Daniela Dueck
Mit einem Kapitel von Kai Brodersen
Aus dem Englischen
von Kai Brodersen
Englische Originalausgabe:
»Geography in Classical Antiquity«
©Cambridge University Press 2012
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Einbandabbildung: Ausschnitt aus der sogenannten Palästina-Karte.
Bodenmosaik, ca. 560 n. Chr., St.-Georgs-Kirche, Madaba/Jordanien
© akg-images/Erich Lessing
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
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ISBN 978-3-534-26253-3
Die Buchhandelsausgabe erscheint beim Verlag Philipp von Zabern, Darmstadt/Mainz
ISBN 978-3-8053-4610-8
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Einbandabbildung: Ausschnitt aus der Ptolemäischen Weltkarte – Holzschnitt, koloriert.
Aus: Atlas der Alten Welt nach Claudius Ptolemäus, Geographia, Rom, 1478,
Nachdruck (?), Strassburg 1513. Maps C.1.d.9
© akg-images/British Library
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-26254-0 (für Mitglieder der WBG)
eBook (epub): 978-3-534-26255-7 (für Mitglieder der WBG)
eBook (PDF): 978-3-8053-4685-6 (Buchhandel)
eBook (epub): 978-3-8053-4686-3 (Buchhandel)
Kapitel I: Einführung
1. Überblick und Darstellungsziel
2. Formate, Kontexte und Terminologien
3. Geographie und Politik
4. Griechische und römische Geographie
Kapitel II: Beschreibende Geographie
1. Mythos, Epos und Dichtung
2. Die historiographische Tradition
3. Reiseberichte und Wundererzählungen
Kapitel III: Wissenschaftliche Geographie
1. Formen und Größen
2. Die Theorie der Klima-Zonen und die Ethno-Geographie
3. Die Lokalisierung von Koordinaten
Kapitel IV: Kartographie
1. Eine vorindustrielle Welt
2. Beschreibende und wissenschaftliche Kartographie
3. Karten im Dienst des Staates?
Kapitel V: Geographie in der Praxis
1. Die Verbindung zwischen Erfahrung und Text
2. Geographisches Allgemeinwissen
Anhang
Anmerkungen
Zeittafel
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis und Dank
Register
Heute kann man bequem zu Hause bleiben und mit einem einzigen Mausklick einen ausführlichen Blick auf irgendeine Straßenecke in einer Stadt auf der anderen Seite der Welt werfen, ein Flussdelta in einem entfernten Kontinent untersuchen oder die Dimensionen eines Hunderte von Kilometern entfernten Berges in Erfahrung bringen. In der Antike – einem Zeitalter, in dem die Menschen selten ihren Geburtsort verließen – waren die Horizonte hingegen schmal und durch unbekannte und furchterregende Gebiete begrenzt, und die Messinstrumente waren einfach: Wie konnten die Menschen da entdecken, dass die Erde rund ist? Wie schätzten sie ihre Größe? Wie suchten Händler und Siedler nach neuen Territorien in unbekannten Gebieten? Wie konnten sich Feldherren mit Armeen aus Griechenland in den Iran oder nach Indien aufmachen? Die Griechen und Römer taten all dies und mehr und brachten Leistungen hervor, die auf vielerlei Weise noch heute die Grundlage unserer eigenen geographischen Vorstellungen bilden.
Geographie – wörtlich eine in Schrift oder Zeichnung (graphe) gefasste Beschreibung der Erde (ge) – entsteht immer und überall aus dem Bewusstsein des Menschen von seiner eigenen Umgebung, aus Begegnungen mit fremden Ländern und Völkern und – wie jeder menschliche Wissensbereich – aus der puren Wissbegierde und dem Wunsch, beobachtete Phänomene zu verstehen. Diese drei Motive – Bewusstsein, Begegnungen und Wissbegierde – müssen bereits in den frühen Perioden der Formung griechischer kultureller Bildung bestanden und in unterschiedlicher Weise die ganze Antike hindurch angedauert haben. Griechische Untersuchungen von Landschaften und der Umwelt und ein Interesse an fernen Gebieten und an Ideen über die Form der Erde gab es bereits lange, bevor diese Probleme als eine Disziplin anerkannt wurden.
Den Menschen der Antike fehlte nicht nur eine klare Definition der Geographie1 als Disziplin, es gab auch keine Geographen und geographischen Werke im Sinne spezialisierter Autoren und Werke mit klaren spezifischen Eigenschaften und Qualifikationen. Geographische Themen erschienen vielmehr in fast jedem literarischen Genre: Werke, die exklusiv und bewusst geographischen Problemen gewidmet sind, konnten in Prosa oder in Versen geschrieben sein, konnten die Welt als Ganzes oder ein kleines Gebiet auf der Welt behandeln, oder konnten sich entweder mit Konzepten oder mit Berechnungen befassen (siehe Kapitel I 2). Für Autoren von ‹Geographien› waren keine besonderen Sachkenntnisse erforderlich: Dichter, Historiker, Reisende und Philosophen befassten sich alle mit geographischen Gegebenheiten. Auch wurde in der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen der griechischen und römischen oberen Schichten Geographie nicht um ihretwillen studiert: Geometrie und Astronomie bildeten einen Teil der höheren Bildung, doch nur im Zusammenhang mit Homer als eine Mischung von Fakten und Fiktionen oder als Kulisse für historische Ereignisse, hauptsächlich Kriege.2
Trotz dieses Fehlens einer antiken Fachdisziplin Geographie können die Wörter ‹Geographie› und ‹geographisch› bei modernen Diskussionen über die klassischen Begriffe von Raum, Landschaft und Umwelt nicht vermieden werden. Dieser Gebrauch muss aber genauer gefasst oder in den Zusammenhängen modifiziert werden, in denen die Gefahr der Zweideutigkeit besteht, und dem Leser muss zugemutet werden, zwischen dem modernen und dem antiken Konzept zu unterscheiden.
