Einzige autorisierte Übersetzung
Deutsch von Luise Wolf
Die Forsyte Saga
Roman
In Fesseln:
2. Roman von »Die Forsyte-Saga«
1925
Paul Zsolnay Verlag Ges. m. b. H
Der Originaltitel des Werkes lautet »The Forsyte Saga« / Die Übersetzung der Romane »Der reiche Mann« (The man of property), »In Fesseln« (In chancery) und »Zu vermieten« (To let) stammt von Luise Wolf, die des »Nachsommer« (Indian summer of a Forsyte) und »Erwachen« (Awakening) von Leon Schalit
»Zwei Häuser, beide gleich an Würdigkeit,
– – – – – – – – – –
Reizt alter Haß zu neuem Kampf und Streit.«
Romeo und Julia
Eines Abends im November schlenderte Jolly Forsyte die High Street in Oxford hinunter; Val Dartie schlenderte sie hinauf. Jolly hatte sich nach dem Rudern eben umgekleidet und war auf dem Wege zu seinem Klub, in den er kürzlich gewählt worden war. Val hatte den Reitanzug eben mit einem andern vertauscht und war auf dem Wege zu etwas weniger Harmlosem – einem Buchmacher in Cornmarket.
»Hallo!« sagte Jolly.
»Hallo!« erwiderte Val.
Die Vettern waren einander nur zweimal begegnet, Jolly, der schon im zweiten Jahrgang war, hatte den Neuankömmling zum Frühstück eingeladen, und gestern abend hatten sie sich unter einigermaßen fremdartigen Umständen wiedergesehen.
Über einem Schneider in Cornmarket wohnte einer jener bevorzugten jungen Leute, die als Minderjährige ein großes Erbe besitzen, deren Eltern tot, deren Vormünder weit entfernt und deren Instinkte lasterhaft sind. Mit neunzehn Jahren hatte er eine Laufbahn begonnen, die gewöhnlichen Sterblichen, für die ein einmaliger Bankerott so gut wie ein Fest ist, so anziehend und unbegreiflich erscheint. Er war berühmt als Besitzer des einzigen Roulettetisches, der damals in Oxford zu finden war, und brachte sogar das Geld, das er zu erwarten hatte, verblüffend rasch durch. Er stach selbst Crum vollständig aus, obwohl er ein robuster Typus war, dem die faszinierende Lässigkeit des andern fehlte. Dort zum Roulettespiel eingeführt zu werden, war für Val bedeutungsvoll wie eine Taufe, und nach der Sperrstunde durch ein Fenster des College zurückzukehren, dessen Riegel wenig widerstandsfähig waren, ein Ereignis wie eine Konfirmation. Einmal während jenes herrlichen Abends, als er von dem verführerischen Grün vor ihm aufblickte, sah er durch eine Wolke von Tabaksqualm gegenüber seinen Vetter stehen. » Rouge gagne, impair, et manque!« Er hatte ihn nicht wiedergesehen.
»Komm mit in den Klub zum Tee«, sagte Jolly, und sie gingen hinein.
Ein Fremder, der sie zusammen gesehen hätte, würde eine entfernte Ähnlichkeit zwischen diesen Vettern der dritten Generation der Forsytes bemerkt haben; die gleiche Gesichtsbildung, wenn auch Jollys Augen von dunklerem Grau, sein Haar heller und welliger war.
»Bitte Tee und Buttersemmeln, Kellner«, sagte Jolly.
»Nimmst du eine Zigarette?« fragte Val. »Ich sah dich gestern abend. Wie erging es dir?«
»Ich spielte nicht.«
»Ich gewann fünfzehn Goldfüchse.«
Obwohl Jolyon gern einen launigen Ausspruch über Spielen, den er einmal von seinem Vater gehört, wiederholt hätte – »Wenn du geschoren wirst, ist dir übel zumute, wenn du andere scherst, tut es dir leid« –, begnügte er sich damit, zu sagen:
»Faules Spiel, finde ich; ich war auf der Schule mit dem Burschen. Er ist ein schrecklicher Dummkopf.«
»Oh! ich weiß nicht«, sagte Val, wie man wohl einen verunglimpften Gott verteidigt, »er ist ein ganz lustiger Kerl.«
Sie pafften schweigend Dampfwolken in die Luft.
»Du bist mit meinen Leuten zusammen gewesen, nicht?« sagte Jolly. »Sie kommen morgen her.«
Val ward ein wenig rot.
»Wirklich? Ich kann dir einen selten guten Tip für das Manchester November-Handicap geben.«
»Danke, ich interessiere mich nur für die klassischen Rennen.«
»Dabei kannst du nichts gewinnen.«
»Ich hasse den Ring, da ist solch ein Lärm und Gestank. Ich geh' nur gern in den Sattelraum.«
»Ich verlasse mich nur auf mein Urteil und auf meinen Tip«, erwiderte Val.
Jollys Lächeln erinnerte an das seines Vaters. »Ich habe gar kein Urteil, ich verliere immer, wenn ich wette.«
»Die Erfahrung muß man natürlich teuer erkaufen.«
»Ja, aber die anderen kommen dabei immer zu Schaden.«
»Natürlich, aber wenn nicht die anderen, ist man's selber, der zu Schaden kommt – das ist eben der Kitzel.«
Jolly blickte ihn ein wenig verächtlich an.
