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Kontroversen um die Geschichte

Herausgegeben von

Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum

Dierk Hoffmann

Nachkriegszeit

Deutschland 1945–1949

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

 

ISBN 978-3-534-14729-8

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Inhalt

Vorwort der Reihenherausgeber

  I. Einleitung

 II. Überblick

III. Forschungsprobleme

1. Zäsuren und Begriffe

a) Der 8. Mai 1945 und die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland

b) Kontinuität und Wandel

2. Der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit

a) Entnazifizierung und politische Säuberung

b) Von der Vergangenheitsbewältigung zur Vergangenheitspolitik

3. Zwischen Selbständigkeit und Abhängigkeit

a) Vorgaben der Besatzungsmächte und deutsche Handlungsspielräume

b) Amerikanisierung und Sowjetisierung

4. Die „Zusammenbruchgesellschaft“

a) Nivellierte Mittelstandsgesellschaft, Rationen-Gesellschaft, sozialistische Arbeitsgesellschaft

b) Flüchtlinge, Vertriebene, „Umsiedler“

c) Eliten und Elitenwechsel

5. Markt und Plan

a) Demontagen und Reparationen

b) Marshall-Plan

c) Währungsreform

d) Von der Zwangsbewirtschaftung zur sozialen Marktwirtschaft bzw. zur Zentralverwaltungswirtschaft

6. Der Weg zur doppelten Staatsgründung

a) Parteienlandschaft

b) Föderalismus versus demokratischer Zentralismus

c) Verfassungsausarbeitung und Staatsgründung in Ost und West

IV. Fazit

Literatur

Register

Vorwort der Reihenherausgeber

Kontroversen begleiten nicht nur die wissenschaftliche Arbeit, sondern sind deren Grundlage. Dies gilt auch für die Geschichtswissenschaft. Weil wissenschaftliche Auseinandersetzungen nicht leicht zu durchschauen und noch schwerer zu bearbeiten sind, ist es notwendig, diese aufzubereiten.

Die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“ ist als Studienliteratur konzipiert. Sie präsentiert die Auseinandersetzungen zu Kernthemen des Geschichtsstudiums; ihr Ziel ist es, Studierenden die Vorbereitung auf Lehrveranstaltungen und Examenskandidaten ihre Prüfungsvorbereitung zu erleichtern. Entsprechend kennzeichnet sie ein didaktischer und prüfungspraktischer Darstellungsstil.

Über diesen unmittelbaren Nutzen hinaus nimmt die Reihe die Pluralisierung der Historiografie auf, ohne dem Trend zur Zersplitterung nachzugeben. Gerade in der modernen Gesellschaft mit ihrer fast nicht mehr überschaubaren Informationsvielfalt wächst das Bedürfnis nach einer schnellen Orientierung in komplizierten Sachverhalten. Ergebnisse der historischen Forschung werden in dieser neuen Reihe problemorientiert vermittelt. Die einzelnen Bände der „Kontroversen um die Geschichte“ zielen dabei nicht auf eine erschöpfende Darstellung historischer Prozesse, Strukturen und Ereignisse, sondern auf eine ausgewogene Diskussion wichtiger Forschungsprobleme, die nicht nur die Geschichtsschreibung geprägt, sondern auch die jeweilige zeitgenössische öffentliche Diskussion beeinflusst haben. Insofern umschließt der Begriff „Kontroversen“ zwei Dimensionen, die aber zusammengehören.

Die Spannbreite der „Kontroversen um die Geschichte“ reicht vom 16. Jahrhundert bis zur Zeitgeschichte. Einige der Bände sind jeweils einzelnen Themengebieten wie der Verfassungsgeschichte gewidmet, die im historischen Längsschnitt behandelt werden und überwiegend über den deutschen Sprach-, Kultur- oder Staatsraum hinaus eine vergleichende Perspektive zu anderen Regionen und Staaten Europas eröffnen. Andere Bände behandeln einzelne Epochen oder Zeitabschnitte europäischer und deutscher Geschichte wie etwa den Absolutismus oder die Weimarer Republik. Gelegentliche Überschneidungen sind somit nicht nur unvermeidbar, sondern auch durchaus sinnvoll.

Der Aufbau der Bände folgt einem einheitlichen Prinzip. Die Einleitung entfaltet den Gesamtrahmen der behandelten Epoche oder des dargestellten Querschnittbereichs. Daran schließt sich ein Überblick an: Er begründet die Auswahl der behandelten Deutungskontroversen und ordnet diese in den Gesamtrahmen ein. Der Hauptteil der Bände umfasst die wichtigsten Forschungsprobleme zum Thema. Dabei werden nicht vorrangig alle Entwicklungen und Stadien der Forschung nachgezeichnet, vielmehr Schlüsselfragen und zentrale Deutungskontroversen der Geschichtswissenschaft übersichtlich und problemorientiert präsentiert. Der Darstellung dieser Schlüsselfragen folgt zum Schluss eine kritische Bilanz des Forschungsstandes, in der auch offene Probleme der Geschichtsschreibung dargelegt werden. Historische Forschung ist ein nie beendeter Prozess, dessen Befunde immer einer kritisch-distanzierenden Bewertung bedürfen. Auch dies soll in dem abschließenden Kapitel der Bände jeweils deutlich werden. Eine Bibliographie der wichtigsten Werke steigert den Gehalt der Bände; das Register weist zentrale Personen- und Sachbezüge nach und dient einer schnellen Orientierung.

Unser Wunsch ist es, dass die Reihe „Kontroversen um die Geschichte“ einen festen Platz in den Bücherregalen von Studierenden der Geschichtswissenschaft, aber auch benachbarter Disziplinen einnimmt, die sich auf Lehrveranstaltungen oder Prüfungen vorbereiten. Darüber hinaus sind die Bände der Reihe an Leserinnen und Leser gerichtet, die Befunde der Geschichtsschreibung sachkundig vermitteln möchten oder ganz generell an historisch-politischen Diskussionen interessiert sind.

 

Arnd Bauerkämper

 

Peter Steinbach     

 

Edgar Wolfrum      

I. Einleitung

„Deutschland ist, bedingt durch die Umstände des Krieges und der gegenwärtigen Besetzung durch vier Besatzungsmächte, zu einem magnetischen Feld sich überschneidender, divergierender, kultureller und politischer Einflußsphären geworden. Es ist offenbar, daß Reibungen, die an diesen Schnittpunkten entstehen, sich in das Fleisch und Blut unserer materiellen und nationalen Existenz einschneiden müssen. Konflikte der Weltmächte spielen sich zwangsläufig auf unserem Rücken ab. Eine Aufspaltung der Welt in machtpolitische Sphären würde nach sich ziehen eine Aufspaltung Deutschlands. Männer und Frauen guten Willens in allen vier Zonen haben dem Wunsche Ausdruck gegeben, daß Deutschland, anstatt der Zankapfel zwischen den Mächten zu werden, die friedliche Brücke zwischen ihnen werden möge. Es klingt anmaßend: Deutschland – die Brücke zwischen Weltmächten; als ob gerade wir, deren Selbstreinigung nach zwölf Jahren des Absinkens in die Barbarei noch kaum begonnen hat, zu einer weltbedeutenden Mission berufen wären“ (12, S. 4).