Wie andere Forschungsgebiete in der Antike wurden geographische Schriften von einem beschränkten sozialen Kreis erzeugt und gelesen. Man musste des Lesens und Schreibens kundig sein, um Berichte über Reiseerfahrungen zu verfassen, und man musste gut gebildet sein, um wissenschaftliche Theorien und Beobachtungen zu diskutieren. Fortgeschrittene mathematische und astronomische Sachkenntnisse waren besonders in den wissenschaftlichen und kartographischen Zweigen der Geographie erforderlich. Und waren die Werke schließlich vollendet, mussten sie sowohl physisch (durch Abschriften) als auch kognitiv (mit Lese- und Schreibkundigkeit) zugänglich sein, um in Wort oder (sofern Graphiken dazugehörten) Bild verbreitet zu werden. Auch wenn es schwierig ist, die Situation genau zu bewerten, scheint das Ausmaß von geographischen Kenntnissen unter dem ungebildeten Volk beschränkt gewesen zu sein (siehe Kapitel V 2). Mündliche Berichte – etwa durch Händler und Soldaten – oder öffentliche Denkmäler wie Inschriften und Skulpturen müssen zwar einem breiten Publikum zugänglich gewesen sein, doch schufen selbst diese wahrscheinlich nur amorphe Ideen von entfernten Ländern und Nationen, nicht aber ein zusammenhängendes Konzept von der Welt. Für die gewöhnliche Person war diese Ignoranz wahrscheinlich nicht von großer Bedeutung. Anders lag die Sache bei einem militärischen Führer oder einem Händler, wenn er keine Idee hatte, wo er war, wohin er ging, wie lange sein Weg oder seine Fahrt dauern würde und welche Bedingungen er am Ziel vorfinden würde.
Drei historische Hauptprozesse beeinflussten die Entwicklung der Geographie in der klassischen Antike: erstens die griechische ‹Kolonisation› der Archaischen Periode (8.–6. Jh. v. Chr.), zweitens die Feldzüge Alexanders des Großen und die Expansion der griechischen Welt nach Osten (4. Jh. v. Chr.), und drittens die Konsolidierung des Römischen Reiches, insbesondere in der Zeit des Kaisers Augustus, aber auch unter den Kaisern Claudius und Traian (1. Jh. n. Chr.). Alle drei Prozesse förderten die militärische Expansion sowie die Kenntnis über zuvor unbekannte Gebiete der Welt und eine bessere Bekanntschaft mit den näher gelegenen. Diese drei Wellen führten zur Dokumentation von neuen Erfahrungen, brachten neue Gattungen hervor und verstärkten Tendenzen innerhalb der Entwicklung der Geographie. Dies bedeutet nicht, dass in anderen Perioden das Interesse an Geographie stagnierte oder gar zurückging. Wie wir sehen werden, waren geistige Prozesse dieser Art in der ganzen Antike konstant. Aber die Ausweitung der Horizonte beeinflusste – was nicht überrascht – direkt das Ausmaß der Kenntnisse über die Welt, schuf aber zugleich intellektuelle Probleme und neue Lösungen für alte Probleme.
Dieses Buch bietet eine kurze Einführung in die antike griechische und römische Geographie von ihren bekannten Anfängen im Archaischen Zeitalter bis ins späte Römische Reich.3 Wir wollen einen Überblick über die erhaltene Literatur bieten, um das Ausmaß der antiken geographischen Kenntnisse bei sich ändernden Grenzen und sich erweiternden Horizonten im Blick auf die ursprünglichen Zusammenhänge und Formate geographischer Belege und Darbietungen vorzustellen.
Wegen der besonderen Natur antiker geographischer Quellen wird hier nicht chronologische Abfolge als primäres Aufbaukriterium genutzt. Vielmehr wird die nachfolgende Darlegung in drei den antiken Ansätzen entsprechende Gruppen eingeteilt:
1. der beschreibende, wörtliche und literarische Ansatz,
2. die wissenschaftliche, mathematisch-exakte Methode,
3. die (karto)graphische, visuelle Technik.
Dabei überlappen sich gelegentlich die einzelnen Abschnitte eines Kapitels chronologisch mit denjenigen eines anderen, das zeitgleiche Transformationen und Entwicklungen in einem anderen Kontext präsentiert. Außerdem sind einige Texte und Autoren für mehr als einen Zusammenhang wichtig und werden nach Bedarf im Anschluss an die jeweilige Erörterung angeführt.
Obwohl die verbalen, beschreibenden Arten der literarischen Geographie (Kapitel II) sich in der Methode grundsätzlich vom mathematischen und wissenschaftlichen Ansatz (Kapitel III) unterschieden, waren sie nicht unbedingt reine Fiktionen. Da sie sich hauptsächlich in Form von geographischen Exkursen innerhalb historiographischer Werke entwickelten, lieferten sie das ‹wahre› Bild von Örtlichkeiten oder belegten Ereignissen; es ist daher angemessen anzunehmen, dass sie einem breiteren Publikum zugänglich waren als Werke mit einem streng wissenschaftlichen Ansatz. Wissenschaft begann mit den naturkundlichen Diskussionen der vorsokratischen Philosophen, die Theorien über die Struktur und Essenz des Weltalls und die natürliche Gestalt der Welt boten – einschließlich ihrer Form, Größe, Grenzen und Bewohnerschaft. Auf diese Grundlagen baute die mathematische Geographie auf, die versuchte, die Erde durch die genaue Berechnung zu definieren. Der wissenschaftliche Ansatz erzeugte nicht nur schriftliche Aufzeichnungen, sondern ebnete auch den Weg für erste Versuche, Teile der Welt graphisch zu präsentieren (Kapitel IV).
