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Andrew Robinson

Bilder, Zeichen,
Alphabete

Die Geschichte der Schrift

Aus dem Englischen
von Josef Billen

 

 

 

 

 

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Impressum

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-650-73485-3
eBook (epub): 978-3-650-73486-0

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Inhalt

1 Schreiben und seine Herkunftsbereiche

2 Entwicklung und Verbreitung des Schreibens

3 Ausgestorbene Schriften

4 Entzifferte und nicht entzifferte Schriften

5 Wie Schriftsysteme funktionieren

6 Alphabete

7 Die chinesische und die japanische Schrift

8 Schreiber und Schreibzeug

9 Elektronisches Schreiben

Zeittafel

Weiterführende Literatur

Personen- und Sachregister

1   Schreiben und seine Herkunftsbereiche

Keine zivilisierte Gesellschaft kann ohne gesprochene Sprache existieren, wohl aber ohne schriftliche Kommunikation. Die griechische Dichtung Homers wurde ursprünglich nur im Gedächtnis aufbewahrt und ausschließlich mündlich weitergegeben. Dasselbe gilt für die Veden, die sanskritischen Hymnen der alten Hindus, die Jahrhunderte lang nicht aufgeschrieben wurden. Das südamerikanische Reich der Inkas bewältigte alle seine Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten ohne Schrift. Letztlich jedoch ist wohl keine durchstrukturierte Gesellschaft in der Antike wie in der modernen Zeit ohne eine Schrift und ohne schriftliche Aufzeichnungen ausgekommen. Selbst wenn das Schreiben nicht in jedem Fall unverzichtbar ist, ist es doch ein bestimmendes Kennzeichen der Zivilisation. Ohne das Schreiben kann es keine Akkumulation des Wissens, keine historische Erinnerung und – auch wenn einfache Technologien denkbar sein mögen – keine Wissenschaft geben, und selbstverständlich auch keine Bücher, keine Zeitschriften und Zeitungen, keine E-Mails und kein World Wide Web.

Die Entwicklung des Schreibens in Mesopotamien – dem heutigen Irak – und in Ägypten verschaffte den von Herrschern wie dem Babylonier Hammurabi, dem Römer Julius Caesar oder dem Mongolen Kublai Khan etablierten rechtlichen, politischen oder verwaltungsmäßigen Ordnungen eine Geltungskraft, die weit über die persönliche Herrschaftsausübung ihrer Begründer hinausreichte und sogar ihren Tod überdauerte. Wenn z.B. der Stein von Rosetta nicht beschrieben worden wäre, hätte die Welt im Grunde genommen keinerlei oder nur geringe Kenntnis erhalten über den griechisch-ägyptischen König Ptolemäus V. Epiphanes. Seine Priester ließen im Jahre 196 v. Chr. ein Dekret zu Ehren ihres Königs in drei Schriften in den Stein von Rosetta einmeißeln: in heiligen Hieroglyphen, in der Verwaltungsschrift Demotisch und in Buchstaben des griechischen Alphabets.

Das Schreiben und das Lesen gelten generell als wertvolle Fähigkeiten. Alle modernen Eltern möchten, dass ihre Kinder lesen und schreiben können. Aber es gibt auch eine negative Erscheinung, die das Schreiben während seiner mehr als fünftausendjährigen Geschichte begleitet, auch wenn sie normalerweise nicht so stark in den Vordergrund tritt. Im 5. Jahrhundert v. Chr. beschrieb der griechische Philosoph Sokrates, der interessanterweise selbst niemals auch nur ein Wort veröffentlicht hat, unser ambivalentes Verhältnis gegenüber der ‚sichtbar‘ gemachten Rede in seiner Erzählung vom ägyptischen Gott Thoth, dem mythischen Erfinder des Schreibens. Thoth suchte den König auf, um dessen Segen für seine folgenreiche Erfindung zu erbitten. Der König aber sprach, statt sie zu loben, zu Thoth:

Du hast ein Elixier erfunden, das nicht der gedanklichen Aneignung einer Sache dient, sondern nur der oberflächlichen Kenntnisnahme. Du bietest deinen Schülern lediglich das Erscheinungsbild der Weisheit, aber nicht die Weisheit selbst. Sie werden nämlich viele Dinge lesen, ohne sich mit ihnen gedanklich auseinanderzusetzen, und deswegen werden sie vieles zu wissen scheinen, während sie in Wirklichkeit nichts wissen.