Brückenkonzept

Mit diesen einleitenden Bemerkungen zum ersten Heft der Zeitschrift ‚Ost und West‘ wendete sich der Schriftsteller und Journalist Alfred Kantorowicz im Sommer 1947 gegen die einsetzende Ost-West-Konfrontation und das damit verbundene Auseinanderdriften der vier Besatzungszonen. Kantorowicz wurde 1899 als Sohn jüdischer Eltern geboren und war 1931 in die KPD eingetreten. Er hatte Deutschland 1933 verlassen und war nach Frankreich emigriert. Beim Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs schloss er sich den internationalen Brigaden an. Im Sommer 1940 floh er schließlich in die USA. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte er mit der von ihm neu gegründeten Zeitschrift die geistige und politische Teilung Deutschlands zu verhindern. Für einen kurzen Zeitraum gelang es Kantorowicz, insbesondere deutschen Exilliteraten wie etwa Lion Feuchtwanger, Heinrich und Thomas Mann sowie Arnold Zweig ein Forum im Nachkriegsdeutschland zu bieten. Während ihm die sowjetische Besatzungsmacht im März 1947 eine Lizenz erteilte, lehnte dies die amerikanische Militärverwaltung ab. Daraufhin wagte er bei den beiden anderen Besatzungsmächten keinen entsprechenden Vorstoß. Finanzielle Schwierigkeiten schränkten die Handlungsfähigkeit der Redaktion jedoch rasch ein, so dass Kantorowicz resigniert aufgab. Im Dezember 1949 erschien das letzte Heft.

Unmittelbar nach Kriegsende schossen in den vier Besatzungszonen zahlreiche Zeitschriften aus dem Boden. Der Gedanke der Vermittlung zwischen Ost und West hatte darin eine relativ große Bedeutung (7, S. 95). In der US-Zone setzte sich die zweiwöchentlich erscheinende Zeitschrift ‚Der Ruf‘ für einen intellektuellen Brückenschlag über die innerdeutsche Demarkationsgrenze hinweg ein. Das Blatt hatte zwar lediglich eine kurze Lebensdauer, da es mit einer längeren Unterbrechung und einem erzwungenen Wechsel in der Herausgeberschaft auch nur bis 1949 erscheinen konnte. Dennoch war der publizistische Erfolg beachtlich: ‚Der Ruf‘ war mit einer Auflagenhöhe zwischen 20.000 und 70.000 Exemplaren eine der erfolgreichsten Zeitschriften in den ersten Nachkriegsjahren (26, S. 347). Die von Alfred Andersch und Hans Werner Richter herausgegebene Zeitschrift teilte das humanistisch-sozialistische Weltbild von Kantorowicz, vertrat aber im Unterschied zur ostdeutschen Zeitschrift ‚Ost und West‘ eine „eindeutig national-neutralistische“ Grundposition (7, S. 97f.). So schrieb Hans Werner Richter in einem Beitrag:

„[Die junge Generation] kann neu bauen. Sie hat den Sozialismus des Ostens und die Demokratie des Westens im Land. Aus den Erfahrungen mit den beiden Ordnungen kann sie die Quellen der Fehler erkennen, die sie vermeiden muss. Indem sie den Sozialismus und die Demokratie in einer Staatsform zu verwirklichen sucht, kann sie zum Ferment zwischen den beiden Ordnungen werden. Sie muss dort ansetzen, wo die beiden Ordnungen zueinander drängen, sie muss gleichsam den Sozialismus demokratisieren und die Demokratie sozialisieren. So kann diese junge deutsche Generation die Brücke bauen, die vom Westen zum Osten und vom Osten zum Westen führt. Es wird zugleich die Brücke in die Zukunft Europas sein. Denn Europa kann weder ohne Russland noch in einer Blockbildung gegen Russland leben. Deutschland ist nur ein Vorland Russlands. Es liegt in der Mitte zwischen dem Westen und zwischen dem Osten und muss mit beiden leben. Indem es aber die sozialistische Ideologie des Ostens und die demokratische Ideologie des Westens in sich aufnimmt, kann es auf einer höheren Ebene beide in sich vereinen. In dieser Vereinigung kann es zu jener Staatsform der Zukunft finden, die seinem eigenen Wesen und seiner eigenen Entwicklung entspricht. Es wird der Staat sein, den wir als ‚sozialistische Demokratie‘ bezeichnen“ (23, S. 48f.).

gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte

Im Rückblick erscheinen diese Überlegungen verträumt, idealistisch, ja angesichts der weltpolitischen Entwicklung nach 1945 unrealistisch zu sein. Sie waren – so das gängige Urteil – von Anfang an zum Scheitern verurteilt. In der Historiografie werden die Autoren dieser programmatischen Artikel mit den politischen Verfechtern des sogenannten Brückenkonzepts (Jakob Kaiser) bzw. mit den Neutralisten in enge Verbindung gebracht (26; 7). Diese Meinungsäußerungen können aber auch als Aufruf an die Historiker verstanden werden, endlich eine gemeinsame deutsche Nachkriegsgeschichte zu schreiben und die Entwicklung der Bundesrepublik und der DDR nicht ausschließlich in getrennten, nahezu hermetisch voneinander abgeschiedenen Bahnen zu untersuchen, so wie das nach wie vor fast alle Gesamtdarstellungen der letzten Jahre getan haben. Oftmals ist sogar der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung in der SBZ/DDR bewusst wenig Platz eingeräumt worden. Peter Graf Kielmansegg bekannte sich beispielsweise dazu, ganz entschieden keine Parallelgeschichte der beiden deutschen Staaten geschrieben zu haben. Als Begründung gab er an: „Das mochte bis 1989 angehen. Seit 1989 aber ist klar, dass wir es mit zwei ganz verschiedenen Geschichten zu tun haben, einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft“ (13, S. 677). Etwas drastischer formulierte Hans-Ulrich Wehler sein Desinteresse am DDR-Staatssozialismus: „Das Intermezzo der ostdeutschen Satrapie muss aber nicht an dieser Stelle durch eine ausführliche Analyse aufgewertet werden. Man kann es der florierenden DDR-Forschung getrost überlassen“ (27, S. XVf.). Sein Abschlussband der Deutschen Gesellschaftsgeschichte stellt in geradezu idealtypischer Weise eine Kontrastgeschichte der beiden deutschen Staaten dar. Auch in der zehnten Ausgabe des Gebhardt-Handbuchs zur deutschen Geschichte stehen die beiden Bände zur Bundesrepublik bzw. zur DDR völlig unvermittelt nebeneinander (33; 2). Die Autoren und Herausgeber bieten dem Leser nicht einmal eine konzeptionelle Begründung zur geteilten Darstellung des geteilten Landes an. Nur Edgar Wolfrum verweist stichwortartig in wenigen Zeilen auf die unterschiedlichen Ansätze, die eine Einbeziehung der DDR in eine deutsche Nachkriegsgeschichte anstreben, um sich dann ausführlich den bekannten Deutungsmustern zur Einordnung der bundesrepublikanischen Geschichte zu widmen (33, S. 67). Eckart Conze beschränkt sich wiederum in seiner Gesamtdarstellung ganz auf Westdeutschland (5). Die Geschichte der DDR gerät bei ihm erst ins Blickfeld, wenn es darum geht, die komplexen Anpassungsprozesse zwischen Ost und West nach der Wiedervereinigung 1990 zu beschreiben. Dabei hätte Conzes erkenntnisleitende Perspektive, die Geschichte der Bundesrepublik unter dem Blickwinkel der Suche nach Sicherheit zu betrachten, grundsätzlich auch im Hinblick auf den ostdeutschen Teilstaat diskutiert werden können. So bleibt die Geschichte der SBZ/DDR in der Tat eine Fußnote der Geschichte, auch wenn der Autor einleitend betont, dass nicht nur die westdeutsche, sondern auch die ostdeutsche Vergangenheit von Belang sei, „denn auch sie reicht in Millionen von Biographien bis in die Gegenwart hinein“ (5, S. 14).

„Zusammenbruchgesellschaft“

Dabei waren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Westzonen und der SBZ enorm. In der Forschung wird nahezu einhellig die Meinung vertreten, dass die Deutschen trotz bestehender Ungleichheiten in einer „Zusammenbruchgesellschaft“ lebten (14, S. 37). Zunächst einmal war fast alles zusammengebrochen, woran viele Deutschen lange Zeit geglaubt hatten: das Deutsche Reich, das erst 1947 von den Alliierten aufgelöste Preußen und der Nationalsozialismus (6, S. 9). Den weit verbreiteten Glauben, ein Kulturvolk zu sein, hatte Auschwitz nachhaltig erschüttert. Aus dem totalen Krieg war eine totale Niederlage geworden. Die bedingungslose Kapitulation besiegelte das Schicksal Deutschlands. Darin bestand der wesentliche Unterschied zwischen dem Kriegsende 1945 und dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Bei näherer Betrachtung lag das Land aber nicht vollständig in Trümmern. Obwohl die Kriegszerstörungen durch den Bombenkrieg und die zum Teil katastrophalen Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsgebieten den Anschein eines totalen Zusammenbruchs erweckten, muss doch festgehalten werden, dass die Kriegsfolgelasten höchst ungleich verteilt waren: zwischen Stadt und Land, zwischen Lebensmittelproduzenten und Konsumenten oder zwischen alteingesessener Bevölkerung und Vertriebenen und Flüchtlingen. In dieser Hinsicht spielten aber die politischen Grenzen der einzelnen Besatzungszonen keine herausragende Rolle. Schon bei den Zeitgenossen setzte sich bald die Wahrnehmung durch, dass das Alltagsleben trotz vielfältiger Strukturprobleme (z.B. Ernährungslage, Wohnungsnot, demografische Verwerfungen) erstaunlich schnell wieder funktionierte (6, S. 9f.).

Angesichts der aktuellen Debatten über transnationale Geschichte und global history scheint es auf den ersten Blick altbacken zu sein, sich ausschließlich mit der Geschichte Deutschlands nach 1945 zu beschäftigen. Die Forderung, die deutsche Geschichte nicht isoliert zu betrachten, sondern über den Tellerrand zu schauen, wurde erstaunlicherweise nur in Bezug auf die DDR erhoben (19, S. 769) und hat vor einigen Jahren eine Kontroverse ausgelöst (3; 20; 21). Auf der anderen Seite sind diese Forderungen von der Geschichtswissenschaft bislang noch kaum eingelöst worden. Das zeigen jedenfalls die bisher vorliegenden Gesamtdarstellungen. Gerade die deutsch-deutsche Perspektive bietet aber weit reichende Erkenntnischancen, denn „hier verschränkt sich die Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Diktatur zur Signatur des 20. Jahrhunderts“ (4, S. 554). Die Begriffe ‚Demokratie‘ und ‚Diktatur‘ sind nach Horst Möller „das Schlüsselpaar der politischen Geschichte“ des letzten Jahrhunderts (22, S. 29). In diesem Zusammenhang soll keine neue, auf 1989 zulaufende Meisterzählung entstehen, in der die Geschichte der beiden deutschen Staaten aufgehoben ist, sondern vielmehr eine Historisierung der Bundesrepublik und der DDR im Spannungsfeld von Einheit und Teilung erfolgen. Bisher ist das nur ansatzweise geschehen (14; 15; 24). Das Potenzial ist also noch lange nicht ausgeschöpft: So steht eine integrierte Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte, bei der auch die getrennten Entwicklungspfade beleuchtet werden, noch aus. Eine weitere Möglichkeit bietet sich mit Längsschnittanalysen über die politischen Zäsuren hinweg an (21). Dadurch ließen sich die Kontinuitätslinien stärker betonen. Letztlich geht es um eine gemeinsame Verortung von DDR und Bundesrepublik in einer Abgrenzungs-, Kontrast-, Beziehungs- und Verflechtungsgeschichte.