»Was tust du in deinen Freistunden? Rudern?«
»Nein, reiten und mich umschauen. Im nächsten Semester will ich Polo spielen, wenn ich meinen Großvater dazu bekomme, mehr zu blechen.«
»Das ist der alte Onkel James, nicht wahr? Wie ist er?«
»Älter als Methusalem«, sagte Val, »und immer in Angst, sich zu ruinieren.«
»Ich vermute, daß mein Großvater und er Brüder waren.«
»Ich glaube nicht, daß einer von der alten Sippe Sportsmann war«, sagte Val, »sie müssen das Geld angebetet haben.«
»Meiner nicht«, sagte Jolly warm.
Val strich die Asche von seiner Zigarette.
»Geld ist nur gut zum Ausgeben«, sagte er, »ich wünschte wahrhaftig, ich hätte mehr.«
Jolly sah ihn von unten her mit dem kritischen Blick an, den er von dem alten Jolyon geerbt hatte: »Man spricht nicht von Geld!« Und wieder herrschte Schweigen, während sie Tee tranken und ihre Buttersemmeln aßen.
»Wo werden deine Leute wohnen?« fragte Val mit gespielter Gleichgültigkeit.
»Im ›Regenbogen‹. Wie denkst du über den Krieg?«
»Faul soweit. Die Buren haben keine Ahnung von Sport. Weshalb rücken sie nicht offen vor?«
»Warum sollten sie? Alles spricht gegen sie, ausgenommen ihre Art zu kämpfen. Ich bewundere sie eher.«
»Sie können reiten und schießen«, gab Val zu, »aber es ist eine lausige Bande. Kennst du Crum?«
»Aus Merton? Nur vom Sehen. Er ist wohl auch in dem flotten Kreis, nicht wahr? Etwas affektiert und verbummelt und liederlich.«
»Er ist mein Freund!« sagte Val fest.
»Oh! Tut mir leid!« Und nachdem sie ihre Lieblingsrenommierpunkte erörtert hatten, saßen sie da und starrten verlegen aneinander vorbei. Denn Jolly stand unbewußt eine Verbindung vor Augen, deren Leitsatz war: »Glaubt nicht, daß ihr uns langweilen dürft. Das Leben ist viel zu kurz, und wir wollen schneller reden und kraftvoller, wollen mehr tun und mehr wissen und uns weniger bei einer Sache aufhalten, als ihr euch überhaupt vorstellen könnt. Wir sind die ›Besten‹ – zäh und elastisch.« – Und Val hatte unbewußt eine Verbindung vor Augen, deren Leitsatz war: »Glaubt nicht, daß ihr uns interessieren oder aufregen könnt. Wir kennen jede Sensation, und wenn nicht, so tun wir doch, als hätten wir sie erlebt. Wir sind so blasiert, daß Tag und Nacht uns gleich vorkommen. Wir wollen unser Letztes mit Gleichmut verspielen. Wir sind rasch geflogen und über alles hinaus. Alles ist Schall und Rauch! Bismillah!« Wetteifer, der bei den Engländern so tief eingewurzelt ist, zwang diese beiden jungen Forsytes, Ideale zu haben, und am Schluß eines Jahrhunderts sind die Ideale sehr gemischt. Die Aristokratie hatte im Grunde die neuen Ideen angenommen, wenn auch hier und dort Leute wie Crum – der von Adel war – zaghaft für das Nirwana des Spielers eintraten, der das summum bonum der alten »Dandys« und der »Stutzer« der achtziger Jahre gewesen war. Und um Crum sammelte sich noch ein Häuflein Blaublütiger mit plutokratischem Anhang.
Aber zwischen den Vettern herrschte noch eine andere, weniger sichtbare Antipathie, die von der entfernten Familienähnlichkeit herrührte, die vielleicht beide verdroß, oder auch von der halb unbewußten Vorstellung von der alten Fehde, die noch zwischen den beiden Zweigen der Familie bestand und sich nach besonderen Äußerungen und halben Andeutungen ihrer Eltern in ihnen gebildet hatte. Und Jolly, der mit seinem Teelöffel klapperte, dachte bei sich: »Seine Krawattennadel und seine Weste und seine Art zu sprechen und seine Wetten – du lieber Himmel!«
Und Val, der den Rest seiner Semmel verzehrte, dachte: »Er ist eigentlich ein Biest!«
»Du wirst deine Leute wohl abholen?« sagte er und stand auf. »Willst du ihnen sagen, daß ich ihnen gern das College zeigen würde – falls sie Lust dazu haben –, wenn da auch nicht viel los ist.«
»Danke, ich werde sie fragen.«
»Werden sie lunchen wollen? Ich habe einen sehr anstelligen Aufwärter.«
Jolly glaubte nicht, daß sie Zeit dazu haben würden.
»Aber du fragst sie doch?«
»Sehr freundlich von dir«, sagte Jolly, in der festen Absicht, sie nicht gehen zu lassen; aber mit instinktiver Höflichkeit fügte er hinzu: »Du solltest morgen lieber zu uns zu Tisch kommen.«
»Sehr gern. Um welche Zeit?«
»Sieben Uhr dreißig.«
»Frack?«
»Nein.« Und sie schieden in unterdrückter Feindseligkeit gegeneinander.
Holly und ihr Vater trafen mit dem Mittagszug ein. Es war ihr erster Besuch in der Stadt der Türme und der Träume, und sie war sehr still und blickte fast mit Scheu auf den Bruder, der ein Teil dieses wundervollen Ortes war. Nach dem Lunch ging sie umher und nahm seinen Haushalt mit lebhafter Neugierde in Augenschein. Jollys Wohnzimmer war getäfelt und die Kunst durch eine Anzahl Bartolozzidrucke, die dem alten Jolyon gehört hatten, und durch Photographien von Kollegen repräsentiert – jungen Leuten, die ein wenig heldenhaft wirkten und sie an Val erinnerten. Jolyon unterzog dies Zeugnis des Charakters und Geschmacks seines Sohnes ebenfalls sorgfältig einer Prüfung.