Die Welt des 21. Jahrhunderts ist überflutet von schriftlicher Information und geprägt durch entsprechende Technologien, die eine erstaunliche Schnelligkeit, Bequemlichkeit und Leistungsfähigkeit besitzen. In ihr dürften diese Worte des Sokrates, die sein Schüler Plato überliefert hat, durchaus noch einen Gegenwartsbezug besitzen.

Das vorliegende Buch ist eine Einführung in die Herkunftsbereiche des Schreibens. Es zeichnet darüber hinaus die Wege nach, auf denen es sich ausgebreitet und in Hunderte von Schriftarten weiterentwickelt hat. Das gilt für einige der Tausende Sprachen, die auf der Welt in Gebrauch sind. Es sind die Wege, auf denen unterschiedliche Schreibsysteme Bedeutung vermitteln durch phonetische Zeichen für Konsonanten, Vokale und Silben. Zusammen mit ihnen treten Logogramme auf – nicht-phonetische Zeichen, die für Wörter stehen, z.B. @, $, &, =,?. Außerdem finden sich auf diesen Wegen verschiedene Arten von Schreibzeug und Schreibmaterialien, deren sich professionelle und nichtprofessionelle Schreiber bedient haben. Schließlich zeigen sich hier auch die Zielsetzungen, für die das Schreiben fünf Jahrtausende lang in unterschiedlichsten Gesellschaften in Anspruch genommen worden ist, aber auch das Aussterben oder die Entzifferung alter Schriften.

Selbstverständlich können nicht alle Schriftsysteme einbezogen werden: Eine kürzlich dazu erschienene wissenschaftliche Darstellung, der von Peter T. Daniels u. William Bright herausgegebene Sammelband The World’s Writing Systems, umfasst nahezu tausend inhaltsreiche Seiten. Dennoch ist in unserem Überblick jede bedeutsame Schrift berücksichtigt worden. Denn trotz aller in der Gegenwart wie in der Vergangenheit überdeutlich vorliegenden Unterschiedlichkeiten der Schriften lässt sich erkennen, dass ausgestorbene alte Schriften wie die ägyptischen Hieroglyphen, die mesopotamische Keilschrift und die Glyphen der Maya in ihrer Struktur und ihrer Funktion viele Gemeinsamkeiten mit unseren modernen Schriften oder unseren spezialisierten Kommunikationssystemen haben. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich bei ihnen um Alphabete, chinesische Schriftzeichen, auf dem Handy versandte E-Mails oder um Formen der Datenübermittlung auf den Anzeigetafeln der Flughäfen handelt. Die Zeichen, aus denen diese Schriften und Systeme bestehen, mögen sich überaus stark voneinander unterscheiden, die linguistischen Prinzipien, die hinter diesen Zeichen liegen, sind jedoch ähnlich. Die alten Schriften sind keine toten Buchstaben und erst recht keine esoterischen Kuriositäten. Grundsätzlich unterscheidet sich die Art, in der Schreiber zu Beginn des 3. Jahrtausends n. Chr. schreiben, nicht wesentlich von der Art, in der die alten Ägypter und Mesopotamier geschrieben haben.

