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Alfred Hornung

Jack London

Abenteuer des Lebens

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

Inhalt

Vorwort – Das Abenteuer Jack London

Abenteuer der Kindheit und Jugend

Ärmliche Verhältnisse eines Adoptivkindes

Schulabbruch und Kinderarbeit

Austernpirat in der San Francisco Bay

Hobo und Tramp in Amerika

Politische Abenteuer

Hungermarsch nach Washington

Karl Marx und autodidaktisches Studium

Sozialist – Schriftsteller – Liebhaber

Bei den Armen in East London

Kriegskorrespondent in Japan und Korea

Abenteuer zu Land

Überleben am Yukon und in Alaska

Erste literarische Erzählungen

Abenteurer und Squaws

Ein Hund als Star: Der erste große Erfolg

Abenteuer zur See

Der Seewolf: Der zweite große Erfolg

Hawaii und die Leprakolonie

Paradies und Hölle in der Südsee

Visionäre Abenteuer und Selbstbilder

Sozialistische Visionen

Schreiben über die Revolution

Selbstbilder des Schriftstellers

Ökologische Abenteuer und Weltgemeinschaft

Öko-Landwirtschaft

Zeitreisen in der Zwangsjacke

Hawaiianische Identität und Weltsprache

Über den Tod hinaus

Bibliografie

Personenregister

Werkregister

Das Abenteuer Jack London

Der 100. Todestag des amerikanischen Schriftstellers Jack London ist ein gebührender Anlass, um sein von Abenteuerlust geprägtes Leben und seine abenteuerlichen Geschichten aus der heutigen Perspektive neu zu beleuchten. Als Jack London am 22. November 1916 nach nur vierzig Jahren eines von großer Schaffenskraft gekennzeichneten Lebens starb, war der Erste Weltkrieg in Europa voll entflammt. Zwar war Amerika noch nicht Kriegspartei, aber Jack London teilte die allgemeine Empörung über die deutsche Kriegsführung und die Parteinahme für die alliierten Mächte. In den letzten Jahren seines Lebens hatte er sich als transnational eingestellter Weltbürger mit der pazifischen Bevölkerung in Hawaii identifiziert. Im Jahr seiner Geburt hingegen war die Situation eine ganz andere.

Als Jack London am 12. Januar 1876 in San Francisco geboren wurde, schickte sich sein Heimatland gerade an, den 100. Jahrestag seiner Gründung zu feiern. Selbstbewusst und stolz auf die eigenen Errungenschaften präsentierten sich die Vereinigten Staaten von Amerika als ein fortschrittliches Land, das die Ausreisewilligen der Welt einlud, sich an seiner rasanten Entwicklung zu beteiligen. Der Mythos der ungeahnten Aufstiegsmöglichkeiten im „Vergoldeten Zeitalter“ wurde durch das Beispiel erfolgreicher Industriekapitäne wie John D. Rockefeller oder Cornelius Vanderbilt bestärkt. Zwar war die Westküste des riesigen Landes bereits von wagemutigen Pionieren erkundet worden, doch es blieb noch viel Raum für die Besiedlung der weiten Anbauflächen westlich des Mississippi, was durch staatliche Anwerbeprogramme unterstützt wurde.

Die Kehrseite dieser amerikanischen Erfolgsgeschichte zeigen sich in der Kindheit und Jugend Jack Londons. Seine frühen Jahre waren von Armut und Entbehrung in dem sich industriell entwickelnden Staat Kalifornien geprägt. Direkt nach der Schulzeit lernte er die miserablen Bedingungen der Lohnarbeit kennen. Sein großer Ehrgeiz und seine grenzenlose Energie halfen ihm, den Entschluss zu verwirklichen, sein Geld nicht mit Hand-, sondern mit Kopfarbeit zu verdienen. Die San Francisco Bay und das multiethnische Hafenmilieu weckten seine Sehnsucht nach fernen Ländern und beflügelten seinen romantischen Abenteuergeist. Die erste Seereise des 17-Jährigen auf einem Robbenfänger nach Japan lieferte den Stoff für seine erste Abenteuergeschichte. Seine vielfältigen Lebensabenteuer führten ihn als Tramp auf Eisenbahnzügen quer durch das ganze Land, in die Elendsquartiere der Metropolen San Francisco, New York und Chicago. Sie lockten ihn als Glücksritter in die Schürfgründe des hohen Nordens nach Alaska und in das Yukon-Territorium. Doch statt mit Gold kehrte er mit vielen spannenden Geschichten über die Gesetze des Lebens in der Wildnis zurück.

Erste Kontakte mit der indigenen Bevölkerung und ihrer naturverbundenen Lebensweise erwiesen sich als Kontrastfolie zu den Auswüchsen der industrialisierten Welt. Viele unterschiedliche Erfahrungen flossen in Jack Londons autodidaktisches Bildungsprogramm und seine politische Überzeugung ein. Die Lektüre der Theorien von Charles Darwin und Herbert Spencer begründete seinen Glauben an die Evolution aller Organismen von der Vor- und Frühgeschichte bis in unsere Zeit. Friedrich Nietzsches später rezipiertes Konzept der „blonden Bestie“ prägte seine zeitweise Überzeugung der Dominanz „weißer Übermenschen“, die sowohl seinen ersten großen Roman Ruf der Wildnis über die Beziehung zwischen Mensch und Tier charakterisierte, als auch seinen zweiten Erfolgsroman Der Seewolf über den Kapitän Wolf Larsen. Darüber hinaus lieferte Das Kapital von Karl Marx die Grundlage für Jack Londons sozialistische Position und die Hoffnung auf eine weltweite Vernetzung der Arbeiterklasse.

Die Auseinandersetzung zwischen Arbeiterklasse und Bildungsschicht prägte auch seine privaten Abenteuer. Nach dem Scheitern der ersten Ehe mit Bess Maddern, aus der zwei Töchter hervorgingen, und der leidenschaftlichen Liebe zu Anna Strunsky, die ihn als „Napoleon der Schreibfeder“ bezeichnete, fand er in Charmian Kittridge eine liebevolle Ehepartnerin, die seine literarischen und politischen Interessen teilte. Die glückliche Zeit mit Charmian genoss er auf der gemeinsamen Reise mit dem Segelschiff Snark in die Südsee und beim Leben auf ihrer sog. Beauty Ranch in Glen Ellen, in dem landschaftlich reizvollen Sonoma Valley, einem ehemaligen Indianergebiet. Dieses idyllische Leben wurde ergänzt durch Segeltörns entlang der pazifischen Küste, eine Reise mit der Pferdekutsche durch Nordkalifornien und längere Aufenthalte in Waikiki auf Hawaii, dem eigentlichen „Paradies“ des Ehepaares. Hier entdeckte Jack London trotz der immer wieder vertretenen Glaubens an die Bedeutung des „unentbehrlichen weißen Mannes“ die desaströsen Auswirkungen europäischer und amerikanischer Kolonisation, vor allem in der Zerstörung indigener Kulturen durch die westliche Zivilisation.

