Buch

Gegen Ende 1944 schien der Sieg der Alliierten gegen Hitler und seine Wehrmacht zum Greifen nahe: Trotz hoher Verluste war die Landung in der Normandie geglückt, Paris war befreit. Die Ostfront stand kurz vor dem Zusammenbruch, die Rote Armee drängte unaufhaltsam nach Westen. Doch Hitler beschloss gegen den wachsenden Widerstand in der eigenen Heeresführung, noch einmal alles auf eine Karte zu setzen. Am 16. Dezember 1944 startete die Ardennen-Offensive. Vor allem Antwerpen galt es zurückzuerobern, über dessen Hafen der Großteil des alliierten Nachschubs erfolgte. Damit begann die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa. Insgesamt kämpften über eine Million Soldaten sechs Wochen lang erbittert in Kälte und Schnee um jeden Quadratmeter. Trotz anfänglicher Erfolge der Wehrmacht konnten die Alliierten sie erfolgreich zurückschlagen und damit ihr Schicksal endgültig besiegeln. Mit der Präzision des Historikers und der sprachlichen Kraft des Erzählers schildert Antony Beevor dieses letzte Aufbäumen der deutschen Armee.

Autor

Antony Beevor, Jahrgang 1946, hat sich mit mehrfach ausgezeichneten und in zahlreiche Sprachen übersetzten Büchern zur Geschichte einen Namen gemacht. Auf Deutsch sind von ihm erschienen: »Stalingrad« (1999), »Berlin 1945 – Das Ende« (2002), »Die Akte Olga Tschechowa« (2004), »Der Spanische Bürgerkrieg« (2006), »Ein Schriftsteller im Krieg« (2007), »D-Day« (2010) und »Der Zweite Weltkrieg« (2014).

Antony Beevor

Die Ardennen-
Offensive 1944

Hitlers letzte Schlacht im Westen

Aus dem Englischen übertragen

von Helmut Ettinger

C. Bertelsmann

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Die Originalausgabe ist 2015 unter dem Titel »Ardennes 1944.
Hitler’s Last Gamble« bei Viking, London, erschienen.

1. Auflage
© 2015 by Antony Beevor
© 2016 für die deutsche Ausgabe by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt
Bildredaktion: Dietlinde Orendi
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-16963-3
V002

www.cbertelsmann.de

Inhalt

1. Kapitel Im Siegesrausch

2. Kapitel Antwerpen und die deutsche Grenze

3. Kapitel Die Schlacht um Aachen

4. Kapitel In den Winter des Krieges

5. Kapitel Der Hürtgenwald

6. Kapitel Die Deutschen bereiten sich vor

7. Kapitel Das Versagen der Aufklärung

8. Kapitel Samstag, 16. Dezember

9. Kapitel Sonntag, 17. Dezember

10. Kapitel Montag, 18. Dezember

11. Kapitel Skorzeny und Heydte

12. Kapitel Dienstag, 19. Dezember

13. Kapitel Mittwoch, 20. Dezember

14. Kapitel Donnerstag, 21. Dezember

15. Kapitel Freitag, 22. Dezember

16. Kapitel Samstag, 23. Dezember

17. Kapitel Sonntag, 24. Dezember

18. Kapitel Weihnachtstag

19. Kapitel Dienstag, 26. Dezember

20. Kapitel Die Vorbereitung der alliierten Gegenoffensive

21. Kapitel Die doppelte Überraschung

22. Kapitel Der Gegenangriff

23. Kapitel Der Frontbogen wird begradigt

24. Kapitel Schluss

Dank

Militärische Symbole auf den Karten

Schlachtordnung

Abkürzungen

Anmerkungen

Bibliografie

Personenregister

Orts- und Sachregister

Bildteil

Bildnachweis

1. Kapitel

Im Siegesrausch

Am frühen Morgen des 27. August 1944 verließ General Dwight D. Eisenhower Chartres, um das gerade erst befreite Paris in Augenschein zu nehmen. »›Es ist Sonntag‹, sagte der Oberbefehlshaber der alliierten Truppen zu General Omar Bradley, der ihn begleiten sollte. ›Die Leute werden ausschlafen. Wir werden das ohne Aufsehen tun können.‹«1 Aber die beiden Generale waren kaum zu übersehen, als sie zu diesem »inoffiziellen Besuch« in Richtung der französischen Hauptstadt rollten. Der Cadillac des Oberbefehlshabers in tristem Olivgrün wurde von zwei Panzerwagen eskortiert, und ein Jeep mit einem Brigadegeneral fuhr voraus.2

Als sie die Porte d’Orléans erreichten, war dort eine noch größere Eskorte der 38. Mechanisierten Aufklärungskompanie unter Generalleutnant Gerow wie zur Parade aufgestellt. Leonard Gerow, ein alter Freund Eisenhowers, kochte noch vor Ärger, weil General Philippe Leclerc von der französischen 2. Panzerdivision während des Vormarsches auf Paris alle seine Befehle hartnäckig missachtet hatte. Am Tag zuvor hatte Gerow, der sich als Militärkommandant von Paris sah, Leclerc und dessen Division verboten, an General de Gaulles Siegesparade vom Arc de Triomphe bis nach Notre-Dame teilzunehmen. Stattdessen hatte er ihm befohlen, »Paris und Umgebung weiter vom Feind zu säubern«. Während der Befreiung der Hauptstadt hatte Leclerc Gerow ignoriert, aber an diesem Morgen einen Teil seiner Division aus der Stadt nach Norden gegen Stellungen der Deutschen um Saint-Denis in Marsch gesetzt.3

