Michael Höveler-Müller

Die Toten kehren wieder mit dem Wind

Historischer Roman

 

 

 

VERLAG PHILIPP VON ZABERN

Impressum

Umschlagabbildung: Man Walking Towards Pyramid,
© Richard Schultz/Corbis

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

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© 2009 by Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein
ISBN: 978-3-8053-4144-8
Gestaltung: Ragnar Schön, Verlag Philipp von Zabern, Mainz
Lektorat: Sarah Höxter, Hamburg
Gestaltung des Titelbildes: Max Bartholl, b3K text und gestalt GbR,
Frankfurt am Main und Hamburg
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

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Inhaltsübersicht

Zitat

Vorspann

Teil I Der Junge aus dem Falkengau

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil II Der Horizont des Aton

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil III Horus feiert

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Nachwort

Danksagung

Königsliste der 18. und 19. Dynastie

Glossar

Weiterführende Literatur

 

Meiner Frau Nadine

 

„Einzig ist die Geliebte, ohnegleichen,

schöner als jede Frau.

Strahlend ist sie, wie der aufgehende Stern,

der dem guten Jahr voranzieht.

 

aus den „Sprüchen der großen Herzensfreude“ des Papyrus

Chester Beatty I, um 1300 v. Chr.

„Man beugte den Arm vor ihm als Junge,

und die Erde wurde von Großen und Kleinen geküsst.

Es kam zu ihm Nahrung und Speise,

als er noch ein Kind war ohne Verstand.“

 

aus der biografischen Inschrift auf einer Statuengruppe des Haremhab und der Mut-nedjemet (heute in Turin)

 

 

Die Nacht war über Ägypten hereingebrochen und hatte ihren dunklen Mantel über dem Land ausgebreitet. Die Luft war sanft und mild, aber ein starker Wind wehte aus westlicher Richtung – aus der Gegend, in der der Sonnengott Ra allabendlich in die Unterwelt eingeht und den Himmel mit dem Blut seiner Feinde tränkt. Dort im Westen liegen die großen Friedhöfe des Landes und dort ruhen sie, die Toten. Dort liegen ihre Häuser – vom Pharao bis hin zum einfachen Bauern, der auf seinem Feld hockt ... Irgendwann ziehen alle Lebenden in das Land jenseits des Horizonts.

Der Wind war jetzt so stark, dass sich die gewaltigen Palmen bei Men-nefer bogen.

 

Der Palast lag in tiefer Dunkelheit. Nur im Schlafgemach des Pharaos flackerten unruhig einige Öllampen und Feuerbecken und warfen tanzende Schatten auf die Gesichter der beiden Anwesenden. Der schwache König lag auf seinem Bett, sein Oberster General und Wesir Ra-messu saß auf einem Stuhl neben ihm.

„Wir sind beide alt geworden, Ra-messu“, sprach der Pharao und sah sein Gegenüber aus müden Augen an.

„Da war es schon wieder!“, sagte Ra-messu ernst.

„Was?“, der Pharao horchte aufmerksam in die Stille, in die sein Palast und sein Land gefallen waren. Irgendwo in der Ferne machte kaum wahrnehmbar ein Esel auf sich aufmerksam, aber das konnte Ra-messu nicht gemeint haben.

„Was denn?“, fragte der König erneut und nun ein wenig schärfer.

„Dieses Wort!“, erwiderte Ra-messu störrisch.„Alt – ich hasse es. Es mag auf dich zutreffen, aber verbinde mich nicht damit! Du weißt doch, was der Weise Ptah-hotep über das Alter meinte, ich selbst bekomme es nicht mehr ganz in die Erinnerung, aber ein Teil davon hieß: ‚Die Nase ist verstopft und kann nicht mehr atmen, Aufstehen und Hinsetzen sind gleichermaßen beschwerlich. Gutes ist zu Schlechtem geworden, und jeder Geschmack ist verschwunden. Was das Alter dem Menschen antut – Übel ist es in jeder Hinsicht!‘ So fühle ich mich nicht!“

Der Pharao brach in schallendes Gelächter aus, das jedoch brüchig und dünn klang.„Du eitler Ganter! Ganz so geschmeidig sind deine Bewegungen auch nicht mehr!“

Ra-messu stutzte zunächst, fiel dann aber in die überraschende Heiterkeit seines Freundes ein.