Die Aufenthalte in Hawaii, das 1898 von den USA annektiert wurde, bewirkten eine Veränderung seiner Lebensphilosophie. Vertrat er zunächst den Glauben an die Dominanz der angelsächsischen Gesellschaft, wurde ihm in späteren Jahren die Vision einer multiethnischen Gemeinschaft immer wichtiger. Auslöser für dieses Umdenken war der Besuch der Leprakolonie Molokai, wo er die „Aussätzigen“ als lebensbejahende und kommunikationsfreudige Menschen kennenlernte. Von Hawaii erhoffte er sich in den letzten Lebensjahren Regeneration und Linderung seiner Krankheiten, die er sich durch rücksichtslosen Umgang mit seinen Kräften und durch gefährliche Infektionen in der tropischen Südsee zugezogen hatte. 1916 wurde er von den Hawaiianern als Kamaaina, „ein Kind der Erde“, ausgezeichnet und erhielt den hawaiianischen Namen „Keaka Lakana“. In Dankbarkeit für diese Auszeichnung erinnerte er sich an seine Kindheit bei seiner afroamerikanischen Amme und entwickelte die Idee einer panpazifischen Gemeinschaft und einer Weltsprache. Der „angelsächsische Übermensch“ war zum Weltbürger geworden, der eine transnationale Demokratie favorisierte. Jack Londons Engagement für das Wohl aller Menschen manifestierte sich in der Praxis auf seiner Beauty Ranch. In Erinnerung an seine Zeit in Asien beschäftigte er sich mit chinesischen und japanischen Anbaumethoden und verfolgte eine Form der nachhaltigen Landwirtschaft. Damit stellte er sich gegen den bei der Besiedlung des amerikanischen Kontinents betriebenen Raubbau.

Das umfangreiche literarische und journalistische Werk belegt eindrucksvoll das abenteuerliche Leben Jack Londons, aus dem er immer wieder für seine Geschichten schöpfte. So veröffentlichte er zwischen 1898 und 1916 mehr als 50 Bücher, darunter 27 Romane, 6 autobiografische Werke, 4 Dramen, politische Essays, Reportagen, Essaysammlungen und 196 Kurzgeschichten. Dieser immense Umfang seines Werks vermittelt einen differenzierten Blick auf Jack London und steht im Gegensatz zu der üblichen Reduktion des Autors auf die populären Tiergeschichten und die sozialpolitischen Romane. In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts galt er als der kommerziell erfolgreichste amerikanische Schriftsteller. Doch sein exzessiver Lebensstil und die Finanzierung mehrerer Haushalte sowie der Ausbau der Beauty Ranch brachten ihn immer wieder in finanzielle Notlagen.

Auch im Ausland fanden Jack Londons spannende Abenteuergeschichten schnell begeisterte Leser. Erwin Magnus übersetzte in den 1920er-Jahren die meisten Werke für ein deutsches Publikum und stellte eine erste zwölfbändige Gesamtausgabe (Berlin 1926–1932) zusammen. In der Sowjetunion wurde Jack London als politischer Schriftsteller von Maxim Gorki und Lenin geschätzt und avancierte dort zum wichtigsten amerikanischen Autor seiner Zeit. Auch in der DDR lag der Fokus der Rezeption auf den politischen Schriften, die in den Zeiten der studentischen Protestbewegung der 1960er-Jahre auch im Westen neu entdeckt wurden.

In seinen Schriften bleibt Jack London dem rassistischen sprachlichen Duktus seiner Zeit verhaftet, der auch in vielen deutschen Übersetzungen reproduziert wird. Grundsätzlich werden die Werke Londons in dieser Biografie aus vorhandenen deutschen Übersetzungen zitiert, wobei vorzugsweise neuere Versionen genutzt werden, die das sprachsensitive Bewusstsein unserer Zeit im Einklang mit einer Wertschätzung ethnischer Differenz reflektieren. In den parenthetischen Quellenangaben wird die Jahreszahl der jweils ersten deutschen Übersetzung genannt, während sich die Seitenzahlen auf die in der Bibliografie aufgeführte Ausgabe beziehen. Alle anderen Übersetzungen aus dem Englischen sind die eigenen.

Neue Ansätze in der Geschlechter- und Umweltforschung haben modifizierte Sichtweisen auf Jack London und sein Werk ermöglicht, die auch in diese Biografie eingegangen sind. Jack London: Abenteuer des Lebens lädt dazu ein, das Abenteuer Jack London neu zu entdecken. Dabei werden Parallelen zwischen den Krisen und Herausforderungen seiner und unserer heutigen Zeit deutlich. Finanzkrisen, die ethnische Diversifizierung der Gesellschaft, das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich und der rücksichtslose Umgang mit Macht haben seine Zeit ebenso bestimmt wie nun unsere. Das macht ihn und sein Werk so modern und so spannend für heutige Leserinnen und Leser.

 

Für die tatkräftige Unterstützung bei der Abfassung von Jack London: Abenteuer des Lebens bin ich vielen Menschen sehr zu Dank verpflichtet. Frau Jasmine Stern hat dieses Projekt bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft von Anfang an betreut und durch die verschiedenen Stadien der Produktion wesentlich gefördert. Das gründliche Lektorat von Frau Dr. Mechthilde Vahsen und ihre wertvollen Vorschläge haben zur Verbesserung der Darstellung beigetragen. An der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz haben Johannes Brauer, Stephanie Marx und Timothy Walker bei den Recherchen geholfen. Joy Katzmarzik hat das gesamte Manuskript editorisch begleitet, verschiedene Übersetzungen beigesteuert und zusammen mit Melanie Hanslik Korrektur gelesen. Der größte Dank gilt meiner Frau, Prof. Dr. Beate Neumeier und unserem Sohn Alexander, der uns auf den Spuren von Jack London im Yukon Territorium, in Alaska und auf Hawaii mit der Kamera begleitet hat. Ohne diese Unterstützung hätte diese Biografie nicht erscheinen können.