Verflechtung und Abgrenzung

Bekanntlich hat Christoph Kleßmann seit Anfang der 1990er Jahre den Ansatz einer „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ verfolgt (16; 17). Er hat damit als erster eine Konzeption für eine integrale deutsche Nachkriegsgeschichte entwickelt. Die von ihm in die Diskussion eingeführten Kriterien ‚Verflechtung‘ und ‚Abgrenzung‘ beinhalten zentrale Perspektiven, mit denen sich das wechselvolle Verhältnis der beiden deutschen Teilstaaten an der Nahtstelle des Ost-West-Konflikts erfassen lässt. Kleßmann hat seine Überlegungen 2005 in Anlehnung an Peter Graf Kielmansegg und Peter Bender (1) zu sechs sogenannten Leitlinien einer integrierten Nachkriegsgeschichte ausgebaut – Bezugsfelder, in denen die deutsche Nachkriegsgeschichte seiner Meinung nach steht. Indem die Leitlinien benannt und miteinander verbunden würden, ließe sich ein möglicher Gesamtrahmen skizzieren. Der Vorzug dieser Vorgehensweise liege darin, eine dichotomische Erfolgs- bzw. Misserfolgsgeschichte zu vermeiden. Im Einzelnen schlug Kleßmann folgende Felder vor (18, S. 26ff.): erstens 1945 als Endpunkt der deutschen Katastrophe und Chance zum Neubeginn, zweitens die beginnende Blockbildung und die inneren Folgen, drittens die Eigendynamik der beiden Staaten, viertens die Abgrenzung und asymmetrische Verflechtung, fünftens die Problemlagen fortgeschrittener Industriegesellschaften sowie sechstens Erosionserscheinungen. Eine weitere Ausdifferenzierung der zeitlichen Stufen und systematischen Bezugsfelder schloss Kleßmann jedoch nicht aus. Für ihn war von entscheidender Bedeutung, dass sein Vorschlag eine Möglichkeit darstellte, „dem Eigengewicht und der Verklammerung west- und ostdeutscher Geschichte besser gerecht zu werden als eine reine Kontrastgeschichte oder eine neue Nationalgeschichte“ (18, S. 33).

Kritiker gaben zu bedenken, dass die Bezeichnung der letzten Leitlinie (Erosionserscheinungen) zu Missverständnissen führen könnte, denn darunter würden nicht nur das Ende der Ära Honecker und der Zusammenbruch der SED-Herrschaft, sondern auch die westdeutsche Entwicklung subsumiert (8, S. 11). Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass das Trennende in der 45-jährigen Geschichte der Teilung (inklusive der Besatzungszeit von 1945 bis 1949) alles in allem überwogen habe. Deshalb müssten alle drei Aspekte der deutsch-deutschen Geschichte – d.h. Unterschiede und Abgrenzung, Parallelitäten, Beziehungen und Verflechtungen – in einer Gesamtdarstellung in dem Maße zum Tragen kommen, wie es deren Verlauf auch angemessen sei (31, S. 10). Insgesamt ist der Vorschlag Kleßmanns aber auf viel Zustimmung gestoßen. Obwohl die empirische Umsetzung nach wie vor noch aussteht, wird sein Konzept von vielen als diskussionswürdig erachtet (8, S. 11). Die jüngste Debatte zeichnete sich vor allem durch weitere Begriffsangebote aus: So ist z.B. von einer „Historisierung der Zweistaatlichkeit“ (25), von einer „pragmatischen Zeitgeschichtsforschung“ (32) oder aber auch von einer „integrale[n] deutsche[n] Nachkriegsgeschichte“ (8) die Rede.

Synthesekerne

Eine weitere Zugangsmöglichkeit, die im Übrigen über eine deutsch-deutsche Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte hinausreicht, hat Hans Günter Hockerts gewählt. Er befasste sich mit der Frage, unter welchen Koordinaten die deutsche Nachkriegsgeschichte im Spannungsfeld von teilstaatlicher Abgrenzung und gesamtdeutscher Einheit zu vermessen ist. Da sich die Zeitgeschichtsschreibung seit der Epochenzäsur von 1989/90 in einer Phase des Umbruchs und der Erweiterung befinde, dränge sich den Historikern die Aufgabe auf, „in einer Selbstverständigungsdebatte darüber nachzudenken, welche Elemente in der zeithistorischen Deutungsbedürftigkeit der Gegenwart besonders wichtig und in welchem interpretatorischen Gefüge sie zu sehen sind“ (10, S. IX). Um zu verhindern, dass der Forschungsprozess „zentrifugal“ verlaufe und „die Geschichte in tausend Stücke“ zerspringe, sei es lohnenswert, nach „integrierenden Perspektiven oder Synthesekernen“ zu suchen. Mit Hilfe der von Hockerts in die Forschungsdiskussion eingebrachten Synthesekerne könnten säkulare Prozesse wie etwa die sozioökonomische Krise der Industriegesellschaften seit Mitte der 1960er Jahre verstärkt untersucht werden, denen sich die Bundesrepublik und DDR ausgesetzt sahen. Dieser Zugang müsste nicht auf das Nachkriegsdeutschland begrenzt bleiben und wäre insofern anschlussfähig an neuere Methodendebatten über transnationale Geschichte. Diese Synthesekerne traten aufgrund weltweiter Trends auch in den beiden deutschen Staaten auf. In dem von Hockerts herausgegebenen Band über „Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts“ werden exemplarisch Fragen nach der Bedeutung der Religion und des Bürgertums, der Arbeits- und Wissensgesellschaft im Hinblick auf das geteilte Deutschland gestellt, vergleichend analysiert und auf die Tragfähigkeit geprüft. Eine Untersuchung der deutsch-deutschen Geschichte nach 1945 unter diesem Blickwinkel biete die Chance, ausgehend von ähnlichen Phänomenen vergleichend vorgehen zu können. Nicht nur Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten könnten herausgearbeitet werden. Auf diese Weise ließe sich ein differenziertes Bild des Umgangs der Bundesrepublik und der DDR mit den sich verändernden sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gewinnen.

Perzeption

Eine andere, ebenfalls noch weitgehend ungenutzte Option ist die Einbeziehung von Erwartungen und Erfahrungen in eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte. Diesem Forschungsansatz liegt die Annahme zugrunde, dass sich beide deutsche Staaten in einem Konkurrenzverhältnis befanden und deshalb gegenseitig beäugten. Die Perzeption konnte verschiedene Reaktionen auslösen: Abschottung, Ignorierung oder partielle Aneignung. Sie besaß mitunter auch eine Katalysatorfunktion, denn die Wahrnehmung des anderen deutschen Staates konnte Entscheidungsprozesse und Entwicklungslinien mit prägen, teilweise sogar beschleunigen. Somit lassen sich unter anderem auch Aussagen treffen über die Lernfähigkeit bzw. Lernunfähigkeit des politischen Systems in der Bundesrepublik und der DDR. Bislang sind gegenseitige Perzeptionen von politischen Entscheidungen und Ideen sowie von unterschiedlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prozessen im doppelten Deutschland noch nicht Gegenstand systematischer Studien geworden (30, S. 12). Diese Feststellung gilt auch für die Frage, ob und wie sich diese Wahrnehmungen auf den einzelnen Politikfeldern und in den gesellschaftlichen Subsystemen beider Staaten vor dem Hintergrund des Systemkonflikts ausgewirkt haben. Erste Ergebnisse liegen insbesondere zu den 1950er Jahren vor (28; 11). Für den ganzen Zeitraum der Zweistaatlichkeit hat ein Sammelband des Instituts für Zeitgeschichte diese Frage an einigen Fallbeispielen exemplarisch diskutiert (29). Bei einer solchen Vorgehensweise darf freilich nicht der Fehler begangen werden, die deutsche Nachkriegsgeschichte primär auf eine Aufeinanderbezogenheit von Bundesrepublik und DDR zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, die jeweilige Relevanz der Perzeptionen zu bestimmen und die aus der deutsch-deutschen Sondersituation resultierenden Faktoren zu identifizieren, die Einfluss auf die jeweilige Entwicklung hatten.

