Jean Ziegler

ÄNDERE DIE WELT!

Warum wir
die kannibalische Weltordnung
stürzen müssen

Aus dem Französischen übertragen
von Ursel Schäfer

C. Bertelsmann

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe ist 2014 unter dem Titel
»Retournez les fusils! Choisir son camp«
bei Éditions du Seuil, Paris, erschienen.
© 2014 by Jean Ziegler
© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15545-2
V002
www.cbertelsmann.de

Dieses Buch widme ich der Erinnerung an

Joaquim Câmara Ferreira, genannt »Toledo«,
Amílcar Cabral,
Michèle Fierk
und Georges Politzer,
die mit ihrem Leben für ihre Ideen
bezahlt haben,
sowie Christine Daure-Serfaty,
Daly Belgasmi,
Hans Walter König
und Manuel Fernández-Cuesta.

INHALT

VORWORT – Eine Nacht in Olinda

ERSTES KAPITEL – Was nützt ein Intellektueller?

ZWEITES KAPITEL – Die Ungleichheit zwischen den Menschen

I. Wie entsteht Ungleichheit?

II. Die kannibalische Weltordnung

III. Wie entsteht ein Klassenbewusstsein?

Nachtrag

DRITTES KAPITEL – Die Irrwege der Ideologien

I. Was ist eine »richtige« Ideologie, und was ist eine »falsche«?

II. Wie entstehen, entwickeln und wandeln sich Ideologien?

III. »Naturgesetze«

IV. Obskurantismus

VIERTES KAPITEL – Wissenschaft und Ideologie

I. Max Webers Irrtum

II. Galileis Sieg

III. Die Perversion der Wissenschaft

IV. Wozu dient die Universität?

Nachtrag: Was die Wissenschaft über die Kunst sagen kann

FÜNFTES KAPITEL – Die Ketten in unseren Köpfen

I. Die Entfremdung

II. Das homogenisierte Bewusstsein

SECHSTES KAPITEL – Der Staat

I. Wie entsteht der Staat?

II. Der Staat, eine Waffe der Mächtigen

III. Die Bürokraten

IV. Die Staatsräson

V. Der gescheiterte Traum des Karl Marx

Nachtrag

VI. Die Universalisierung des Staates

VII. Der Staat, das unmögliche Bollwerk für die Schwachen

SIEBTES KAPITEL – Die Nation

I. Wie entsteht und behauptet sich die Nation in Europa?

II. Die rassistische Bedrohung

III. Die misslungene Dekolonisation

IV. Das Versagen der Eliten

V. Eine Mordkampagne

VI. Die Zerstückelung eines Kontinents

VII. Die Hölle im Südsudan

VIII. Der äußere Faschismus

ACHTES KAPITEL – Wie entsteht und wie entwickelt sich die Gesellschaft?

I. Die Gesetze der Geschichte

II. Wann und wie ist die erste menschliche Gesellschaft entstanden?

NEUNTES KAPITEL – Die Völker des Schweigens

ZEHNTES KAPITEL – Die Bruderschaft der Nacht

SCHLUSS – Auf welcher Seite stehst du?

Dank

Personenregister

Orts- und Sachregister

VORWORT

Eine Nacht in Olinda

Ja, ich glaube an die sanfte Gewalt der Vernunft über die Menschen. Sie können ihr auf die Dauer nicht widerstehen. Kein Mensch kann lange zusehen, wie ich […] einen Stein fallen lasse und dazu sage: er fällt nicht. Dazu ist kein Mensch imstande. Die Verführung, die von einem Beweis ausgeht, ist zu groß. Ihr erliegen die meisten, auf die Dauer alle.

Bertolt Brecht, Leben des Galilei1

Ich erinnere mich an eine kühle Nacht in Olinda, der Halbinsel mit ihren Barockkirchen, Tavernen, Klöstern und den Slums am Ufer der Lagune nördlich von Recife, im Nordosten Brasiliens.

Wir saßen gegenüber der Tür an einem Tisch, der sich unter Flaschen mit portugiesischem Weißwein, Schüsseln mit camarões und Hühnchen assado bog. Männer und Frauen – Bürger und Militärangehörige aus Recife, Priester aus Olinda, Händler aus Paraíba, Zuckerrohrbarone von der Küste, Viehzüchter aus dem Norden – kamen und gingen, schlugen die Türen ihrer Itamaraty-Limousinen zu und begrüßten sich lautstark von Tisch zu Tisch.