Mehrere Elemente sollten das Rückgrat der antiken Geographie bilden. Deren Wahrnehmung wird durch den Vergleich mit parallelen Erfahrungen und Methoden der modernen Geographie geschärft:4
Alltagsbezug: Geographische Interessen entstanden in der griechischen Welt aus täglichen Bedürfnissen. Weil die Griechen rings um das Mittelmeer und das Schwarze Meer lebten und sich für Krieg und Handel auf den Seetransport verließen, brauchten sie Information über Seewege und fremde Länder. Ähnlich versorgte Geographie die Römer mit Details, die zu militärischen Zwecken und Verwaltungsaufgaben notwendig waren, während der wachsende Verkehr von Menschen und Waren eine Nachfrage nach genauer Reiseinformation schuf. Im Unterschied zu den meist akademischen und theoretischen Interessen der modernen Geographie war die antike Geographie direkt mit dem täglichen Leben verbunden und beruhte nicht auf Forschungen hochqualifizierter ‹Geographen›, sondern auf den Erfahrungen von gewöhnlichen Augenzeugen.
Konzepte: Jeder Wissensbereich spiegelt größere geistige Entwicklungen wider, und die antike Geographie bildet keine Ausnahme davon. Beispiele hierfür sind die aufkommende Theorie einer runden, nicht flachen Erde, ein neues Verständnis der Beziehung zwischen Land und Meer sowie Fragen der Ethno-Geographie, die das Verhältnis von Klima und Charakter betonten.
Menschliche Dimension: Im Unterschied zu modernen Geographen, die sich für alle Teile des Globus interessieren, untersuchten die Menschen der Antike nur bewohnte Gebiete. Unbewohnte Regionen oder Wüsten wurden nicht erfasst und nicht dokumentiert, so dass sie aus dem Rahmen der bekannten Welt fielen. Andere Kontinente als Europa, Asien und Afrika wurden nicht gesucht, und in bekannten Gebieten wuchs das Ausmaß von Kenntnissen nur infolge demographischen Wachstums und militärischer Eroberung an.5 Zwar wurden einige Versuche unternommen, unbekannte Gebiete zu erforschen, und die natürliche Wissbegierde reizte die Einbildungskraft. Aber im Allgemeinen galten Gebiete am Rand der bekannten Welt nicht nur als gefährlich und furchterregend, sondern auch als unbedeutend, da sie nur leeres Land ohne menschliche Bewohner waren. So bezeichneten die Griechen nach Herodot – und später die Römer – die Welt als oikumene (‹bewohnt›), womit sie die menschliche Dimension als Ort der Wohnung (oikia) einbezogen und unbewohnte Weltteile, hypothetische Landmassen und den Ozean, der die oikumene umfasste, ausschlossen.
Technik: Die moderne Geographie nutzt (etwa seit dem Ersten Weltkrieg) Luftaufnahmen, Satellitenbilder und geographische Informationssysteme (GIS) und nutzt eine genaue quantitative Methodik, die auf Karten und Statistiken beruht.6 Die Griechen und Römer verließen sich in erster Linie auf Sinneseindrücke und logische Beweisführung und beförderten gelegentlich ihr Verstehen mit wohldurchdachten wörtlichen Berichten. Ihre Methoden und Instrumente waren einfach,7 aber das hinderte sie nicht daran, eindrucksvolle wissenschaftliche Durchbrüche zu erreichen. Die Geschichte der antiken Geographie ist daher teilweise ein Überblick über wissenschaftliche Methodiken und zeigt, wie auch bei Nutzung primitiver Werkzeuge elaborierte Berechnungen ausgeführt wurden.
Das Verständnis der geographischen Konzepte und Praktiken in der Antike ist aus mehreren Gründen wichtig. Der einfachste ist der sprachliche und toponymische Beitrag der Antike zur modernen Fachsprache: Begriffe wie ‹Europa›, ‹Atlantik› und ‹Klima› haben alle griechische Ursprünge. Wichtiger freilich ist, dass die Menschen der Antike die Fundamente für die moderne Wissenschaft im Allgemeinen und für die moderne Geographie im Besonderen schufen. Indem sie Fragen zum ersten Mal stellten und indem sie Probleme analysierten und Berechnungen und Taxonomien lieferten, befassten sie sich mit Themen, die Geographen noch heute beschäftigen. Trotz der Einfachheit ihrer Instrumente versuchten die Griechen und die Römer, ihre Welt zu erforschen, sie zu vermessen und ihre natürlichen und menschlichen Phänomene zu verstehen. Zudem ist es einfach auch lohnend zu untersuchen, wie geographische Vorstellungen in vormodernen Gesellschaften funktionierten und welche spezifischen Interessen und Tätigkeiten die antike Geographie umfasste.
