Inhaltsverzeichnis

I. - Die Nacht auf dem Meer
II. - Wozu Tugenden?
III. - Klugheit
IV. - Gerechtigkeit, Mut und Maß
V. - Edelsteine aus China
Tugendtafeln
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Tugendtafeln

Die wichtigsten sanften Tugenden lauten:

Irre ich mich, wenn ich sage, dass die sanften Tugenden recht selten geworden sind? Vor allem »Nächstenliebe«? Obwohl sie zentrales Gebot des Alten und Neuen Testaments sowie des Koran ist. Juden, Christen und Muslime hindert das nicht daran, sich ihre heiligen Bücher immer wieder um die Ohren zu schlagen. Die »Kinder Abrahams« haben vergessen, dass sie Kinder Abrahams sind.

 

Die wichtigsten Ordnungstugenden heißen:

Die Ordnungstugenden werden – mit einigen Einschränkungen wie Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit – noch immer von vielen Menschen hochgehalten. Gerade in Deutschland.

 

Die wichtigsten Siegertugenden lauten:

Das sind für mich die Tugenden der Sieger. Wir sollten sie genauso hochhalten wie die anderen Tugenden!

Jeder kann ein »Sieger« sein. Egal, welche gesellschaftliche Stellung er hat. Ob jemand ein Sieger ist, hängt von seinem Herzen ab, nicht von seinem Bankkonto. Meine Assistentin Veronika oder meine Putzhilfe Edith sind Sieger. Weil sie sich ihre Fröhlichkeit weder durch harte Arbeit noch durch Schicksalsschläge nehmen lassen.

Weil sie anderen Menschen Freude schenken. Weil sie ihr kleines Glück teilen und dadurch groß werden.

 

Die 33 größten Untugenden heißen:

Das liest sich fast wie eine Beschreibung unseres Zeitgeistes. Wir sollten uns damit nicht abfinden. Auch wenn manche dieser Untugenden sehr verführerisch klingen.

I.

Die Nacht auf dem Meer

Die Sonne war untergegangen. Der kleine Fischerhafen lag in einem diffusen, graublauen Licht. Der Kapitän – er mochte sechzig Jahre alt sein – steuerte seinen knarrenden Fischkutter schweigend aus dem Hafen. Trotz seiner zerzausten weißen Haare und seines Che-Guevara-Barts strahlte er Würde aus. Vielleicht nannten seine Männer ihn deshalb Medico.

Der dieselgetriebene Kutter war etwa zwanzig Meter lang. Mit seinen Kränen, Winden und gestapelten Sperrholzkästen sah er aus wie eine Hinterhof-Fabrik, nicht wie ein romantischer Fischerkahn. Auf den gefalteten Netzen lagen zwei winzige Ruderboote. Sie erinnerten an Walnussschalen. Backbord neben den Fischernetzen stand ein vier Meter großes Motorboot. Ein Rettungsboot?

Ich atmete den strengen Geruch von brackigem Wasser, Fisch und Diesel und genoss den Fahrtwind, der uns entgegenschlug. Das Schiff stampfte mit zehn Seemeilen pro Stunde aufs schwarzblaue Meer hinaus. Keiner der sieben verwegen ausschauenden Seeleute sprach ein Wort. »Erol«, ein fünfzigjähriger, etwas verwitterter, gegerbter Italiener, servierte klebrig-süßen Espresso. Er ähnelte dem verstorbenen Filmschauspieler Erol Flynn in dessen besten Jahren. Nur dass er keine Zähne mehr hatte.

Als der Medico nach einer Stunde den Motor abstellte, hatten alle schon mindestens drei Tassen Espresso getrunken. Mit dem linken Arm gab der Kapitän ein Zeichen. Die Besatzung nahm ihre Plätze ein. Mit einer Motorwinde ließ sie die erste »Nussschale« ins Wasser. Wie eine Katze sprang Erol hinein und ruderte mit kräftigen Schlägen vom Hauptschiff weg.

Nach fünfzig Metern ließ er einen großen Steinbrocken ins Wasser fallen. Durch ein dünnes Nylonseil mit dem Boot vertäut, diente er als Anker. Im Innern des Bootes warf Erol einen dröhnenden Generator an. Drei grellweißes Licht ausstrahlende Scheinwerfer leuchteten auf. Zwei unter Wasser, einer auf dem Boot. Sie tauchten das schwarzblaue Wasser in ein märchenhaftes Türkis.