Die Straßen von Paris waren leer, denn die Deutschen hatten auf ihrem Rückzug fast jedes Fahrzeug requiriert, das sich noch bewegen ließ. Selbst auf die Metro war wegen der schlechten Stromversorgung kein Verlass mehr. Die »Lichterstadt« musste sich mit Kerzen behelfen, die auf dem Schwarzmarkt gehandelt wurden. Ihre schönen Bauten wirkten alt und heruntergekommen, waren aber zum Glück noch intakt. Hitlers Befehl, sie in ein »Trümmerfeld« zu verwandeln4, war nicht befolgt worden. In der noch anhaltenden Freude über den Sieg brachen Gruppen von Franzosen auf den Straßen immer wieder in Jubel aus, wenn sie eines amerikanischen Soldaten oder Fahrzeuges ansichtig wurden. Aber es sollte nicht lange dauern, da hörte man die Pariser murren, die Amerikaner seien »pire que les boches«, »schlimmer als die Deutschen«.5

Zwar hatte Eisenhower erklärt, »ohne Aufsehen« nach Paris fahren zu wollen, aber sein Besuch hatte einen bestimmten Grund. Er wollte General Charles de Gaulle treffen, den Chef der Provisorischen Regierung Frankreichs, die anzuerkennen Präsident Roosevelt sich weigerte. Der Pragmatiker Eisenhower war bereit, die strikte Weisung seines Präsidenten zu ignorieren, die US-Truppen seien nicht in Frankreich, um General de Gaulle an die Macht zu bringen. Der Oberbefehlshaber brauchte Stabilität hinter seinen Fronten, und da de Gaulle offenbar als Einziger in der Lage war, diese herzustellen, war er gewillt, ihn zu unterstützen.

Weder de Gaulle noch Eisenhower mochten riskieren, dass das gefährliche Chaos der Befreiung außer Kontrolle geriet, besonders zu einer Zeit, die von wilden Gerüchten, unerwarteten Panikausbrüchen, Verschwörungstheorien und der hässlichen Denunziation angeblicher Kollaborateure geprägt war. Der Schriftsteller J. D. Salinger, der bei der 4. US-Infanteriedivision als Oberfeldwebel der Spionageabwehr diente, hatte bei einer Aktion in der Nähe des Pariser Rathauses gemeinsam mit einem Kameraden einen Verdächtigen festgenommen. Doch sie konnten nicht verhindern, dass eine erregte Menge ihnen den Mann entriss und vor ihren Augen totschlug.

De Gaulles Siegesparade vom Arc de Triomphe nach Notre-Dame am Tag zuvor hatte mit einer wüsten Schießerei in der Kathedrale geendet. Dieser Zwischenfall überzeugte de Gaulle, dass er die Résistance entwaffnen und ihre Mitglieder in eine reguläre französische Armee eingliedern musste. Noch am selben Nachmittag ging beim Hauptquartier des Oberbefehlshabers der Alliierten Expeditionstruppen (SHAEF) die Forderung nach 15000 Uniformen ein. Leider gab es sie nicht ausreichend in kleinen Größen, denn französische Männer waren im Durchschnitt nicht so groß wie die Amerikaner.

De Gaulles Begegnung mit den beiden US-Generalen fand im Kriegsministerium in der Rue Saint-Dominique statt. Hier hatte im tragischen Sommer 1940 seine kurze Regierungslaufbahn begonnen, und hierher war er nun zurückgekehrt, um den Eindruck von Kontinuität zu erwecken. Die Formel, mit der er die Schande des Vichy-Regimes zu tilgen suchte, war majestätisch einfach: »Die Republik hat nie aufgehört zu existieren.« De Gaulle bat Eisenhower, Leclercs Division in Paris zu belassen, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Da nun aber einige von Leclercs Einheiten bereits aus der Stadt abzogen, meinte er, die Amerikaner könnten die Bevölkerung vielleicht mit einer Demonstration der Stärke beeindrucken und ihr das Gefühl der Sicherheit geben, dass die Deutschen nicht mehr zurückkämen. Warum sollten nicht eine ganze Division oder gar zwei auf dem Weg an die Front durch Paris marschieren? Eisenhower, der es etwas merkwürdig fand, dass de Gaulle amerikanische Truppen anforderte, um seine Stellung zu festigen, fragte Bradley, was er davon halte. Der meinte, das könne in den nächsten Tagen durchaus organisiert werden. Eisenhower forderte also de Gaulle auf, in Begleitung von General Bradley den Vorbeimarsch der Truppen abzunehmen. Er selbst wollte dabei nicht in Erscheinung treten.6

In Chartres zurück, forderte Eisenhower General Sir Bernard Montgomery auf, sich de Gaulle und Bradley bei der Parade anzuschließen, doch der lehnte ab, nach Paris zu kommen. Dieses unbedeutende, aber bezeichnende Detail wurde von gewissen britischen Zeitungen zum Anlass genommen, den Amerikanern vorzuwerfen, sie beanspruchten den ganzen Ruhm der Befreiung von Paris für sich allein. Die zwanghafte Neigung der Fleet Street, in nahezu jeder Entscheidung des SHAEF eine Herabsetzung Montgomerys und damit der Briten zu sehen, sollte den Beziehungen zwischen den Alliierten noch schweren Schaden zufügen. Sie war jedoch ein Ausdruck des verbreiteten Unmuts darüber, dass Großbritannien zunehmend an den Rand des Geschehens geriet. Jetzt waren die Amerikaner am Zug und würden den Sieg für sich vereinnahmen. Luftmarschall Sir Arthur Tedder, Eisenhowers britischem Stellvertreter, bereitete dieses Vorurteil der britischen Presse Sorge: »Nach dem, was ich im SHAEF zu hören bekam, musste ich befürchten, dass dieses Verhalten geeignet war, einen tiefen Riss zwischen den Alliierten zu erzeugen.«7

Am nächsten Abend begab sich die 28. US-Infanteriedivision unter ihrem Kommandeur Generalleutnant Norman D. Cota bei dichtem Regen von Versailles nach Paris. »Dutch« Cota, der bei Omaha Beach durch außerordentlichen Mut und Führungsqualitäten aufgefallen war, hatte die Division erst zwei Wochen zuvor übernommen, als die Kugel eines deutschen Scharfschützen seinen Vorgänger getötet hatte. Die Kämpfe in der von dichten Hecken durchzogenen Normandie im Juni und Juli waren qualvoll und opferreich gewesen. Aber als unter Führung von General George C. Pattons 3. Armee Anfang August der Durchbruch gelang, war beim Vormarsch zur Seine und nach Paris wieder Optimismus aufgekommen.