Dieses einleitende Kapitel führt in zwei allgemeine Themen ein, die von einer bestimmten Zeit, einem Ort oder einer Gattung unabhängig, aber für das Verstehen der antiken Geographie notwendig sind. Das erste (Kapitel I 3) behandelt die Frage, wie sich geographische Diskussionen, die Entwicklung von Gattungen und der Fortschritt von Kenntnissen zur Expansion und Eroberung in verschiedenen Perioden verhalten; anders gesagt behandelt es die Natur der Verbindung zwischen der Politik der Expansion und den geographischen Kenntnissen und Vorstellungen. Dieses Problem ist eng mit dem zweiten verbunden (Kapitel I 4), einem Vergleich der griechischen und der römischen Geographie. Oft wird die Auffassung vertreten, dass in den kulturellen und geistigen Bereichen Rom Griechenland folgte. Aber gilt dies auch hinsichtlich der Geographie?
Dieses Buch erwähnt notwendigerweise viele Namen, Autoren und Werke. Es liegt dennoch außerhalb seiner Zielsetzung, alle einschlägigen Belege zu behandeln. Unsere Absicht ist vielmehr, soweit möglich ein zusammenhängendes Panorama unseres Themas zu präsentieren und die Haupttendenzen und Richtungen hervorzuheben.
Dass jede Untersuchung der griechischen und römischen Gesellschaft von den beschränkten erhaltenen Quellen abhängt, ist weithin bekannt. Zwar können einige Fragen zur antiken Geographie mit Bezug sowohl auf schriftliche Quellen als auch auf archäologische Zeugnisse beantwortet werden, doch ist man zumeist allein auf die schriftliche Dokumentation einschließlich Inschriften angewiesen. Zudem bedeuteten, wie schon oben bemerkt, die besondere Entwicklung des Wissensgebiets und die Tatsache, dass Geographie direkt mit der sozialen und politischen Erfahrung verbunden war, dass es keine eigenständige Gattung geographischen Schrifttums gab, sondern dass geographische Informationen in verschiedenen literarischen Stilen und Kontexten erscheinen.
Überall in der Antike wurde literarischen Werken, die sich mit geographischen Problemen befassen, eine Vielfalt von Benennungen und Titeln beigefügt. Die jeweiligen Bezeichnungen spiegelten im Allgemeinen Inhalt und Struktur des Werks wider, doch gab es keine standardisierte Terminologie. Wie wir sehen werden, verwechselten die Menschen der Antike selbst manchmal Titel und Formate, doch sollte uns das nicht davon abhalten zu versuchen, eine grundlegende Terminologie zur Beschreibung schriftlicher geographischer Aufzeichnungen zu bestimmen. Es folgt daher ein kurzer Abriss von Gattungen und literarischen Formaten, die mit der antiken Geographie verbunden sind, und zwar so sortiert, dass sie von einfachen Listen bis zu ausgearbeiteten umfänglichen Beschreibungen fortschreiten.
periploi:8 Die griechische Zivilisation begann in der Ägäis und breitete sich aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen an die Westküste Kleinasiens, nach Sizilien und Süditalien, weiter westlich nach Südfrankreich, Südostspanien und Nordafrika sowie rings um das Schwarze Meer aus. Seewege und die Seefahrt waren zentrale Bestandteile des täglichen Lebens und für Handel und Erkundungsfahrten notwendig. Wegen der Sicherheit und besseren Orientierung war die Navigation gewöhnlich auf Routen entlang der Küstenlinien beschränkt. Diese Gewohnheit wurde die Grundlage für eine Gattung schriftlicher Berichte in der Form von Listen, die gemäß des Ablaufs einer Fahrt entlang einer Küstenlinie sortiert sind und Hafen-Namen, Entfernungen, Richtungen und grundlegende lokale Information enthalten. Solche Kataloge wurden als periploi bekannt (Singular periplus, ‹Umfahrung›). Diese Aufzeichnungen präsentierten üblicherweise praktische Informationen über Stätten an den Seewegen, gewöhnlich entlang von Küsten oder Flussufern. Die periploi erwähnen Stätten also gemäß der Anordnung auf der Route, einschließlich der Entfernungen zwischen ihnen, die häufig als Zahlen von Fahrttagen beschrieben wurden. Zu diesen grundlegenden Angaben wurden gelegentlich weitere Informationen hinzugefügt, etwa zur lokalen Topographie, zur Geschichte und zu den ansässigen Völkerschaften. Eingeschlossen waren gelegentlich auch Hinweise auf das Binnenland, die über eine bloße Aufzählung von schiffbaren Flüssen hinausgingen. Beschreibungen des Umrisses von Inseln standen meist am Ende solcher Überblicke. Diese praktischen Daten, zunächst unter Seeleuten nur mündlich weitergegeben, wurden also in schriftlicher Form niedergelegt, um künftigen Reisenden – vorwiegend Siedlern und Händlern – zu helfen. Was auf einst tatsächliche Fahrtberichte zurückging, wurde so zum organisatorischen Grundsatz für Texte, die nicht auf solchen Fahrten beruhten. Allmählich gewannen periploi auch eine beschreibende Dimension, da sie Verweise auf Flora und Fauna, auf von Menschen geschaffene Denkmäler und auf ethnographische Merkmale umfassten (Kapitel II 3).
itinerarium:9 Wie die griechischen periploi, deren organisatorischer Stil aus der linearen Anordnung von Fahrten entlang der Küstenlinien abgeleitet war, versorgte das lateinische itinerarium (von iter ‹Weg›) Reisende – einschließlich Soldaten – mit der katalogisierten Information über Stationen und Entfernungen entlang der römischen Routen. Der massive Ausbau des römischen Staates am Ende der Republik und insbesondere seit dem Augusteischen Zeitalter machte Verwaltungsanpassungen notwendig, die den Abgesandten aus dem Machtzentrum in Rom einen leichteren Zugang zu entfernten Teilen des Reiches erlaubten. Zu diesem Zwecke schufen die Römer ein wohldurchdachtes und effizientes Straßen- und Transportsystem (den cursus publicus), zuerst in Italien und dann in verschiedenen Teilen Europas, Asiens und des Nahen Ostens.10 Dieses Straßennetz wurde die lineare Grundlage für die römischen itineraria und später für christliche Pilgerfahrt-Berichte und -Führer (Kapitel II 3).