‚Proto-Schreiben‘ – ‚volles Schreiben‘

In einer bei Pech Merle in Lot in Südfrankreich gelegenen Höhle stieß man auf eine Felswand, auf der einige merkwürdige Zeichen zu sehen waren: der Abdruck einer rot getönten Hand mit vier gespreizten Fingern und einem deutlich erkennbaren Daumen; in unmittelbarer Nähe befand sich ein wie zufällig angelegt wirkendes Muster von etwa elf roten Tupfern. Was diese Zeichen bedeutsam macht, ist die Tatsache, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach rund 20.000 Jahre alt sind. Sie stammen, wie viele andere Felszeichnungen Südfrankreichs, aus der letzten Eiszeit und enthalten oft Tierbilder, auf denen oder um die herum Zeichen ‚geschrieben‘ sind. Ein Beispiel aus einer anderen Höhle zeigt die in den Fels eingeritzte Figur eines Pferdes, über das eine Reihe von Zeichen eingraviert ist, die einem P ähneln; eines dieser Zeichen ist um seine vertikale Achse gedreht. In einer in der Nähe liegenden anderen Höhle ist das Bild eines Pferdes umgeben von mehr als 80 dieser ‚P‘-Zeichen; viele von ihnen sind offensichtlich mit unterschiedlichen Werkzeugen hergestellt worden.

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1. Über dieses in den Fels eingravierte Pferd, das sich in der Höhle von Les Trois Frères in Südfrankreich befindet, verläuft eine Reihe von Zeichen. Es stammt aus der letzten Eiszeit und ist eines von vielen Beispielen für das Proto-Schreiben.

Sind diese der eingravierten Hand beigefügten Tüpfelchen und die ‚P‘-Zeichen als Ergebnisse des ‚Schreibens‘ zu betrachten? Man ist versucht, sich vorzustellen, dass die Zeichen des ersten Beispiels das paläolithische Bedeutungsäquivalent einer Mitteilung sind, die lauten könnte: „Ich war hier, und zwar mit meinen Pferden“. Dabei würde jedes Tüpfelchen für ein Pferd stehen. Das zweite Beispiel wäre in der Eiszeit hinterlassen worden von jemandem, der sich in einen über einen längeren Zeitraum verlaufenden religiösen oder rituellen Vorgang irgendeiner Art eingefügt hätte. Niemand vermag dazu etwas Sicheres zu sagen. Auf jeden Fall aber waren diese Zeichen dazu bestimmt, jemandem etwas mitzuteilen.

Bezeichnen können wir sie als Ergebnisse einer Vorform des Schreibens, für die die Bezeichnung ‚Proto-Schreiben‘ verwendet wird: Sie sind dauernd sichtbare Zeichen einer einem Teil- oder Spezialbereich dienenden Kommunikation. Manche Wissenschaftler lassen den Begriff des ‚Proto-Schreibens‘ nur für die frühesten Formen des Schreibens gelten; in diesem Buch jedoch wird er für weitaus umfassendere Bereiche verwendet. Dadurch erweitert sich das Proto-Schreiben auf zahllose Varietäten. Es schließt prähistorische Felszeichnungen aus der ganzen Welt ebenso ein wie piktische Symbolsteine aus Schottland, amerindische Piktogramme, mit Einschnitten und eingeritzten Zeichen versehene Kerbhölzer, wie sie noch bis 1834 durch die British Treasury verwendet wurden, und auch die Quippus, faszinierende Knotenschnüre, mit denen man sich im Reich der Inkas über die Bewertung materieller Güter auf dem Laufenden zu halten vermochte. Eine ähnliche Funktion wie das Proto-Schreiben besitzen zeitgenössische Zeichensysteme wie das System der international gültigen Verkehrszeichen, ikonische Bestandteile der Computersprache, elektronische Stromkreisdiagramme, formelhafte mathematische Ausdrucksweisen und das an Notenlinien gebundene Zeichensystem der Musik.

Mit anderen Worten: Das Präfix ‚Proto‘ bezieht sich nicht auf eine historische, sondern auf eine funktionale Entwicklung. Obgleich das Proto-Schreiben weit vor der Entstehung des textorientierten vollen Schreibens praktiziert wurde, wie es etwa das englische Alphabet oder die chinesischen Schriftzeichen repräsentieren, wird es seinen Platz neben diesem textorientierten vollen Schreiben behalten. Denn es ist unter dem Einfluss des textorientierten vollen Schreibens keineswegs verschwunden. Man könnte ja meinen, es hätte als primitive Vorform im Verlauf des evolutionären, auf die angeblich höhere Form unseres Schreibens gerichteten Entwicklungsprozesses wegfallen können. Es ist jedoch im Gegenteil für spezielle Zwecke fortwährend beibehalten worden. Wissenschaftliche Zeitschriften etwa enthalten eine Mixtur aus vollem Schreiben, in der Regel einen in alphabetischer Schrift verfassten Text, und aus Proto-Zeichen wie mathematischen und visuellen Diagrammen. Theoretisch könnten auch mathematische Sachverhalte in Wörtern ausgedrückt werden, wie es früher Naturwissenschaftler wie etwa Newton auch häufig getan haben; das Gegenteil ist allerdings nicht möglich: Wörter können nicht in mathematischen Symbolen geschrieben werden.