Doch das Lachen des Herrschers wurde bald von einem kehligen Husten erstickt, der in einem schmerzhaften Krampf endete und den ermatteten Körper zum Aufbäumen zwang.

Nachdem der König sich beruhigt hatte, sank er wieder auf sein Lager zurück und schüttelte den Kopf.

„Noch heute Nacht werden die Klageweiber zu heulen beginnen “, sagte er schwach. Ra-messu senkte den Blick. Gefährliche Feldzüge hatten dem König nichts anhaben können. Er hatte Intrigen, Mordanschläge und Verfemungen überstanden und musste nun vor der Last des Alters kapitulieren.

Der Wesir wusste, dass er seinen Freund bald verlieren würde, und es war unverkennbar, dass es in den bevorstehenden Stunden geschehen sollte. Das heutige Datum war in den Kalendern als unheilvoll vermerkt worden und in dieser Nacht hatte der Kranke seinen gesundheitlichen Tiefpunkt erreicht. Seine Stirn glühte und eine Perlendecke kleiner Schweißtropfen glänzte darauf. Die Lippen waren trocken und aufgeplatzt, die Haut wirkte fahl, alt und welk wie trockenes Leder. Seine Augen blickten matt und erschöpft aus tiefen Höhlen. Der große Herrscher war in dieser Nacht ein jämmerlicher Anblick.

Kurze Zeit nach dem Husten schien es, als würde der Pharao sein irdisches Leben nicht länger halten können. Seine Pupillen zuckten wie die vom Wind bewegten Flämmchen der Öllampen und seine Lider flackerten.

Schließlich schlossen sich seine Augen ganz. Besorgt berührte Ra-messu einen Arm des Königs und erschrak, weil dieser so kalt und schwer war. Als er jedoch sah, dass sich der Brustkorb im kargen Licht kaum merklich und ungleichmäßig hob und senkte, war er beruhigt.

Er wollte ihn nicht wecken. Sein Freund sollte schlafen und seinem schwachen Körper Erholung gönnen.

Teil I Der Junge aus dem Falkengau

27. Regierungsjahr unter Seiner Majestät, dem König von Ober- und Unterägypten, Pharao Amenophis Neb-Maat-Ra, er möge leben, heil und gesund sein

(1362 v. Chr.)

Kapitel 1

Abschied von Hut-nisut

Die Mittagssonne der schemu -Jahreszeit brannte erbarmungslos auf die Wiesen, Felder und kleinen Palmenhaine in der grünen Umgebung von Hut-nisut, einem Städtchen am östlichen Nilufer inmitten des Falkengaus.

Auf einer saftigen Weide nahe dem Tempel, der ein wenig abseits der Häuser lag, saß inmitten der Ziegenherde seines Vaters der zehnjährige Haremhab im schmalen Schatten einer hohen Dattelpalme. Von diesem Platz aus hatte er einen fantastischen Blick auf die lange Seiten- und die schmalere Rückwand des Tempels und konnte das Spiel des Sonnenlichts auf den erhabenen Reliefs beobachten. Die schwarzen Locken klebten an seinem Kopf und trotz der flirrenden Hitze studierte er konzentriert die großen und weithin gut erkennbaren Teile der Inschriften. Mit einem Stock zeichnete er die Zeichen in die trockene, dunkelbraune Erde und prägte sich ihre Formen ein, auch wenn er ihre Bedeutung nicht verstehen konnte. Ab und an aß er gedankenverloren eine der heruntergefallenen Datteln und es war früher schon einige Male vorgekommen, dass eine oder mehrere Ziegen die Gunst des Augenblicks genutzt und sich klammheimlich aus dem Staub gemacht hatten. Oft musste er dann Stunden mit der Suche verbringen und manchmal fand er sie gar nicht wieder. Zu Hause setzte es dafür schallende Ohrfeigen von seinem Vater, der ihn verächtlich„Träumer “ schimpfte, der zu nichts nütze sei und es nie zu etwas bringen würde. Dann weinte Haremhab, obwohl er es gar nicht wollte, aber die Worte taten ihm weh – weit mehr als die Schläge.

Haremhabs Vater hatte seit Jahren drei große Gerstefelder gepachtet, die er für den Tempel von Hut-nisut bewirtschaftete. Dazu züchtete er Ziegen. Die Arbeit war hart, die Tage begannen vor Sonnenaufgang und endeten sehr spät am Abend mit der Glut der Kochstelle.