periëgesis und periodos ges: Das Interesse am Binnenland kam besonders in der hellenistischen Periode als Folge der besseren Möglichkeiten des Reisens und der wachsenden Wissbegierde über neue Länder und Völker auf. Erschöpfende geographische Überblicke, die Hinweise auf solche Gebiete umfassten, wurden später als periëgeseis (‹Umher-Führungen›) bezeichnet; sie boten weit mehr als bloße Listen. Vielmehr beinhalteten diese Prosa- oder Vers-Schriften Überblicke über Landschaften und Regionen, Flora und Fauna sowie Angaben zu den jeweiligen Bewohnerschaften, deren Erscheinungsbild und deren Sitten und Gebräuchen. Ein eng verwandter Begriff für solche Überblicke war periodos (‹Umher-Gang›) im Sinne einer Reisebeschreibung. Das Wort erscheint meistens im Ausdruck periodos ges, der für eine Beschreibung der ganzen Welt, nicht aber eines einzelnen Gebiets auf der Welt verwendet wird.
chorographia: Detaillierte Beschreibungen kleinerer Gebiete oder spezieller Länder kamen größtenteils im hellenistischen Zeitalter auf. Der übliche Begriff für solche Überblicke war chorographia, die Beschreibung einer chora (‹Land, Gebiet›), im Gegensatz zu geographia, der Beschreibung der ganzen Welt.11 Werke wie Persika (Ktesias) und Indika (Ktesias und Megasthenes) gehören in diese Kategorie. Der Begriff chorographia kann aber auch gebraucht werden, um die Beschreibung eines speziellen Gebiets innerhalb des breiteren Zusammenhangs einer universalen Geographie zu bezeichnen, etwa im Fall der Regionalüberblicke in einzelnen Büchern der Geographie des Strabon zu beziehen (Kapitel II 1).
Topographische und ethnographische Informationen wurden auch in Exkursen der hauptsächlich chronologisch geordneten und erzählenden historischen Werke geboten.12 Der Schwerpunkt solcher Werke lag natürlich auf politischen und militärischen Ereignissen und den daran beteiligten Personen. Doch machte die Bewertung solcher Ereignisse – und besonders strategischer Manöver – häufig eine Vertrautheit mit den räumlichen und menschlichen Verhältnissen der Szene erforderlich. Die Notwendigkeit der Kenntnis von Orten, Topographie, Toponymen und Entfernungen bedeutete so, dass geographische Erörterungen für die Historiographie und verwandte Gattungen grundsätzliche Bedeutung erlangten. Den Standard dafür setzte Herodot, indem er in seinen Historien ausführliche Beschreibungen von Gebieten unter persischer Herrschaft wie Ägypten, Indien und Skythien bot. Solche Exkurse wurden ein wichtiges Kennzeichen späterer historischer Darstellungen, etwa derer von Thukydides, Polybios, Sallust und Tacitus. Oft übernahmen geographische Exkurse dieser Art den lakonischen Stil früher periploi und periodoi, wobei sie die Persönlichkeiten und den Geschmack der einzelnen Autoren widerspiegelten. Weil geographische Exkurse eine entscheidende Rolle beim Voranbringen der Erzählung spielten, waren sie häufig geradezu notwendig und in das Vorhaben integriert (zu Einzelheiten siehe Kapitel II 2).
Moderne Gelehrte haben versucht, eine antike geographische Prosa-Gattung zu bestimmen. Felix Jacoby glaubte, dass alle antiken Prosa-Texte eine einzige literarische Grundlage hatten, aus denen sich in evolutionärer Weise die Untergattungen entwickelten. Jacoby definierte Historiographie allgemein als einen literarischen Stil, der alle Formen der nicht-fiktionalen Prosa einschloss, und verwies darauf, dass der Inhalt und die organisatorischen Grundsätze von historiographischen und geographischen Werken einander sehr ähnlich seien.13 Ein anderer verbreiteter Ansatz sieht Historiographie und Geographie als getrennte Gattungen, von denen die eine den Hintergrund für die andere bietet.14 Dieser Analyse zufolge waren geographische und ethnographische Abschnitte innerhalb historiographischer Werke bloße Exkurse ohne eine Verbindung zum Hauptbericht. Allerdings sind keine bedeutenden Unterschiede in den grammatischen Konstruktionen und dem Vokabular der Historiographie, ihrer geographischen Exkurse und davon unabhängiger Werke der beschreibenden Geographie zu erkennen. Deshalb muss man den breiteren Zusammenhang solcher Exkurse sowie die Zielsetzung des Autors für jedes Werk gesondert betrachten. Ist das geographische Material nur eine stilistische Variation der Hauptlinie des Berichts? Könnte man es aus dem Haupttext herausschneiden, ohne dessen Bedeutung zu verändern? Inwieweit ist ein einzelner Exkurs ein integrierter und notwendiger Teil des Ganzen? Antworten auf solche Fragen müssen für jedes Werk einzeln gesucht werden. Schließlich muss kurz etwas über Bereiche der antiken Literatur gesagt werden, die weder in ihrer Zielsetzung noch in ihrem Hauptgegenstand ‹geographisch› sind, die aber geographische Gedanken und Informationen einschließen. Eine ‹geographische Lektüre›15 macht etwa auf zahlreiche einschlägige, aber verstreute Passagen in der griechischen Tragödie und Komödie und im römischen Epos aufmerksam (Kapitel II 1).