Volles Schreiben ist prägnant definiert worden als „ein System graphischer Symbole, das gebraucht werden kann, um jeden Gedanken vollständig wiederzugeben“. Diese Definition stammt von John DeFrancis, einem amerikanischen Studenten des Chinesischen, der mit einem Buch mit dem Titel Visible Speech: The Diverse Oneness of Writing Systems hervorgetreten ist. Nicht alle Gelehrten, die sich mit Schreiben und Schrift beschäftigen, sind jedoch mit dieser Definition einverstanden. Einige von ihnen machen überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Proto-Schreiben und dem vollen Schreiben. Sie betrachten beide Formen als ‚Schreiben‘, obgleich sich mit ihnen unterschiedliche Abstufungen von Bedeutungen vermitteln lassen. Andere stehen der Vorstellung kritisch gegenüber, dass jeder Gedanke sich in der gesprochenen Sprache ausdrücken lasse; sie würden es vorziehen, in die oben genannte Definition statt des Ausdrucks „Gedanken“ die Formulierung „jede Sprache“ aufzunehmen. Die meisten zum Nachdenken anregenden Momente, z.B. in Filmen, sind häufig wortlos, andererseits denken Mathematiker offensichtlich häufiger in visuellen Bildern als in Wörtern. Nichtsdestoweniger lassen sich nahezu alle Gedanken bei ausreichender Übung in Worten ausdrücken. „Zu wissen, wie man gut schreibt, heißt zu wissen, wie man gut denkt“, heißt es bei dem Mathematiker, Physiker und Philosophen Blaise Pascal. Und somit ist die von DeFrancis formulierte Definition nützlich, und zwar um ihrer selbst willen, aber auch deswegen, weil sie eine Möglichkeit enthält, das volle Schreiben vom Proto-Schreiben zu unterscheiden.

‚Marken‘ aus Ton

Eine Art des Proto-Schreibens hat große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil man aus ihr Aufschlüsse zu erhalten glaubte über den Ursprung des vollen Schreibens. Es handelt sich dabei um die sogenannten ‚Zähl-‘ oder ‚Münzmarken‘ aus Ton. Bei archäologischen Ausgrabungen im Mittleren Osten während des vorigen Jahrhunderts und vorher stieß man außer auf Tontafeln auf große Mengen kleiner Objekte aus Ton, die zunächst keinerlei Eindrücke hinterließen. Die Ausgräber hatten keine Vorstellung, worum es sich bei ihnen handeln könnte, und schenkten ihnen keine weitere Beachtung, weil sie sie für wertlos hielten. Wenn man das Alter der Schichten, auf die sich die Ausgrabungen richteten, zugrunde legt, stammen diese Objekte vornehmlich aus dem Zeitraum von 8000 v. Chr. – dem Beginn des Ackerbaus – bis etwa 1500 v. Chr.; die Anzahl der Fundstücke aus der Zeit nach 3000 v. Chr. nimmt allerdings deutlich ab. Die früheren Objekte haben keinerlei Kennzeichnung; sie sind geometrisch geformt – Kugel, Scheiben, Kegel oder ähnliches. Die späteren sind dagegen häufig eingeritzt und in komplexerer Art gestaltet.