Haremhabs älterer Bruder Nefer-hotep war zwölf Jahre alt und arbeitete gemeinsam mit ihrem Vater Pa-is auf den Feldern, während er selbst die Ziegen hütete und sie zu den üppigen Wiesen und sprudelnden Kanälen führte. Dabei stellte er sich oft vor, dass er ein militärischer Befehlshaber war und seine Ziegen die Truppen, die ihm bedingungslos in die Schlacht folgten. So besiegte er in seiner Fantasie die elenden Feinde Ägyptens: Chatti, Tjehenu, Retjenu, Wawat und Kusch. Sie alle wurden von den gespaltenen Hufen seiner meckernden Armee in den Staub getreten! Er hätte alles dafür gegeben, um einmal an einer wirklichen militärischen Expedition teilzunehmen. Ein Offizier wäre er gerne geworden, vielleicht sogar ein General, aber dazu hätte er lesen und schreiben können müssen. Haremhab wünschte sich sehr, diese Kunst zu beherrschen, aber für einen teuren Lehrer hatten die Eltern keine Mittel. Deswegen lenkte er so oft er konnte die Ziegen auf den grünen Hügel nahe dem Tempel von Hut-nisut. Denn von hier aus konnte er über die hohe Lehmziegelmauer sehen, die den Komplex weiträumig umgab, und direkt auf die mit Hieroglyphen übersäte Fassade des Heiligtums blicken – und üben.

Die Mauer stellte sicher, dass das Volk das Gelände nicht betrat, da es rein bleiben musste. Haremhab hatte dafür vollstes Verständnis: Mit seinen ständig furzenden Ziegen wäre die kultische Reinheit des Gotteshauses wahrhaft gefährdet gewesen. Aber auf seinem Hügel war er nahe genug am Tempel, um die monumentalen Reliefs und die sie umgebenden Schriftzeichen an den Außenmauern erkennen zu können. Sie waren sowohl mit Abbildungen des hinter diesen Steinmauern wohnenden Gottes Horus als auch mit Darstellungen von Kriegen und Schlachten des regierenden Königs Amenophis Neb-Maat-Ra geschmückt, der den Tempel vor vielen Jahren, lange vor Haremhabs Geburt, hatte errichten lassen.

Abends, wenn die Familie in der beginnenden Dämmerung nach einer kargen Mahlzeit beisammensaß und das Dunkel der hereinbrechenden Nacht erwartete, erfreute die Mutter ihren Mann und ihre vier Kinder mit Geschichten. Die Familie konnte sich keine Öllämpchen oder Feuerbecken wie die reichen Ägypter leisten und so war die verglimmende Glut der Feuerstelle die einzige Lichtquelle des kleinen Hauses. Es war eine gemütliche und heimelige Atmosphäre und die Mutter kannte unendlich viele Geschichten – Märchen von Zauberern und Königssöhnen, lustige Fabeln und spannende Abenteuer von Reisenden, die in ferne Länder aufgebrochen waren. Aber am liebsten erzählte sie die Geschichte von der Geburt ihres zweitältesten Sohnes Haremhab. Sein Name bedeutete„Horus feiert“, denn bei seiner Geburt war ein Falke, die Erscheinung des Gottes Horus, über dem Haus seiner Eltern gekreist und hatte gar nicht aufhören wollen zu kreischen. Beim Erzählen strich sie ihm jedes Mal liebevoll über die dicken, widerspenstigen Haare und ein stolzes Funkeln blitzte dann in ihren dunklen Augen auf. Während sie sprach, musste sogar der sonst so griesgrämige und in letzter Zeit besonders bedrückt wirkende Vater lächeln.

Haremhab selbst hielt es für wenig wahrscheinlich, dass der Gott Horus tatsächlich wegen seiner Geburt gejubelt hatte, denn der Familie ging es schlecht und der Junge fühlte sich nicht imstande, daran etwas zu ändern.