Abenteuer der Kindheit und Jugend

Als Jack London am 12. Januar 1876 in San Francisco geboren wurde, schickte sich das Land Amerika an, den 100. Jahrestag seiner Unabhängigkeit zu feiern. Viel hatte sich ereignet in dieser Zeit, in der die Vereinigten Staaten von Amerika nach der Kolonialzeit einen politischen Neuanfang wagten und begannen, den Kontinent von den 13 Gründungsstaaten an der Ostküste bis zur Westküste zu besiedeln. Die am 4. Juli 1776 in Philadelphia unterzeichnete Unabhängigkeitserklärung und die 1789 ratifizierte Verfassung bauten auf den republikanischen Ideen der schottischen und französischen Aufklärer auf. Doch in den politischen Dokumenten erschienen weder die etwa vor 10.000 Jahren aus Asien über die Beringstraße eingewanderten Ureinwohner des Landes noch die ständig steigende Zahl afrikanischer Sklaven. Bei der allmählichen Besiedlung des Westens spielten sie allerdings eine gewichtige Rolle. Die Voraussetzung für die Besiedlung wurde in der Regierungszeit von Thomas Jefferson gelegt, dem nach George Washington und John Adams dritten Präsidenten der USA. 1803 nahm er das Angebot Napoleons an, der Geld für seine Kriegskasse und Feldzüge in Europa benötigte, die französischen Besitzungen zu kaufen, die von New Orleans am Golf von Mexiko bis an die Grenze Kanadas reichten. Dieser Louisiana Purchase bedeutete einen immensen Landgewinn, verdoppelte das Gebiet der Vereinigten Staaten und machte den Weg frei in den Westen. Schon ein Jahr später beauftragte Jefferson Meriwether Lewis und William Clark mit einer Expedition, um die Gebiete westlich des Mississippi bis zum Pazifik zu erkunden. Ausgehend von Saint Louis in Missouri am Westufer des Mississippi überquerten sie mithilfe indianischer Führer die Rocky Mountains und gelangten in ihrer Nordpassage bis zum Staat Oregon an der Westküste. Ihre Aufzeichnungen über Flora und Fauna sowie über die Begegnung mit Indianern und das erstellte Kartenmaterial dienten als Blaupause für die Eroberung des Westens.

Es verwundert nicht, dass der damit geschaffene Freiraum neue Visionen über seine Verwendung und Besiedlung eröffnete. Die erste Umsetzung einer solchen Vision war 1830 der Erlass des Indian Removal Act durch den ersten nicht der Aristokratie Neuenglands oder Virginias entstammenden Präsidenten Andrew Jackson aus Tennessee und die Umsiedlung der an der Ostküste lebenden „fünf zivilisierten Indianerstämme“ (Cherokee, Creek, Chickasaw, Choctaw, Seminolen) in das Land westlich des Mississippi. Der verlustreiche Weg auf dem „Pfad der Tränen“ in die Reservate des Westens und die damit verbundenen Traumata gingen ein in die späteren Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Indianern im sog. Wilden Westen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Land im Krieg mit Mexiko um die Gebiete im Südwesten enorm vergrößert. Mexiko hatte nach der Unabhängigkeit von Spanien 1821 in seiner nördlichen Provinz Texas amerikanische Farmer und europäische Einwanderer angesiedelt, die Texas 1836 für unabhängig erklärten und die Aufnahme in die Vereinigten Staaten erbaten, um die von der mexikanischen Regierung verbotene Sklaverei auf ihren Plantagen fortführen zu können. Die De-facto-Anerkennung durch Präsident Andrew Jackson konnte jedoch erst endgültig nach dem Krieg mit Mexiko (1846–48) durch den Frieden von Guadalupe-Hidalgo besiegelt werden. Dadurch fielen den USA die mexikanischen Gebiete von Alta California und Nuevo Mexico zu, die neben Texas die heutigen Staaten Neu-Mexiko, Arizona, Utah, Nevada und Kalifornien umfassten. Die von dem New Yorker Journalisten John L. O’Sullivan 1845 propagierte schicksalhafte Bestimmung („Manifest Destiny“) der Amerikaner bestand in der Expansion als Teil der Vorsehung, die freie Entwicklung der ständig anwachsenden Bevölkerung über den gesamten Kontinent zu ermöglichen. Der Ansporn, die neuen Möglichkeiten im Westen wahrzunehmen, zeigte sich in dem damit verbundenen Slogan „Go west, young man“, der nach der Entdeckung von Gold im Westen 1848 den „Gold Rush“ auslöste und zu einem Ansturm auf die Goldgräbersiedlungen in Kalifornien führte.

Eine weitere Bewegung von Ost nach West ergab sich aus dem agronomischen Raubbau auf den Baumwollplantagen im Süden der USA. So entstanden entlang des Mississippi feudale Besitztümer in Louisiana. Jede Gründung eines neuen Staates auf dem Weg in den Westen war mit der Sklavenfrage verknüpft. Um das zwischen Nord- und Südstaaten bestehende Gleichgewicht im Kongress beizubehalten, musste jeweils über die Legalisierung der Sklaverei entschieden werden. Erst der Bürgerkrieg (1861–65) sollte nach der von Präsident Abraham Lincoln 1863 erlassenen Emanzipations-Proklamation und den nach seinem Tod in die Verfassung aufgenommenen Zusätzen 13 und 15 die Freiheit für afroamerikanische Bürger und das Wahlrecht für afroamerikanische Männer herbeiführen. Insgesamt ergab sich durch die Öffnung des Westens eine Dynamisierung und Mobilisierung des Landes, die in der erzwungenen Umsiedlung der Indianer/Native Americans, der Abwanderung freier Afroamerikaner („Freedmen“) aus den ehemaligen Sklavenstaaten und den ständig wachsenden Einwanderungszahlen im Laufe des 19. Jahrhunderts ihren Ausdruck fand.

Nach der Konsolidierungsphase der jungen Nation und der Bewährung im Bürgerkrieg begann 1865 eine neue Zeitrechnung. Die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Rekonstruktion des primär agrarischen Südens durch die weitgehend industrialisierten Nordstaaten brachte zahlreiche Veränderungen mit sich. Diese neue Nord-Süd-Konstellation wurde kontinuierlich durch die Erschließung des Westens ergänzt. Unternehmerischer Erneuerungsgeist und eine Pioniermentalität führten dazu, dass in den unerforschten und wenig besiedelten Gebieten im Westen neue Möglichkeiten zur Umsetzung genutzt wurden. Gestützt wurden diese Interessen durch die Gesetzgebung in Washington, D.C. 1862 erließ Präsident Abraham Lincoln den Homestead Act, der mündigen Bürgern die Besiedlung freier Landflächen im Umfang von etwa 64 Hektar erlaubte, die nach 5 Jahren in ihren Besitz übergingen. Im selben Jahr unterzeichnete Lincoln den Pacific Railroad Act, der den Bau der transkontinentalen Eisenbahnschienen an zwei Unternehmen vergab. Damit konnte das an der Ostküste entstandene Eisenbahnnetz sukzessive auf den Westen ausgedehnt werden. Während die Union Pacific Railroad Company von dem im Mittleren Westen liegenden Staat Iowa aus den Bau vorantrieb, arbeitete ihr die Central Pacific Railroad Company von Kalifornien aus entgegen, um sich an einem gemeinsamen Punkt zu treffen. Heute ist dieser Treffpunkt am Promontory Mountain in Utah ein historisches Monument in der Geschichte Amerikas und eine beliebte Attraktion für Touristen. Von den 4000 Arbeitern, die von Sacramento aus zwischen 1863 und 1869 den Eisenbahnbau bis nach Utah in die Rocky Mountains vorantrieben, waren 80 Prozent chinesische Wirtschaftsmigranten. Die Fertigstellung dieser transkontinentalen Verbindungslinie belegte eindrucksvoll die kontinentale Ausdehnung des Landes. Diese Größe und Macht wurden bei der Jahrhundertfeier effektvoll in Szene gesetzt.

