ein Zweifel. Aber aus Angst, ihn zu beleidigen, fand sie nie den Mut, ihm den Federhalter in die Hand zu drücken. Sie wartete bis zum Hochzeitstag. Doch hier zog sich der Großvater, wenn überhaupt möglich, noch glänzender aus der Affäre.
Als der Pfarrer ihn aufforderte, im Register zu unterschreiben, verzierte er seinen Namen sogar noch mit schwungvollen Schnörkeln.
Mit dem Geständnis wartete er bis zur Hochzeitsreise, die damals, wenn man nicht reich war, darin bestand, ein paar Tage auf Besuch zu Verwandten zu fahren. In dem leeren Zugwaggon, der sie nach Neapel brachte, erklärte er ihr, auf Hochitalienisch, einer seiner Finger sei immer noch leicht taub, weil er die letzten Abende mit einem gewissen Saverio – dem Sohn eines Bauern, der mit ihm arbeitete – verbracht habe, um diese verdammte Unterschrift zu lernen, die ihn außer einer beginnenden Arthritis viel Übungszeit und nicht wenige, aber in der Beichte vor der Trauung sogleich gesühnte Flüche gekostet habe.
»Was soll das heißen?«, fragte Großmutter, die immer noch nicht verstand.
»Dass du einen verlogenen Analphabeten genommen hast«, antwortete Großvater, indem er ihre Hand ergriff.
Zuerst verschlug es ihr die Sprache. Dann: »Aber wieso hast du das getan, Leó?«
»Aus Liebe, aber noch mehr aus Angst«, erwiderte Großvater schüchtern. »Du hast sogar die fünfte Klasse Volksschule, womöglich hättest du einen Gebildeteren gewollt …« Noch immer hielt er ihre Hand.
Er war ein hartnäckiger Mann, auch wenn es darum ging, seine schäbigsten Fehler zu verstecken. Im Grunde schämte er sich für bestimmte Momente seiner Geschichte, sie roch nach Armut wie alle Geschichten der Bauernburschen, die manchmal sogar gezwungen sind, in die Städte abzuwandern. Die Einzigen, die ihn seiner Meinung nach wirklich verstehen konnten, waren seine Freunde. Sie hatten das gleiche Elend kennengelernt wie er und besaßen die außergewöhnliche Gabe, die manchmal unwissenden Menschen eignet, nicht gereizt zu reagieren auf solche, die unter ihnen stehen. Großvater Leonardos Sinn für Freundschaft war sehr ausgeprägt. Er dachte, dass nur Männer, die auf dem Feld gearbeitet oder sich auf See ihren Lebensunterhalt verdient hatten, ihn ganz verstünden. Die, mit denen man sich in Worten und mit Fäusten messen konnte, ohne sich je zu verstellen. Einige waren so wichtig gewesen, dass er sie in Barletta, der Stadt am Meer, wo er geboren war und vierzig Jahre gelebt hatte, zusammen mit jenem Teil von sich zurückließ, der sich bei vielen Männern nur mit den Arbeitskollegen und den Jugendfreunden zeigt. Keiner, der ihm hier begegnet ist, konnte wohl je wieder das humorvolle Vertrauen in ihm wecken, das wahre Freundschaft kennzeichnet und das dann auf die ganze übrige Zeit des Lebens ausstrahlt. Hier in Mailand hat er keine Freunde mehr gehabt, jedenfalls nicht solche, wie er sie verstand, mit denen man sich im Alter jeden Abend zum Kartenspielen auf der Piazza oder in der Parteisektion trifft. Mit den Kollegen von der Fabrik war es anders gewesen. Und mit der Rente hatte sich dann jeder in seine eigene Altersträgheit zurückgezogen.
So beschlossen wir, einen weiten Ausflug zu machen. Und da ich nun nicht mehr der kleine Nicolino, sondern der Lehrer Nicola Russo war, durfte jeder mit seinem eigenen Rad fahren.
An jenem Tag radelten wir länger als gewöhnlich, still und langsam, auf lauter Wegen, die nur ein paar Dorfsträßchen zu verbinden schienen. Ab und zu forderte Großvater Leonardo mich auf, dahin zu schauen, wohin er mit dem Finger deutete. Er zeigte auf die Gemüsegärten am Straßenrand und erzählte, dass dieser oder jener Herr ihm seit Jahren große Salatköpfe schenkte.