Seine geliebte Mutter, die die Bewohner Hut-nisuts Ta-neferet, die Schöne, nannten, kränkelte seit der Geburt des kleinen Bak vor drei Jahren. Früher von großer und schlanker Gestalt, kräftig und gesund, war sie schwach geworden, kam schnell außer Atem, hustete viel, aß wenig und schlief fast gar nicht mehr, so dass sich dunkle Schatten unter ihren Augen festsetzten, die ihr schleichend das Aussehen einer alten Frau verliehen, und auch ihre Beine hatten nicht genug Kraft, um sie für längere Zeit zu tragen. Die Hausarbeit zu erledigen, war ihr nicht mehr möglich. Zwar unterstützte sie ihre siebenjährige Tochter Isis, aber es war noch immer genügend zu tun, wenn der Vater mit seinen beiden älteren Söhnen am Abend von den Feldern nach Hause zurückkehrte. Mehr als ein verkochter, klebriger Gerstenbrei, den Isis mit aller Hingabe und – ihrer Ansicht nach – unter strenger Einhaltung der mütterlichen Anweisungen zubereitet hatte, oder blähender Lauch und Zwiebeln erwarteten sie dort nicht. Die Mittel für einen namhaften Arzt konnte Pa-is nicht aufbringen und dem Können der dubiosen Greisinnen, die ihre Dienste günstiger anboten, traute er nicht.

Zudem waren die Felderträge in den vergangenen drei Jahren schlecht ausgefallen – Schädlinge hatten fast die kompletten Ernten vernichtet –, aber die Überschwemmungen waren reichlich gewesen und die Abgaben, die Pa-is an die Steuereintreiber des Königs zu entrichten hatte, berechneten sich nach der Höhe der Nilflut. Den Beamten war es völlig egal, dass Insekten den Großteil der Gerste unbrauchbar gemacht hatten und verlangten den errechneten Ertrag. So blieb der Familie nicht viel zum Leben.

 

Nun saß Haremhab wieder einmal mit übereinandergeschlagenen Beinen, wie ein echter Schreiber, an seinem Lieblingsplatz unter der schmalen Palme auf dem grünen Hügel, kopierte die Zeichen in den Staub, in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und kam erst wieder in die Wirklichkeit zurück, wenn sein Nacken und Rücken von der gebeugten Haltung des Oberkörpers schon heftig schmerzten.

Gerade als Haremhab wieder nach einer am Boden liegenden Dattel griff, sich reckte und zurücklehnte, so dass sein Rücken den Stamm der Palme als Lehne nutzen konnte, und dabei seinen Blick gedankenversunken über die grasenden Ziegen wandern ließ, bemerkte er seinen kleinen Bruder Bak, der emsig und schnaufend den kleinen Hügel erklomm.

„Hori“, rief er fröhlich mit dünner Stimme, als er sah, dass sein großer Bruder ihn anschaute. Dieser legte den Stock beiseite, sprang auf und kam Bak entgegen. Der Knirps gluckste vor Vergnügen, als Haremhabs Hände unter seine Achseln griffen, ihn in die Luft hoben und so wild herumwirbelten, dass der winzige Schurz abzufallen drohte. Nachdem Bak wieder festen Boden unter den Füßen hatte, fiel ihm ein, dass ihn ein Auftrag zu seinem Bruder führte.

„Vater hat gesagt, du sollst ins Haus kommen!“

„Jetzt schon?“

Bak nickte und kratzte sich am Bauch.

„Fremde Männer sind gekommen, die alle Kinder von Vater und Mutter sehen wollen“, kam als hilflose Antwort, denn auch er konnte sich die Situation nicht erklären. Mit dem nackten Arm wischte sich Haremhab die feuchte Decke aus Schweiß von der Stirn.

„Na gut“, willigte er widerstrebend ein, ging zurück zur Palme, nahm den Stock und trieb die verstreuten Ziegen zusammen. Sie waren vollzählig.

„Gehen wir“, er nahm Bak an die Hand.

Schon als der Kleine gesagt hatte, dass Fremde am Haus auf ihn warteten, war Haremhab schlagartig mulmig zumute geworden. Er vermutete einen Zusammenhang mit einem Vorfall der letzten Woche, als er mit Inu, einem Jungen aus der Nachbarschaft, Feigen geklaut hatte. Waren die Männer nun gekommen, um ihn zur Strafe in den Steinbrüchen arbeiten zu lassen? Haremhab hatte ein äußerst ungutes Gefühl und ging besonders langsam, um in Gedanken andere Erklärungen für die Anwesenheit der Fremden zu finden. Doch so sehr er auch grübelte – sollte sich herausstellen, dass sie Soldaten waren, war der Fall klar: Dann konnte nur noch die Flucht helfen.