Hundert Meter weiter wurde das zweite »Walnussboot« zu Wasser gelassen. Lorenzo, ein schlanker Junge mit viel zu großer Hornbrille, sprang hinterher. Wieder wurde ein hämmernder Generator angeworfen. Das grandiose Lichtspektakel wiederholte sich.

Die Scheinwerfer hatten die Aufgabe, Plankton anzuziehen. Das wiederum sollte Fische anlocken. Bevorzugt die köstlichen Acciugas, für die man gutes Geld bekam. Aber manchmal kamen auch nur einfache Heringe.

Nachdem der Kapitän Erol und Lorenzo wieder eingesammelt hatte, entfernte er sich mit dem Hauptschiff rund fünf Kilometer. Dann stellte er den Motor ab. Es war dreiundzwanzig Uhr. Nun hieß es bis drei Uhr morgens warten. Bis dahin hatten sich hoffentlich genügend Acciugas im Umfeld der gleißenden Bootslampen versammelt, um sich am Plankton zu laben. Bis auf den Medico und Erol verkroch sich die Mannschaft in den Kajüten und Winkeln des Kutters, um zu schlafen. Die spärliche Beleuchtung des Schiffes wurde ausgeschaltet. Nur noch schemenhaft konnte man seine Konturen erkennen.

Ich stand an der Reling und verfolgte fasziniert das farbenfrohe Schauspiel: Das türkisblaue Meer, das immer, wenn der auffrischende Wind die winzigen »Walnussboote« und ihre Schweinwerfer bewegte, eine milchige Farbe annahm. Die Wellen, die dort dann aussahen wie kleine Schäfchenwolken. Und über uns einen Sternenhimmel in einer Pracht, wie ich sie nur selten gesehen hatte. Venus und Jupiter funkelten und glitzerten, als wären sie wirklich in Kristallschalen gefasst, wie unsere Vorfahren geglaubt hatten.

Der Medico hatte sich unbemerkt neben mich gestellt. »Warum wolltest du aufs Meer?«, fragte er mit seiner warmen, tiefen Stimme. Ich dachte nach. Was sollte ich ihm erzählen? Ich kannte ihn kaum. Fast unwillkürlich antwortete ich: »Weil ich eine Entscheidung treffen muss und das zu Hause nicht kann. Weil ich dazu dieses Meer und seinen riesigen Sternenhimmel brauche.« Mein Geständnis war mir fast peinlich.

»Was für eine Entscheidung?«, fragte der Medico. »Ich fahre nachts auch raus, weil ich es in der Stadt nicht aushalte. Eigentlich bin ich Arzt. Deswegen nennen sie mich Medico. Aber ich kann das Leben dort nicht mehr mitmachen. Ich brauche das Meer. Nicht nur heute Nacht, immer. Ich kann nicht leben wie eine Ameise in einem Ameisenstaat. Doch das ist mein Problem. Was musst du entscheiden?«

Ich erklärte ihm, dass ich vor über zwanzig Jahren angefangen hatte, für meine Kinder persönliche Erfahrungen, Alltagsweisheiten aufzuschreiben. Eine Art ethisches Navigationssystem. Dass mein Verlag mich gefragt hatte, ob wir diese Erkenntnisse nicht gerade jetzt veröffentlichen sollten. Ich müsse sie allerdings durch persönliche Anekdoten auflockern und erklären. Das hätte ich in den letzten Monaten getan.

Ich sei dazu noch einmal zu einer mehrmonatigen Reise um die Welt aufgebrochen. Zur längsten Reise meines Lebens. In die USA, nach Brasilien, Vietnam, Indonesien, Afghanistan, Pakistan und Indien.

Bis in den nordindischen Panjab, ins Land der bunten Turbanträger, der Sikhs. Um eine Nacht in ihrem märchenhaften Goldenen Tempel zu verbringen. Und gemeinsam mit ihnen, am Boden sitzend, beim »Langar« das »Brot für alle« zu essen, das in den Tempelanlagen jeden Tag an Arm und Reich verteilt wird.

Ich wollte das, was ich geschrieben hatte, nochmals aus der Distanz betrachten. Von der anderen Seite der Welt. Jetzt sei das Buch fertig. Ich allerdings auch.

»Und wo liegt die Schwierigkeit?«, fragte der Medico ein wenig belustigt, aber interessiert.

»Sie liegt darin, dass ich nie ein weiser oder besonders guter Mensch war. Ich habe fast alle Fehler dieser Welt begangen. Wahrscheinlich mehr als andere. Ich bin unbeherrscht, unpünktlich und nicht sehr treu. Selbst mein gelegentlicher Altruismus hat egoistische Züge. Wahrscheinlich versuche ich, etwas gutzumachen. Vielleicht um die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen. Ich habe zwei Ehen vermasselt, in meiner Jugend gegen viele moralische Regeln verstoßen und nicht den geringsten Grund, darauf stolz zu sein. Über all das könnte ich ein dickes Buch schreiben – viel dicker als das, was ich jetzt geschrieben habe.«

Ich sah, dass der Medico ein breites Grinsen aufgesetzt hatte. Wahrscheinlich ließ er in seinem Innern gerade seine eigenen Jugendstreiche Revue passieren.

»Meine Lehrer haben mich fast alle zum Teufel gewünscht«, fuhr ich fort. »Sie würden sich im Grab umdrehen, wenn sie wüssten, dass ausgerechnet ich Maximen zur Lebensweisheit veröffentliche. Noch wenige Wochen vor dem Abitur brüllte ein Lehrer vor der ganzen Klasse, Kerlen wie mir müsste schon das Betreten von Universitäten verboten werden.«

»Und?«, fragte der Medico noch immer feixend. »Ich habe verstanden, dass du kein Philosoph bist und vor allem keiner sein willst. Übrigens waren die meisten Philosophen keine würdigen, weisen Männer. Das haben wir dazuerfunden. Sokrates war ein Straßenclown, der der Wahrheit gerne unter den Rock schaute. Diogenes saß in einer Tonne und hatte gegenüber Alexander dem Großen nur einen Wunsch – dass er ihm aus der Sonne gehe.

Das waren echte Philosophen. Sie wussten, dass sie vieles nicht wussten. Philosophen raten, suchen, sind immer auf dem Weg. Seit Sokrates darf man das ja offen zugeben. Aber du scheinst auch ein Problem mit dem zu haben, was du Anekdoten nennst. Warum?«

Der Medico wirkte sehr konzentriert. Von Philosophie schien er mehr zu verstehen als ich. Was nicht schwer war. Und für einen Arzt auch nicht erstaunlich.

»Weil sie oft von den Großen der Welt berichten«, antwortete ich. »Da gehöre ich nicht dazu. Ich will auch nicht dazugehören. Doch das kann man, wenn man will, missverstehen. Eigentlich spiele ich in den Anekdoten nur die Rolle eines Pausenclowns, der erzählt, wie es hinter den Kulissen zugeht. Es sind oft Erlebnisse aus meinem Leben, weil man sich selbst am besten kennt. Und weil ich dadurch leichter ohne erhobenen Zeigefinger zeigen kann, wie man es nicht machen sollte. Ich habe ja selber vieles falsch gemacht.

Doch die Anekdoten sollen nicht mich, sondern die Aphorismen erklären. Nur die sind wichtig. Die sollte man ernst nehmen. Die Anekdoten nicht alle. Ich habe nichts dagegen, wenn man über manche lächelt. Pausenclowns sind nicht traurig, wenn sie ausgelacht werden.«

»Keine Autobiographie durch die Hintertür?«, schmunzelte der Medico. Ich überlegte. Ich war nicht aufs Meer hinausgefahren, um mir oder anderen etwas vorzumachen. Dieser Arzt, der lieber Fischer war, konnte mir vielleicht weiterhelfen. Er hatte sich in seinem Leben offenbar ähnliche Fragen gestellt.

»Es sind Mosaiksteinchen aus einem ziemlich verrückten Leben«, erwiderte ich. »Doch kein Gesamtbild. Ich habe, um die Aphorismen zu erklären, viel Privates preisgegeben. Oft auch sehr Selbstkritisches.

Aber ich habe auch manches nicht erzählt. Um bei dem Bild der Manege zu bleiben: Pausenclowns erzählen nie alles aus ihrem Leben. Das würde auch niemanden interessieren. Aber sie dürfen alles aussprechen. Selbst Dinge, die die Stars der Manege, die angeblich Großen unserer Welt, nicht gerne hören.«

Da mich der Medico leicht ungläubig anschaute, fuhr ich fort: »Für eine Autobiographie bin ich nicht wichtig genug. Ich habe nichts geleistet, was die Welt unbedingt erfahren müsste. Aber ich hatte das Glück, in vielen spannenden Berufen arbeiten und intensiv im Buch des Lebens lesen zu dürfen. Als Autowachs-Verkäufer, Skilehrer, Reiseleiter, Universitätsassistent, Parteireferent, Richter, Abgeordneter, Manager. Ich konnte erstaunliche Menschen kennenlernen – Halunken und Heilige, Terroristen und Freiheitskämpfer, Könige und Bettler, Pinochet und Gorbatschow.«

Ich hielt inne, um zu sehen, ob der Medico zuhörte. Aber er schien ganz Ohr. Obwohl es weit nach Mitternacht war.

»Außerdem habe ich seit meinem dreißigsten Lebensjahr viel gelesen. Ich habe gesammelt und gesammelt. Eigene und fremde Aphorismen. Ich wollte die Weisheit nicht neu erfinden, sondern für meine Kinder und mich wiederentdecken. Und von allen das Beste übernehmen. Besonders beeindruckt war ich von Epiktet, Marc Aurel und Seneca. Aber auch von Nietzsche. Oder besser gesagt von seinen Diagnosen, nicht von seinen Therapien.«

Der Medico hatte die Augen geschlossen. Doch ich spürte, dass er genau zuhörte. Trotzdem wollte ich ihn nicht mit all meinen Sorgen behelligen. Da ich vieles nur für meine Kinder aufgeschrieben hatte, hatte ich häufig nicht präzise zitiert. Ich hatte Zitate gekürzt oder umgeschrieben. Vielleicht waren zwei Drittel der Aphorismen von mir, vielleicht auch nur die Hälfte. Mir war das egal. Alles war irgendwann schon einmal gedacht worden. Meine Aphorismen waren auch nicht methodisch geordnet, sondern subjektive Gedankensplitter. Chaotisch wie das Leben, systematisch unsystematisch. Ich wollte keine philosophische Doktorarbeit schreiben.

Da ich nicht weitersprach, öffnete der Medico die Augen und lächelte: »Ich weiß, wo deine Sorgen liegen. Du schreibst über Weisheit und bist nicht weise. Du schreibst über große Männer, hast aber Angst, man könnte dir unterstellen, du hieltest dich selbst für den Größten. Du spürst, dass das, worüber du schreibst, größer ist als du. All das kann ich verstehen. Aber was ist dein Antrieb? Du hast doch ein Anliegen, du willst doch etwas bewirken.« Er hatte eindringlich gesprochen, wie ein Freund, den man seit Ewigkeiten kennt.

»Natürlich habe ich ein Anliegen. Ein großes sogar. Ich habe dieses Buch geschrieben wegen der abenteuerlichen Irrwege, auf denen sich unsere Welt bewegt. Wegen des Leids, dem ich in den letzen Jahren begegnet bin, für das wir alle Mitverantwortung tragen. In den Krisengebieten der Erde, aber auch in unserem eigenen Land.

Nicht nur in afghanischen oder irakischen Krankenhäusern möchte man weinen, sondern auch in manchen deutschen Altersheimen. Wo halten wir uns an die Werte unserer Zivilisation? An Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? An Respekt und Nächstenliebe? An die Unverletzlichkeit der Menschenwürde? Alles ungehaltene Versprechen.

Dabei könnte jeder einen Beitrag leisten, das Elend zu lindern. Egal, wie groß oder klein seine Rolle in unserer Gesellschaft ist. Mit etwas mehr Respekt, Menschlichkeit und Herz. Mit Gerechtigkeit für alle. Auch für die Schwachen. Selbst wenn sie eine andere Hautfarbe oder Religion haben. Oder einfach nur alt und alleine sind. Wir alle tragen Verantwortung für unsere Welt. Doch ich weiß nicht, ob ausgerechnet ich das Recht habe, dieses Buch zu schreiben. Und ob es nicht viel zu spät ist.«

»Was sagen deine Kinder? Für die hattest du doch die Aphorismen aufgeschrieben«, fragte der Medico. Ich musste lachen. »Die sagen: ›Du musst das veröffentlichen. Auch wenn es Spott und Ärger gibt. Schau halt, dass es nicht so aussieht, als wolltest du jetzt auch noch den Moses geben!‹«

Der Medico schmunzelte: »Die Rolle würden mir meine Kinder auch übelnehmen.« Er hatte zwei Kinder in ähnlichem Alter wie meine. Zwischen zwanzig und dreißig. Die vielleicht auch nicht immer verstanden, warum er lieber Fischer als Arzt war. Er schwieg lange.

Die Wellen schlugen gegen seinen Kutter, der warme Wind streichelte unsere Gesichter. Erol tauchte aus dem Dunkel auf und brachte zwei neue Espressi. Der Medico hockte sich auf die gestapelten Netze und gab mir ein Zeichen, mich dazuzusetzen.

»Euer Dichter Hermann Hesse«, erzählte er, »berichtet in seinem ›Glasperlenspiel‹ von einem Einsiedler, Joseph Famulus. Der hat sich im frühen Palästina in eine Felsenhöhe bei Gaza zurückgezogen. Die Menschen verehren ihn als Heiligen. Sie besuchen ihn, schütten ihm ihr Herz aus, beichten ihre Sünden. Joseph hört geduldig zu und macht ihnen Mut. Bußen erlegt er nicht auf. Dazu ist er zu milde.

Er weiß, dass auch er ein Sünder ist. Seine Selbstzweifel werden mit den Jahren so groß, dass er aus seiner Grotte flieht. Er hat noch eine Hoffnung: In Ascalon, im Westjordanland, lebt ein viel strengerer Einsiedler, Don Puglio, den die Menschen tief verehren. Ihn will er aufsuchen, ihm will er beichten, von ihm vielleicht doch noch den Sinn des Lebens erfahren.

In einer Herberge trifft er einen alten Mann, der sich nach einigem Zureden bereit erklärt, ihn zu Don Puglio zu führen. Als sie an dessen Höhle ankommen, erkennt Joseph, dass sein Begleiter selbst Don Puglio ist. Überglücklich bittet er, bleiben zu dürfen. Der alte Weise willigt ein.

Gemeinsam verbringen sie viele Jahre. Sie nehmen Sündern ihre Beichten ab und lernen voneinander. Beide erkennen, dass auch Heilige Sünder sind und vieles nicht wissen. Don Puglios Bußen werden immer milder.

Als er spürt, dass sich sein Leben dem Ende zuneigt, bittet er Joseph, ihm ein Grab zu schaufeln. Und nach seinem Tod eine Palme darauf zu pflanzen. Die Früchte des Baumes seien für ihn und für kommende Generationen bestimmt.

Dann erzählte Don Puglio zum ersten Mal seine eigene Geschichte. Vor vielen Jahren habe er so starke Selbstzweifel bekommen, dass er es in seiner Grotte nicht mehr ausgehalten habe. Er habe nur noch eine Hoffnung gehabt – Joseph Famulus, den milden Einsiedler in Gaza. Doch dann habe er ihn in jener Raststätte getroffen und gemerkt, dass Joseph genauso verzweifelt war. Da habe er seine eigenen Sorgen zurückgestellt, um Joseph einen Weg aus der Verzweiflung zu weisen. Jetzt, da er diese Beichte abgelegt habe, könne er in Ruhe sterben.

In derselben Nacht stirbt Don Puglio. Joseph Famulus pflanzt auf seinem Grab die versprochene Palme, von deren Früchten noch viele Generationen leben. Und in denen Don Puglio weiterlebt.

Aus dieser Geschichte«, schloss der Medico betont langsam und auch ein wenig müde, »habe ich gelernt, dass es keine Menschen ohne Fehler gibt. Dass man, selbst wenn man viele Fehler hat, anderen Ratschläge erteilen und Mut machen darf. Es gibt keine Heiligen. Das ist alles Lüge. Ist diese Fabel eine Antwort auf deine Fragen?«

Wir verstummten beide. Erst als der Medico bemerkte, dass sich seine Leute ungeduldig an dem großen »Rettungsboot« zu schaffen machten, sprang er auf. Er sah, dass drei Uhr längst vorbei war. Eilig lief er in den Maschinenraum. Dann steuerte er seinen Kutter vorsichtig zum ersten der beiden »Walnussboote«, die verspielt auf dem türkis leuchtenden Wasser tanzten. Wieder färbte sich das Meer beim Näherkommen milchig weiß. Wieder sahen die Wellen aus wie kleine Wolken.

Erol ließ sich flink in das winzige Boot fallen. Es war von Tausenden silbrig glänzender Acciugas umgeben, die das Plankton genossen. Schnell kappte Erol das Nylonseil. Dann begann er vorsichtig zu dem etwa zwei Kilometer entfernten zweiten »Walnussboot« zu rudern. Es galt, die Fischschwärme ohne Verluste zusammenzuführen. Leise und weich tauchte er die Ruderblätter ins Wasser ein. Nach einer halben Stunde hatte er es geschafft. Die Fischschwärme waren vereint.

Auf ein Zeichen von Erol ließ die Mannschaft das große Boot, das »Rettungsboot«, ins Wasser. Lorenzo kletterte – nicht ganz so katzenhaft wie Erol – hinein. Er befestigte das Ende des Fischernetzes, das ihm die Mannschaft zugeworfen hatte, an einer Metallvorrichtung im Innern des Bootes. Mit dem sich auffaltenden Netz im Schlepptau umfuhr er im großen Kreis die beiden »Walnussboote«. Nach einer Stunde waren die Fischschwärme von einem riesigen Netz umgeben, aus dem es kein Entrinnen gab.

Die Mannschaft begann, das fangschwere Netz langsam aus dem Meer zu ziehen. Nach einer Stunde bildete es nur noch einen Kreis von etwa zehn Metern. Tausende silbrige Fische zappelten in der perlenden, spritzenden weißen Gischt. Mit einem großen Kescher schöpfte der Medico die Acciugas aus dem Netz und goss die glitzernde Pracht durch eine Luke ins Schiffsinnere. Angelo schaufelte sofort Eis darauf, bevor der Medico den nächsten Kescher Acciugas nachschüttete. Nach einer halben Stunde waren über dreitausend Kilo Fisch an Bord.

Dann wurden die Scheinwerfer an den Minibooten ausgeschaltet. Das Meer nahm überall wieder seine schwarz-blaue Farbe an. Nur Millionen winziger Sauerstoffperlen erinnerten an den großen Fang. Es war sechs Uhr.

Auf ein Zeichen des Medico holte die Mannschaft die »Walnussschalen« und das große Boot mit Motorwinden an Bord. Dann verschwand er wortlos in seiner Kajüte und nahm Kurs aufs Festland. Die Männer begannen, die Acciugas in die Sperrholzkästen einzusortieren. Eine halbe Stunde später war auch diese Arbeit getan.

Ich stand steuerbord an der Reling und ließ mir die warme Seeluft ins Gesicht wehen. Hatte ich die Nacht über geträumt oder gewacht? Ich war kein bisschen müde. Ich musste an jenen asiatischen Weisen denken, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling. Als er aufwachte, wusste er nicht mehr, war er ein Philosoph, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder ein Schmetterling, der träumte, ein Philosoph zu sein. War nicht das ganze Leben ein Traum, eine Illusion?

Im Osten begann die Sonne aufzugehen. Sie färbte den Himmel purpurrot und legte eine breite silberne Spur aufs Meer. Ich atmete tief durch, unendlich glücklich. Ich wusste, was ich zu tun hatte.

Gegen sieben Uhr lagen wir im Hafen vor Anker. Der Medico nahm mich wie einen Bruder in die Arme. Er roch nach Tabak, Espresso und Meer. »Ich wünsche dir mit deinem Buch viel Glück«, sagte er. »Wenn du auch nur das Leben von ein paar Menschen veränderst, hat es sich gelohnt. Dazu ist es nie zu spät. Unsere Bauern sagen: Die beste Zeit, einen Baum zu pflanzen, war vor zwanzig Jahren. Die zweitbeste ist heute. Aber denke an deine Kinder! Gib nicht den Moses!«

Wenig später saß ich in einem kleinen Café gegenüber dem Hafen und trank den besten Milchkaffee seit Jahren.