Im Bois de Boulogne hatte man Duschen aufgestellt, wo Cotas Männer sich für die Parade säubern konnten. Am nächsten Morgen, dem 29. August, marschierte die Division die Avenue Foch bis zum Arc de Triomphe hinauf und dann den langen Boulevard der Champs-Elysées entlang. Infanterie im Stahlhelm mit umgehängtem Gewehr und aufgestecktem Bajonett paradierte vorbei. Die Männer im olivfarbenen Drillich, 24 in einer Reihe, füllten den breiten Boulevard. Auf der Schulter trugen sie als Divisionsabzeichen das rote »Keystone«-Emblem des Staates Pennsylvania, das die Deutschen wegen seiner Form »Bluteimer« genannt hatten.8

Die Franzosen staunten, wie lässig die Uniformen der Amerikaner wirkten und dass sie offenbar Technik im Überfluss zur Verfügung hatten. »Eine mechanisierte Armee«, notierte der Tagebuchschreiber Jean Galtier-Boissière.9 Die Menschenmenge, die sich an diesem Morgen an den Champs Elysées versammelt hatte, konnte einfach nicht glauben, dass eine einzige Infanteriedivision so viele Fahrzeuge mit sich führte: unzählige Jeeps, manche mit hinten aufmontiertem 12,7-mm-Fla-MG, Panzerspähwagen, die Artillerie mit ihren 155-mm-Feldhaubitzen »Long Tom«, die von Zugmaschinen geschleppt wurden, Pioniere, Serviceeinheiten mit kleinen und großen Lastkraftwagen, M4-Sherman-Panzer und Panzerjäger. Angesichts dieser Vorführung nahm sich die Wehrmacht, die bei der Eroberung Frankreichs im Jahr 1940 geradezu unbesiegbar erschienen war, mit ihren Pferdegespannen seltsam antiquiert aus.

Das Podium für die Generale hatte man auf der Place de la Concorde errichtet. Pioniere hatten zu diesem Zweck umgekippte Sturmboote aneinandergereiht und eine riesige Trikolore darübergebreitet. Zahlreiche Sternenbanner flatterten im Wind. Eine Militärkapelle von 56 Mann, die zunächst an der Spitze des Zuges marschiert war, spielte beim Defilee den Divisionsmarsch »Khaki Bill«. Was den französischen Zuschauern sicher verborgen blieb, was alle Soldaten der 28. Division aber wussten: Sie marschierten geradewegs zum Sturm auf die deutschen Stellungen am nördlichen Stadtrand von Paris. »Das war einer der bemerkenswertesten Angriffsbefehle, der je erlassen wurde«, sagte Bradley später zu seinem Adjutanten. »Ich denke, nicht viele Menschen haben begriffen, dass die Männer von der Parade direkt ins Gefecht zogen.«10

An der Kanalküste hatte die kanadische 1. Armee den Auftrag, die große Hafenstadt Le Havre einzunehmen, während die britische 2. Armee nach Nordosten ins Pas-de-Calais vorstieß, wo mehrere Abschussrampen der deutschen V-Waffen standen. Ungeachtet der Erschöpfung der Panzerfahrer und eines schlimmen Sturms in der Nacht vom 30. auf den 31. August eroberte die Gardepanzerdivision mit Unterstützung der französischen Résistance Amiens und die Brücken über die Somme, was der General der Panzertruppen Heinrich Eberbach, der die deutsche 5. Panzerarmee befehligte, am nächsten Morgen überrascht feststellen musste. Dann gelang es den Briten, mit einem Vorstoß einen Keil zwischen die Reste der 5. Panzerarmee und die 15. Armee zu treiben, die bisher das Pas-de-Calais gehalten hatte. Die Kanadier, an ihrer Spitze das Royal Regiment of Canada, die Royal Hamilton Light Infantry und die Essex Scottish, hielten auf Dieppe zu, wo sie bei dem desaströsen Angriff der Deutschen zwei Jahre zuvor so schwer gelitten hatten.

Die Alliierten sonnten sich in kaum zu überbietender Siegeseuphorie. Der Bombenanschlag auf Hitler vom 20. Juli hatte sie in der Vorstellung bestärkt, wie 1918 beginne Deutschland jetzt zusammenzubrechen. Tatsächlich aber hatte das fehlgeschlagene Attentat eine beträchtliche Stärkung der Nazi-Herrschaft zur Folge. Doch der Chef Aufklärung des SHAEF, G2, behauptete unbeirrt: »Die August-Schlachten haben die Sache erledigt, und im Westen ist der Feind am Ende.«11 Das Kriegskabinett in London kam zu der Auffassung, bis Weihnachten werde alles vorbei sein, und setzte den 31. Dezember 1944 als voraussichtliches Datum des Kriegsendes fest. Lediglich Churchill blieb skeptisch und traute den Deutschen durchaus zu, den Kampf fortzusetzen. In Washington, wo man ähnlich dachte wie beim SHAEF, glaubte man, sich nun stärker den nach wie vor schweren Kämpfen gegen die Japaner im Pazifik widmen zu können. Das U.S. War Production Board, das während des Krieges die amerikanische Rüstungsproduktion koordinierte, begann Bestellungen von Militärgütern, darunter für Artilleriegranaten, zu annullieren.