Insgesamt liegt damit eine Vielzahl konzeptioneller Ansätze für eine deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte vor, von denen hier nur die wichtigsten vorgestellt werden konnten. Generell gilt: Alle vorgeschlagenen Forschungsansätze haben ihre Berechtigung und verdeutlichen die Pluralisierung der Forschungslandschaft. Ein allgemein anerkanntes hegemoniales Paradigma wäre weder möglich noch wünschenswert (10, S. IX). Hermann Wentkers Bemerkung ist zweifellos zuzustimmen, die deutsche Nachkriegsgeschichte könne auch weiterhin als Geschichte zweier Staaten und Gesellschaften erzählt werden, die „zwar in vielfacher, aber sicher nicht in jeder Hinsicht aufeinander bezogen“ waren (31, S. 11).

II. Überblick

Dass die in der Einleitung vorgestellten Forschungsansätze kaum eingelöst wurden, belegen nicht nur die genannten Gesamtdarstellungen, sondern auch die kaum noch zu überblickende Flut an Einzelstudien zur Geschichte der vier Besatzungszonen. In der historischen Forschung zur deutschen Nachkriegsgeschichte besteht eine Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Diese Diskrepanz kann der vorliegende Band nicht beseitigen. Er verfolgt vielmehr eine doppelte Aufgabe: Zum einen geht es darum, zentrale Debatten in der Zeitgeschichtsforschung zur Geschichte Deutschlands zwischen 1945 und 1949 in den wesentlichen Grundzügen zu skizzieren. Dabei greift die Darstellung stellenweise über das Jahr der doppelten Staatsgründung hinaus und reicht bei einzelnen Problemen und Fragen bis in die 1950er und 1970er Jahre hinein. Überschneidungen mit den bereits vorliegenden Bänden zur DDR und zur Bundesrepublik wurden dabei aber vermieden (34; 35). Zum zweiten erfolgte die inhaltliche Gliederung des Bandes nach verbindenden, d.h. übergreifenden Themenstellungen, die sowohl in den Westzonen als auch in der SBZ von Relevanz waren. Auf diese Weise sollen gleichzeitig Desiderata und Perspektiven der zukünftigen Forschung sichtbar werden. Wegen seines begrenzten Umfangs konnten in diesem Band nur die zentralen Forschungskontroversen Berücksichtigung finden; nicht immer kommen alle Diskussionsteilnehmer zu Wort. Gleichwohl wurde versucht, dem Leser wichtige Positionen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung kurz vorzustellen, so dass die Konturen des Verlaufs der zentralen Debatten deutlich werden. Darüber hinaus geht es nicht nur darum, den Dissens zwischen einzelnen Forschern zu betonen, sondern auch inhaltliche Nuancen zu bestimmten Themenbereichen herauszuarbeiten. Historische Forschung verläuft schließlich als ein nie endender Prozess, bei dem vermeintlich gesichertes Wissen immer wieder kritisch hinterfragt oder neu bewertet werden kann.

Kontinuität und Wandel

Zäsuren stehen im Mittelpunkt des ersten Kapitels. Die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität beschäftigt nicht nur Zeithistoriker. Seit jeher gehören die Periodisierung und die damit verbundene Festlegung von Brüchen und langfristigen Traditionslinien zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaftler. Im 20. Jahrhundert, besonders für die deutsche Geschichte in diesem Zeitraum, bildet das Jahr 1945 eine herausragende Zäsur: Es markiert nicht nur das Ende der NS-Schreckensherrschaft und des Zweiten Weltkriegs in Europa, sondern auch den Anfang der Besatzungsherrschaft durch die vier Siegermächte USA, UdSSR, Großbritannien und Frankreich. Nachdem die Wehrmacht am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert hatte, übernahmen die Alliierten in der ‚Berliner Deklaration‘ vom 5. Juni die oberste Regierungsgewalt. Von ihrem Willen hing fortan die Zukunft Deutschlands ab. Anders als 1918 war die militärische Niederlage für die Besiegten eindeutig und irreversibel. Da die wissenschaftliche Debatte über die Bedeutung des Kriegsendes für die weitere Entwicklung Nachkriegsdeutschlands nur vor dem Hintergrund der bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung verständlich wird, geht es in diesem ersten Kapitel auch um die Entwicklung einer Fachdisziplin, die sich in Westdeutschland nach 1945 erst noch etablieren musste. Eng damit verbunden ist die Debatte über Kontinuität und Wandel, die nicht nur in politikgeschichtlicher, sondern auch in sozioökonomischer sowie in erfahrungsgeschichtlicher Hinsicht mit zum Teil konträren Positionen geführt wurde.

Vergangenheitspolitik

Das zweite Kapitel ist dem deutsch-deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit gewidmet. Zu den vier politischen Leitlinien der Alliierten, die kurz nach Kriegsende auf der Potsdamer Konferenz nochmals bestätigt wurden, gehörten bekanntlich die Dekartellisierung, Entmilitarisierung, Demokratisierung und Entnazifizierung des besiegten Deutschlands. Die beiden letztgenannten Ziele waren zwei Seiten einer Medaille. Um nämlich den Aufbau einer Demokratie langfristig gewährleisten zu können, war die vollständige Beseitigung des Nationalsozialismus notwendig. Dies schloss idealiter einen vollständigen Elitenaustausch ein. Die vergangenheitspolitische Diskussion bewegte sich im Spannungsfeld zwischen alliiertem Siegeroktroi und deutsch-deutscher Systemkonkurrenz. Nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft war und ist die Entnazifizierung umstritten. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts steht auch die politische Säuberung, die in den einzelnen Besatzungszonen unterschiedlich ausfiel. Dabei soll der Blick ansatzweise auch auf andere europäische Staaten gelenkt werden, um auf diese Weise die Spezifika und Gemeinsamkeiten des deutschen Falls deutlich werden zu lassen. Im zweiten Abschnitt geht es dann um die Diskussion über ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und ‚Vergangenheitspolitik‘, die jedoch in der DDR auf Anordnung der SED nicht offen stattfinden konnte. Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit liefert unter anderem Rückschlüsse auf das sich wandelnde westdeutsche Selbstverständnis. Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob in der Bundesrepublik die nationalsozialistische Zeit und die von Deutschen begangenen Verbrechen verdrängt wurden. Obwohl die zum Teil heftig geführte Debatte mit großem Interesse in Ost-Berlin verfolgt wurde, tabuisierte die SED-Führung in der zweiten deutschen Diktatur die breite gesellschaftliche Unterstützung des Nationalsozialismus; sie war nur im Zusammenhang mit der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz an der vergangenheitspolitischen Entwicklung in der Bonner Republik interessiert.