 

Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichten sie das kleine Haus aus luftgetrockneten Lehmziegeln, in dem die Familie wohnte. Der Vater hatte es selbst gebaut. Es hatte die Farbe des Bodens und war einem Hügel nicht sehr unähnlich. Viele fremde Männer hatten sich dort versammelt. Einer sprach mit dem Vater, ein anderer, besonders muskulöser und brutal aussehender Mann mit einer Peitsche bewachte eine Gruppe aneinander gefesselter Jungen, die Haremhab aus der Stadt kannte und deren Schluchzen sich mit viel Lärm und Stimmengewirr mischte. Weitere Fremde standen im Schatten der großen Sykomore neben ihrem Haus und beobachteten die Szenerie. Alle trugen Perücken, blendend weiße Lendenschurze und waren bewaffnet. Es mussten Soldaten sein. Der Mann, der mit seinem Vater sprach, war vermutlich krank, denn sein Leib war unnatürlich aufgebläht. Einen solch großen Bauch hatte Haremhab zuvor nur bei seiner Mutter gesehen, die einige Zeit danach den kleinen Bak bekommen hatte. Der Mann schwitzte stärker als die anderen, prustete pausenlos und wischte sich mit einem Stück Stoff ständig über die fettig-feuchte Stirn und seinen prallen Nacken. Dennoch musste dieser Mann einen hohen Rang unter den anwesenden Männern einnehmen, was aus der ehrfurchtsvollen Weise zu schließen war, mit der alle Umstehenden ihm begegneten. Er trug keine Perücke über seinem kahl rasierten Schädel und um seinen kaum vorhandenen Hals war ein prachtvoller Halskragen geschlungen. Breite Bänder steckten an seinen Ober- und Unterarmen und sein Schurz besaß einen leichten Faltenwurf. Außerdem trug er im Gegensatz zu den anderen Soldaten Sandalen. Haremhab dachte, dass sein Vater neben dem beleibten Mann wie ein Grashalm neben einer trächtigen Ziege wirkte, und schluckte schwer.

Unter den gefangenen Jungen erkannte Haremhab auch Inu, seinen Kumpanen von der Feigenplantage. Augenblicklich machte er kehrt und rannte so schnell ihn seine jungen Beine tragen konnten zurück in Richtung Tempel. Er hatte gehört, was mit Dieben geschehen würde, kannte die Geschichten über die Steinbrüche – das waren nicht die Art Abenteuer, die er erleben wollte! In diesem Moment bemerkte der kahlköpfige Mann den flüchtenden Knaben und schnipste mit seinen kleinen dicken Fingern in die Richtung der Soldaten unter der Sykomore, woraufhin sich zwei von ihnen unverzüglich in Bewegung setzten und die Verfolgung aufnahmen. Bak sah seinem plötzlich verschwindenden Bruder noch verdutzt hinterher, als ihn einer der beiden Verfolger mit dem Knie an der Schulter streifte, woraufhin er das Gleichgewicht verlor. In einer dicken Wolke grau-braunen Staubs platschte er auf den trockenen Boden und begann nur einen Augenblick später mit herzzerreißendem Geschrei. Taneferet kam zu ihm, hob ihn auf und nahm ihn auf den Arm. Als sie versuchte, die Tränen in seinem staubigen Gesicht zu verteilen, bemerkte Bak, dass auch sie weinte.

 

Haremhab war schnell, doch den trainierten Männern war er nicht gewachsen. Nach einer immerhin beachtlichen Strecke erwischte ihn die schmerzhaft zupackende Hand eines Soldaten, die sich um seinen Brustkorb schlang und dem Mann auf den Arm setzte.„Hab ich dich“, meinte dieser und zeigte seinem Begleiter die Beute.

„Ich habe doch nur zwei gegessen“, beteuerte Haremhab, als sich die beiden Männer mit ihm in Bewegung setzten.

„Hättest du nur mehr gegessen, dann wärst du jetzt schneller gewesen“, antwortete einer der beiden und lachte hämisch.

„Ich werde die Früchte ersetzen, wirklich“, beteuerte der Junge.

„Welche Früchte?“, stutzte der Mann, der ihn trug.

„Die beiden Feigen, die ich auf dem Feld des Chenu-sau gegessen habe!“

Jetzt lachten die Soldaten aus vollem Hals, dass es bis zum Haus seiner Eltern tönte.