Niemand kann Sicheres über die Funktion dieser Objekte sagen. Die wahrscheinlichste, weithin akzeptierte Erklärung lautet, es handle sich bei ihnen um Einheiten im Rechnungswesen. Verschiedene Formen könnten zur Bestimmung verschiedener Gegenstände benutzt worden sein, wie z.B. eines Schafes einer Herde oder eines festgelegten Maßes eines bestimmten Produkts, wie z.B. einer Getreidegarbe. Die Zahl und die Unterschiedlichkeiten ihrer Form seien nach und nach vergrößert worden, sodass ein Objekt mit seiner besonderen Form stehen konnte, sagen wir, für zehn Schafe oder für hundert Schafe, oder für schwarze Schafe, die man von weißen trennen wollte. Dies würde bedeutet haben, dass man arithmetisch mit großen Zahlen und Beträgen mit Hilfe einer vergleichsweise kleinen Zahl von Ton-Marken hätte umgehen können. Das würde ebenso den sich mit der Zeit deutlich zeigenden Trend zu einer größeren Komplexität dieser Objekte erklären, als die alten Wirtschaftsformen anfingen, sich zu verzweigen und zu differenzieren.

Im Zusammenhang mit diesen Vermutungen hat man diese Objekte generell ‚Marken‘ genannt, weil man davon ausging, sie hätten gedankliche Vorstellungen oder Quantitäten repräsentiert. Dieser Theorie entsprechend handelt es sich bei diesem Zeichensystem um den Entstehungsprozess eines piktographischen Schreibens; die Anzahl der Ton-Marken ging dementsprechend zurück, als sich das Schreiben auf Tontafeln ab etwa 3000 v. Chr. immer mehr verbreitete. Der Übergang von den dreidimensionalen Marken zu den zweidimensionalen, auf Tontafeln eingeritzten Symbolen war vermutlich der erste Schritt zum Schreiben. Allerdings ist diese Theorie, auch wenn sie überaus intensiv diskutiert worden ist, keineswegs überall akzeptiert worden.

Um das zu verstehen, müssen wir uns die interessantesten der aufgefundenen Ton-Marken anschauen. Bei ihnen handelt es sich um tönerne Marken, die ihrerseits wieder von Tonkapseln umgeben sind. Diese haben in der Regel die Form eines hohlen Balls und sind bekannt unter der Bezeichnung bulla (lat. bulla = [Schutz-]Kapsel). Man kennt etwa 80 solcher bullae, die unbeschädigt gebliebene Marken enthalten. Wenn man eine solche bulla schüttelt, klappern die darin enthaltenen Marken; ihre Umrisse werden sichtbar, wenn man sie röntgt. Die geglätteten Oberflächen der bullae weisen bisweilen in den Ton eingedrückte Zeichen auf; sie sollten eigentlich mit dem Inhalt, den Marken innerhalb der Kugel, übereinstimmen. Mitunter ist das der Fall – aber nicht immer.

Der Zweck einer bulla lag möglicherweise darin, bei kommerziellen Transaktionen die Genauigkeit und Echtheit der in ihr untergebrachten Marken zu garantieren. Auf einer Schnur angebrachte oder in einem Beutel weitergegebene Zeichen konnten von Unbefugten verfälscht werden. Betrügereien waren jedoch nicht so leicht möglich, wenn die Marken in einem geradezu versiegelten Behältnis untergebracht waren. Bei dem Versand und der Lieferung von Gütern dürfte eine so verschlossene Tonkapsel als eine Art von Frachtbrief oder Lieferschein gedient haben. In Streitfällen konnte man die bulla aufbrechen und ihren Inhalt mit der gelieferten Ware vergleichen.

Durch eine Kennzeichnung der Oberfläche der Tonkapsel dürfte es möglich geworden sein, ihren Inhalt zur Kenntnis zu nehmen, ohne sie zertrümmern zu müssen; eine solche Kenntnisnahme bot allerdings keine vollständige Sicherheit vor einem Betrug. Eine Annahme dieser Art lässt jedoch Raum für Zweifel: Man müsste doch wohl davon ausgehen können, dass die Anzahl der außen angebrachten Kennzeichen mit der Zahl der im Inneren enthaltenen Marken übereinstimmt. In manchen Fällen ist das auch so, aber nicht in allen. Man müsste ebenfalls eine Übereinstimmung erwarten können zwischen den Formen der äußeren Kennzeichnungen und den Formen der im Innern enthaltenen Marken. Vermutlich hat man jedoch, wenn die Tonkapsel geglättet war, sich bei den Einritzungen auf ihrer Oberfläche nicht genau derselben Zeichen bedient, welche die in ihrem Inneren verborgenen Marken aufwiesen. Tatsächlich stimmen sie nämlich nicht in jedem Fall überein.