Heteronomie und Autonomie

Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Verhältnis von Selbständigkeit und Abhängigkeit der besiegten Deutschen; es geht also um die Beziehungen zwischen den vier Siegermächten und Deutschland. Nach 1945 legten die Besatzungsverwaltungen die Handlungsspielräume der deutschen Politiker weitgehend fest, wobei die Besatzungsziele in den alliierten Hauptstädten bestimmt wurden. Da in der Forschung zunächst die Interpretation von der nahezu vollständigen alliierten Vorherrschaft dominierte, erschien Deutschland in vielen Darstellungen in erster Linie als Spielball der großen Mächte. Das zeigte sich insbesondere beim Streit über die Bewertung der Teilung Deutschlands. Es ging bei dieser Forschungskontroverse auch um die Analyse der Ursprünge des Kalten Krieges und die damit zusammenhängende Blockbildung, weil sich Deutschland an der Nahtstelle des West-Ost-Konflikts befand. Zunächst werden hier die Besatzungszonen einzeln vorgestellt, bevor anschließend die Diskussion über Sowjetisierung bzw. Amerikanisierung skizziert wird. Bei diesem Thema spielten einerseits Zwangslagen und Handlungsspielräume eine entscheidende Rolle: Welche Ziele verfolgten die Besatzungsmächte in ihrer jeweiligen Zone und welche Möglichkeiten besaßen die Deutschen, sich den alliierten Neuordnungsplänen zu widersetzen? Andererseits wird aber auch untersucht, ob und inwieweit die Deutschen in Ost und West den Versuch unternahmen, das amerikanische bzw. sowjetischen Modell zu übernehmen. Die dabei behandelten Forschungskontroversen verdeutlichen die Notwendigkeit, zwischen einzelnen Phasen und Politikfeldern sorgfältig zu unterscheiden.

Nachkriegsgesellschaft

Die unterschiedlichen Deutungsangebote zur Interpretation der deutschen Nachkriegsgesellschaft werden im vierten Kapitel vorgestellt und diskutiert. Ausgehend von dem von Christoph Kleßmann geprägten Begriff ‚Zusammenbruchgesellschaft‘ werden weitere Vorschläge skizziert, die in der Forschung kontrovers diskutiert worden sind. Angesichts der katastrophalen Ausgangslage, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast überall in Deutschland herrschte, spielte die Versorgung mit knappen Gütern eine wichtige Rolle in der wissenschaftlichen Debatte und beeinflusste die Begriffsbildung. Die enorme Zahl der zuströmenden Flüchtlinge und Vertriebenen verschärfte die politische und sozialökonomische Krise erheblich, in der sich die vier Besatzungszonen 1945 befanden. Hier werden zunächst die Folgen für die Aufnahmegesellschaft betrachtet und anschließend die politischen Konzepte und Maßnahmen zur Integration der Neuankömmlinge vorgestellt, die keineswegs einheitlich waren. Da wir inzwischen über einen annähernd gleich guten Kenntnisstand zu allen vier Besatzungszonen verfügen, können in Zukunft die unterschiedlichen Wege in Ost und West vergleichend analysiert werden. Anschließend konzentriert sich die Darstellung auf das Problem des Elitenwechsels im Nachkriegsdeutschland. Vollzog sich ein Austausch der Eliten, und wenn ja, in welchen Bereichen? Welchen Einfluss übten die Besatzungsmächte aus? Welche Faktoren förderten oder bremsten dieses Vorhaben? In diesem Kontext stellt sich erneut die Frage nach der Bedeutung des Jahres 1945 für die langfristige Entwicklung der Eliten in Ost- und Westdeutschland. Kann man den sozialhistorisch komplexen Prozess in den drei Westzonen als Elitenkontinuität und die Entwicklung in der SBZ als Bruch mit den traditionellen Eliten bezeichnen?

Markt versus Plan

Das fünfte Kapitel befasst sich mit den Grundsatzentscheidungen zugunsten von Markt- bzw. Planwirtschaft. Auch hierbei handelt es sich um eine zentrale Debatte in der Zeitgeschichtsforschung. Die Wirtschaftspolitik war nach 1945 das zentrale Feld der deutsch-deutschen Systemauseinandersetzung. Schon in den ersten Nachkriegsjahren wurde öffentlich eine Debatte ausgetragen, die eine unmittelbare Bedeutung für die Deutschlandpolitik in Bonn und Ost-Berlin hatte. Für die westlichen Besatzungszonen entwickelten Kurt Schumacher und Konrad Adenauer die sogenannte Magnettheorie, derzufolge der erwartete ökonomische Aufschwung im Westen eine Sogwirkung auf den Osten entfalten würde. Trotz unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Auffassungen, z.B. in der Sozialisierungsfrage, einte die beiden Parteivorsitzenden die Überzeugung, dass die ökonomische Konsolidierung Westdeutschlands das diktatorische Herrschaftssystem in der SBZ langfristig zu Fall bringen würde. Auf der anderen Seite des ‚Eisernen Vorhangs‘ hatte Otto Grotewohl, neben Wilhelm Pieck Vorsitzender der SED, bereits im Juni 1946 seine Magnettheorie entwickelt, nur mit umgekehrten Vorzeichen. In diesem Kapitel werden erstens die Rahmenbedingungen analysiert, die in der Forschung bis heute kontrovers diskutiert werden. Dazu zählen vor allem die Demontagen und Reparationen sowie der Marshall-Plan und die Währungsreform. Welche Ziele verfolgten die vier Alliierten auf diesen Politikfeldern? Daran anknüpfend wird nach dem Umfang der Zahlungsverpflichtungen und nach den Auswirkungen der durchgeführten Demontagen sowie der Reparationszahlungen auf die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik und der DDR zu fragen sein. Die ökonomischen Startbedingungen bzw. Startschwierigkeiten stehen auch im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die langfristige Bedeutung des Marshall-Plans und der Währungsreform 1948. Sind diese wirtschafts- und währungspolitischen Maßnahmen verantwortlich für das Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik bzw. für den ökonomischen Niedergang der DDR? Abschließend wird die Entstehung der Sozialen Marktwirtschaft und der Planwirtschaft diskutiert, wobei es unter anderem um die Frage geht, ob und inwieweit sie Verbindungslinien zur NS-Kriegswirtschaft aufwiesen.