Auch viele Deutsche glaubten, das Ende sei gekommen. Oberstleutnant Fritz Fullriede in Utrecht schrieb in sein Tagebuch: »Die Westfront ist am Ende, der Feind steht bereits in Belgien und an den Grenzen des Reichs; Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Finnland haben um Frieden nachgesucht. Es ist genau wie 1918.«12 Auf einem Bahnhof in Berlin hatte jemand gewagt, ein Spruchband mit der Aufschrift anzubringen: »Wir wollen Frieden, so oder so!«13 An der Ostfront hatte die Rote Armee mit ihrer »Operation Bagration« die Heeresgruppe Mitte zerschlagen, war 500 Kilometer weit vorgestoßen und stand nun an der Weichsel vor den Toren von Warschau. In drei Monaten hatte die Wehrmacht an der Ostfront 589425 Mann und an der Westfront 156726 Mann verloren.14

Der rasche Vorstoß der Roten Armee bis zur Weichsel hatte die polnische Armija Krajowa bestärkt, den kühnen, aber zum Scheitern verurteilten Warschauer Aufstand auszulösen. Stalin, der kein unabhängiges Polen wollte, ließ kalten Herzens zu, dass die Aufständischen von den Deutschen vernichtet wurden. Inzwischen war auch Hitlers Hauptquartier »Wolfsschanze« bei Rastenburg bedroht, und deutsche Truppen kapitulierten auf dem Balkan. Zwei Tage vor der Befreiung von Paris schied Rumänien aus der Achse aus, als sowjetische Truppen seine Grenzen überschritten. Am 30. August marschierte die Rote Armee in Bukarest ein und besetzte die lebenswichtigen Ölfelder von Ploeşti. Der Weg zur ungarischen Tiefebene, zur Donau und damit nach Österreich und Deutschland stand nun offen.

Mitte August war General George Pattons 3. US-Armee aus der Normandie bis zur Seine vorgerückt. Das fiel mit der erfolgreichen »Operation Dragoon«, der Landung alliierter Truppen an der Mittelmeerküste zwischen Cannes und Toulon, zusammen. Die Furcht, abgeschnitten zu werden, trieb große Teile der deutschen Einheiten zum Rückzug quer durchs Land. Mitglieder der Milice des Vichy-Regimes, die wussten, was sie von der Résistance zu erwarten hatten, begaben sich ebenfalls auf einen Marsch durch feindliches Gebiet, um in Deutschland Zuflucht zu finden. Dieser sollte sich in einigen Fällen über 1000 Kilometer weit erstrecken. Improvisierte »Marschgruppen«, eine Mischung aus Angehörigen des Heeres, der Luftwaffe, der Kriegsmarine und Zivilpersonal, erhielten Befehl, sich aus dem Bereich der Atlantikküste in Richtung Osten in Sicherheit zu bringen und dabei der Résistance möglichst aus dem Weg zu gehen. Die Wehrmacht begann einen Frontbogen bei Dijon zu verstärken, wo sie fast eine Viertelmillion Deutsche in Empfang nahm. Weitere 51000 Soldaten entgingen der Einkesselung an der Atlantik- und der Mittelmeerküste jedoch nicht. Der »Führer« hatte große Häfen zu »Festungen« erklären lassen, obwohl keine Hoffnung bestand, Truppen von dort zu entsetzen.15 Diese Art von Realitätsverweigerung verglich ein deutscher General mit dem Verhalten eines katholischen Priesters am Karfreitag, der den Schweinebraten auf seinem Teller mit Weihwasser besprengt und dabei spricht: »Du bist Fisch.«16

Nach dem Bombenanschlag vom 20. Juli erfuhr Hitlers Paranoia eine weitere Steigerung. In der »Wolfsschanze« in Ostpreußen ging er weit über seine gewohnte Stichelei hinaus, der deutsche Generalstab sei nur ein »Intellektuellenklub«.17 »Jetzt weiß ich, warum in den letzten Jahren alle meine großen Pläne in Russland scheitern mussten«, erklärte er. »Alles war Verrat! Ohne die Verräter wären wir längst Sieger!«18 Hitler hasste die Verschwörer vom 20. Juli nicht nur wegen des Verrats, sondern auch weil sie das Bild von einem monolithischen Deutschland beschädigt hatten, was sich auf verbündete und neutrale Staaten auswirken würde.

Bei seiner Lagebesprechung am 31. August erklärte Hitler: »Es werden Momente kommen, in denen die Spannungen der Verbündeten so groß werden, dass dann trotzdem der Bruch eintritt. Koalitionen sind in der Weltgeschichte noch immer einmal zugrunde gegangen.«19 Propagandaminister Josef Goebbels nahm diesen Gedanken des »Führers« rasch bei einer kurz darauf stattfindenden Ministerkonferenz in Berlin auf: »Es ist sicher, dass sich die politischen Konflikte mit dem scheinbaren Näherkommen eines Sieges der Alliierten steigern und eines Tages Risse im Haus unserer Feinde erzeugen werden, die nicht mehr repariert werden können.«20

Der Stabschef der Luftwaffe, General der Flieger Werner Kreipe, schrieb an diesem letzten Augusttag in sein Tagebuch: »Abends Meldungen über Zusammenbruch im Westen.« Fast die ganze Nacht hindurch ging es hektisch zu – »Befehle, Anordnungen, Telefonate«. Am nächsten Morgen befahl der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, der Luftwaffe, weitere 50000 Mann für das Heer abzustellen. Am 2. September notierte Kreipe: »Im Westen anscheinend Auflösung, Jodl [der Chef des Planungsstabes der Wehrmacht] merkwürdig ruhig. Die Finnen springen ab.«21 Während der Besprechung an diesem Tag begann Hitler auf den Präsidenten Finnlands, Marschall Mannerheim, zu schimpfen. Er war auch aufgebracht darüber, dass Reichsmarschall Hermann Göring es in einer so kritischen Situation nicht einmal für nötig hielt, bei ihm zu erscheinen. Er deutete sogar an, die Staffeln der Luftwaffe aufzulösen und die Besatzungen in Flakeinheiten einzugliedern.