Jolly lag viel daran, daß sie ihn rudern sehen sollten, daher begaben sie sich an den Fluß. Holly, die zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater ging, fühlte sich gehoben, wenn Köpfe sich nach ihr umwandten und Augen auf ihr ruhten. Um ihn im besten Licht sehen zu können, verließen sie ihn an der Fähre und ließen sich ans andere Ufer übersetzen. Mit seiner schlanken Gestalt – denn von allen Forsytes waren nur der alte Swithin und George stark beleibt – ruderte Jolly als »Zwei« in einer Achtermannschaft. Er sah sehr ernst und eifrig aus. Mit Stolz sagte sich Jolyon, daß er von allen jungen Leuten am besten aussah. Holly gefielen, wie es einer Schwester zukam, einer oder zwei der andern besser, doch nicht um die Welt hätte sie das gesagt. Die Themse war klar an diesem Nachmittag, die Wiesen üppig, die Bäume noch schön gefärbt. Vollkommener Friede lag über der alten Stadt; Jolyon hoffte auf einen schönen Tag zum Skizzieren, wenn das Wetter sich hielt. Die Acht kamen zum zweiten Male vorüber und kehrten längs der Boote zurück. Jollys Gesicht war sehr verschlossen, wie um zu verbergen, daß er außer Atem war. Sie kamen über den Fluß zurück und warteten auf ihn.
Auf dem Rückweg sagte Jolly: »Ich mußte Val Dartie auffordern, heute abend mit uns zu essen. Er wollte euch zum Lunch bei sich haben und euch sein College zeigen, da hielt ich es so für besser, da ihr dann nicht zu gehen braucht. Ich mag ihn nicht sehr.«
Hollys ziemlich blasses Gesicht erglühte.
»Weshalb nicht?«
»Ach! Ich weiß nicht. Er scheint ziemlich prahlerisch zu sein und hat schlechte Manieren. Wie ist seine Familie, Vater? Er ist nur ein entfernter Vetter, nicht wahr?«
Jolyon suchte Zuflucht in einem Lächeln.
»Frage Holly«, sagte er, »sie kennt seinen Onkel.«
»Mir gefiel Val«, erwiderte Holly und starrte vor sich hin; »sein Onkel sah – ganz anders aus.« Unter den Wimpern hervor warf sie einen verstohlenen Blick auf Jolly.
»Habt ihr jemals unsere Familiengeschichte gehört, meine Lieben?« sagte Jolyon launig. »Es ist ein ganzes Märchen. Der erste Jolyon Forsyte – wenigstens der erste, von dem wir etwas wissen, und das ist euer Ururgroßvater – wohnte in Dorsetshire auf dem Lande an der See und war von Beruf ›Landwirt‹, wie eure Großtante es nennt, und auch der Sohn eines Landwirts – Pächters eigentlich, von dem euer Großvater zu sagen pflegte, daß er in ›sehr kleinen Verhältnissen‹ lebte.«
Er schaute Jolly an, um zu sehen, wie er es in seinem Stolz aufnahm, und bemerkte mit dem andern Auge Hollys boshaftes Vergnügen über die leise Enttäuschung im Gesicht ihres Bruders.
»Wir müssen ihn uns dick und derb denken. Typisch für England, wie es war, bevor die industrielle Ära begann. Der zweite Jolyon Forsyte – dein Urgroßvater, Jolly, baute Häuser, wie die Chronik erzählt, zeugte zehn Kinder und wanderte nach London aus. Es ist bekannt, daß er gern Madeira trank. Wir müssen ihn uns als Repräsentanten des England der Napoleonischen Kriege und allgemeiner Unruhen denken. Der älteste seiner sechs Söhne war der dritte Jolyon, euer Großvater, meine Lieben – er war Teehändler und Vorsitzender verschiedener Gesellschaften, einer der tüchtigsten Engländer, der je gelebt – und mir der liebste.« Jolyons Stimme hatte das Spöttische verloren, und sein Sohn und seine Tochter sahen ihn feierlich an. »Er war gerecht und hartnäckig, zärtlich und jung im Herzen. Ihr erinnert euch seiner, und ich erinnere mich seiner ebenfalls. Nun zu den andern! Euer Großonkel James, der Großvater des jungen Val, hat einen Sohn namens Soames – mit dem die Geschichte einer verlorenen Liebe zusammenhängt, die keine Liebe war, aber ich glaube nicht, daß ich sie euch erzählen werde. James und die andern acht Kinder des ältesten Jolyon, von denen noch fünf am Leben sind, können gut als Repräsentanten des viktorianischen Englands mit seinen Handelsprinzipien und seinem Individualismus zu fünf Prozent und das Geld zurück angesehen werden, wenn ihr wißt, was das bedeutet. Jedenfalls haben sie dreißigtausend Pfund unter sich in eine runde Million verwandelt im Laufe ihres langen Lebens. Sie unternahmen niemals wilde Sachen – außer euerm Großonkel Swithin, der einst von einem Taschenspieler betrogen wurde und ›Vierspänner-Forsyte‹ genannt wurde, weil er mit zwei Pferden fuhr. Ihre Zeit geht zu Ende und auch ihr Typ, nicht gerade zum Vorteil des Landes. Ich bin der vierte Jolyon Forsyte – ein armseliger Vertreter des Namens –«
»Nein, Vater«, sagte Jolly, und Holly drückte ihm die Hand. »Doch«, wiederholte Jolyon, »ein armseliges Exemplar, das, fürchte ich, nichts repräsentiert als das Ende des Jahrhunderts, nicht erworbenes Einkommen, Liebhabereien und individuelle Freiheit – etwas ganz anderes als Individualismus, Jolly. Du bist der fünfte Jolyon Forsyte, mein Junge, und du eröffnest den Ball des neuen Jahrhunderts.«
Sie bogen in das Tor des College ein, und Holly sagte: »Es ist bezaubernd, Papa.«
Keiner von ihnen wußte, was sie eigentlich meinte. Jolly war ernst.