Die 1876 veranstaltete Weltausstellung in Philadelphia dokumentierte die neue Größe der Nation mit bahnbrechenden Erfindungen wie Telefon und Schreibmaschine. Amerika präsentierte sich, eingebettet in den internationalen Reigen der 37 ausstellenden Weltnationen, als ein modernes, industrialisiertes Land mit unbeschränkten Möglichkeiten, das den Armen und Heimatlosen der Welt eine Zukunft bot. Diese Willkommensbotschaft wurde später auf dem Sockel der Freiheitsstatue eingraviert. Die Statue selbst, ein Geschenk Frankreichs zur Jahrhundertfeier, war während der Weltausstellung nur partiell präsent: als ausgestreckter Arm mit Fackel. Erst 10 Jahre später konnte die fertiggestellte Statue offiziell im Hafen von New York errichtet und zum Signal der Freiheit für die Einwanderer werden. Das an den Koloss von Rhodos erinnernde Gedicht der jüdisch-amerikanischen Dichterin Emma Lazarus The New Colossus (1883) bringt diese Botschaft zum Ausdruck:

Nicht wie der metallene Gigant von griechischem Ruhm,

Mit sieghaften Gliedern gespreizt von Land zu Land.

Hier an unserem meerumspülten hesperischen Tore soll stehen

Eine mächtige Frau mit Fackel, deren Flamme

Der eingefangene Blitzstrahl ist, und ihr Name

Mutter der Verbannten lautet. Von ihrer Leuchtfeuerhand

Glüht weltweites Willkommen, ihre milden Augen beherrschen

Den luftüberspannten Hafen, den Zwillingsstädte umrahmen.

„Behaltet, o alte Lande, euren sagenumwobenen Prunk“, ruft sie

Mit stummen Lippen. „Gebt mir eure Müden, eure Armen,

Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren,

Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten;

schickt sie mir, die Heimatlosen, vom Sturme Getriebenen,

Hoch halt‘ ich mein Licht am gold’nen Tore!“

(Auf die Freiheitsstatue, 1953)

Diese pathetisch anmutende Freiheitsrhetorik entsprach den offiziellen Anwerbekampagnen für neue Arbeitskräfte in Europa und machte die USA schließlich zusammen mit Kanada zum klassischen Einwanderungsland. Das mit den hinzugewonnenen neuen Gebieten westlich des Mississippi enorm vergrößerte Land bot den zahlreichen Immigranten aus Europa und Asien Anreiz und Raum zur Realisierung ungeahnter Möglichkeiten. Es verwundert nicht, dass die Einwohnerzahl der USA von 1850 bis 1880 kurz nach der Geburt Jack Londons von 23 Millionen auf 50 Millionen anstieg und eine weitere Verdoppelung auf fast 100 Millionen am Ende seines Lebens 1916 erreicht wurde. Dieser sprunghafte Anstieg der Bevölkerungszahlen motivierte die Politiker des Landes, dem imperialistischen Geist europäischer Mächte folgend, die territoriale Expansion auch über die Kontinentalgrenzen hinaus zu verfolgen. Dass diese gravierenden Veränderungen neben vielen positiven Entwicklungen auch negative Effekte zeitigten und dass manche Hoffnungen und Träume der Ankömmlinge aus Europa und Asien sich in Amerika nicht erfüllten, sollte auch Jack London in seinem Leben erfahren. In zahlreichen Kurzgeschichten, Romanen, Reiseberichten und Aufsätzen hat er dies bis zu seinem frühen Tod 1916 literarisch dokumentiert und kritisch begleitet.

Ärmliche Verhältnisse eines Adoptivkindes

Alle mit der Jahrhundertfeier Amerikas verknüpften Erwartungen und Enttäuschungen treffen geradezu exemplarisch auf Jack London zu. Das Bestreben nach geografischer Ausdehnung über den gesamten Kontinent sowie die sich abzeichnende Überschreitung der kontinentalen Grenzen in den Atlantik, die Karibik und den Pazifik spiegeln sich in Londons grenzenlosem Abenteuergeist, unbekannte Regionen Amerikas und der Welt zu entdecken. Die reklamierte Größe in einer modernen Zeit mit unübersehbaren politischen und ökonomischen Schwierigkeiten sowie die unaufhaltsame multiethnische Dynamisierung der Gesellschaft hat der in ärmlichen Verhältnissen geborene Schriftsteller am eigenen Leibe erlebt, bevor er zum kommerziell erfolgreichsten amerikanischen Autor der Moderne aufstieg und als kosmopolitisch gesinnter Amerikaner international bekannt wurde.

Jack Londons Familiensgeschichte umgreift den gesamten Raum des amerikanischen Kontinents. Die Ost-West-Bewegung über den Kontinent beginnt mit seiner Mutter Flora Wellman. Ihr Vater Marshall Wellman war der Spross einer alteingesessenen Familie in Neuengland, die nach dem Verlust ihres Landes in Connecticut im Zweiten Unabhängigkeitskrieg mit England (1812–15) in die als Kompensation zur Verfügung gestellten Gebiete an der Frontier in Ohio umgesiedelt wurde. In dieser Pionierumgebung kamen Floras Vater und ihr Onkel Hiram durch Handwerk und Unternehmergeist in der Stadt Massillon schnell zu Ruhm und Reichtum. Die 1843 geborene Flora wuchs als fünftes Kind von Marshall und Eleanor Wellman in einem stattlichen Anwesen der begüterten bürgerlichen Familie auf. Im Alter von vier Jahren musste sie den Tod ihrer Mutter erleiden, und die schnelle Wiederverheiratung ihres Vaters war ein großer emotionaler Schock für sie. Dennoch genoss sie in der um vier Stiefgeschwister angewachsenen Familie die besondere Zuneigung ihres Vaters und ihrer Stiefmutter Julia Wellman. Sie erhielt die beste Ausbildung und sah sich gerne als Mittelpunkt des Interesses in einer für liberale Ideen wie Frauenemanzipation und Abschaffung der Sklaverei aufgeschlossenen Familie. Neben ihrer Vorliebe für öffentliche Auftritte beim Rezitieren von Gedichten und einer Expertise im Klavierspiel entwickelte sie ein lebhaftes Interesse für die immer populärer werdenden spiritualistischen Séancen und begriff sich gerne als ein Medium für die Vorhersage zukünftiger Entwicklungen und für die Kommunikation mit dem Reich der Toten.