Auf einmal tauchte direkt neben mir ein Junge von neun oder zehn Jahren auf, so alt wie damals mein Sohn. Er hatte eine ausgerenkte Hüfte und hinkte – und berührte mich am Arm. In einer Hand hielt er die übliche rostige Konservendose mit weißen Nüssen, die die Bettler in Recife an die Gäste in den Tavernen verkaufen. Der Schweizer Honorarkonsul, Besitzer großer Zuckerrohrplantagen im Caribé-Tal, der an unserem Tisch den Vorsitz führte, warf dem Jungen ein paar Centavos zu. Als er meine Verwirrung bemerkte, servierte er mir die abgedroschene Floskel, mit der die Herren des Nordens traditionell durchreisende Europäer abspeisen: »Der kleine Caboclo ist mein Freund. Er ist glücklich, wissen Sie: Er verdient ein paar Groschen, kauft dafür Bohnen und ein bisschen Reis bei einem Straßenhändler und legt sich unter einem Torbogen schlafen. Er muss weder in die Schule noch regelmäßig zur Arbeit gehen. Ach, wenn man doch so frei wäre wie er …!«

Nie werde ich die Augen des kleinen Jungen vergessen. Ich stand unter einem Vorwand auf und fand ihn draußen, auf den Felsen am Meer sitzend. Sein Name war Joaquim. Er zeigte weder Wut noch Traurigkeit, die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Geschichte war alltäglich: Sein Vater, ein wandernder Zuckerrohrschneider, litt an Tuberkulose und hatte seit zwei Jahren keine Arbeit mehr, seine vier jüngeren Geschwister und seine kranke Mutter warteten seit dem Morgen in einer Hütte des Slums auf der anderen Seite der Lagune auf ihn. Das Geld, das er mit dem Verkauf von ein paar Nüssen am Abend verdiente, war das ganze Einkommen der Familie.

Joaquim hatte fiebrige Augen und wurde von Hunger gepeinigt. Der Koch streckte den Kopf aus einem Fenster der Taverne, und ich bat ihn, dem Jungen auf den Felsen eine Mahlzeit zu servieren. Als das Essen kam, breitete Joaquim eine alte Zeitung auf den Steinen aus. Mit zitternden Fingern leerte er einen Teller nach dem anderen – Reis, Huhn, fejão, caruru, Salat, Kuchen – über der Zeitung aus, verschnürte das Paket und verschwand in der Dunkelheit. Obwohl er selbst vom Hunger geplagt war, trug er das Essen zu seiner Mutter, seinem Vater und seinen Geschwistern.

Ich kehrte in die Taverne zurück, setzte mich wieder an den Tisch und nickte zu dem albernen Geschwätz des Konsuls – kurzum, ich schlüpfte wieder in meine Rolle als Professor und als Abgeordneter (der ich damals war), der auf der Durchreise in Olinda ist.

Warum habe ich meine Reise nicht unterbrochen? Und bin in den Slum gefahren? Habe nach Joaquim und seiner Familie gesucht? Am Morgen hatte ich mit dem Gouverneur gesprochen und am Mittag mit dem Bürgermeister, ich hatte Freunde in Recife. Wenn ich nicht weitergefahren wäre, hätte ich eine Arbeitsstelle für den Vater organisieren können, ein Krankenhausbett für die Mutter und ein Schulstipendium für Joaquim. Ich hätte eine Woche »verloren« oder einen Monat. Ich habe es nicht getan. Warum? Weil ich einen Zeitplan einhalten musste, Termine vereinbart hatte, eine soziale Rolle spielen, Berichte schreiben und Forschungen durchführen musste.

»Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind«, hat Jean-Paul Sartre gesagt. Fjodor Dostojewski kämpfte sein ganzes Leben gegen diesen »lebendigen Feind«. In seinem Roman Die Brüder Karamasow (1880) findet sich folgender Dialog:

Iwan Karamasow: »Ich will leben, und ich lebe, und sei es gegen die Logik. Auch wenn ich an die Ordnung der Dinge nicht glaube, aber die klebrigen, im Frühling sich entfaltenden Blättchen sind mir teuer, teuer ist mir der blaue Himmel, teuer ist mir mancher Mensch, den ich liebe, ohne zu wissen, warum, ob du’s mir glaubst oder nicht; teuer ist mir manche menschliche Tat, an die man vielleicht längst nicht mehr glaubt, die man aber trotzdem in alter Erinnerung von Herzen achtet.«

Aljoscha: »Ja, unbedingt, [das Leben] lieben vor aller Logik, unbedingt vor aller Logik, dann erst wird auch der Sinn begreiflich. Die Hälfte deiner Sache ist getan, Iwan, und gewonnen. Du lebst gerne. Jetzt musst du dich auch um die zweite Hälfte bemühen, und du bist gerettet.«2

Wie Iwan Karamasow lehne ich intellektuell diese Weltordnung ab. Aber wie er habe ich mich darin eingerichtet. Implizit nehme ich sie als normal hin. Durch mein alltägliches Handeln reproduziere ich sie.

Wir haben uns selbst verstümmelt. Wie Millionen andere lebe auch ich ständig gegen mich. Zu tun, was man will, und zu wollen, was man tut, ist das Schwierigste, was es gibt. Niemand hat die richtige Theorie für seine Praxis, wir alle sind – in unterschiedlichem Ausmaß – unaufrichtig, das heißt, wir lügen, geben uns Illusionen und Täuschungen hin. Wir schmieden unsere Ketten selbst, unermüdlich, mit Energie und Eifer. Wir füllen unsere sozialen Rollen aus, produzieren sie, reproduzieren sie, wie Beschwörungsrituale, als berge die Freiheit, die unerwartete Begegnung mit dem anderen, für uns schreckliche Gefahren. Aber diese Rollen ersticken uns, schnüren uns langsam die Luft ab. Tief in unseren Köpfen haben wir Ketten, die uns hindern, frei zu denken, zu schauen, zu gehen, zu träumen, zu fühlen.

Aljoscha hat recht: Der Mensch lebt, bildet sich, wächst, entfaltet sich nur mit der Hilfe anderer Menschen. Das Geheimnis der Beziehung ist viel größer als das Geheimnis des Seins. Um den Sinn des Lebens zu entdecken, genügt es nicht, das Leben zu lieben. Wir stoßen nicht auf den Sinn, wie wir beim Gehen an einen Stein stoßen. Der Sinn entsteht, setzt sich zusammen, offenbart sich. Er erwächst daraus, dass ich in der freien Beziehung zu einem anderen Menschen das bekomme, was ich nicht habe. Deshalb ist eine soziale Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen gründet, darauf, dass die Menschen sich ergänzen, sondern auf Konkurrenz, Beherrschung und Ausbeutung, zum Scheitern verurteilt.

Warum diese Entfremdung? Warum verdrängen wir freiwillig diesen fantastischen Reichtum an Schöpferkraft, an Wünschen, den jede und jeder von uns besitzt? Warum sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts wir Menschen im Westen, die wir so großartige Privilegien errungen haben – Freiheiten, Rechte gegen die Willkür –, die wir den Mangel besiegt, das Geheimnis des Universums, der Sterne, des Atoms, des Lebens gelüftet und den Tod um Jahrzehnte hinausgeschoben haben, dennoch unfähig, das Joch unserer Rollen abzuschütteln, in Freiheit und Liebe die unerwartete Begegnung anzunehmen und endlich unserem Leben einen kollektiven Sinn zu verleihen?

Mein Buch versucht, auf einige dieser Fragen Antworten zu geben. Es enthält Einsichten, die nach meiner Einschätzung hilfreich sind, um unsere Situation zu verstehen und aufzuzeigen, was wir tun müssen, um sie zu verändern.

In den letzten dreißig Jahren hat sich die Welt zutiefst gewandelt.

Mit dem Zusammenbruch des Sowjetreichs im August 1991 verschwand die weltweite Bipolarität der Staatsgesellschaften. Aus den Ruinen der alten Welt tauchte eine neue Tyrannei auf: die Tyrannei der Oligarchien des globalen Finanzkapitals.

Hunger und Not sind zurück in Europa. Nach Angaben von UNICEF waren 2013 in Spanien 11 Prozent der Kinder unter zehn Jahren unterernährt. Die sogenannte »Sockelarbeitslosigkeit« liegt in den 28 Staaten der Europäischen Union bei 30,2 Millionen Männern, Frauen und Jugendlichen. Besonders schlimm ist sie bei den jungen Leuten unter fünfundzwanzig.