Manche Wissenschaftler sind der Meinung, diese äußeren Kennzeichen auf der Kapseloberfläche seien ein Schritt auf dem Wege, Tontafeln mit komplexeren Zeichen zu versehen, und demzufolge liege hier der Entstehungsbereich des Schreibens. Wenn auch diese Ansicht durchaus diskutabel ist, scheint sie doch die Sache komplizierter zu machen, als sie ist. Warum sollte man das Einritzen einer Kerbe in ein Tontäfelchen für eine hochwertigere Leistung halten als das Auftragen eines Zeichens auf eine Tonkapsel oder, was das anbetrifft, als eine Ton-Marke selbst? Wenn überhaupt etwas hochwertiger sein soll, dann scheint mir das formgebende Modellieren und Eingravieren eines Zeichens höhere Ansprüche zu stellen als das bloße Einritzen einer Markierung. Man vergleiche dazu die Erfindung von Münzen – ihr gingen das Einritzen von Zeichen und das Anbringen von Kerben voraus, die man in ein Kerbholz einschnitt. (Es gibt eiszeitliche Knochen, die mit Kerben versehen sind, die einen Mondkalender darstellen sollen). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass Ton-Marken und bullae auch noch lange nach dem Aufkommen der Keilschrift beibehalten wurden. Ihr Gebrauch rief wohl nicht so sehr die Vorstellung des vollen Schreibens hervor, wie man es vermutet hat, sondern sie dienten wahrscheinlich eher als Ergänzung des Geschriebenen, wie es auch bei Kerbhölzern der Fall gewesen sein dürfte.

Piktogramme

Wie begann denn nun tatsächlich das Schreiben? Bis zur Aufklärung im 18. Jahrhundert erklärte man in der Regel, es sei eine göttliche Erfindung, wie die von Sokrates erzählte Geschichte von Thoth, dem Gott der Weisheit, sie darstellt. Heutzutage nehmen viele Wissenschaftler, wahrscheinlich sogar die meisten, an, dass das früheste Schreiben aus dem Rechnungswesen hervorgegangen ist, und zwar nicht auf dem Wege über die Ton-Zeichen, sondern aus den Erfordernissen des kommerziellen Rechnungswesens.

Die frühesten Schriftzeugnisse aus Mesopotamien, gebrannte Tontafeln, datieren aus der Zeit um etwa 3300 v. Chr.; die frühesten Schreibnachweise aus Ägypten stammen demgegenüber aus der Zeit um 3200 v. Chr. Sie fanden sich in Symbolen auf Schreibunterlagen aus Knochen und Elfenbein, die man zur Bestimmung und zur Berechnung von Grabbeigaben benutzt hatte. Keine der Zeitangaben ist jedoch absolut sicher, und manche Ägyptologen setzen den Zeitpunkt für den Beginn des Schreibens in Ägypten ein wenig früher an. Die frühesten Schriften Europas, die Linear-A- und Linear-B-Tontafeln aus Kreta und vom griechischen Festland, gehören in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. Auch bei ihnen handelt es sich um Aufzeichnungen kommerzieller Art. Es ist zwar irritierend, dass in China, Indien und Mittelamerika in den frühesten Schriftzeugnissen das Rechnungswesen nur selten in Erscheinung tritt – der Grund dafür kann aber schlicht und einfach darin liegen, dass solche Rechnungsaufzeichnungen sich nicht erhalten haben. Kommerzielle Buchführung dürfte in diesen frühen Zivilisationen auf vergänglichen Materialien vorgenommen worden sein, wie etwa auf Bambusblättern, Baumrinde oder Tierhäuten. Solche Materialien sind – anders als in Mesopotamien, Ägypten und Kreta – zerfallen und verschwunden. Selbst Tontafeln sind in vielen Fällen nur deswegen erhalten geblieben, weil sie zufällig bei der Einäscherung von Palastarchiven gebrannt und gehärtet worden sind.