Floras luxuriöses Leben in einer liebevollen Umgebung wurde durch zwei einschneidende Ereignisse unterbrochen. Im Alter von 12 Jahren erkrankte sie schwer an Typhus, wodurch ihr Wachstum und ihre Sehkraft dauerhaft beeinträchtigt wurden. In der Finanzkrise von 1858 verlor ihr Vater einen erheblichen Teil seines Vermögens und zwang die Familie zu einem reduzierten Lebensstil. Aufgrund dieser ökonomischen Veränderungen und wahrscheinlich im Disput mit ihrer Stiefmutter verließ Flora das Elternhaus und lebte ab 1860 kurzfristig bei ihrer verheirateten Schwester. Gerüchte über eine Affäre mit einem verheirateten Mann als Grund für den Auszug aus der Familie wurden später nicht bestätigt. Am Ende des Bürgerkriegs half sie bei der Versorgung verwundeter Soldaten mit Verbandsmaterial, bevor sich ihre Spuren verloren, bis sie 1871 in Seattle an der Westküste auftauchte. Hier bestritt sie ihren Unterhalt mit Klavierstunden und traf auf den 22 Jahre älteren William H. Chaney, der die Landarbeit auf einer Farm an der Ostküste in Maine nach dem Tod der Eltern aufgegeben hatte, vorübergehend zur See gefahren und schließlich als Astrologe durchs Land gezogen war.

Die Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn ermöglichte seine Reise in den Westen, wo er in Flora eine gleichgesinnte Partnerin fand, die spiritistische Sitzungen besuchte. Für Chaney war die Astrologie seinen eigenen Ausführungen zufolge Teil eines humanitären Engagements zur Verbesserung der Menschheit, das mit zeitgenössischen Vorstellungen über Eugenetik und die Überlegenheit der Angelsachsen verbunden war, die als WASP (weiße angelsächsische Protestanten) die eigentlichen 100-Prozent-Amerikaner darstellten. Gemeinsam verließen William H. Chaney und Flora Wellman Seattle und lebten in San Francisco 1874–75 ohne Trauschein zusammen. Da in dem auf das Erdbeben 1906 in San Francisco folgenden Feuer die meisten Dokumente verbrannten, ist der genaue Status der Beziehung nicht rekonstruierbar. Dokumentiert ist ihr freizügiger Lebenswandel als Mitglieder einer gegenkulturellen Gruppe, die für freie Liebe, freigeistige Ideen sowie für die Emanzipation der Afroamerikaner und der Arbeiterklasse eintraten. Von den insgesamt sechs ehelichen Verbindungen William H. Chaneys war nach dem Tod der ersten und der Scheidung von der zweiten Frau im Osten die Beziehung mit Flora die einzige mit Folgen. Als Flora schwanger wurde, verließ Chaney sie, weil sie sich seiner Aufforderung zum Schwangerschaftsabbruch widersetzte. Zwei verzweifelte Selbstmordversuche mit Tabletten und einer Pistole, über die am 4. Juni 1875 in der Zeitung San Francisco Chronicle berichtet wurden, blieben folgenlos, sodass sie am 12. Januar 1876 einen Sohn zur Welt brachte, den sie John Griffith Chaney nannte. Kurze Zeit später lernte sie den aus Pennsylvania stammenden, 47-jährigen, verwitweten Bürgerkriegsveteranen John London kennen, den sie am 4. September 1876 heiratete. Von den elf Kindern aus seiner ersten Ehe brachte John die 8-jährige Eliza und die 6-jährige Ida in die Ehe mit und erkannte Floras Sohn an, der nun seinen Namen erhielt.

Ergänzt wurde diese neue Patchwork-Familie durch Daphne Virginia Prentiss, eine 1832 in Tennessee geborene, Jennie genannte Sklavin. Sie lernte schon als Kind Lesen und Schreiben und profitierte von dem liberalen Umgang der Familie der Plantagenbesitzer, bei der sie aufwuchs. Die Zerstörung der Plantage durch Unionstruppen aus dem Norden während des Bürgerkriegs zwang sie zu einem vorübergehenden Aufenthalt in St. Louis. Nach dem Bürgerkrieg kehrte sie nach Nashville in Tennessee zurück, wo sie als Haushälterin für Ruth und Alonzo Prentiss, einen Zimmermann, arbeitete. Alonzo Prentiss war schon 1862 unehrenhaft aus der Armee entlassen worden, weil eine Untersuchungsbehörde seine angebliche Abstammung von einer Mulattin zum Anlass nahm, den weiß aussehenden Mann als einen Schwarzen zu deklarieren, der illegal in einer Truppe weißer Soldaten kämpfte. Als Alonzos Frau ihn nach dem Krieg mit den drei Kindern verließ, verliebte er sich in Jennie und heiratete sie im März 1867. Obwohl beide rechtlich als schwarz galten, unterstellte man ihnen aufgrund der unterschiedlichen Hautfarbe Rassenmischung, sodass sie zunächst nach Chicago gingen und von dort nach San Francisco, wo Alonzo Arbeit als Zimmermann fand und beide unbehelligt in der multiethnischen Großstadt leben konnten. Verschiedene Biografen gehen davon aus, dass die Verbindung zwischen Jack Londons Mutter und seinem Stiefvater John London über die Prentiss-Familie zustande kam, weil John ebenfalls als Zimmermann arbeitete und ein Arbeitskollege von Alonzo war. Nachgewiesen ist allerdings, dass die Verbindung über einen Frauenarzt gestiftet wurde, der die zeitgleiche Geburt von Floras und Jennies Kindern begleitet hatte. Jennies Entsetzen über die Totgeburt ihres dritten Kindes wurde durch die Übernahme der Mutterrolle für Floras Kind kompensiert, die überfordert war und nicht stillen konnte. Mehr als die in den Südstaaten übliche schwarze Amme wurde „Mammy Jennie“ zur emotionalen Identifikationsfigur für Jack London. Die ersten drei Jahre seines Lebens verbrachte das Johnny genannte Kind in Alonzo und Jennie Prentiss’ Familie und wuchs zusammen mit deren 1867 und 1873 geborenen Kindern William und Priscilla Anne auf. Obwohl seine leibliche Mutter ihn während dieser Zeit bei seiner Pflegefamilie ab und zu besuchte, wird das von vielen Biografen beschriebene distanzierte Verhältnis zwischen Mutter und Sohn verständlich. Anstelle einer engen emotionalen Bindung muss vielmehr von einer professionellen Geschäftsverbindung ausgegangen werden. So wie Flora die spätere Schriftstellerkarriere Jacks förderte, so unterstützte der Sohn zeitlebens seine Mutter finanziell. Die Sozialisation in der multiethnischen Stadt und die enge Bindung an seine afroamerikanische Familie waren die Grundlage für Jack Londons spätere transkulturelle und transnationale Orientierung und seinen unbändigen Abenteuergeist. Auch Flora teilte aufgrund ihrer liberalen Einstellung die Ideen ihres Sohnes und es entwickelte sich eine lebenslange enge Verbindung zwischen den Mutterfiguren in Londons Leben. Nach dem Tod des Autors lebten Flora und Jennie bis zu ihrem Tod 1922 zusammen.