„Ein kleiner Feigendieb bist du also! Aber keine Angst, deshalb sind wir nicht hier!“

„Weswegen dann?“

Doch die beiden antworteten nicht, sondern trugen den Jungen, der sich mit Leibeskräften zu befreien versuchte, zappelte und schimpfte, zu dem kahlköpfigen Mann am Haus seiner Eltern.

Die kleinen Finger des„Schwangeren“ pressten sich um den Unterkiefer des Jungen, so dass sich dessen Mund ungewollt öffnete und sich seine Wangen nach vorne schoben.

„Bürschchen“, zischte der Mann und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen,„das war der erste und letzte Ärger, den ich mit dir hatte – haben wir uns verstanden?“

Haremhab nickte leicht, obwohl er nicht wusste, warum.

„Wie ist sein Name?“

„Haremhab“, antwortete sein Vater leise.„Haremhab wird er genannt. Verzeiht das Benehmen meines Sohnes, er ist nur unwissend. Er wird ab jetzt folgsam sein!“

Fragend sah der Junge seinen Vater mit großen Augen an. Der Mann nahm seine Hand von Haremhabs Kiefer.

„Das hoffe ich. Nun gut, fesselt den hier besonders gut und steckt ihn zu den anderen!“

 

Mit wackeligen Beinen und fest verschnürten Handgelenken stand Haremhab nur kurze Zeit später im Schatten der Sykomore. Sein ebenfalls gefesselter Bruder Nefer-hotep war bei ihm. Seine Familie hielt sich vor ihrem kleinen Haus auf, doch weder er noch Nefer-hotep durften zu ihnen.

„Was soll das alles?“, flüsterte Haremhab.

„Ich habe eben ein Gespräch zwischen Vater und dem Feisten mitbekommen“, Nefer-hotep sprach leise und behielt dabei die Soldaten im Auge.„Diese Fremden heben Rekruten aus und...“

„Und was?“, drängte Haremhab.

„Wir müssen es verstehen: Vater und Mutter sind arm, die letzten Ernten waren verdorben und die Steuereintreiber sind unerbittlich “, Nefer-hotep zögerte.„Vater hat uns verkauft!“

 

*

 

Auf ein Zeichen des„Schwangeren“ setzte sich der traurige Zug in Bewegung und führte Haremhab und Nefer-hotep ein letztes Mal an ihren Eltern und Geschwistern vorbei.

Pa-iś Augen hefteten sich schuldbewusst auf den Boden vor ihm und wagten es nicht, seine Söhne anzusehen. Seine großen, schwieligen Hände hielten einen kleinen Lederbeutel, in dem sich die Kupferstücke befanden, die er zuvor von dem Dicken erhalten hatte. Für den Inhalt dieses kleinen Beutels hat er seine beiden ältesten Söhne verkauft, dachte Haremhab bitter, als er seinem Vater mit einen vorwurfsvollen Blick strafte, den dieser nicht entgegennahm.

Ta-neferet weinte hemmungslos und warf sich als Zeichen der Trauer Staub vom Boden über ihr üppiges Haar, das dadurch hellbraun und glanzlos wurde. Sie hielt Bak auf dem Arm, der ebenfalls aus voller Kehle weinte und schrie. Seine Haare waren ebenfalls von einem braunen Schleier aus Dreck bedeckt. Isis klammerte sich an den Saum des groben Gewandes ihrer Mutter. Ihre Tränen gruben helle Straßen durch ihr staubiges Gesicht.

„Haremhab! Nefer-hotep! Nein!“, rief Ta-neferet immer wieder verzweifelt die Namen ihrer Söhne, die sie in diesem Augenblick verlor. Ihre beiden kleineren Kinder taten es ihr gleich.

Wie betäubt setzte Haremhab einen Fuß vor den anderen und konnte überhaupt nicht verstehen, dass sein gewohntes Leben nun für immer vorbei sein sollte.

„Mutter“, schrie er plötzlich.„Mutter!“ Er riss sich los, sprang aus der Gruppe und wollte, an den Händen gefesselt, zu Ta-neferet zurücklaufen.

Da ließ ihn ein starker, stumpfer Schmerz zwischen den Schulterblättern zu Boden gehen.