Der »Regenbogen«, der sich, wie nur ein Gasthaus in Oxford es konnte, durch Mangel an modernen Einrichtungen auszeichnete, war mit einem kleinen eichengetäfelten Privatwohnzimmer ausgestattet, in dem Holly weiß gekleidet, scheu und allein saß, als der einzige Gast eintrat.
Wie man eine Motte berühren würde, ergriff Val ihre Hand. Ob sie sich nicht diese »armselige« Blume anstecken möchte? Es würde »fabelhaft« aussehen in ihrem Haar. Er nahm eine Gardenie aus seinem Knopfloch.
»Oh! Nein! danke – das geht doch nicht!« Aber sie nahm sie und befestigte sie am Halse, während sie sich plötzlich des Wortes »prahlerisch« erinnerte. Vals Knopfloch hätte Anstoß erregt, und sie wollte so gern, daß er Jolly gefiel. Wußte sie, daß Val sich in ihrer Gegenwart von seiner besten und ruhigsten Seite zeigte, und war das vielleicht das halbe Geheimnis seines Reizes für sie?
»Ich habe nie etwas über unsern Ritt verlauten lassen, Val.«
»Tu's auch lieber nicht. Das bleibt unter uns.«
Die Unruhe in seinem ganzen Wesen gab ihr ein Gefühl der Macht, das köstlich war, aber auch ein sanftes Gefühl – den Wunsch, ihn glücklich zu machen.
»Erzähle mir doch von Oxford. Es muß ja himmlisch sein.«
Val gab zu, daß es riesig angenehm sei, tun zu können, was man wollte; die Vorlesungen böten keine Schwierigkeiten und es wären ein paar nette Kerle da. »Nur«, fügte er hinzu, »wünschte ich natürlich, ich wäre in der Stadt und könnte zu dir hinauskommen und dich sehen.«
Holly legte scheu eine Hand aufs Knie und senkte den Blick.
»Du hast doch nicht vergessen«, sagte er, plötzlich Mut fassend, »daß wir zusammen toll umherstreifen wollten?«
»Ach! Das war nur ein Einfall. Man kann doch so etwas nicht tun, wenn man erwachsen ist, weißt du.«
»Ach was! Als Vetter und Kusine können wir es«, sagte Val. »In den nächsten großen Ferien – sie beginnen im Juni und dauern ewig – wollen wir die Gelegenheit benutzen.«
Holly aber schüttelte den Kopf, obwohl der Gedanke an die Verschwörung ihr wie ein Schauer durch die Adern rann. »Es wird nicht gehen«, murmelte sie.
»Nicht gehen!« sagte Val heftig, »wer kann uns daran hindern? Doch nicht dein Vater oder dein Bruder?«
In diesem Augenblick kamen Jolyon und Jolly herein, und alle Romantik floh und prickelte und brannte den ganzen Abend, keinem sichtbar, bis in die Zehenspitzen, in Vals Lack- und Hollys weißen Seidenschuhen.
In seinem feinen Gefühl für Atmosphäre merkte Jolyon bald die latente Feindseligkeit zwischen den beiden jungen Leuten und war erstaunt über Holly; unwillkürlich wurde er ironisch, was höchst peinlich für die Jugend ist. Ein Brief, der ihm nach dem Essen gebracht wurde, machte ihn schweigsam, und er blieb so, bis Val und Jolly sich erhoben, um zu gehen. Er zündete sich eine Zigarre an und begleitete sie hinaus, dann ging er mit seinem Sohn bis zu den Toren des Christ Church College. Als er zurückkehrte, nahm er den Brief wieder vor und las ihn nochmals unter einer Laterne.
»Lieber Jolyon!
Soames kam heute abend – an meinem siebenunddreißigsten Geburtstag – wieder her. Sie hatten recht, ich darf hier nicht bleiben. Ich gehe morgen ins Piedmont-Hotel, aber ich möchte nicht ins Ausland reisen, ohne Sie gesehen zu haben. Ich fühle mich einsam und mutlos.
Freundlichst
Ihre Irene.«
Er faltete den Brief zusammen, und erstaunt über die Heftigkeit seiner Gefühle, steckte er ihn wieder in die Tasche und ging weiter. Was hatte der Mann getan oder gesagt?