Die Bindung an Mammy Jennie und die geliebte Stiefschwester Eliza sowie sein Vertrauen in die Vaterfigur John London boten dem jungen Johnny eine stabile Basis, die schwierigen Jahre seiner Kindheit zu überstehen. Erst nach dem Tod John Londons 1897, erfuhr der 21-jährige Jack von seinem vermutlichen biologischen Vater und nahm brieflich Kontakt zu William H. Chaney auf, der allerdings die Vaterschaft mit Verweis auf seine altersbedingte Impotenz und sexuelle Affären der Mutter leugnete. Eine endgültige Klärung der tatsächlichen Vaterschaft erfolgte nicht.

John London hatte verantwortungsvoll die Vaterrolle für den aufgeweckten und tatkräftigen Jungen übernommen. Er band ihn ein in die Arbeit auf der in Almeda südlich von San Francisco gepachteten Farm, wo Jack seine Liebe zu Tieren entdeckte und beim Anbau und Verkauf von Gemüse half. Das florierende Geschäft ging allerdings zu Ende, als die auf Betreiben der Mutter aufgenommenen Bankkredite nicht mehr bedient werden konnten und finanzielle Fehlkalkulationen zum Ruin führten. Ohne festes Einkommen musste die Familie in ärmlichen Verhältnissen überleben und mehrmals zwischen San Francisco und Oakland umziehen. So wurden sie in der Welt der Arbeiter und Einwanderer verankert, und Johnny verbrachte seine ersten Schuljahre an der Cole Grammar School in einem der ärmsten Viertel Oaklands. Alle Schwierigkeiten der notleidenden Bevölkerung, der arbeitslosen Amerikanern und mittellosen Immigranten erlebte Jack London also unmittelbar in seiner Kindheit. Kennzeichnend für seinen starken Willen und seine Tatkraft war, dass er diese für das Prekariat typische Situation als eine Herausforderung begriff und den von der Mutter vermittelten Hunger nach Bildung entwickelte.

Schon vor Schulbeginn lernte er von seiner Mutter und seiner Lieblingsschwester Eliza mit 4 Jahren Lesen und Schreiben und fand damit die Passion seines Lebens. Kühn verkündete er, dass er die amerikanische Highschool in der Hälfte der vorgesehenen Zeit absolvieren werde. Die Stadtbibliothek in Oakland wurde für ihn angesichts der familiären Krisen zu einem Zufluchtsort, an dem er seinen unbändigen Lesehunger mithilfe der von ihm als „Göttin meiner Kindheit“ bezeichneten Bibliothekarin und Schriftstellerin Ina Coolbrith stillte. Sie weckte sein Interesse für Abenteuer- und Reiseliteratur. Shakespeares Dramen und Herman Melvilles autobiografische Schilderung seiner schon in den 1830er-Jahren durchgeführten Reise in die Südsee, Taipi (1927) [Typee (1846)], wurden Lieblingslektüren, die Jack früh tragische Konflikte näher brachten und Sehnsucht nach fernen Welten weckten. In den sehr populären Jugendromanen von Horatio Alger, in denen der Aufstieg jugendlicher Helden in New York aus Armut zu Reichtum geschildert wird, erkannte Jack ein Vorbild für sein eigenes Leben und das in der Unabhängigkeitserklärung verbriefte Streben nach Glück und sozialem Aufstieg, das Millionen von Einwanderern aus Europa und Asien als Verlockung des amerikanischen Traums vermittelt wurde. Mit New York und San Francisco entstanden internationale Metropolen mit einer multiethnischen Bevölkerung und einer unter den harten Bedingungen des kapitalistischen Systems leidenden Arbeiterklasse, die Jack London später als „Lohnsklaven“ bezeichnen sollte.

Schulabbruch und Kinderarbeit

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden in dem sich expansiv ausdehnenden Land zahlreiche neue wirtschaftliche Möglichkeiten für Menschen mit Unternehmergeist. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain hat für diese Zeit nach dem Bürgerkrieg den abwertenden Begriff „Gilded Age“ („Vergoldetes Zeitalter“) geprägt. Im Unterschied zum antiken „Goldenen Zeitalter“ wollte Mark Twain in dem zusammen mit Charles Dudley Warner 1873 verfassten gleichnamigen Werk angesichts des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs auf den Verfall der geistig-moralischen Werte in der Gesellschaft hinweisen. Präsident Ulysses S. Grant hatte in seiner Amtszeit von 1869 bis 1877, in die die wirtschaftliche Rekonstruktion des Südens durch den Norden nach dem Bürgerkrieg und die weitere Öffnung des Landes im Westen fiel, die enge Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen begünstigt und den Machtmissbrauch auf verschiedenen Ebenen indirekt befördert. An die Stelle des Wohls für das Gemeinwesen rückte der rigorose individuelle Wettbewerb. Der mit der fortschreitenden Besiedlung des Westens verbundene transkontinentale Eisenbahnbau, die Stahl- und Ölförderung im Osten sowie die Kohleförderung in den neuen Bergminen im Westen begünstigten die Entstehung eines ungehemmten Monopolkapitalismus und die exzessive Selbstverwirklichung starker Individuen. Entsprechend der jeweiligen politischen Perspektive wurden Cornelius Vanderbilt, Leland Stanford, Andrew Carnegie, John Pierpont Morgan und John D. Rockefeller als „Kapitäne der Industrie“ oder „Räuberbarone“ bezeichnet. Ihr Aufbau bedeutender Wirtschaftsimperien steht exemplarisch für den Geist des „vergoldeten Zeitalters“. An der Ostküste beherrschte Vanderbilt die Eisenbahnverbindungen zwischen New York, den Großen Seen und dem Mittleren Westen. Leland Stanford war verantwortlich für den Eisenbahnbau im Westen, dessen Einnahmen er unter anderem als Startkapital für die Gründung der Universität Stanford nutzte. Der aus Schottland eingewanderte Andrew Carnegie besaß das Monopol der Eisen- und Stahlindustrie. John Pierpont Morgan etablierte und beherrschte das New Yorker Bankenwesen und John D. Rockefellers Standard Oil Company monopolisierte schließlich von Pennsylvania aus die Ölindustrie. Gustavus Swift baute mit den Schlachthöfen in Chicago ein Monopol für die Fleisch- und Nahrungsmittelindustrie aus. Kehrseite der auf rücksichtslosem Wettbewerb basierenden Industrien waren die schamlose Ausbeutung der oft ohne Ausbildung und Sprachkenntnisse eingewanderten Arbeiter aus Europa und Asien und die zunehmende Praxis der Kinderarbeit.