Die hochfliegenden Hoffnungen, die die antikolonialistischen Befreiungsbewegungen im letzten Jahrhundert geweckt haben, sind zerplatzt. In Schwarzafrika, in Mittelamerika und in mehreren asiatischen Ländern sind aus diesen Kämpfen Rumpfstaaten ohne echte Souveränität hervorgegangen, in denen Korruption und Elend herrschen.

Die Präambel der im Juni 1945 verabschiedeten Charta der Vereinten Nationen beginnt mit folgenden Worten: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat …« Aber die Kriege sind wieder da, so furchtbar wie eh und je. Nach den blutigen Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien, auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak wüten heute Kriege in Syrien, im Jemen, im Ostkongo, im Süden und Westen des Sudan, in der Zentralafrikanischen Republik, in Myanmar, auf den Philippinen und in weiteren Regionen der Welt.

Die multiethnische, laizistische, multikulturelle Nation ist eine Errungenschaft der Zivilisation. Heute ist sie existenziell bedroht durch Schreckgespenster, die sich erhoben und Gestalt angenommen haben: den Dschihadismus, den christlichen, jüdischen, hinduistischen und buddhistischen Fundamentalismus, den gewaltbereiten Rassismus und aufklärungsfeindliches Denken jeder Couleur, allesamt Feinde der Vernunft. In zahlreichen westlichen Ländern gewinnen antidemokratische Parteien der extremen Rechten bei jeder Wahl dazu und vergiften das kollektive Bewusstsein.

Die Beziehungen zwischen Mensch und Natur haben sich verändert. Es ist ein neues Bewusstsein für die Gefährdung des Lebens auf der Erde und die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen entstanden. Aber die Zerstörung der Natur schreitet fort.

Überall werden die Menschenrechte, diese grundlegende Errungenschaft, die man nach der Schlächterei im Zweiten Weltkrieg für unumstößlich hielt, mit Füßen getreten. Die Rechte auf Essen, Wohnen, einen Arbeitsplatz, auf Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und Freizügigkeit werden heute auf allen fünf Kontinenten jeden Tag massiv verletzt.

Es ist wieder legitim, Menschen zu foltern. Folter wird als »notwendig« und sogar »unvermeidlich« erklärt, und das nicht nur von Schurkenstaaten, sondern auch in einem Dekret des vorletzten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.3

Der schottische Philosoph Edmund Burke schrieb im 18. Jahrhundert: »All that evil needs to triumph is the silence of good men« (»Alles, was das Böse braucht, um zu triumphieren, ist das Schweigen der guten Menschen«).

Wenn alle Welt schweigt, den Blick abwendet, nicht zuhört, passiv bleibt, von Schicksal spricht, vom normalen und unvermeidlichen Lauf der Dinge, muss der »gute Mensch« Fragen stellen, nachforschen, die Ursachen untersuchen, die Interessen, die im Spiel sind, die Verantwortlichkeiten, die Dinge beim Namen nennen, auf die Schuldigen hinweisen, wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Kalküle ans Licht bringen, die Menschenleben zerstören. Er muss den Frauen und Männern, die die Welt verändern wollen, Waffen in die Hand geben.

Régis Debray hat das so zusammengefasst: »Die Aufgabe des Intellektuellen ist es nicht, Liebenswürdigkeiten zu verteilen, sondern zu sagen, was ist. Er will nicht verführen, sondern bewaffnen.«

Das Buch hat folgenden Aufbau:

Zuerst versuche ich die Frage zu beantworten: Was nützt ein Intellektueller? Wissen ist nie neutral. Wie jede andere Wissenschaft ist die Soziologie ein Instrument, das befreit oder unterdrückt. Anschließend werden wir sehen, wie Ungleichheiten zwischen den Menschen entstehen. Im dritten und vierten Kapitel versuche ich, Ursprung und Funktion von Ideologien auf der einen Seite und der Wissenschaft auf der anderen Seite aufzuzeigen. Die Menschen sind nie so, wie sie zu sein glauben. Die Entfremdung des Bewusstseins hat in den letzten dreißig Jahren enorm zugenommen. Davon erzählt das fünfte Kapitel. Im sechsten Kapitel geht es um den Staat und im siebten um die Nation. Das achte Kapitel behandelt die Frage: Wie entsteht und entwickelt sich die Gesellschaft? Das neunte Kapitel ist den Völkern gewidmet, die keine Stimme haben.