Er bog in die High Street ein und kam in ein Labyrinth von Türmen und Domen und langen Mauern und Fassaden der Colleges, die in dunklem Schatten lagen oder vom Mondlicht hell beleuchtet waren. Hier im Herzen von Englands Adel war es schwer, sich vorzustellen, daß eine einsame Frau belästigt oder verfolgt werden konnte, doch was sonst konnte der Brief bedeuten? Soames mußte in sie gedrungen sein, zu ihm zurückzukehren, wo die öffentliche Meinung und das Gesetz doch auf seiner Seite waren! »Achtzehnhundertneunundneunzig!« dachte er, »aber wenn es sich um Besitz handelt, sind wir noch Heiden! Ich will morgen früh hin. Ich denke, es wird das beste für sie sein, ins Ausland zu reisen.« Doch der Gedanke gefiel ihm nicht. Weshalb sollte Soames sie aus England verjagen! Außerdem konnte er ihr folgen, und da draußen wäre sie den Aufmerksamkeiten ihres Mannes gegenüber noch hilfloser. »Ich muß vorsichtig vergehen«, dachte er; »dieser Mensch könnte sehr lästig werden. Mir gefiel seine Art neulich in der Droschke nicht.« Ihm kam seine Tochter June in den Sinn. Konnte sie wohl helfen? Einst war Irene ihre beste Freundin gewesen, und jetzt war sie eine »lahme Ente«, der beizustehen in Junes Natur lag! Er beschloß, seiner Tochter zu telegraphieren, sich mit ihm an der Paddington-Station zu treffen. Auf dem Wege zum »Regenbogen« versuchte er sich Rechenschaft über seine eigenen Gefühle zu geben. Würde ihn jede Frau in gleichem Falle in solche Erregung versetzen? Nein! Sicherlich nicht! Das Resultat dieser Schlußfolgerung bedrückte ihn, und als er sah, daß Holly zu Bett gegangen war, suchte er sein eigenes Zimmer auf.
Allein schlafen konnte er nicht, er saß daher lange, in seinen Mantel gehüllt, am Fenster und beobachtete den Mondschein auf den Dächern.
Nebenan lag Holly ebenfalls wach und dachte an Vals lange Wimpern, namentlich die der unteren Lider, und überlegte, was sie tun könnte, um Jolly freundlicher für ihn zu stimmen. Es duftete herb, für sie aber angenehm nach der Gardenie in ihrem kleinen Schlafzimmer.
Und Val lehnte aus seinem Fenster im ersten Stock des College und starrte auf ein Mondscheinviereck, ohne es zu sehen, er sah statt dessen Holly vor sich, schlank und weiß gekleidet, wie sie am Kamin gesessen, als er eintrat.
Jolly aber lag in seinem Schlafzimmer, das schmal war wie ein Handtuch, mit einer Hand unter der Wange und träumte, daß er mit Val in einem Boot saß und um die Wette mit ihm ruderte, während sein Vater vom Uferweg aus rief: »Zwei! Aufpassen! Geschickt sein!«
Von all jenen glänzenden Firmen, die mit ihren Fenstern den Westen von London zieren, hielt Soames Gaves und Cortegal für die »gediegenste« – ein Wort, das eben in Mode gekommen war. Er hatte nie Geschmack an kostbaren Steinen gehabt wie sein Onkel Swithin, und seit Irene im Jahre 1889 sein Haus verlassen und auf all das glitzernde Zeug, das er ihr geschenkt, verzichtet hatte, verabscheute er diese Art von Kapitalanlage. Aber er verstand sich auf Diamanten, und in der Woche vor ihrem Geburtstag hatte er die Gelegenheit benutzt, sich auf dem Wege zu oder von seinem Bureau ein wenig vor den Läden der größeren Juweliere aufzuhalten, wo die Waren zwar nicht dem Wert des Geldes entsprachen, aber immerhin etwas Vornehmes hatten.
Beständiges Nachdenken hatte ihn seit der Droschkenfahrt mit Jolyon immer mehr von der außerordentlichen Wichtigkeit dieses Moments in seinem Leben und der außerordentlichen Notwendigkeit überzeugt, Schritte, und zwar keine falschen, zu unternehmen. Und neben dem trockenen, vernünftigen Gedanken, daß es jetzt oder nie geschehen müsse, wenn er sich einrichten und eine Familie gründen wolle, regte sich der geheime Drang seiner Sinne, die der Anblick der einst so leidenschaftlich begehrten Frau geweckt hatte, und die Überzeugung, daß es eine Sünde gegen den gesunden Menschenverstand und die anständige Gesinnung eines Forsyte sei, auf die Frau zu verzichten, die ihm gehörte.
In bezug auf Winifreds Fall hatte Justizrat Dreamer – Soames hätte Waterbuck vorgezogen – geraten, die Wiederherstellung der ehelichen Gemeinschaft zu beantragen, worüber Soames niemals in Zweifel gewesen war. Wenn ihnen der Rechtsspruch darüber zugegangen war, mußten sie abwarten, ob ihm entsprochen wurde. Wenn nicht, würde es zur Feststellung böswilligen Verlassens kommen, sie hätten Beweise ungehörigen Verhaltens und könnten ihr Gesuch auf Ehescheidung einreichen. Alles das war Soames vollkommen bekannt. Die Einfachheit des Falles seiner Schwester machte ihn nur noch verzweifelter über die Schwierigkeit seines eigenen. In der Tat drängte alles zu der einfachen Lösung von Irenens Rückkehr. War es ihr auch zuwider, hatte er nicht Gefühle zu unterdrücken, Beleidigungen zu verzeihen, Kummer zu vergessen? Er hatte sie wenigstens doch nie beleidigt, und man lebte nun einmal in einer Welt der Kompromisse! Er konnte ihr so viel mehr bieten, als sie jetzt besaß. Er war bereit, freigebig eine feste Summe für sie auszusetzen. In diesen Tagen betrachtete er oft prüfend sein Bild. Er war nie ein Geck gewesen wie Dartie und hatte sich auch nicht für einen Mann gehalten, der den Frauen gefiel, aber er hielt doch etwas von seiner Erscheinung – nicht ohne Grund, denn er war wohlgestaltet, gepflegt, gesund, blaß und nicht entstellt durch Trunk oder Ausschweifungen irgendwelcher Art. Das Forsytesche Kinn und die ausgeprägten Züge seines Gesichts waren Vorzüge in seinen Augen. Soweit er es zu beurteilen vermochte, war kein Zug in ihm, der Abscheu erregen konnte.