Seit seiner Ankunft in Mailand, wo er vom Bauern zum Facharbeiter hatte umsatteln müssen, hatte er sich trotzdem immer Bekanntschaften gesucht, die ihm das Land in Erinnerung riefen.
»Wie machst du es, dass du die alle kennst?«, fragte ich.
»Ich helfe ihnen.«
»Wie denn?«
»Während sie in ihrem Garten arbeiten, stelle ich mich mit dem Rad an den Zaun, mache ein paar Komplimente, gebe gute Ratschläge … und sie bitten mich rein. Wenige sind in der Lage, die Pflanzen so zu ziehen, wie es sich gehört. Siehst du den da? Dem hab ich alle Zucchini neu gepflanzt. Manche wissen nicht mal, wie man die Hacke hält, diese Esel«, sagte er zufrieden, indem er auf irgendeinen Punkt deutete.
»Du schleimst dich also ein.«
»Was soll das heißen?«
»Dass du einen genauen Plan hast, um da hinzukommen, wo du willst.«
»O ja!«, rief er lachend. »Es ist schön, ein Grundstück zu haben, das vertreibt dir die Zeit. Außerdem ist es hier nicht wie bei uns im Süden, hier hat man kein Problem mit dem Wasser.«
Wieder traten wir schweigend in die Pedale, was den Atem des radelnden Großvaters allmählich schwächte, und näherten uns den Navigli, den Kanälen von Mailand, die in der Nachmittagssonne vor uns aufgetaucht waren.
Der Naviglio Grande lag rechts von uns. Läden mit Secondhand-Kleidern, mit Gitarren, Stände mit Ethnokram und modische Lokale zogen an uns vorbei. Wer weiß, welchen Eindruck sie auf den Großvater machten, der keine Miene verzog, ganz darauf konzentriert, die Atemnot nicht überhandnehmen zu lassen.
»Schließen wir die Fahrräder hier an?«, fragte er, am Kanal anhaltend.
Er lehnte meines an seines und kettete die beiden Räder an dem rostigen Geländer an. Wir gingen am Wasser entlang. Mit gerunzelter Stirn sah der Großvater sich um, ein Zeichen, dass etwas unklar war.
»Warum sind wir ausgerechnet hierher gekommen?«, fragte ich ihn. »Gefallen dir die Navigli?«
»Eigentlich, weil ich weiß, dass sie dir gefallen.«
»Mir? Und woher weißt du das?«
»Du erzählst immer, dass ihr abends hierher kommt und erst um vier oder um fünf Uhr früh heimgeht. Da habe ich mir gesagt, muss doch wunderschön sein, dieser Kanal!«
»Ja und, gefällt’s dir?«
»Ich hatte die Navigli schon vor Jahren mit Onkel Mauro gesehen.«
Wir wanderten weiter bis zum Treppchen der kleinen Brücke, die den Kanal überquert. Oben blieben wir stehen, an das gelbe Geländer gelehnt.
»Wie dreckig es ist«, sagte Großvater immer wieder, während er aufs Wasser blickte.
»Demnächst muss ich mit deinem Vater nach Barletta fahren«, sagte er leise.
»Mit Papa? Nach Barletta?!«, fragte ich verblüfft. »Und was macht ihr da?«
»Die Wohnung am Meer muss verkauft werden. Kein Schwein interessiert sich mehr dafür. Weder die Kinder noch die Enkel.«
Das Problem unserer Wohnung in Barletta, wo die Familie meines Vaters gelebt hatte, bevor sie nach Mailand auswanderte, hatte sich durch die ganze Geschichte der Russos hingezogen und war bis zu mir und den jüngsten Cousins durchgedrungen. Es verging kein Weihnachten, kein Ostern, an dem nicht schließlich am »Erwachsenentisch« darüber diskutiert wurde, zuerst ganz gesittet, dann mit Geschrei und Tränen. Nur Großvater und mein Vater hatten resigniert und wollten sie verkaufen, weil ja doch niemand mehr hinfuhr. Weil sie weit weg und unbequem war. Die anderen Kinder und Großmutter dagegen wollten sie unbedingt behalten, wie die alten Puppen und den abgelegten Schmuck, die in Taschen zuunterst im Schrank herumliegen.
Als ich klein war, erinnere ich mich, fuhr ich mit meiner Mutter und meinem Vater hin und traf noch Großvater und Großmutter an, die im Juni mit einem Teil der Enkelschar ans Meer zogen. Zur Zeit der Mittelschule verbrachte ich mit meinem Cousin Giovanni drei Sommer hintereinander dort.