Mit anderen Worten: Gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. führte in den Städten Sumers in Mesopotamien – der ‚Wiege der Zivilisation‘ zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris – eine aufblühende Wirtschaft zur Entwicklung des Schreibens. Die Komplexität des Handels und der Verwaltung nahm so stark zu, dass sie die Fähigkeit der herrschenden Elite, alles im Gedächtnis zu behalten, überstieg. Transaktionen aller Art in einer zuverlässigen, zeitüberdauernden Form festzulegen, wurde unverzichtbar für Verwaltungs- und Wirtschaftsvorgänge. Für Verwaltungsfachleute und Kaufleute wurde es von dieser Zeit an möglich, das sumerische Äquivalent zu unseren Redewendungen „Ich werde das schriftlich festlegen“ und „Kann ich das auch schriftlich haben?“ zu gebrauchen.

Manche Wissenschaftler glauben, dass eine gezielte Suche nach einer Lösung dieser Problematik durch einen unbekannten Sumerer aus der Stadt Uruk, dem biblischen Erech, um 3300 v. Chr. zum Schreiben geführt hat. Andere postulieren, dass das Schreiben das Ergebnis der Arbeit einer Gruppe von vermutlich sehr klugen Verwaltungs- und Handelsleuten gewesen sei. Noch andere meinen, es sei überhaupt keine Erfindung gewesen, sondern eine zufällige Entdeckung. Viele betrachten es als Resultat eines langwierigen evolutionären Vorgangs und nicht als plötzliches Ergebnis eines Geistesblitzes. Alle diese Ansichten stellen diskutable Hypothesen dar, die allerdings nur eine begrenzte Beweiskraft besitzen. Wir werden wohl niemals wissen, welche von ihnen tatsächlich richtig ist.

Sicher ist jedoch, dass die ersten geschriebenen Zeichen als Bilder in Erscheinung getreten sind. Viele der frühesten Zeichen aus Mesopotamien, Ägypten und China sind ohne Weiteres als Piktogramme zu erkennen. Sie stellen Tiere dar wie Fische, Vögel und Schweine und geben Pflanzen wieder wie Gerste und Dattelpalmen, Körperteile wie Hände und Köpfe, Gegenstände aus dem Alltagsleben wie Körbe und Töpfe und schließlich Naturgegenstände wie die Sonne, den Mond sowie Berge und Flüsse.

Manche der frühen Piktogramme repräsentieren allerdings auch abstrakte Begriffe. So kann die Abbildung eines Beines und Fußes nicht nur für das konkrete ‚Bein‘ und den konkreten ‚Fuß‘ stehen, sondern auch für die abstrakten Begriffe ‚gehen‘ oder ‚stehen‘, und ein Kopf mit einer Schale in der Nähe seines Mundes kann für ‚essen‘ stehen. In solchen Fällen ist die Symbolhaftigkeit universal verständlich, aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit der Piktogramme.

Als erster Punkt ist Folgendes zu bemerken: Ein Bild kann so stilisiert und simplifiziert werden, dass es nicht mehr als ein Piktogramm zu erkennen ist. Dieser Veränderungsprozess ist während der Entwicklung der mesopotamischen Piktogramme zu bestimmten Zeichen der Keilschrift vor sich gegangen. Ähnliches erfolgte bei der späteren Entwicklung der chinesischen Piktogramme in die Elemente der verkehrsfähigen Schrift. Die ägyptischen Hieroglyphen widerstanden zwar diesem Trend zur Abstraktion und behielten deutlich ihren Charakter als Piktogramme bei. Bei ihnen führte dieser Trend aber trotzdem zu einer zweiten, abstrakteren Schrift – der Verwaltungsschrift, die als die hieratische Schrift bekannt geworden ist. Weit danach entstand sogar noch eine dritte Schrift, die demotische Verwaltungsschrift. Sie ist auf dem Stein von Rosetta verwendet worden; eine Ähnlichkeit mit der hieroglyphischen Schrift ist nur noch unter großen Schwierigkeiten zu erkennen.