Da Truppen der Roten Armee nun bereits an der Grenze Ostpreußens standen, fürchtete Hitler eine Aktion sowjetischer Fallschirmjäger, um seiner Person habhaft zu werden. Die »Wolfsschanze« war inzwischen zu einer wahren Festung ausgebaut worden. »Es war mittlerweile ein riesenhafter Apparat entstanden«, schrieb Hitlers Sekretärin Traudl Junge. »Überall waren Sperren und neue Posten, Minen, Stacheldrahtverhaue, Beobachtungstürme.«22

Hitler wollte, dass ein Offizier, dem er vertrauen konnte, die Truppen befehligte, die ihn schützten. Oberst Otto Remer hatte das Wachregiment »Großdeutschland« in Berlin dazu gebracht, die Verschwörer des 20. Juli niederzuringen. Als er von Remers Bitte hörte, zu einer Truppe im Feld abkommandiert zu werden, beauftragte ihn Hitler, eine Brigade zum Schutz der »Wolfsschanze« aufzubauen. Anfangs bestehend aus seiner Einheit aus Berlin, der acht Batterien des Flakregiments »Hermann Göring« angegliedert wurden, wuchs Remers Brigade unaufhörlich weiter. Im September stand die Führer-Begleit-Brigade bereit, die »Wolfsschanze« gegen »einen Angriff von zwei oder drei Luftlandedivisionen« zu verteidigen. Dieses »ungewöhnliche Aufgebot« verschiedener Waffengattungen, wie Remer selbst es nannte, erhielt absolute Priorität bei der Ausstattung mit Waffen, Ausrüstung und »erfahrenen Frontsoldaten«, zumeist aus der Division »Großdeutschland«.23

In der »Wolfsschanze« herrschte eine tief deprimierte Stimmung. Hitler lag tagelang lustlos im Bett, während seine Sekretärinnen damit beschäftigt waren, »ganze Stöße von Schadensmeldungen« von der Ost- und der Westfront abzuschreiben.24 Unterdessen saß Göring schmollend auf dem Jagdschloss der Hohenzollern im ostpreußischen Rominten, das er sich angeeignet hatte. Er wusste, dass ihn seine Rivalen nach dem Versagen der Luftwaffe in der Normandie am Hof des »Führers« ausmanövriert hatten. Das betraf insbesondere den äußerst geschickt agierenden Martin Bormann, dessen Rachsucht sich bald zeigen sollte. Sein anderer Gegenspieler, der Reichsführer SS Heinrich Himmler, hatte den Befehl über das »Ersatzheer« erhalten, in dessen Stab der Bombenanschlag ausgeheckt worden war. Und Goebbels, den der »Führer« inzwischen zum Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz ernannt hatte, schien damit die Heimatfront vollständig in der Hand zu haben. Allerdings waren Bormann und die Gauleiter nach wie vor in der Lage, jeden Versuch zu vereiteln, auch ihre Einflussbereiche unter Kontrolle zu nehmen.

War bereits der Anschlag auf Hitler für die meisten Deutschen ein Schock gewesen, so sank die Stimmung beträchtlich weiter, als sowjetische Einheiten an den Grenzen Ostpreußens auftauchten. Vor allem die Frauen wollten, dass der Krieg ein rasches Ende nahm. Wie der Sicherheitsdient der SS meldete, hatten viele den Glauben an den »Führer« verloren. Jene, die tiefer blickten, spürten jedoch, dass es kein Ende des Krieges geben konnte, solange Hitler am Leben war.25

Trotz oder vielleicht gerade wegen der Erfolge dieses Sommers regten sich auf den höchsten Kommandoebenen der Alliierten Rivalitäten. Eisenhower, »eher militärischer Staatsmann als Generalissimus«, wie ein Beobachter es ausdrückte,26 suchte den Konsens, aber er schien geneigt, Montgomery und die Briten beschwichtigen zu wollen, was bei Omar Bradley Ärger und bei General George Patton zornige Verachtung auslöste. Der Streit darüber, der bis ins neue Jahr hinein das Verhältnis zwischen den Beteiligten belasten sollte, hatte am 19. August begonnen.