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Johnny London, 8 Jahre alt

Jack Londons Schulzeit war vom Kampf gegen diese kapitalistische Ausbeutung im Arbeitermilieu geprägt. Um die Familienkasse aufzubessern, trug der 10-jährige Schüler vor und nach dem Schulbesuch Zeitungen aus. Um 3 Uhr früh musste er Zeitungen an Abonnenten ausliefern, und nach dem oft als langweilig empfundenen Schulunterricht versuchte er, selbstständig in den Nachmittagsstunden vor Hafenkneipen und Spelunken an der San Francisco Bay Zeitungen zu verkaufen. An Sonntagen arbeitete er in einer Kegelbahn holländischer Einwanderer. Der 1935 von Londons langjährigem und bestem Schulfreund Frank Atherton verfasste Memoirenband, der erst 2014 von dessen Enkeltochter Diane Neil veröffentlicht wurde, zeichnet ein teilweise anderes Bild dieser frühen Schulzeit. Neben der Tristesse der ärmlichen Verhältnisse gab es durchaus auch erfreuliche Abwechslungen. Der Sommeraufenthalt in den Bergen bei Franks Eltern während der Ferien gehörte ebenso dazu wie die Abenteuergeschichten, die der Stiefvater John London den beiden Jungen von seinen Begegnungen mit Indianern erzählte und die ihren Abenteuergeist anregten. Bewusst nannte Frank Atherton seine Erinnerungen an die gemeinsamen Schuljahre Jack London in Boyhood Adventures (2014), in denen er die Doppelnatur seines Freundes als einsame Leseratte und brutale Kämpfernatur schilderte. So endete der verbale Angriff des Anführers einer Schulbande auf den während der Schulpause ein Buch lesenden Jack in einem für ihn erfolgreich beendeten Boxkampf. Diese Szene präfiguriert seine spätere Bewährung als sensibler Buchmensch und starker Kämpfer in der rauen Wirklichkeit des Hafenmilieus der San Francisco Bay. Sie zeigt auch seine lebenslange Faszination für das Boxen und den Boxsport, dessen wichtigste Kämpfe er als Reporter begleitete. Der Besuch der weiterführenden Highschool stand aufgrund der finanziellen Situation in der Familie nicht zur Debatte. Da der Stiefvater allmählich arbeitsunfähig wurde und die von der Mutter eröffnete Pension für schottische Fabrikarbeiterinnen bald scheiterte, reichte der durch Zeitungsaustragen und Kegelaufstellen erzielte geringe Zuverdienst nicht mehr aus. Nach dem Abgang von der Cole Grammar School lernte der sich nun Jack nennende 14-Jährige die grausame Welt der Kinderarbeit in der Konservenfabrik Hickmott’s Cannery in West Oakland kennen. Bei dieser Arbeit verbrachte er zwischen 12 und 18 Stunden damit, Gurken in Gläser zu stecken. Dafür erhielt er 10 Cents als Stundenlohn. In der autobiografischen Geschichte Der Abtrünnige (1965) [The Apostate (1906)] hat Jack London das Elend der Kinderarbeit ausführlich beschrieben und die zerstörerischen Auswirkungen von sich endlos wiederholenden maschinellen Arbeitsvorgängen dargestellt.

In der Erzählung schildert er die Leidensgeschichte des jugendlichen Protagonisten Johnny, seiner durch Arbeit entkräfteten Mutter und zweier jüngerer Geschwister, Will und Jennie. Londons Kindername Johnny sowie die Namen seiner afroamerikanischen Pflegemutter Jennie und deren Sohn William stehen für die selbst erlebte Ausbeutung von Kindern in den Fabriken. In der Geschichte muss der autobiografische Held schon mit 6 Jahren auf seine Geschwister zu Hause aufpassen, und mit 7 beginnt die Arbeit in der Fabrik.

Mit sechs Jahren war er Väterchen und Mütterchen für Will und die andern, noch kleineren Kinder gewesen. Mit sieben Jahren hatte er angefangen, in den Fabriken zu arbeiten – Garn aufspulen. Mit acht Jahren hatte er in einer anderen Fabrik Arbeit bekommen. Seine neue Arbeit war wunderbar leicht. Alles, was er zu tun hatte, war, daß er mit einem kleinen Stock in der Hand einen Strom von Tuch lenken mußte, der an ihm vorbeifloß. Dieser Tuchstrom kam aus einer mächtigen Maschine, ging über eine warme Trommel und dann weiter in andere Gegenden. Johnny saß immer an derselben Stelle, wo das Tageslicht nie hingelangte, und wie er unter einer Gasflamme dasaß, war es, als bildete er selbst einen Teil der Maschinerie.

(Der Abtrünnige, S. 430f.)

Die strapaziöse und Kräfte zehrende Arbeit wird zusätzlich dadurch verschlimmert, dass Johnny durch den Arbeitsbeginn vor Tagesanbruch und das späte Arbeitsende nie das Tageslicht zu sehen bekommt und dass er so durch die Einbindung in die maschinellen Abläufe selbst zu einer Art Maschine wird. Anfänglich erfüllt ihn das Lob des Superintendenten für die „maschinenähnliche Perfektion“ seiner Arbeit mit Stolz. Erst nachdem er aufgrund von arbeitstypischen Erkrankungen von der Textilfabrik in eine Glasfabrik wechseln muss, wird ihm die Ausbeutung seiner Arbeitskraft und seiner Gesundheit durch die geistige Fähigkeiten abtötenden mechanischen Prozesse bewusst. In der Geschichte wird er sogar in einer Arbeitshalle der Textilfabrik in den sein frühes Leben bestimmenden Maschinenrhythmus hineingeboren.

Nie hatte es eine Zeit gegeben, da er nicht in enger Verbindung mit Maschinen gestanden hätte. Er war unter Maschinen geboren und unter ihnen aufgewachsen. Vor zwölf Jahren war in der Webstube in eben dieser Fabrik eine Störung eingetreten. Johnnys Mutter war ohnmächtig geworden. Sie legten sie flach auf den Fußboden zwischen den lärmenden Maschinen. Ein paar ältere Frauen wurden von ihren Webstühlen hinzugerufen, der Vorarbeiter half, und im Laufe weniger Minuten gab es in der Webstube eine Seele mehr, als die zur Tür hereingekommen waren. Das war Johnny, der mit dem Poltern und Krachen der Maschinen in den Ohren geboren war und zum erstenmal in der warmen feuchten Luft atmete, die dick von Leinenflocken war. Er hatte an jenem ersten Tage gehustet, um sich die Lunge von den Leinenflocken zu befreien, und aus demselben Grunde hustete er seitdem immer.