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2. Diese Piktogramme aus Mesopotamien erscheinen auf sumerischen Tontafeln, sie stammen aus der Zeit um etwa 3000 v. Chr. Sie haben folgende Bedeutungen:
obere Reihe:      Hand/Tag/Kuh/essen/Topf/Dattelpalme
mittlere Reihe:  Schwein/Obstgarten/Vogel/Schilf/Esel/Ochse
untere Reihe:    Kopf/gehen, stehen/Fisch/Gerste/Brunnen/Wasser

Zweitens ist zu fragen: An welchem Punkt auf der Skala der zunehmenden Abstraktion und des immer stärkeren Übergangs in begriffliche Vorstellungen beginnt die konkrete Bedeutung eines Piktogramms sich aufzulösen? Ein stehendes Strichmännchen z.B. konnte alles bedeuten, was zwischen einem Individuum und der Totalität der Menschheit liegt. Es konnte ebenso eine symbolische Bezeichnung sein für ‚stehenbleiben‘, ‚warten‘, ‚allein‘, ‚einsam‘ und tatsächlich auch für ‚Männer-WC‘. In ähnlicher Weise konnte das sumerische Symbol für ‚Gerste‘ ebenso gut irgendeine andere Getreideart bezeichnen oder für ‚Pflanze‘ allgemein stehen. Die Situation, die mit den Piktogrammen verbunden ist, ähnelt in gewisser Weise der von Kindern, die das Sprechen lernen. Wenn sie gelernt haben, dass die Familie der Hunde ‚Hund‘ heißt, wenden sie unter Umständen dieses Wort auf andere Tiere an, die sie sehen, z.B. auf Katzen – oder aber sie gebrauchen es zu eng, indem sie es nur für einen bestimmten Hund verwenden, nämlich für den eigenen Hund.

Die allerfrühesten sumerischen Tontafeln aus Uruk bestehen aus Piktogrammen oder Quasi-Piktogrammen und Zahlzeichen. Sie betreffen Berechnungen. Obgleich wir nicht in jedem Detail über die Bedeutungen, die die Tafeln haben, sicher sein können, können wir manchmal dem Verlauf einer Berechnung folgen: Beschrieben ist sie in der grundlegenden Studie Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient: Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren. Sie stammt von einem multidisziplinären Team von Wissenschaftlern, nämlich Hans Nissen, Peter Damerow und Robert Englund. Der Titel mag nicht sehr verlockend klingen, tatsächlich aber kann das Buch intellektuell so fesselnd sein wie ein Kriminalroman.

Die Arten, in denen die sumerischen Zahlzeichen in die Tontafeln eingepresst wurden, blieben während des 3. Jahrtausends v. Chr. hindurch unverändert erhalten, während sich die Keilschrift weiterentwickelt hat. Entweder drückte man das zylindrische Ende eines Schilfrohres senkrecht in den weichen Ton, um ein kreisförmiges Loch in ihm anzubringen, oder man presste es schräg hinein, um eine Vertiefung zu hinterlassen, die wie ein Fingernagel geformt war. Man benutzte aber auch eine Kombination beider Eindruckstechniken, um mit den übereinander gelegten Zeichen eine höhere Zahl auszudrücken. Es ist möglich, dass die mit dem Schilfrohr erzeugten Formen sich aus den Einritzungen entwickelt haben, die es bereits auf den Ton-Marken und den Ton-Kapseln gab. Es ist aber genauso gut möglich, dass sie speziell für den Gebrauch auf den Tontafeln entwickelt worden sind.

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3. Diese frühe Keilschrift-Tontafel aus dem im heutigen Irak gelegenen alten Uruk stammt aus dem späten 4. Jahrtausend v. Chr. Sie enthält die Niederschrift eines Geschäfts mit Gerste. Vgl. den Text zur näheren Erklärung.