Gedanken und Sehnsucht, die uns täglich beschäftigen, werden uns schließlich natürlich, auch wenn ihr Ziel in weiter Ferne liegt. Wenn er nur deutliche Beweise seiner Absicht geben könnte, Vergangenes begraben sein zu lassen, und alles tun, was in seiner Macht stand, ihr zu gefallen, warum sollte sie nicht zu ihm zurückkehren?
Er ging daher am Morgen des 9. November in das Geschäft von Gaves und Cortegal, um eine bestimmte Diamantenbrosche zu kaufen. »Vier fünfundzwanzig, Sir, und spottbillig für das Geld. Es ist eine Brosche für eine Lady.« Er war in einer Stimmung, die jeden Einwand ausschloß, und ging mit dem flachen grünen Saffianlederetui in der Brusttasche in sein Bureau. Mehrmals an diesem Tage öffnete er es, um die sieben sanft schimmernden Steine in ihrem ovalen Samtpolster zu betrachten.
»Wenn es der Lady nicht gefällt, Sir, tausche ich es jederzeit gern um. Aber das ist nicht zu befürchten.« Wenn es doch so wäre! Er erledigte eine Anzahl von Arbeiten, das einzige 'Mittel zur Beruhigung der Nerven, das er kannte. Während er im Bureau war, kam ein Telegramm von dem Agenten in Buenos Aires mit Einzelheiten und der Adresse einer Stewardeß, die bereit war, das Nötige zu beschwören. Es war eine rechtzeitige Mahnung für Soames bei seinem tiefen und festeingewurzelten Abscheu davor, öffentlich schmutzige Wäsche zu waschen. Und als er mit der Untergrundbahn zur Victoriastation fuhr, gab ihm der Bericht über einen modernen Ehescheidungsprozeß in seiner Abendzeitung einen neuen Antrieb, eine Wiederherstellung seiner Ehe zu versuchen. Der Familiensinn aller echten Forsytes, die in Angst und Not sind, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie stark und kräftig erhielt, veranlaßte ihn, zum Essen nach Park Lane zu gehen. Weder konnte noch wollte er den Seinen gegenüber ein Wort über seine Absichten verlauten lassen – dazu war er viel zu stolz und zu zurückhaltend –, aber der Gedanke, daß sie sich freuen und ihn beglückwünschen würden, wenn sie es wüßten, war ermutigend.
James war in düsterer Stimmung, denn die Erregung, in die die Unverschämtheit von Krügers Ultimatum ihn versetzt hatte, war durch den armseligen Erfolg des letzten Monats und die Mahnung zur Anspannung aller Kräfte in den »Times« stark abgekühlt. Er wußte nicht, wie das enden sollte. Soames suchte ihn aufzuheitern. Aber James war beunruhigt. Da war dieser Colley, der auf einem Hügel umzingelt war – und dies Ladysmith lag in einer Talmulde, überhaupt hielt er das Ganze für eine »völlig verfehlte Geschichte«; er fand, sie müßten Matrosen hinschicken – das wären Jungens, sie leisteten Unglaubliches in der Krim. Soames brachte ihn auf ein anderes Thema, um ihn zu trösten. Winifred hatte von Val gehört, daß am Guy-Fawkes-Tag in Oxford »Radau« mit Freudenfeuer gewesen sei und er der Entdeckung dadurch entgangen wäre, daß er sich das Gesicht geschwärzt hatte.
»Ach!« murmelte James, »er ist ein kluger kleiner Kerl.« Kurz darauf aber schüttelte er doch den Kopf und sagte, er wisse nicht, was aus ihm werden würde. Er blickte seinen Sohn nachdenklich an und bedauerte, daß Soames nie einen Sohn gehabt. Er hätte so gern einen Enkel seines eigenen Namens. Und nun – ja, was war da zu tun!
Soames zuckte zusammen. Er hatte eine solche Herausforderung, das Geheimnis seines Herzens zu enthüllen, nicht erwartet. Und Emily, die sein Zusammenzucken sah, sagte:
»Unsinn, James, sprich doch nicht so!«
James aber, der ihre Gesichter nicht sah, murmelte weiter. Da waren Roger und Nicholas und Jolyon, alle hatten sie Enkelsöhne. Und Swithin und Timothy hatten nie geheiratet. Er selbst hätte getan, was er konnte, doch nun wäre es bald vorbei mit ihm. Und als hätte er Worte tiefsten Trostes gesprochen, schwieg er und aß seinen Bregen mit einem Stückchen Brot, das er verschlang.