„Nein! Nicht! Tut ihm nicht weh!“, hörte er seine Mutter rufen, als er bewegungsunfähig auf dem Bauch lag. Langsam drehte er sich auf den Rücken und stöhnte. Über sich sah er den muskulösen Soldaten, der seine Peitsche zum Schlag bereit erhoben hatte, nachdem er den Kleinen zuvor mit dem Peitschenknauf niedergestreckt hatte.

„Halte ein, Sata, das reicht jetzt!“, schrie der„Schwangere“, worauf der aggressive Mann widerstrebend in der Bewegung innehielt, Haremhab dafür jedoch brutal auf die Füße riss und ihn schmerzhaft wieder in die Reihe zu den anderen Jungen schubste.

Als er sich ein letztes Mal umdrehen wollte, spürte er, wie der Knauf von Satas Peitsche hart an seine Stirn traf.

Doch schlimmer als der Schmerz und die Erniedrigung war das Weinen und Klagen seiner Mutter, das dem Jungen niemals aus dem Kopf gehen sollte.

 

*

 

Die Männer, die sie wie Strafgefangene bewachten, waren Häscher der großen Kaserne von Men-nefer, in dem das„Bataillon des Ptah“ stationiert war. Sie zogen in regelmäßigen Abständen aus, um Freiwillige zu rekrutieren oder geeignete Kinder für einen geringen Preis von ihren mittellosen Eltern abzukaufen. Dieses Mal waren sie besonders erfolgreich, denn viele Bauern in der Region von Hut-nisut waren durch die drei aufeinanderfolgenden Missernten bei unvermindert hoch bleibenden Steuern regelrecht gezwungen, ihre ältesten Söhne für ein paar Kupferstücke der Armee des Königs zu überlassen.

Nun waren die Knaben auf dem Weg in das Bataillon des Ptah, wo sie eine lasche und oberflächliche militärische Ausbildung erhalten und einige Monate später nach Nubien ausrücken sollten, um die dortigen Goldminen und die von ihnen fortführenden Transportstraßen zu bewachen.

All dies wusste Haremhab von Inu, der unterwegs eine Unterhaltung zwischen zweien ihrer Häscher belauscht hatte.

 

Bevor sie ihren Marsch zur ehemaligen Hauptstadt Men-nefer antraten, rekrutierten die Soldaten noch andere Burschen aus den umliegenden Gebieten.

Der Weg war mühsam und anstrengend. Die Kinder mussten in langen Reihen aneinander gefesselt hinter den Soldaten her stolpern. Ihre Füße waren blutig, sie bekamen kaum etwas zu essen und nur hin und wieder einen kleinen Schluck Nilwasser. Das Sprechen war ihnen strengstens untersagt und nachts wurde es so kalt, dass die Jungen durch das Aneinanderschlagen ihrer Zähne nicht in den Schlaf finden konnten.

Einige weinten und Haremhab ging es oft nicht anders.

In einer jener kühlen Nächte saßen die Häscher wie üblich am wärmenden Feuer, aßen, tranken und lachten, während die Zwangsrekruten aneinandergebunden und so fest an Händen und Füßen verschnürt, dass eine Flucht unmöglich war, in der Dunkelheit zusammenkauerten. Da versuchte Haremhab, der schrecklichen Situation etwas Positives abzugewinnen.

„Wenn es stimmt, was Inu in Erfahrung gebracht hat, werden wir tatsächlich Soldaten“, wisperte er seinem Bruder zu.„Dann werden wir irgendwann vielleicht sogar Offiziere, können fremde Länder und sogar den Pharao sehen!“

Den bodenständigen Nefer-hotep ärgerten diese Fantastereien, denn wie ihr Vater glaubte er nur an das, was er mit seinen eigenen Händen säen und auch ernten konnte. Ein Stück Ackerland bedeutete für ihn die einzige Sicherheit im Leben und er weigerte sich standhaft, über das Morgen oder die engen Grenzen einer Parzelle hinaus zu denken. Er war kein Träumer, so wie Haremhab, sondern ein geborener Bauer. Sein Vater war stolz auf ihn, denn Nefer-hotep erinnerte ihn an sich selbst, wie er ihm immer sagte. Sein jüngerer Bruder hingegen kam mehr nach der Mutter, die Geschichten liebte, gerne gereist wäre und viel von den Pharaonen wusste, die einst über Ägypten geherrscht hatten.