An diesem Tag hatte Montgomery gefordert, nahezu die gesamte Streitmacht der Alliierten solle unter seinem Befehl durch Belgien und Holland in Richtung Ruhrgebiet marschieren. Als dies abgelehnt wurde, verlangte er, dass seine eigene 21. Armeegruppe mit Unterstützung der 1. US-Armee unter General Courtney Hodges in diese Richtung vorrücken möge. Das hätte es den Alliierten ermöglicht, die Stellungen der V-Waffen zu erobern, die auf London abgeschossen wurden, und den Hochseehafen von Antwerpen zu besetzen, der für den Nachschub beim weiteren Vormarsch von vitaler Bedeutung war. Zwar stimmten Bradley und die Befehlshaber seiner beiden Armeen, Patton und Hodges, zu, dass Antwerpen gesichert werden musste, aber sie wollten in Richtung Saar marschieren und so auf dem kürzesten Wege in Deutschland einrücken. Die amerikanischen Generale waren der Meinung, dass sie aufgrund der unter der Führung von Pattons 3. Armee erreichten Erfolge bei der »Operation Cobra« und beim Durchbruch zur Seine den Vorrang zu beanspruchen hätten. Eisenhower dagegen sah klar, dass ein einzelner Vorstoß, ob der Briten im Norden oder der Amerikaner in der Mitte der Front, hohe Risiken barg – im politischen mehr noch als im militärischen Sinn. Er hatte einen Zornesausbruch der Presse und der Politiker entweder in den USA oder in Großbritannien zu gewärtigen, sollte eine der Armeen wegen Nachschubproblemen gestoppt werden, während die andere vorwärtsstürmte.

Als am 1. September die seit Langem geplante Entscheidung verkündet wurde, dass Bradley, der technisch bisher Montgomery unterstand, nun den Befehl über die 12. US-Armeegruppe übernehmen sollte, reagierte die britische Presse erneut gekränkt. In der Fleet Street sah man diese Umgruppierung als Herabstufung Montgomerys, denn da Eisenhower jetzt sein Hauptquartier in Frankreich hatte, befehligte der Brite die Bodentruppen nicht mehr. In London, wo man dieses Problem vorausgesehen hatte, war man bemüht, die Lage zu beruhigen, indem man Montgomery zum Feldmarschall beförderte (wodurch er theoretisch nun über Eisenhower stand, der nur Vier-Sterne-General war). Patton, der an diesem Morgen Radio hörte, war tief enttäuscht, als »Ike sagte, Monty sei der größte lebende Soldat und nun Feldmarschall«. Von den Erfolgen anderer war keine Rede. Nach einer Besprechung in Bradleys Hauptquartier am nächsten Tag schrieb Patton, der den Vormarsch durch Frankreich angeführt hatte: »Ike hat keinem von uns gedankt oder dazu gratuliert, was wir getan haben.«27 Zwei Tage später stand seine 3. Armee an der Maas.

Wie dem auch sei, der Vorstoß der 1. US-Armee und der britischen 2. Armee nach Belgien gehörte zu den schnellsten Märschen des ganzen Krieges. Das Tempo hätte noch höher sein können, wären sie nicht in jedem Dorf und jeder Stadt Belgiens von der Bevölkerung begeistert begrüßt worden. Der Kommandeur des britischen XXX. Korps, Generalleutnant Brian Horrocks, beschrieb das mit den Worten: »Mit all dem, was sich an Champagner, Blumen, Menschen, vor allem Mädchen, auf den Funkfahrzeugen häufte, war es schwierig, den Krieg noch fortzusetzen.«28 Auch die Amerikaner stellten fest, dass sie in Belgien mit viel größerer Herzlichkeit und Begeisterung willkommen geheißen wurden als in Frankreich. Am 3. September fuhr die US-Gardepanzerdivision in Brüssel unter dem stürmischsten Jubel ein, den sie je erlebt hatte.

Schon am nächsten Tag nahm die britische 11. Panzerdivision unter Generalleutnant »Pip« Roberts in einem bemerkenswerten Handstreich Antwerpen. Mit Unterstützung der belgischen Résistance besetzte sie den Hafen, bevor die Deutschen die Anlagen zerstören konnten. Die 159. Infanteriebrigade griff den deutschen Stab in einem Park an, und um 20 Uhr hatte sich der Kommandant der deutschen Garnison bereits ergeben. Seine 6000 Mann wurden zum Zoo eskortiert, wo man sie in leeren Käfigen unterbrachte, denn die Tiere hatte die hungernde Bevölkerung bereits aufgegessen. »Dort saßen die Gefangenen auf Stroh«, berichtete Martha Gellhorn, »und starrten durch die Gitterstäbe.«29 Der Fall von Antwerpen löste im Führerhauptquartier einen Schock aus. »Sie hatten gerade erst die Somme überquert«, bekannte der General der Artillerie Walter Warlimont im Jahr darauf gegenüber Vernehmungsoffizieren der Alliierten, »und schon standen eine oder zwei Ihrer Panzerdivisionen vor den Toren von Antwerpen. Wir hatten nicht so schnell mit einem Durchbruch gerechnet und waren überhaupt nicht darauf vorbereitet. Als wir die Nachricht erhielten, war das eine böse Überraschung.«30

Auch die 1. US-Armee ging in hohem Tempo vor, um die auf dem Rückzug befindlichen Deutschen einzuholen. Das Aufklärungsbataillon der 2. Panzerdivision eilte den übrigen Truppen weit voraus, stellte fest, auf welcher Route sich der Feind zurückzog, und legte sich dann mit seinen leichten Panzern nach Einbruch der Dunkelheit in einem Dorf oder einer Stadt in den Hinterhalt. »Einen Konvoi ließen wir bis auf die wirksamste Schussweite unserer Waffen herankommen, bevor wir das Feuer eröffneten. Ein leichter Panzer hatte die Aufgabe, ausgeschaltete Fahrzeuge rasch zwischen die Häuser zu schleppen, damit nachfolgende Einheiten nichts bemerkten. So ging das die ganze Nacht.«31 Ein amerikanischer Panzerkommandant rechnete aus, dass sein Fahrzeug vom 18. August bis zum 5. September etwa 900 Kilometer »praktisch ohne jede Instandhaltung« gefahren war.32