Soames entschuldigte sich gleich nach Tisch. Es war zwar nicht kalt, doch zog er seinen Pelz an, der ihn vor Anfällen nervöser Schauer schützen sollte, denen er den ganzen Tag über ausgesetzt gewesen war. Unbewußt hatte er das Gefühl, so bester auszusehen als in einem gewöhnlichen schwarzen Überrock. Und mit dem flachen Saffianetui an seinem Herzen machte er sich auf. Er war kein Raucher, aber er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie bedächtig im Gehen. Er ging langsam nach Knightsbridge und ließ sich Zeit, um bis ein Viertel nach neun in Chelsea zu sein. Was tat sie nur Abend für Abend so ganz allein in dem kleinen Loch? Wie geheimnisvoll Frauen doch sind! Man lebte nebeneinander und wußte nichts von ihnen. Was war es nur an diesem Bosinney, das sie so toll machen konnte? Denn schließlich war doch alles, was sie getan hatte, Tollheit – wahnsinnige, mondsüchtige Tollheit, die ihr alles Gefühl für Werte genommen und ihr wie sein Leben zerstört hatte! Und für einen Augenblick überkam ihn eine förmliche Exaltation, als wäre er, wie jener Mann in der Legende, vom Heiligen Geist besessen und könne ihr alle Güter des Lebens wiedererstatten, vergeben und vergessen und der gute Geist ihrer Zukunft werden. Unter einem Baume, der Knightsbridgekaserne gegenüber, wo der Mond klar und weiß herabschien, nahm er noch einmal das Saffianetui heraus und ließ die Steine in den Strahlen Funken sprühen.
Ja, sie waren vom reinsten Wasser! Doch bei dem festen Zuschnappen des Etuis überlief ihn abermals ein kalter Schauer, und er ging rascher, ballte die behandschuhten Hände in seinen Rocktaschen und hoffte fast, sie nicht zu Haus zu treffen. Der Gedanke, wie geheimnisvoll ihr Wesen war, quälte ihn wieder. Abend für Abend allein beim Essen – in einem Abendkleid noch dazu, als wolle sie glauben machen, in Gesellschaft zu sein! Und das Klavierspiel – für sich selbst! Nicht einmal eine Katze oder ein Hund, soviel er gesehen hatte. Und das erinnerte ihn plötzlich an die Stute, die er als Arbeitspferd in Mapledurham hielt. Jedesmal, wenn er in den Stall kam, war sie dort ganz allein, halb im Schlaf, und doch war sie auf ihrem Rückweg nach Haus immer lebhafter, als wenn sie hinaus mußte, als sehne sie sich danach, einsam in ihrem Stall zu sein! »Ich würde sie gut behandeln«, dachte er unvermittelt. »Ich würde sehr vorsichtig sein!« Und alles Verlangen nach einem häuslichen Leben, dessen er durch ein schnödes Schicksal für immer beraubt zu sein schien, regte sich plötzlich in Soames, so daß er in Träume versunken war, als er der South Kensington-Station gegenüberstand. Ein Mann mit einer Ziehharmonika kam taumelnd aus einer Kneipe. Soames beobachtete einen Augenblick sein verrücktes Tanzen auf dem Pflaster zu den abgerissenen, schleppenden Tönen, dann ging er auf die andere Seite der Straße hinüber, um jede Berührung mit diesem trunkenen Narren zu vermeiden. Eine Nacht in Haft! Was für Esel die Leute doch waren! Der Mann aber hatte sein Ausweichen bemerkt, und eine Flut von gemütlichen Flüchen folgte ihm über die Straße. »Ich hoffe, sie stecken ihn ein«, dachte Soames erbittert. »Kann man solche Raufbolde frei herumlaufen lasten, wo Frauen allein ausgehen!« Die Gestalt einer Frau vor ihm hatte diesen Gedanken hervorgerufen. Ihr Gang kam ihm merkwürdig bekannt vor, und als sie um die Ecke bog, begann sein Herz zu klopfen. Er eilte hin, um sich zu vergewissern. Ja! Es war Irene, ihr Gang war nicht zu verkennen in der kleinen engen Straße. Sie ging noch zwei Straßenecken weiter, und von der letzten sah er sie in ihr Haus treten. Um sie sicher zu treffen, lief er die paar Schritte, eilte die Treppe hinauf und erreichte sie an ihrer Tür. Er hörte den Schlüssel im Schloß umdrehen und war an ihrer Seite, als sie sich erschreckt in der offenen Tür umwandte.
»Beunruhige dich nicht«, sagte er, »ich sah dich zufällig. Laß mich eine Minute hinein.«
Sie hatte die Hand auf die Brust gelegt, ihr Gesicht war farblos, die Augen weit geöffnet vor Schreck. Dann schien sie sich zu beherrschen, sie neigte den Kopf und sagte: »Bitte.«
Soames schloß die Tür. Auch er mußte nach Fassung ringen, und als sie ins Wohnzimmer gekommen waren, wartete er eine volle Minute und atmete tief, um das Klopfen seines Herzens zu beruhigen. In diesem Augenblick, von dem so viel für die Zukunft abhing, das Saffianetui herauszunehmen, schien roh. Doch nahm er es nicht heraus, stand er ohne jeden entschuldigenden Vorwand für sein Kommen da. Und in diesem Dilemma packte ihn die Ungeduld über das ganze Arsenal von Entschuldigungen und Rechtfertigungen. Dies war eine Szene – es konnte gar nicht anders sein, und er mußte sie über sich ergehen lassen! Er hörte ihre trostlose Stimme rührend leise:
»Weshalb bist du wiedergekommen? Begreifst du nicht, daß es mir lieber wäre, du hättest es nicht getan?«
Er warf einen Blick auf ihre Kleidung – dunkelbrauner gerippter Velvet, eine Zobelboa und eine ebensolche runde Toque. Es stand ihr wunderbar. Sie hatte offenbar Geld übrig für Kleider. Er sagte unvermittelt:
»Heute ist dein Geburtstag. Ich brachte dir dies«, und er hielt ihr das grüne Saffianetui hin.
»Oh! Nein – nein!«
Soames drückte auf das Schloß, und die sieben Steine leuchteten auf dem hellgrauen Samt.
»Weshalb nicht?« sagte er. »Nur als Zeichen, daß du mir nicht länger zürnst.«
»Unmöglich!«
Soames nahm den Schmuck aus dem Etui.