Wie unten erörtert werden soll, gibt es in den Schriften der Antike viele Stile und Kontexte für die Überlieferung geographischer Fragen. Es scheint keine Regeln zu geben und kein Konsens bestanden zu haben, und selbst wenn spätere Autoren gelegentlich ihre Vorgänger kritisieren, war eine breite Wahl von Formaten verfügbar, um Kenntnisse und Ideen zu präsentieren. Das wird aus der Ansage Strabons über seine Absicht bei der Beschreibung Griechenlands deutlich:
Dies haben zuerst Homer und dann auch mehrere andere Autoren behandelt, teils eigens unter Titeln wie «Häfen» oder Periploi oder Periodoi ges oder dergleichen – worin auch das Griechische enthalten ist –, teils indem sie in der allgemeinen Geschichtsschreibung gesondert die Topographie der Kontinente darstellten, wie Ephoros und Polybios das getan haben. Andere haben in das Gebiet der Physik und der Mathematik auch Einiges dieser Art mit einbezogen, wie Poseidonios und Hipparchos. (Strabon 8.1.1)
Die verschiedenen Stile und Themen, die mit der Geographie verbunden sind, können auch anhand der Wege ihrer Überlieferung von der Antike in die Moderne eingeteilt werden. So gibt es einige archäologische Zeugnisse, etwa die Personifikationen von Völkerschaften im Sebasteion von Aphrodisias (in der heutigen Türkei),16 und inschriftliche Belege, vom nur mit fünf Wörtern beschriebenen Meilenstein bis zur kolossalen Liste von Toponymen und Entfernungen auf dem Stadiasmus Lyciae (siehe S. 132f.). Papyri bewahren Fragmente sonst nicht erhaltener Texte, ebenso sind viele ‹geographische› Bruchstücke in Sammlungen der Überreste von sonst nicht bewahrten griechischen und römischen Historikern und tragischen und komischen Dichtern erhalten.17 Schließlich verdanken wir einige Kenntnisse der mittelalterlichen Überlieferung von Texten in Prosa und Dichtung und von Bildern, etwa die späteren Rekonstruktionen der Karten des Ptolemaios oder der Tabula Peutingeriana (siehe S. 121 und Abb. 1).
Abb. 1: Tabula Peutingeriana (Wien, Nationalbibliothek), Segment 4 (Ausschnitt): Italien mit der Stadt Rom.
Antike Staatsangelegenheiten waren mit geographischen Fragen eng verbunden.18 So wurden Feldzüge durch die Ausweitung der geographischen Horizonte angeregt und benötigten für die erfolgreiche Durchführung verlässliche geographische Informationen. Zugleich verbesserten diplomatische und militärische Erfolge die geographischen Kenntnisse und erweiterten sowohl physisch als auch begrifflich die Grenzen der bekannten Welt. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Geschichte der Geographie in der Antike häufig mit Eroberungen verbunden wird. Allgemein gesagt nährten Geographie und Politik sich gegenseitig.
Die erste systematische griechische Beschreibung von Ländern und Nationen entstand im 5. Jahrhundert v. Chr. aus dem Wunsch Herodots, das Ausmaß des persischen Reiches zu beschreiben. Dieses Riesenreich setzte ihn in Erstaunen; es umfasste ja – aus einem griechischen Blickwinkel – unbekannte Völkerschaften. Das Projekt des Beschreibens machte es erstmals notwendig, systematische Informationen über Inder, Skythen, Ägypter, Äthiopier und ihre Länder zu bieten. Die Verbindung von politischer Expansion und geographischen Kenntnissen wird zum Beispiel offenkundig in Herodots Darstellung, wie Dareios I. den Verlauf des Indus-Flusses untersuchen lassen wollte (Herodot 4.44). Indem er Skylax von Karyanda mit dem Auftrag entsandte, stromabwärts zu fahren, brachte der König die 30-monatige Fahrt auf dieser Route über den Indischen Ozean ins Rote Meer und bis nach Ägypten in Erfahrung. Er eroberte dann Indien und sein Meer. Außerdem ließ Dareios überall im persischen Reich das Straßensystem verbessern und ermöglichte es so seinen Amtsträgern, aber auch Reisenden wie Herodot und späteren Autoren, geographische Informationen in ihre Darstellungen einzubeziehen (zu diesen Königsstraßen siehe Kapitel V 1).
Eine weitere bedeutende, nichtgriechische politische Kraft war Karthago (im heutigen Tunesien), das die Seewege im westlichen Mittelmeer kontrollierte. Der Beitrag Karthagos zur antiken Geographie ist wichtig, weil die Griechen die karthagischen Leistungen bewunderten und ihre Aufzeichnungen bewahrten, indem sie diese bereits bald ins Griechische übersetzten (siehe Kapitel II). Der Tradition zufolge soll um 500 v. Chr. der Karthager Hanno mit einer großen Expedition von Karthago durch die Straße von Gibraltar entlang der afrikanischen Atlantikküste bis in die Regionen gegenüber der Kanarischen Inseln gelangt sein und unterwegs karthagische Kolonien gegründet haben. Sein Zeitgenosse Himilko unternahm ein vergleichbares Abenteuer entlang der Atlantikküste Nordeuropas. In beiden Fällen zeigt sich dasselbe Muster: Eine Kombination von Befähigung, Bedürfnis und Wissbegierde veranlasste wirtschaftliche und militärische Kräfte, ihre geographischen Kenntnisse in der Hoffnung auf materiellen Gewinn, besonders auf Waren und Land, zu vergrößern.
Innerhalb der griechischen Welt kommen erste Anzeichen für eine Beziehung zwischen Politik und Geographie auf, als Interessen erscheinen, die über eine einzelne polis hinaus gehen. Die Athener, die im Attischen Seebund ein Bündnis führten, in dem sich mehrere poleis nach der Schlacht von Mykale 479 v. Chr. gegen die Perser verbündet hatten, gründeten mehrere Ansiedlungen und Garnisonen im Ägäis-Gebiet. Die Lage dieser Siedlungen war kein Zufall. Selbst wenn der offizielle Vorwand lokaler Streit oder das Misstrauen erweckende Verhalten der einheimischen Bevölkerung waren, enthüllt die Wahl der Stätten einen geopolitischen Gesichtspunkt: Skyros (476 v. Chr.), eine Insel im Zentrum des Ägäischen Meeres; Karystos (472 v. Chr.), eine polis an der Südspitze der Insel Euboia gegenüber von Attika; Naxos (um 468 v. Chr.), eine Insel in der südlichen, und Thasos (463 v. Chr.), eine Insel in der nördlichen Ägäis – alle diese Punkte waren strategisch wichtig und erleichterten die Kontrolle des Ägäis-Gebiets. Es kann kaum Zweifel daran bestehen, dass die Athener und ihre Anführer eine Route der für die Seefahrt wichtigen Orte im Sinne hatten und dass sie sich der strategischen Vorteile dieser Punkte bewusst waren.19
Dies ist vielleicht nicht überraschend: Solche geographischen Fortschritte können der seinerzeit schon alten Bekanntschaft athenischer Seeleute mit der Ägäis zugeschrieben werden. Die Kolonial-Horizonte der Archaischen Periode und die kommerziellen Unternehmungen der Griechen hatten bereits vor langer Zeit die Ägäis zum ‹Hinterhof› Griechenlands werden lassen. Auch archäologische Belege aus frühen Heiligtümern deuten darauf hin, dass die neuen athenischen Ansiedlungen und Garnisonen an Plätzen gegründet wurden, die einen Zugang zu wirtschaftlichen und insbesondere landwirtschaftlichen Ressourcen und zu freundlichen Küsten boten und dabei einen ‹religiösen› Raum bildeten, der frühe geographische Kenntnisse widerspiegelte.20 Der Umfang geographischer Kenntnisse von Festland-Griechen schloss wahrscheinlich die Ägäis und die Kykladen-Inseln, Kreta und die Westküste Kleinasiens ein. Zugleich gibt es Hinweise auf die Grenzen der geographischen Horizonte und auf die Unkenntnis von Gebieten außerhalb den Grenzen der Ägäis. So zeigt Thukydides (6.1.2; 7.44), dass die meisten gewöhnlichen Athener die Topographie Siziliens nicht kannten und sich deshalb übernahmen, als sie sich dafür entschieden, auf der Insel einzufallen. Diese Beispiele belegen, dass vor dem 5. Jahrhundert v. Chr. geographische Kenntnisse in ihrem Umfang noch beschränkt waren und dass in einigen Fällen diese Unkenntnis auch politische Entscheidungen betraf.
In den Jahrzehnten nach dem Peloponnesischen Krieg, der mit dem Ende der athenischen Überlegenheit über die griechischen Gebiete im Mittelmeerraum schloss, spielten geographische Daten und Ideen in den Werken verschiedener Gelehrter wie Aristoteles, Ephoros und Timaios weiterhin eine Rolle. In jener Zeit bis zum Erscheinen der makedonischen Herrschaft gab es keine stabile Vorherrschaft in der griechischen Welt, und die gegenseitige Beziehung zwischen politischen Vorhaben und geographischen Ideen war weniger auffallend. Geographische Diskussionen wurden allerdings dennoch nicht vernachlässigt.
Dann aber erzeugten die Feldzüge Alexanders des Großen eines der sichtbarsten Zeugnisse in der Weltgeschichte für die Beziehung zwischen Geographie und Politik. Unter Alexander kam es nicht nur zu einer Expansion von beispiellosem Umfang, sondern zum ersten Mal zu einer absichtlichen und aktiven Suche nach neuen Horizonten. Während die Sehnsüchte von Alexanders Vater Philipp II., soweit man sie beurteilen kann, sich auf benachbarte Länder beschränkt zu haben scheinen, wandte Alexander seinen Blick zu fernen Horizonten, selbst wenn diese nachgerade phantastisch schienen. Es ist schwierig, in der Geschichte Alexanders des Großen Fakten und Fiktionen zu trennen, weil die späteren Leistungen des Königs zur Schaffung einer Figur mit starken mythischen Obertönen beitrugen. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Unternehmungen Alexanders eng mit geographischer Erkundung verbunden waren. Er erreichte entfernte Punkte, von denen einige vor seiner Zeit von den Griechen gar nicht besucht worden waren, es sei denn sporadisch von Einzelpersonen. Einige antike Quellen präsentieren sogar das Image eines Königs, der seinen Wunsch nach politischer Macht mit wissenschaftlichen Interessen verband, und stellen ihn als König dar, der nicht nur erobern, sondern auch beobachten und lernen wollte und der deshalb seinen Leuten auftrug, die Eigenarten von unbekannten Gebieten zu registrieren.21 Sei dem, wie es sei: Diese Aufzeichnungen wurden zu einen eindrucksvollen Corpus von Belegen – selbst wenn sie gelegentlich übertrieben waren – über menschliche Gewohnheiten, Flora und Fauna, Topographie und Klima.