Denken wurzelt immer in einem kulturellen und intellektuellen Nährboden, der bereits vorhanden ist. Ich werde darlegen, wessen Erbe ich bin, wer mein Denken angeregt hat und weiterhin anregt. Ich werde auch darlegen, wo ich mit denen, die mir auf dem Weg vorangegangen sind, und denen, die mich begleitet haben und noch begleiten, übereinstimme und wo nicht.

Und schließlich werde ich erläutern, welche Hoffnung das Buch durchzieht. Ein neues Subjekt der Geschichte ist im Entstehen begriffen: die neue, weltumspannende Zivilgesellschaft. Sie tritt an, die kannibalische Weltordnung zu vernichten. Mein Buch ist kein Buch der Utopie, sondern ein Handbuch für den Kampf, für den Aufstand dieser tausendfältigen Widerstandsfront, dieser mysteriösen Bruderschaft der Nacht.

Das Buch ist auch eine intellektuelle Autobiografie. Über drei Jahrzehnte war ich Professor für Soziologie an afrikanischen, brasilianischen und französischen Universitäten, vor allem und ganz besonders intensiv aber an der Universität Genf. Im Gegensatz zu meinen vorausgegangenen Büchern Die neuen Herrscher der Welt; Das Imperium der Schande; Der Hass auf den Westen; Wir lassen sie verhungern enthält Ändere die Welt! relativ viele philosophisch-theoretische Elemente. Sie inspirieren und beeinflussen meine Arbeit seit vielen Jahren.

Bei Ernst Bloch steht der paradoxe Appell: »Vorwärts zu unseren Wurzeln!« Für zahlreiche Leserinnen und Leser gehören mehrere der hier vielfach zitierten Autoren ins Neolithikum der Sozialwissenschaften. Karl Marx, Georg Lukács, Max Horkheimer, Jean-Paul Sartre – um nur einige zu nennen – sind die Begründer des radikal kritischen Bewusstseins im Kapitalismus. Alle ihre Werke sind von bestechender Aktualität. Die Mechanismen der Entfremdung, die Schaffung eines homogenisierten Bewusstseins, die akuten Flurschäden des grassierenden Neoliberalismus bleiben ohne sie unverständlich. Wir stehen in ihrer Schuld im Sinne des inzwischen geflügelten Wortes: Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen … und sehen deshalb weiter als sie.

Ich stelle mir die Frage, wie nützlich mein berufliches Wirken war. Dieses Buch versucht, seinen Sinn aufzuspüren.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten ist heute der objektive Mangel an materiellen Gütern, die zum elementaren Überleben der Menschen nötig sind, überwunden.

Karl Marx starb am 14. März 1883 friedlich in dem einzigen Sessel seiner bescheidenen Wohnung in London. Bis zum letzten Atemzug war er überzeugt, dass der objektive Mangel – das verfluchte Paar aus Herr und Knecht, die miteinander um die Kontrolle über die knappen Güter ringen, die alle Menschen zur Deckung ihrer Grundbedürfnisse brauchen – die Menschheit noch über Jahrhunderte begleiten würde. Seine gesamte Theorie über den Klassenkampf, die weltweite Arbeitsteilung, den Staat als Überbau gründet auf der Hypothese, dass der Mangel an Gütern fortbesteht. Aber Marx hat sich getäuscht. Seit seinem Tod hat die Menschheit eine großartige Abfolge wissenschaftlicher, technischer, elektronischer und industrieller Revolutionen erlebt, die das Potenzial der Produktivkräfte auf unserem Planeten auf außerordentliche und vollkommen unvorhersehbare Weise um ein Vielfaches gesteigert haben. Der objektive Mangel wurde tatsächlich überwunden.4

Ich nenne nur ein einziges Beispiel: das tägliche Massaker des Hungers, dem jedes Jahr viele Millionen Menschen zum Opfer fallen. Zum ersten Mal in der Geschichte besteht heute das Problem nicht darin, dass zu wenig Nahrungsmittel erzeugt werden, sondern dass auf skandalöse Weise unzählige Menschen aus Mangel an finanziellen Mitteln keinen Zugang zu Nahrungsmitteln haben, die andernorts im Überfluss vorhanden sind.

Erinnern wir uns an die älteste, strahlendste Erklärung der Menschenrechte, die direkt von Jean-Jacques Rousseau und seinem Gesellschaftsvertrag inspiriert wurde: die Erklärung, die die amerikanischen Revolutionäre am Morgen des 4. Juli 1776 in Philadelphia verabschiedeten. Sie ist als Präambel der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vorangestellt. Verfasst wurde sie von Thomas Jefferson und Benjamin Franklin. Darin heißt es:

»Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint.«5

Im Jahr 1776 kam das Menschenrecht auf das Streben nach Glück noch einer Utopie gleich. Die auf dem Planeten verfügbaren Güter reichten ganz einfach nicht aus, um die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen. Heute hingegen könnte dieses Recht für alle Menschen Realität werden, egal, wo und in welcher Gesellschaft sie leben. Um genau zu sein: Ich spreche hier von materiellen Bedürfnissen und materiellen Gütern zu ihrer Befriedigung. Das immaterielle Unglück – Einsamkeit, Liebeskummer, Trauer, Verzweiflung – ist ein anderes Kapitel. Aber, darauf beharre ich: Das materielle Leid, das immer noch Hunderte Millionen unserer Zeitgenossen quält, könnte morgen beseitigt sein.

Wir leben in einer absurden Weltordnung. Jeder von uns, an welchem Ort er sich befindet und zu welcher Gesellschaft er gehört, kann viel zu ihrer Bekämpfung und Überwindung beitragen.

Mein Buch erhebt natürlich nicht den Anspruch, eine Bestandsaufnahme aller aktuellen Kämpfe gegen die Entfremdung zu liefern oder eine vollständige Liste der vorhandenen analytischen Konzepte. Es werden nur die vorgestellt, die direkt mit meiner wissenschaftlichen und politischen Erfahrung verbunden sind und darum mit den praktischen und theoretischen Kämpfen für die Emanzipation der Menschen, an denen ich mich beteiligen wollte und weiterhin beteiligen will. Insofern gibt das Buch eine Erfahrung wieder, ist es eine Rechenschaft mit einem unvermeidlich schicksalhaften und subjektiven Anteil.

Die Suche nach dem Sinn der Gesellschaft, der Geschichte, des Lebens kann immer nur ein kollektives Unterfangen sein. Sie findet in den und durch die praktischen und theoretischen Auseinandersetzungen statt, in denen wir Akteure und Thema zugleich sind. Jeder von uns, der Autor wie der Leser, ist das konkrete Produkt einer komplexen Dialektik zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen. Das Verlangen nach Totalität und das Streben nach Sinn sind den Menschen angeboren. In dem Maß, wie mein Buch dazu beiträgt, kann es auf einen Wunsch des Lesers antworten, wird es eine gemeinsame Arbeit und erhält es seine Legitimität.

1 75. Auflage, Frankfurt am Main 2013, Drittes Bild. S. 34 f.

2 Fjodor Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, aus dem Russischen von Swetlana Geier, Frankfurt am Main 2006, S. 371 f.

3 Mit einer executive order zog George W. Bush im Juni 2004 die amerikanische Unterschrift unter die Konvention der Vereinten Nationen zurück, die Folter und andere Formen unmenschlicher Behandlung verbietet. Seine Begründung lautete: »Der amerikanische Präsident hat die verfassungsmäßige Gewalt, eine Militäraktion zum Schutz des amerikanischen Volkes durchzuführen …« Damit wurde das Verbot der Folter bei Verhören auf Anordnung des Oberbefehlshabers aufgehoben (»The prohibition against torture must be construed as inapplicable to interrogation undertaken pursuant to his commmander-in-chief-authority«).

4 Vgl. François Perroux, Vorwort zu Œuvres de Karl Marx, Bd. I, L’Économie, Paris 1965.

5 Text der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: http://usa.usembassy.de/etexts/gov/unabhaengigkeit.pdf. In der vom Konvent von Virginia im Zuge der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung verabschiedeten Grundrechtserklärung war erstmals vom »pursuit of happiness« (vom Recht auf das »Streben nach Glück«) die Rede.