(Der Abtrünnige, S. 421)

Krankheiten wie Epilepsie, Lungenentzündung oder Grippe treffen die Familien existentiell, weil es keine Lohnfortzahlung oder staatlichen Kompensationen gibt. Um den Fortbestand der Familie zu gewährleisten, gibt es eigentlich keinen Ausweg aus dieser Tretmühle. Dabei verkümmern auch alle emotionalen und menschlichen Werte. Nicht nur verändert sich das Verhältnis Johnnys zur Mutter, sondern auch zu seinen Geschwistern, und er ist der Auffassung, dass der von der Mutter bevorzugte Bruder Will auch zur Arbeit gehen könne statt zur Schule. Sporadische Anflüge vom Ausbruch aus dieser Situation erweisen sich als trügerisch. Letztlich sind es eine anhaltende Grippeerkrankung und die Erkenntnis seiner physischen und psychischen Degeneration, die ihn – dem Titel der Geschichte entsprechend – zum Abtrünnigen werden lassen:

Er ging nicht wie ein Mann. Er sah nicht wie ein Mann aus. Er war die Parodie eines menschlichen Wesens. Er war ein verzerrtes, verkümmertes und namenloses Stück Leben, das wie ein kranker Affe dahintrottete, mit hängenden Armen und gebeugten Schultern, engbrüstig, komisch und entsetzlich.

(Der Abtrünnige, S. 447)

Gegen die flehentlichen Bitten seiner Mutter um die Fürsorge für die Familie verweigert er sich standhaft der Arbeit und ist nur noch tranceartig getrieben von „einem unwiderstehlichen Drang, zu ruhen“ (Der Abtrünnige, S. 447). Zum ersten Mal in seinem Leben scheint er die Natur in Form eines Baumes bewusst zu registrieren und verlässt seinem inneren Antrieb folgend die Stadt. Es zieht ihn hinaus in die offene Landschaft. An einer Eisenbahnstation wartet er auf einen Frachtzug, auf den er in der Dunkelheit der Nacht aufspringt zur abenteuerlichen Fahrt in ein neues Leben.

Die in Der Abtrünnige dargestellte Entwicklung des Protagonisten entsprach Jack Londons eigener Erfahrung zermürbender Arbeitsprozesse und unmenschlicher Ausbeutung durch Fabrikbesitzer, die ihn den Job zweier entlassener Arbeiter verrichten ließen. Auch den Verlust menschlicher Beziehungen hatte er selbst erlebt, als er die Familienmitglieder wegen der langen Arbeitsstunden kaum mehr zu Gesicht bekam. Seine Mutter hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, über die Einnahmen ihres Mannes und Sohnes sowie ihre eigenen Geschäfte ihr früheres Luxusleben in Ohio wiederherzustellen. Deshalb schien sie ihn nur noch als eine Einnahmequelle zu begreifen und kassierte das verdiente Geld am Monatsende skrupellos ab. Aber die hehre Hoffnung blieb angesichts der desperaten Situation eine Illusion. Der Vater erlitt weitere finanzielle Einbußen, war wiederholt krank und konnte nur noch als Nachtwächter arbeiten. Jacks Lieblingsstiefschwester Eliza war 1884 als 16-Jährige ausgezogen, um einen 41-jährigen Witwer mit drei Kindern zu heiraten. Als letzte emotionale Bindung blieben sporadische Besuche bei der in der Nähe wohnenden Mammy Jennie. In dieser verzweifelten Situation suchte Jack London einen Ausweg aus seiner Misere und beschloss, nie wieder die erniedrigende Lohnarbeit als „Arbeitstier“ aufzunehmen. Stattdessen wollte er nun selbstständig und sein eigener Boss werden.

Austernpirat in der San Francisco Bay

Mit 15 Jahren verließ Jack London die Konservenfabrik und erkannte das Hafenmilieu von Oakland als Ausgangspunkt für neue Einnahmequellen. Seine passionierte Lektüre von Abenteuer- und Seeromanen und seine Aufenthalte im Hafenmilieu beim Zeitungsverkauf weckten den unwiderstehlichen Wunsch, auf See sein Geld zu verdienen. Wie so oft sprang Mammy Jennie ein, die nicht nur seinen Hunger als Säugling gestillt hatte, sondern nun auch den Hunger nach Abenteuern und schnellem Geld stillen half. Mit den von ihr geliehenen 300 Dollar konnte sich Jack ein Boot, die Razzle Dazzle, kaufen und eine Tätigkeit als Austernpirat ausüben. Bei dieser nicht ungefährlichen Arbeit ging es um das illegale Ausrauben von Austernbänken in der Bucht von San Francisco und den Verkauf der Ware in Oakland, für die sich ein lukrativer Schwarzmarkt entwickelt hatte. In seinen Erinnerungen schildert Jack London den harten Wettbewerb unter den Austernpiraten und berichtet stolz, wie er als jüngster Kapitän innerhalb eines Jahres zum „Prinzen der Austernpiraten“ aufstieg und allgemeines Ansehen genoss. Die frühere Erfahrung der in seinen Augen kriminellen Ausbeutung als Lohnsklave in Fabriken scheint die kriminelle Tätigkeit als Austernpirat aus seiner Perspektive gerechtfertigt zu haben. Sein neuer Status als selbstständiger Unternehmer brachte ihm auch die Anerkennung der 16-jährigen Freundin eines anderen Piraten ein, die sich in ihn verliebte und ihn auf seinen Beutezügen mit der Razzle Dazzle begleitete. In der 1902 veröffentlichten Kurzgeschichte A Raid on the Oyster Pirates (1902) (Der Angriff auf die Austernpiraten) verarbeitete Jack London seine kurzzeitige Mitarbeit bei der California Fish Patrol auf der anderen Seite dieses Gewerbes.

In der Kurzgeschichte arbeiten Charley Le Grant und der namenlose Ich-Erzähler als Hilfspolizisten zusammen mit dem fest angestellten Wachmann Neil Partington gegen den illegalen Austernhandel in der San Francisco Bay. Die vorübergehende Abwesenheit Neils wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau gibt Charley und dem Erzähler die Möglichkeit, eigene Initiativen im Kampf gegen die aus vielen verschiedenen Ländern eingewanderten Austernpiraten zu entwickeln. An der Oakland City Werft sehen sie die Austernflotte mit ihrer Ware vor Anker gehen und werden Zeuge eines Gesprächs zwischen Mr. Taft und den Besitzern eines Boots mit dem bezeichnenden Namen „Ghost“. Mr. Taft beschuldigt die Purpoise und Centipede genannten Besitzer, seine Austern gestohlen zu haben und sie nun verkaufen zu wollen. Da er diesen Diebstahl nicht beweisen kann, setzt er eine Belohnung von 1000 Dollar für die Verhaftung der Räuber aus und weckt das Interesse der beiden Hilfspolizisten an dieser zusätzlichen Einnahmequelle. Sie folgen ihm und erfahren im Gespräch das wahre Ausmaß der räuberischen Taten:

A Raid on the Oyster Pirates