Staatsgründungen 1949

Im Mittelpunkt des letzten Kapitels steht die doppelte Staatsgründung 1949. Obwohl die DDR-Gründung gut fünf Monate nach der Verabschiedung des Grundgesetzes in Bonn erfolgte, waren in der SBZ wichtige Vorentscheidungen bereits in den ersten beiden Nachkriegsjahren gefallen. So hatten die Bodenreform, die Verstaatlichung der Grundstoff- und Schwerindustrie sowie die Bildung der SED die weitere Entwicklung bereits nachhaltig beeinflusst. Die zunehmenden Konflikte zwischen den westlichen Siegermächten und der Sowjetunion, die ihren Ausdruck im Kalten Krieg fanden, hatten 1947/48 zur Teilung Europas geführt. Mit der Gründung der beiden deutschen Staaten war auch die Teilung des Landes vorerst abgeschlossen. In den folgenden Jahren wurden die Bundesrepublik und die DDR politisch, wirtschaftlich und militärisch weiter in die jeweiligen Bündnisorganisationen integriert. Während die westdeutsche Bevölkerung bei der ersten Bundestagswahl mehrheitlich ihre Zustimmung zur allmählich beginnenden Westintegration gab, durfte sich die DDR-Bevölkerung zum politischen Kurs des sich etablierenden SED-Regimes nicht äußern. Zunächst wird die Entstehung und Entwicklung der Parteienlandschaft in Ost und West betrachtet. Welche Rolle spielten dabei die einzelnen Besatzungsmächte? Diese Frage stand z.B. im Zentrum der Kontroverse, ob es sich bei der Gründung der SED im Frühjahr 1946 um einen freiwilligen Zusammenschluss oder vielmehr um eine Zwangsvereinigung handelte. Anschließend wird die Etablierung der Verwaltungsstrukturen auf Landes- und Zentralebene untersucht. Der Aufbau der Länder, bei dem nur zum Teil an alte Traditionen vor 1933 angeknüpft wurde, verlief nach unterschiedlichen Prinzipien: Föderalismus und demokratischer Zentralismus kennzeichneten die beiden getrennten Entwicklungspfade in den Westzonen bzw. in der SBZ. Dennoch sollte nicht übersehen werden, dass auch im Osten Deutschlands föderale Strukturen bestanden, die offiziell erst 1952 mit der Länderauflösung abgeschafft wurden. Auf der anderen Seite waren auch im Westen die Befürworter eines zentralistischen Staatsaufbaus zunächst durchaus einflussreich. Welche Handlungsspielräume besaßen die Landespolitiker in den einzelnen Zonen? Schließlich wird die Ausarbeitung des Grundgesetzes bzw. der DDR-Verfassung thematisiert. Welche Konflikte ergaben sich hier zwischen deutschen Politikern und alliierten Vertretern?

III. Forschungsprobleme

1. Zäsuren und Begriffe

a) Der 8. Mai 1945 und die Zeitgeschichtsforschung in Deutschland

„Die deutsche Katastrophe“

Bereits kurz nach Ende der Kampfhandlungen setzte eine Diskussion über den Zäsurcharakter des 8. Mai 1945 ein, die in unterschiedlichen Konjunkturwellen bis heute anhält und an der sich nicht nur Historiker, sondern auch Philosophen, Politik- und Sozialwissenschaftler sowie Publizisten rege beteiligen. Einen ersten wichtigen Anlauf unternahm Friedrich Meinecke mit seinem 1945 geschriebenen und 1946 veröffentlichten Buch „Die deutsche Katastrophe“. Einleitend wies er zunächst auf die historische Einzigartigkeit der NS-Herrschaft hin: „Die deutsche Geschichte ist reich an schwer lösbaren Rätseln und an unglücklichen Wendungen. Aber dies uns heute gestellte Rätsel und die von uns heute erlebte Katastrophe übersteigt für unser Empfinden alle früheren Schicksale dieser Art“ (82, S. 5). Anschließend versuchte der auch im Ausland hoch angesehene 83-jährige Gelehrte, der den Nationalsozialismus schon vor 1933 abgelehnt hatte, die tieferen Ursachen des deutschen Zivilisationsbruchs zu analysieren. Diese erblickte er vor allem im preußisch-deutschen Militarismus, in der Übersteigerung des Nationalstaatsgedankens, im Antisemitismus und Imperialismus sowie im Versagen des deutschen Bürgertums. Obwohl sich Meinecke darum bemühte, die Ursachen für die Etablierung des NS-Regimes insbesondere in den strukturellen Defiziten des Deutschen Kaiserreiches zu suchen, blieben seine Ausführungen zur Judenvernichtung sehr blass und dokumentieren eher die Hilflosigkeit der Zeitgenossen, der tief greifenden Bedeutung des Holocaust für das Gesamtverständnis des Nationalsozialismus auch nur ansatzweise gerecht zu werden. Am Ende seines in der Öffentlichkeit breit rezipierten Buches (97, S. 46ff.) diskutierte Meinecke „Wege zur Erneuerung Deutschlands“ und sprach sich dafür aus, „in jeder deutschen Stadt und größeren Ortschaft […] eine Gemeinschaft gleichgerichteter Kulturfreunde“ zu gründen (82, S. 174). Diese „Goethegemeinden“ sollten zusammen mit der bereits in Weimar bestehenden Goethegesellschaft die Traditionen der deutschen Klassik wiederbeleben und so einen Beitrag für die Rückkehr Deutschlands in die zivilisierte Welt leisten. Dieser später oft belächelte Vorschlag zeigte vor allem die intellektuelle Not der unmittelbaren Nachkriegszeit und ist auch als „geistige Überlebensstrategie“ Meineckes bezeichnet worden (97, S. 55).