„Sei nicht albern“, raunte Nefer-hotep.„Um Offiziere zu werden, müssten wir lesen und schreiben können!“

„Vielleicht...“

„Kein Wort mehr!“ Nefer-hotep unterbrach ihn wütend.„Du törichter Dummkopf, wir werden sterben – das ist alles, was uns erwartet“, er schaute weg.„Und selbst das nur, wenn wir Glück haben.“

Sie schwiegen nachdenklich und ängstlich und lauschten beunruhigt in die Schwärze der Nacht hinein.

„Kannst du dich an Djadja erinnern?“, fragte Nefer-hotep plötzlich.

Haremhab schauderte. Djadja war ein Soldat aus Hut-nisut, der für den Großvater des regierenden Pharaos, Aa-cheperu-Ra, den zweiten Herrscher mit Namen Amenophis, in Vorderasien gekämpft hatte. Eigentlich hörte er auf einen anderen Namen, aber als er aus dem Krieg zurückkam, wurde er nur noch Djadja genannt. Das bedeutete „Kopf“, denn nicht viel mehr war von ihm übrig geblieben. Man hatte ihm aufgrund schwerer Verletzungen beide Arme und Beine abnehmen müssen. Haremhab kannte ihn nur als Greis, der meist im Schatten eines Hauses saß und für jede Kleinigkeit auf die Hilfe anderer Personen angewiesen war. Über Generationen war er der Spott der Dorfjugend – die nicht nachdenken konnte – und eine Warnung für alle jungen Männer, den Militärdienst zu verherrlichen, gewesen. Die schaurigen Erinnerungen, die er aus den nördlichen Fremdländern mitgebracht hatte, hatten seine Gedanken verwirrt. Darüber hinaus war Djadja zu einem langen Leben von über 80 Jahren verdammt gewesen, von denen er mehr als 60 Jahre ohne Gliedmaßen zubringen musste. Letzten Sommer hatte Anubis, der schakalköpfige Totenwächter, ein Einsehen gehabt und ihn endlich zu sich geholt.

„Ich erinnere mich an ihn“, hauchte Haremhab tonlos und traurig.

Da stieß plötzlich, völlig unvermittelt eine gewaltige Hand aus der Dunkelheit und schloss sich fest um Haremhabs Ohr. Die Jungen um ihn herum kreischten vor Schreck wie Mädchen. Ganz langsam drehte Sata nun seine Faust, die die Muschel seines Opfers umklammerte, so dass Haremhab die Augen schließen musste und schmerzhaft sein Gesicht verzog.

„Es ist dir verboten zu sprechen“, wie eine Schlange zischte Sata seine Worte aus der Finsternis. Dann ließ er das Ohr los, aber nur, um seine Hand sofort darauf mit einem so wuchtigen Schlag in Haremhabs Gesicht sausen zu lassen, dass der Junge jeden einzelnen Finger an seiner Wange brennen spürte, selbst als Sata schon lange wieder beim„Schwangeren“ am Feuer saß, Bier trank und gehässig lachte.

Sata war der gefürchtetste Aufseher, der den Marsch der Jungen aus Mittelägypten begleitete. Die Kinder hatten Angst vor ihm, weil er brutal und unberechenbar war und ihnen bei allen möglichen Gelegenheiten Schmerzen zufügte. Und Haremhab beobachtete er besonders, weil er sich sicher war, dass es mit diesem Burschen noch Ärger geben würde.

„Der Rebellische aus Hut-nisut hat einen eigenen Kopf und denkt zuviel nach“, sagte Sata, als er sich wieder zu seinem beleibten Vorgesetzten gesellte.„Der wird nur Ärger machen. So jemanden braucht das Militär nicht!“

Doch der Dicke winkte bloß ab:„Lange genug leben, um eine Karriere in der Armee des Königs zu machen, werden diese kleinen Mistkerle ohnehin nicht, also mach dir darüber keine Sorgen.“ Der„Schwangere“ hob seinen Bierkrug und lachte bösartig. Sata fiel ohne zu zögern ein.

Doch Sata ließ Haremhab nicht aus den Augen. Mehr als einmal ertappte er ihn beim heimlichen Tuscheln mit seinem Bruder, er sah die verschlagenen Blicke, die der Junge ihm zuwarf und schlug ihn dafür – jedes Mal.