Im Lauf der Jahre wurde dann die lange Reise beschwerlich, die hohe Steintreppe, die selbst einen Jungen außer Atem brachte, man konnte sich vorstellen, wie es den beiden Alten damit ging, er Asthmatiker und sie über zwei Zentner schwer.
Wenn einer der vier nach Barletta kam, ging er zu anderen Verwandten und betrat sie gar nicht mehr. Onkel Mimmo und mein Vater warfen beim letzten Mal von der Straße aus einen Blick darauf; an die bröckelnde Mauer gegenüber gelehnt, von wo aus man die Balkone gut sieht, rauchten sie eine Zigarette und gingen dann weiter. Großmutter erzählten sie, der Wohnung gehe es gut, ja doch, irgendwie.
Der Letzte, der dort war, war ich. Nur so einer mit dem Kopf in den Wolken konnte noch beschließen, seine Ferien dort zu verbringen. Meine Eltern waren dagegen. Großvater ebenso, aber weniger strikt, weil seiner Meinung nach jeder über zwanzig für sich selbst entscheidet. Großmutter hingegen stimmte begeistert zu; mehr aufgrund ihrer eigenen Illusion als wegen der Berichte ihrer Söhne glaubte sie wirklich, die Wohnung sei wie eine dieser Blumen am Bahndamm, die weiter duften, auch wenn sich niemand um sie kümmert.
So begannen und endeten unsere Tage in einem kleinen Strandhotel, wie es viele gibt, und die Wohnung meiner Kindheit konnte sie nicht kennenlernen. Und ich würde sie nicht wiedersehen.
Dagegen erfuhr ich jetzt, dass Großvater, da er nicht auf den gesunden Menschenverstand seiner Kinder zählen konnte, alles allein entschieden hatte: Er hatte mit der Faust auf den Tisch gehauen, um sich gegen das Geschrei und das hemmungslose Weinen seiner Frau durchzusetzen, die sich ohne den Gedanken an diese Wohnung wie ein Flüchtling vorkam. »Wenn es hier bergab geht, wenn sie uns unserem Schicksal überlassen, dann wissen wir wenigstens, wo wir hin sollen. Die Wohnung ist da, sie gehört uns!«, kreischte sie tränenüberströmt im Dialekt.
Nie hat man erfahren, welche Worte Großvater gefunden hat, um sie schlagartig zum Schweigen zu bringen und jede Widerrede seiner Söhne im Keim zu ersticken.
»Und wann fahrt ihr?«, fragte ich ihn, während er einen Stand mit Hüten und Gürteln betrachtete.
»Dein Vater muss Ende nächster Woche beruflich nach Potenza, um irgendwelche Papiere zu unterschreiben. Wir fahren einige Tage früher los und regeln alles. Wir gehen zum Makler und schreiben sie zum Verkauf aus, Schluss, Ende.« Er griff nach einem Hut und setzte ihn sich auf den kahlen Hinterkopf.
»Es ist, wie es ist. Man kann nicht mit dem Gedanken leben, dass den Leuten die Wände auf den Kopf fallen.«
»Was redest du da?! Wenn man fährt, weil es Probleme gibt, ist es nie schön. Du willst es nur hinter dich bringen und wieder nach Hause, ohne irgendwem irgendwas erklären zu müssen.«
»Bedauerst du es?«
Ich hätte ihm gerne gesagt, dass ich nicht so dachte. Stattdessen fragte ich nur: »Sollen wir heimradeln?«
Die Rückfahrt ging langsam. Gleißendes Licht knallte auf die Autos herunter, sodass man die Augen zusammenkneifen musste. Wieder kurvten wir durch enge Straßen, die nirgendwohin zu führen schienen. Ich sah die Sonne verschwinden, und plötzlich schien sie mir aus einer beliebigen Straße wieder voll ins Gesicht. Großvater hatte sich den kaffeebraunen Hut, den er an dem Stand gekauft hatte, tief in die Stirn gezogen.
Wir schwiegen die ganze Zeit. Erst am Maisfeld, als wir in die Via Andrea Costa einbogen, fragte ich ihn: »Opa, und wenn ich mitkomme?«
Vor seinem Haus verabschiedeten wir uns, ohne anzuhalten, er hob den Arm und sagte: »Benimm dich«, was für ihn hieß: »Fahr nicht unvorsichtig.«