An der französisch-belgischen Grenze brachte eine Zangenbewegung in der Nähe von Mons Bradleys Truppen noch größeren Erfolg als den Briten. Motorisierten Einheiten dreier deutscher Panzerdivisionen gelang es noch auszubrechen, bevor die 1. US-Infanteriedivision den Ring schloss. Die Fallschirmjäger der 3. und 6. Division waren verbittert, dass die Waffen-SS wieder einmal nur sich selbst gerettet und alle anderen im Stich gelassen hatte. Die Amerikaner kesselten die Überlebenden von sechs deutschen Divisionen aus der Normandie – insgesamt mehr als 25000 Mann – ein. Bevor diese sich ergaben, boten sie ein leicht zu treffendes Ziel. Im Bericht der Artillerie der 9. US-Infanteriedivision heißt es: »Wir richteten direktes Feuer unserer 155-mm-Kanonen gegen Marschkolonnen der feindlichen Truppen, fügten ihnen schwere Verluste zu und trugen dazu bei, 6100 Mann, darunter drei Generale, gefangen zu nehmen.«33

Angriffe der belgischen Résistance in Mons lösten die ersten Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen aus. Dabei wurden 60 Zivilisten getötet und viele Häuser in Brand gesteckt. Bei der Säuberung der Gegend vom Feind arbeiteten Gruppen der Geheimarmee – der belgischen Nationalbewegung, der Unabhängigkeitsfront und der Weißen Armee [1] – eng mit den Amerikanern zusammen. Das deutsche Oberkommando befürchtete, beim Rückzug könnte es in Belgien zu Massenaufständen kommen, bevor die deutschen Truppen sich am Westwall in Sicherheit brachten, den die Alliierten auf Englisch »Siegfried Line« nannten. Junge Belgier beteiligten sich an den Anschlägen, was schon damals schreckliche Folgen hatte, vor allem aber im Dezember, als die deutschen Truppen während der Ardennen-Offensive, nach Rache dürstend, zurückkehrten.

Am 1. September beobachtete Maurice Delvenne in Jemelle bei Rochefort in den nördlichen Ardennen mit großer Freude den Abzug der Deutschen aus Belgien. »Die deutschen Truppen laufen immer schneller, und die Desorganisation scheint zuzunehmen«, schrieb er in sein Tagebuch. »Pioniere, Infanterie, Marine, Luftwaffe und Artillerie – alle durcheinander auf einem Lkw. Die Männer scheinen direkt aus dem Kampfgebiet zu kommen. Sie sind verschmutzt und abgemagert. Sie interessiert vor allem, wie viele Kilometer es noch bis zu ihrer Heimat sind. Und wir machen uns natürlich einen boshaften Spaß daraus, größere Entfernungen anzugeben.«34

Zwei Tage später kamen SS-Truppen, einige Soldaten mit Kopfverbänden, durch Jemelle. »Ihr Blick ist hart, und sie starren die Menschen hasserfüllt an.«35 Sie hinterließen eine Spur der Verwüstung – ausgebrannte Häuser und umgestürzte Telegrafenmasten. Sie trieben gestohlene Schafe und Rinder vor sich her. Die Bauern aus den Deutsch sprechenden Ostkantonen der Ardennen erhielten Befehl, sich samt Familien und Vieh hinter den Westwall auf Reichsgebiet zu begeben. Die Nachrichten von den Bombenangriffen der Alliierten ängstigten sie sehr, aber die meisten wollten ihre Höfe nicht im Stich lassen. Sie versteckten sich mit ihrem Vieh in den Wäldern, bis die Deutschen abgezogen waren.

Am 5. September provozierten die Taten junger Angehöriger der Résistance die Deutschen dazu, an der Fernstraße N4 von Marche-en-Famenne nach Bastogne in der Nähe des Dorfes Bande 35 Häuser niederzubrennen. Noch viel schlimmer wurde es, als die Deutschen während der Ardennen-Offensive am Heiligabend in die Gegend zurückkehrten. Die Vergeltung für Angriffe der Résistance versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. In Buissonville rächten sich die Deutschen am 6. September für einen Überfall, der zwei Tage zuvor stattgefunden hatte. Dort und im Nachbardorf setzten sie 22 Häuser in Brand.

Längs der Rückzugslinie der Deutschen strömten Dorf- und Stadtbewohner mit belgischen, britischen und amerikanischen Fahnen auf die Straßen, um ihre Befreier willkommen zu heißen. Zuweilen mussten sie die Fahnen rasch verbergen, wenn eine weitere flüchtende deutsche Einheit in ihrer Hauptstraße auftauchte. Im holländischen Utrecht beschrieb Oberstleutnant Fritz Fullriede »einen traurigen Zug holländischer Nationalsozialisten, die vor dem Zorn der niederländischen Bevölkerung nach Deutschland in Sicherheit gebracht werden. Viele Frauen und Kinder.« Diese niederländische SS-Einheit hatte bei Hechtel jenseits der belgischen Grenze gekämpft. Sie war der Einkesselung entgangen, weil sie einen Kanal durchschwommen hatte. Aber »zur Schande der Briten [die offenbar tatenlos zusahen] wurden die meisten der verwundeten Offiziere und Mannschaften, die sich ergeben wollten, von den Belgiern erschossen«.36 Nach vier Jahren Besatzung hatten Niederländer und Belgier viel zu vergelten.