Sowohl zu Lebzeiten Alexanders des Großen als auch später wurde die Geschichte seiner Leistungen ausgeweitet und durch geographische Mittel übertrieben. Es war zum Beispiel bereits in der Antike bekannt, dass Stätten ‹verlegt› worden waren, um den Erfolg Alexanders noch eindrucksvoller werden zu lassen:
Und auch wenn in dem, was zu seinem Ruhm erzählt wird, alle sich einig sind, dann waren dessen Erfinder doch mehr auf Schmeichelei als auf Wahrheit bedachte Leute, wie zum Beispiel damit, dass sie den Kaukasos von den Bergen oberhalb von Kolchis und dem Schwarzen Meer nach den indischen Bergen und dem ihnen benachbarten östlichen Meer verlegten … (Strabon 11.5.5)
Geographie wurde hier zu politischen Zwecken eingesetzt, um zum großartigen Image des Königs beizutragen.
Als Alexander den oberen Indus-Fluss (im heutigen Pakistan) erreichte, weigerten sich seine Soldaten, noch weiter nach Osten zu ziehen: Sie waren müde und konnten kein klares Ziel erkennen. Ob Alexander selbst immer wusste, wohin er zog, ist schwierig zu klären. Anscheinend wurde der König getrieben von einem intensiven Drang, zu unbekannten Grenzen der oikumene zu ziehen; vielleicht war er durch die mythischen Züge des Herakles beeinflusst, der angeblich sein Vorfahr war, und durch die Züge der assyrischen Königin Semiramis.22
Ein paar Jahrzehnte später stellte das Wachstum des römischen Staates, beginnend mit den militärischen Erfolgen und Landgewinnen aus den Punischen Kriegen gegen Karthago, Rom auf die Bühne der Weltmächte. Die Annexion Siziliens am Ende des Ersten Punischen Krieges (241 v. Chr.) erweiterte die römische Macht außerhalb der italienischen Halbinsel, und so kam (wie im Fall anderer Reiche sowohl zuvor als auch später) ‹der Appetit beim Essen›. Dieses Wachstum beruhte auch auf der römischen Bereitschaft, kulturelle Elemente der hellenistischen Welt – einschließlich eines intellektuellen Interesses an Geographie – zu absorbieren.23 Rom wurde bald zur Herrin über alle Gebiete rings um das Mittelmeer, das später als ‹unser Meer› (mare nostrum) beschrieben wurde (z.B. Plinius, Naturkunde 6.142).24
Dieses schnelle und beispiellose Phänomen verlangte eine Erklärung, und mehrere antike Gelehrte – größtenteils Griechen – versuchten, eine solche anzubieten. Polybios (6.11–42), der die römische Expansion im frühen 2. Jahrhundert v. Chr. selbst erlebte, meinte, Roms Mischverfassung und effiziente Armee seien die Basis für seine Macht gewesen.25 Etwa 150 Jahre später, als das Römische Reich unter Augustus größer war als je zuvor, bot Strabon (6.4.1) eine geographische Erklärung an: Rom beherrsche die Welt, weil es in ihrem Zentrum liege, und die natürlichen Charakterzüge der Stadt prädestinierten sie zur Herrschaft.26 Geographische Vorteile und politische Macht wurden so direkt verbunden.
Auch wenn sich moderne Interpretationen der Motivationen für die römische Expansion voneinander unterscheiden, ist offenbar, dass die Republik immer mehr von individuellen Politikern abhängig war, deren persönliches Streben nach Weltherrschaft eine bedeutende Rolle im Anwachsen der Macht Roms spielte. In diesem Zeitalter der Expansion wurde die geographische Bedeutung der Eroberung in geographischen cognomina (Beinamen) ausgedrückt:27 Eine Gruppe von lateinischen cognomina wurde aus geographischen Begriffen gebildet, meist Völkern, Stämmen, Gebieten und Städten, ferner auch Bergen und Flüssen. Schon im 6. Jahrhundert v. Chr. registrierten die cognomina des römischen Adels die Herkunftsorte ihrer Träger, und zu jener Zeit gab es noch keine Beispiele für Beinamen, die auf fremde Völkerschaften verwiesen. Vom 3. Jahrhundert v. Chr. an, als Eroberungen bedeutend wurden, wurden cognomina auch auf eroberte Städte und Völker zurückgeführt, freilich nur in der Adelsschicht. Dies waren Ehren-cognomina, die Siegern beigegeben wurden, etwa Africanus, Asiaticus, Macedonicus, Ponticus und Balearicus. Die geographische Bedeutung von Eroberungen förderte so die weitere Expansion, indem sie zur politischen Reputation der einzelnen Amtsträger beitrug.
Gnaeus Pompeius, Gaius Iulius Caesar und Augustus strebten – jeder auf seine eigene Weise – danach, Gebiete zu erobern, die nie zuvor erreicht worden waren.28 Die Idee von Rom als dominierender Weltmacht fand häufig ihren Ausdruck in der Literatur, die den römischen Staat als den Herrscher des ganzen Erdkreises (orbis terrarum) und als Eroberer aller Völkerschaften bezeichnete.29 Zugleich strebten einzelne Führungspersönlichkeiten danach, das Staatsgebiet zusammen mit ihrem eigenen Ruhm zu erweitern. Ihre Bestrebungen wurden dabei oft bewusst von den legendären Eroberungen Alexanders des Großen abgeleitet.30 So werden in den Quellen die Feldzüge des Gnaeus Pompeius im Osten mit einer beispiellosen und sogar übertriebenen Terminologie beschrieben, die seine außergewöhnlichen geographischen Leistungen betont:31
Pompeius