»Laß mich nur sehen, wie er wirkt.«
Sie schreckte zurück.
Er folgte ihr und legte seine Hand mit der Brosche vorn auf ihr Kleid. Sie schreckte wieder zurück.
Soames ließ die Hand sinken.
»Irene«, sagte er, »laß die Vergangenheit begraben sein. Wenn ich es kann, müßtest du es wahrlich auch. Wir wollen wieder beginnen, als wäre nichts geschehen. Willst du?« Seine Stimme war ernst, und seine Augen, die auf ihrem Antlitz ruhten, hatten etwas Flehendes in ihrem Blick.
Sie stand in größter Bedrängnis dicht an die Wand gelehnt, und ein leises Schlucken war ihre ganze Antwort. Soames fuhr fort:
»Willst du wirklich all deine Tage halbtot in diesem kleinen Loch verleben? Komm zurück zu mir, und ich will dir alles geben, was du willst. Du sollst dein eigenes Leben leben, ich schwöre es dir.«
Er sah ihr Gesicht sich spöttisch verziehen.
»Ja«, wiederholte er, »diesmal meine ich es wirklich so. Ich möchte nur eines. Ich muß – ich muß einen Sohn haben. Sieh mich nicht so an! Ich muß einen haben. Es ist hart!« Seine Stimme war eifrig geworden, so daß er sie kaum als seine eigene erkannte, und zweimal warf er den Kopf zurück, als ringe er nach Atem. Aber beim Anblick ihrer dunkeln Augen, die mit starrer Furcht fest auf ihn gerichtet waren, raffte er sich zusammen, und seine quälende Unsicherheit verwandelte sich in Zorn.
»Ist das so unnatürlich?« sagte er zwischen den Zähnen. »Ist es so unnatürlich, von seiner eigenen Frau ein Kind zu wünschen? Du zerstörtest unser Leben und hast damit alles vernichtet. Wir leben nur halb und ohne jede Zukunft weiter. Schmeichelt es dir gar nicht, daß ich dich – trotz allem – noch zur Frau zu haben wünsche? Sprich, um Gottes willen! bitte sprich!«
Irene schien es zu versuchen, doch es gelang ihr nicht.
»Ich will dich nicht erschrecken«, sagte Soames sanfter. »Der Himmel weiß es. Ich möchte nur, du sähest ein, daß es so nicht weiter geht. Ich muß dich wiederhaben. Ich muß dich haben!« Irene hob eine Hand und bedeckte den unteren Teil ihres Gesichts damit, ihre Augen aber wandten keinen Blick von ihm, als könne sie ihn dadurch im Zaume halten. Und all jene Jahre seit – ach! – seit wann? – beinah seit er sie zuerst kennengelernt, wurden wieder lebendig in Soames, kamen in einer großen Welle der Erinnerung über ihn, und ein Zucken, das er um keinen Preis zu meistern vermochte, verzerrte sein Gesicht.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte er, »noch nicht – wenn du das nur glauben wolltest.«
Irene rang die Hände vor ihrer Brust, und Soames ergriff sie. »Laß das!« sagte sie atemlos. Aber er hielt sie fest und versuchte ihr in die Augen zu starren, die ihn unverwandt anblickten. Dann sagte sie ruhig:
»Ich bin hier allein. Du wirst dich nicht benehmen, wie du dich schon einmal benommen hast.«
Er ließ ihre Hände fallen, als wären sie heißes Eisen, und wandte sich ab. War es möglich, daß es eine so beharrliche Unversöhnlichkeit gab? Konnte der eine Akt der Vergewaltigung noch lebendig in ihr sein? Versperrte ihm das alles? Und eigensinnig sagte er, ohne aufzublicken:
»Ich gehe nicht, bis du mir geantwortet hast. Ich biete dir an, was wenige Männer sich entschließen würden anzubieten, ich will eine – eine vernünftige Antwort.«
Und fast mit Erstaunen hörte er sie sagen:
»Du kannst keine vernünftige Antwort erhalten. Vernunft hat nichts damit zu tun. Du kannst nur die brutale Wahrheit hören, daß ich lieber sterben würde.«
Soames starrte sie an.
»Ach!« sagte er. Eine Art Lähmung in Sprache und Bewegung überkam ihn, ein Beben, wie es einen Mann überfällt, der tödlich beleidigt wird und noch nicht weiß, wie er es aufnehmen soll, oder vielmehr wie ihm dadurch geschehen ist.
»Ach!« sagte er wieder. »So schlimm ist es? Wirklich? Du möchtest lieber sterben? Das ist hübsch!«
»Es tut mir leid. Du wolltest eine Antwort. Ich kann mir nicht helfen, ich mußte doch die Wahrheit sagen, nicht wahr?« Bei dieser merkwürdig eindringlichen Erklärung suchte Soames zum Trost Zuflucht im Handeln. Er schleuderte die Brosche in das Etui zurück und steckte es in die Tasche.
»Wahrheit!« sagte er; »das gibt's bei Frauen nicht. Es sind die Nerven – die Nerven!«
Er hörte sie flüstern:
»Ja, die Nerven lügen nicht. Hast du das noch nicht entdeckt?« Er schwieg, besessen von dem Gedanken: »Ich will die Frau hassen! Ich will sie hassen!« Das aber war sein Kummer: Wenn er es nur könnte! Er warf einen Blick auf sie, wie sie da reglos, den Kopf hoch und die Hände gefaltet, an der Wand stand, als sollte sie erschossen werden. Und er sagte rasch: