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Stephen King • Stewart O'Nan

Ein Gesicht in der Menge

Aus dem Englischen von Thomas Gunkel

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Stephen King / Stewart O'Nan

Stephen King und Stewart O’Nan haben gemeinsam bereits ein Buch über Baseball geschrieben. Das neue Gemeinschaftswerk ist eine phantastische Geschichte über einen Mann am Ende des Lebens und seine Geister.

 

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller der Gegenwart. Schon als Student veröffentlichte er Kurzgeschichten, sein erster Romanerfolg, «Carrie», erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen. Seitdem hat er weltweit 400 Millionen Bücher in mehr als 40 Sprachen verkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk. Er lebt mit seiner Frau in Maine.

 

Stewart O’Nan wurde 1961 in Pittsburgh geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte in Cornell Literaturwissenschaft. Heute lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern in Avon, Connecticut. Für sein Debüt «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis.

 

Weitere Veröffentlichungen von Stewart O’Nan:

Engel im Schnee

Die Speed Queen

Sommer der Züge

Das Glück der anderen

Eine gute Ehefrau

Ganz alltägliche Leute

Halloween

Der Zirkusbrand

Letzte Nacht

Alle, alle lieben dich

Abschied von Chautauqua

Emily, allein

Über dieses Buch

Gesichter

 

Nach dem Tod seiner Frau ist Dean Evers nach Florida gezogen. Gut geht es ihm nicht, er nimmt Tabletten und trinkt zu viel. Eines Abends, als er mal wieder einsam Baseball schaut, sieht er im Publikum seinen alten Zahnarzt. Der Mann ist seit Jahren tot. Eine Halluzination? Dean gießt sich vorsichtshalber nach.

 

Weitere Bekannte tauchen auf dem Bildschirm auf: alles Menschen, denen Dean irgendwann im Leben übel mitgespielt hat. Auch seine tote Frau ist dabei, die ihm gleich noch per Handy erklärt, was für eine Hölle ihre Ehe war. Und dann sieht Dean das Gesicht, das er am wenigsten sehen möchte und das ihn zu einem verzweifelten Schritt treibt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2012 als E-Book unter dem Titel «A Face in the Crowd» bei Simon & Schuster Digital, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«A Face in the Crowd» Copyright © 2012 by Stephen King and Stewart O’Nan

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Susann Rehlein

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Abbildung: plainpicture/STOCK4B)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-22794-3 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-49221-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49221-9

Ein Gesicht in der Menge

Im Sommer nach dem Tod seiner Frau begann Dean Evers, sich öfter Baseball anzusehen. Wie viele der Winterflüchtlinge aus New England, die der Nordostwind an die Golfküste Floridas geweht hatte, war er Red-Sox-Fan und hatte doch großherzig die Devil Rays, die ewigen Prügelknaben, zu seinem zweiten Team erkoren. Obwohl ehemals Trainer in der Little League, war er nie ein großer Fan gewesen – nicht so besessen wie sein Sohn Pat –, doch wenn der Sonnenuntergang den westlichen Himmel in ein kitschiges Rot tauchte, schaltete er jetzt Abend für Abend das Spiel der Rays ein, um seine leere Eigentumswohnung mit Leben zu erfüllen.

Er wusste, dass es nur ein Zeitvertreib war. Sechsundvierzig Jahre war er mit Ellie verheiratet gewesen, in guten wie in schlechten Zeiten, und jetzt hatte er niemanden mehr, der sich noch daran erinnerte. Es war ihre Idee gewesen, nach St. Pete zu ziehen, doch kaum fünf Jahre nach dem Umzug hatte sie ihren Schlaganfall. Das Schreckliche war, dass sie in guter Verfassung gewesen war. Sie hatten im Club ein erfrischendes Tennismatch gespielt. Ellie hatte ihn wieder geschlagen, und er musste die Drinks bezahlen. Sie saßen unter einem Sonnenschirm und nippten an ihren gekühlten Gin Tonics, als Ellie plötzlich zusammenzuckte und die Hand aufs Auge presste.

«Hirnfrost?», fragte er.

Sie regte sich nicht, saß stocksteif da, das andere Auge starr in die Ferne gerichtet.

«El», sagte er und streckte die Hand nach ihrer nackten Schulter aus. Obwohl es der Arzt für unmöglich hielt, erinnerte Evers sich später daran, dass ihre Haut ganz kalt gewesen war.

Sie fiel mit dem Gesicht auf den Tisch und stieß dabei die Gläser um, woraufhin die Kellner, der Geschäftsführer und der Bademeister angestürmt kamen, ihren Kopf auf ein zusammengefaltetes Handtuch betteten, sich neben sie knieten und bis zum Eintreffen der Rettungssanitäter ihren Puls kontrollierten. In der rechten Körperhälfte ging alles verloren, doch sie war am Leben, das war alles, was zählte, nur dass sie, kaum einen Monat nachdem ihre Physiotherapie beendet war und sie aus der Reha kam, einen zweiten, diesmal tödlichen Schlaganfall hatte, während er sie gerade duschte, eine Szene, die so oft vor seinem geistigen Auge ablief, dass er beschloss, in eine neue Wohnung zu ziehen, und so war er hier gelandet, in einem Hochhaus mit Blick auf die Bucht, wo er niemanden kannte und ihm jegliche Ablenkung willkommen war.

Er aß, während er sich das Spiel ansah. Inzwischen machte er sich das Abendessen selbst, weil er es satthatte, allein in Restaurants zu sitzen oder sich für viel Geld etwas bringen zu lassen. Er lernte noch immer die elementaren Grundlagen. Er konnte Pasta machen und Steaks grillen, eine rote Paprika klein schneiden, um einen Fertigsalat zu garnieren. Doch er hatte kein Geschick, ganz oft entmutigte ihn das Ergebnis, und er fand keinen Gefallen am Kochen. An diesem Abend gab es ein gewürztes Schweinekotelett, das er im Publix besorgt hatte. Bloß in eine heiße Pfanne legen und braten, nur dass er nie wusste, wann das Fleisch durch war. Er brachte das Kotelett zum Brutzeln, mischte einen Salat zusammen und deckte den Couchtisch, um fernsehen zu können. Das Fett am Boden der Pfanne begann anzubrennen. Er drückte den Finger aufs Fleisch, um zu überprüfen, ob es schon weich war, war sich aber nicht sicher. Er nahm ein Messer und schnitt hinein, doch in der Mitte war es noch blutig. Es würde eine Mordsarbeit sein, die Pfanne sauber zu machen.

Und als er sich schließlich hinsetzte und anfing zu essen, war das Kotelett zäh. «Grauenhaft», nörgelte er. «Aus dir wird kein Gourmetkoch mehr.»

Die Rays spielten gegen die Mariners, was hieß, dass die Tribünen leer waren. Wenn die Sox oder die Yankees kamen, war das Tropicana Field ausverkauft, doch sonst war nie besonders viel los. In den schlechten alten Zeiten war das verständlich gewesen, doch inzwischen war der Club ein ernsthafter Gegner. Während David Prize die gegnerischen Hitter locker abfertigte, sah Evers zu seinem Entsetzen, dass mehrere Fans in den gepolsterten Stühlen hinter der Home Plate mit ihren Handys telefonierten. Ein Jugendlicher musste natürlich winken wie ein Schiffbrüchiger, was vermutlich der Person am Handy galt, die zu Hause zuschaute.

«Seht nur», sagte Evers. «Ich bin im Fernsehen, also existiere ich.»