Eine vergleichbare Breitenwirkung entfaltete die etwa zeitgleich veröffentlichte Schrift Gerhard Ritters, die sich zum Teil erheblich von der Analyse Meineckes unterschied. Der in Freiburg lehrende Historiker symbolisierte das Dilemma des Konservativismus in Deutschland, der in nationalen Fragen mit der nationalsozialistischen Bewegung teilweise übereinstimmte, etwa im Hinblick auf die Revision des Versailler Friedensvertrages. Gleichzeitig gehörte er aber zur Widerstandsbewegung gegen Hitler und war im Frühherbst 1944 inhaftiert worden. In seinem Buch wandte er sich gegen eine pauschale Verdammung der neueren deutschen Geschichte: „Es wäre nicht nur unklug, sondern auch unwahrhaftig und ungerecht, wollten wir die ganze politische Vergangenheit unseres Volkes als eine einzige Kette von Fehlern und Unglücksfällen schildern. […] Das deutsche Schicksal seit 1740 ist weder ein eindeutiger Aufstieg zur Macht, noch ein unvermeidliches Hinabgleiten in den Abgrund gewesen“ (92, S. 51). Dabei brachte er einen grundsätzlichen methodologischen Einwand vor: „Geschichte geht überhaupt niemals ‚zwangsläufig‘ vor sich, denn sie ist der Bereich freier menschlicher Willensentscheidungen. Sie ist keine Einbahnstraße, sondern ein Wirrsal nebeneinander laufender, sich teilweise kreuzender, überschneidender, manchmal breiter, manchmal sehr schmaler Wege in die Zukunft, unter denen es auch vielerlei Umwege, ja Rückwege und Sackgassen gibt“ (92, S. 51). Sowohl Meinecke als auch Ritter unterstrichen zwar den Zäsurcharakter des Jahres 1945 für die deutsche Geschichte, gelangten allerdings in ihrer Ursachenanalyse für den Aufstieg und den Untergang des ‚Dritten Reiches‘ zu entgegengesetzten Ergebnissen. Während Meinecke langfristige Traditionslinien betonte, lehnte es Ritter ab, die Geschichte des Deutschen Reiches von ihrem Ende her zu untersuchen.

„Irrweg einer Nation“

Sehr viel weiter in der Interpretation ging der in Ost-Berlin lebende SED-Kulturfunktionär Alexander Abusch, der in der deutschen Geschichte den „Irrweg einer Nation“ zu erkennen glaubte, der geradlinig auf die Machtübernahme Adolf Hitlers am 30. Januar 1933 hingeführt habe (36). Sein Buch war in der mexikanischen Emigration entstanden und beeinflusste nachhaltig die DDR-Geschichtsschreibung (39, S. 43f.). Insgesamt gesehen überforderten die Kriegszerstörungen sowie die NS-Massenverbrechen das sprachliche Ausdrucksvermögen nicht nur der Historiker. Auch die politische Schrift des Philosophen Karl Jaspers „Die Schuldfrage“, die ebenfalls 1946 erschienen und zugleich seine erste Vorlesung an der mit seiner Unterstützung neu begründeten Universität Heidelberg war, dokumentierte die innere Erschütterung und die Überzeugung, einen totalen Bruch mit der Vergangenheit zu erleben: „Wir müssen uns in Deutschland miteinander geistig zurechtfinden. Wir haben noch nicht den gemeinsamen Boden. Wir suchen zusammenzukommen“ (73, S. 7). Noch deutlichere Worte fand Japers im Geleitwort der von ihm mit herausgegebenen Zeitschrift „Die Wandlung“, die für die intellektuelle Debatte der ersten Nachkriegsjahre höchst einflussreich war: „Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die giltigen [sic], uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewußtsein als Volk“ (72, S. 3).

Die Debatte über den Ort des 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte fand in den 1950er und 1960er Jahren vor dem Hintergrund der Etablierung der Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik statt. Anders als etwa in Frankreich, wo die histoire contemporaine allerdings schon mit der französischen Revolution von 1789 beginnt, ging die deutsche Historikerzunft gegenwartsbezogenen Themen, von Ausnahmen abgesehen, eher aus dem Weg. Das hing vor allem mit deren Selbstverständnis zusammen, sich nur mit abgeschlossener Geschichte zu befassen, die „nicht mehr qualmt“. Der Haupteinwand lautete, dass die Folgen der unmittelbaren Vergangenheit noch nicht abzusehen seien. Der Anstoß zur Änderung dieser Grundhaltung erfolgte in Deutschland von außen. So waren es vor allem die Gelehrten, die 1933 Deutschland verlassen mussten und insbesondere in den USA eine zweite geistige Heimat fanden, die nach ihrer Rückkehr neue Ideen aus der Politikwissenschaft in das Nachkriegsdeutschland brachten.

Begründung der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik

Wichtige Zeichen der Neuerung waren nicht nur die Gründung außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, sondern auch die Herausgabe einer eigenen Fachzeitschrift, den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“. In einem programmatischen Eröffnungsaufsatz umriss Hans Rothfels, der in der NS-Zeit als jüdischer Gelehrter zur Emigration gezwungen und 1951 zurückgekehrt war, die Aufgaben der neuen historischen Teildisziplin (93). Der Text macht auch heute noch deutlich, dass auf dem wissenschaftlichen Vorhaben ein nicht unbeträchtlicher Rechtfertigungsdruck lastete. Für Rothfels markierte das Jahr 1917 eine Epochenwende und den Beginn der Zeitgeschichte. Mit dem Kriegseintritt der USA und der russischen Oktoberrevolution sei die europäische Staatenwelt des 19. Jahrhunderts endgültig zusammengebrochen. Gleichzeitig hätten diese Ereignisse eine neue universalgeschichtliche Epoche eingeleitet, denn die nachfolgenden Jahrzehnte seien vom Gegen- und Zusammenspiel von Demokratie, Faschismus und Kommunismus geprägt gewesen. Rothfels schrieb seinen Aufsatz unter dem Eindruck des Kalten Krieges und der Bipolarität der Welt nach 1945. Seiner Meinung nach war bereits 1918 die „Antithese Washington – Moskau eine sehr reale gewesen“ (93, S. 7). Dadurch relativierte Rothfels indirekt die Zäsur vom 8. Mai 1945, auch wenn er gleichzeitig die deutschen Wissenschaftler ausdrücklich dazu aufforderte, „die nationalsozialistische Phase mit aller Energie anzugehen“ (93, S. 8). In der Folgezeit konzentrierte sich die Zeitgeschichtsforschung zunächst auf den Untergang der Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Einen Meilenstein stellte die umfangreiche Studie Karl Dietrich Brachers dar (43), der rasch zu einem der wichtigsten Vertreter der neuen Teildisziplin avancierte.

Restaurationsdebatte