Die deutsche Front in Belgien und Holland schien komplett zusammengebrochen zu sein. Im Hinterland brach Panik aus, und es kam zu so chaotischen Szenen, dass das LXXXIX. Armeekorps in seinem Kriegstagebuch von »einem Bild« sprach, »das für die deutsche Armee unwürdig und beschämend ist«.37 Streifengruppen der Feldjäger, tatsächlich aber Strafabteilungen, sammelten Versprengte ein und geleiteten sie zu einem Sammellager. Von dort wurden sie dann in der Regel in Gruppen zu 60 Mann unter dem Kommando eines Offiziers an die Front zurückgeschickt. Bei Lüttich marschierten etwa 1000 Mann, geführt von Offizieren mit gezogener Pistole, an die Front. Wer der Fahnenflucht verdächtig war, wurde vor ein Kriegsgericht gestellt. Wenn schuldig gesprochen, lautete das Urteil entweder auf Todesstrafe oder Bewährungsbataillon (in Wirklichkeit ein Strafbataillon). Deserteure, die gestanden oder in Zivilkleidung aufgegriffen wurden, erschoss man an Ort und Stelle.

Jeder Feldjäger trug eine rote Armbinde mit der Aufschrift »OKW Feldjäger« und hatte einen Sonderausweis mit einem grünen diagonalen Streifen bei sich, auf dem stand: »Er ist berechtigt, bei Widerstand von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.« Die Feldjäger waren stark indoktriniert. Einmal wöchentlich hielt ein Offizier ihnen eine Lektion »über die Weltlage, die Unmöglichkeit, Deutschland zu zerstören, die Unfehlbarkeit des Führers und über unterirdische Fabriken, mit denen der Gegner überlistet werden würde«.38

Generalfeldmarschall Walter Models Appell an die Soldaten der Westarmee, in dem er sie aufforderte, durchzuhalten und Zeit für den »Führer« zu gewinnen, verhallte ungehört. Nun wurde rücksichtslos vorgegangen. Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel befahl am 2. September, »Drückeberger und feige Simulanten«, einschließlich Offiziere, auf der Stelle hinzurichten.39 Model erklärte warnend, er benötige mindestens zehn Infanteriedivisionen und fünf Panzerdivisionen, wenn er einen Durchbruch des Gegners nach Norddeutschland verhindern sollte. Streitkräfte dieser Stärke waren einfach nicht vorhanden.

Der deutsche Rückzug längs der Küste des Ärmelkanals im Norden verlief wesentlich geordneter, was vor allem daran lag, dass die Kanadier verspätet die Verfolgung aufnahmen. Der General der Infanterie Gustav von Zangen führte den Abzug der 15. Armee vom Pas-de-Calais nach Nordbelgien auf eindrucksvolle Weise. Die Aufklärung der Alliierten irrte sehr, als sie erklärte, dass »die einzige bekannte Verstärkung, die in Holland eintreffen wird, die demoralisierten und desorganisierten Reste der 15. Armee sind, die jetzt über die holländischen Inseln aus Belgien fliehen«.40

Die unerwartete Eroberung Antwerpens mag für das deutsche Oberkommando ein schwerer Schlag gewesen sein, aber da die britische 2. Armee in den Tagen darauf die Nordseite der Scheldemündung nicht besetzte, gelang es General von Zangen, Verteidigungslinien zu errichten. Dazu gehörte eine 20 Kilometer breite Schanzanlage auf der Südseite der Scheldemündung (genannt Breskens-Kessel), auf der Halbinsel Zuid-Beveland am Nordufer des Flusses und auf der Insel Walcheren. Seine Streitmacht bestand bald aus 82000 Mann und hatte 530 Geschütze zur Verfügung, womit er jeden Versuch der Royal Navy verhinderte, sich der stark verminten Scheldemündung zu nähern.

Admiral Sir Bertram Ramsay, der Oberbefehlshaber der Marine der Alliierten, hatte das SHAEF und Montgomery bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die Deutschen die Scheldemündung mit Leichtigkeit blockieren konnten. Auch Admiral Sir Andrew Cunningham, der britische Marineminister, hatte gewarnt, dass Antwerpen »uns so viel nutzt wie Timbuktu«, wenn die Zugänge nicht vom Feind gesäubert würden.41 Der Korpskommandeur General Horrocks räumte später seine Verantwortung für diesen Fehler ein. »Napoleon hätte das zweifellos erkannt«, schrieb er, »aber ich fürchte, Horrocks hat es nicht.«42 Aber schuld waren weder Horrocks noch Roberts, der Kommandeur der 11. Panzerdivision. Der Fehler lag bei Montgomery, den die Mündung nicht interessierte und der meinte, die Kanadier könnten sie auch später noch räumen.

Das war ein schwerer Irrtum, der bald zu einer bösen Überraschung führen sollte. Doch in diesen Tagen der Euphorie waren die Generale, die schon im Ersten Weltkrieg gedient hatten, überzeugt, der September 1944 sei mit dem September 1918 zu vergleichen. »Die Zeitungen berichteten über einen Vormarsch von 340 Kilometern in sechs Tagen und wiesen darauf hin, dass Truppen der Alliierten bereits in Holland, Luxemburg, in Saarbrücken, Brüssel und Antwerpen stehen«, schrieb der Militärhistoriker Forrest Pogue. »Die Prognosen der Aufklärung an allen Fronten waren von einem fast hysterischen Optimismus geprägt.«43 Fast alle hohen Offiziere starrten auf den Rhein und glaubten, die Alliierten könnten ihn quasi in einem Sprung überwinden. Eisenhower konnte diese Vision natürlich nicht ernst nehmen, während Montgomery aus ganz eigenen Gründen davon wie berauscht war.

[1] Die Bezeichnung »Weiße Armee« hatte nichts mit den Armeen der Weißgardisten im russischen Bürgerkrieg zu tun. Diese Organisation entstand aus dem belgischen Geheimdienstnetz heraus, das sich unter der deutschen Besatzung im Ersten Weltkrieg gebildet hatte. Es trug den Namen »Weiße Dame«, der auf die Legende zurückgeht, dass die Dynastie der Hohenzollern stürzen werde, wenn der Geist einer in Weiß gekleideten Dame erscheine.