Thomas Lau

Teutschland

Eine Spurensuche im 16. Jahrhundert

 

 

 

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Lektorat: Thomas Theise, Regensburg

Satz und Gestaltung: Satz & mehr, R. Günl, Besigheim

Druck und Bindung: CPI-Ebner & Spiegel, Ulm

 

ISBN 978-3-8062-2376-7

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Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-2446-7

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Inhaltsübersicht

„TEUTSCHLAND“ – EINE SPURENSUCHE

DIE GEBURT DER NATION – „TEUTSCHLAND“ ZWISCHEN 1500 UND 1648

Die Erben des Tacitus – eine Nation wird gefälscht

Eine deutsche Dynastie? Habsburg und die Folgen

Des edlen Deutschlands Zierde – Adelskultur und Germanenkult

Die Stadt – Brutstätte nationalen Vorurteils

„WACH AUF, DU DEUTSCHES LAND“ – URSACHE UND WIRKUNG VON REFORMATION UND KONFESSIONALISIERUNG

Der Streit um die Kirche – Wege zur Reformation

„Oh Teutschland“ – die Reformation zwischen Theologendisput und Bauernkrieg

Deutsche Glaubenswächter – von der Entstehung der Konfessionen

Das paradoxe Zeitalter – Grenzen und Gefahren der Konfessionsbildung

DAS REICH „TEUTSCHER NATION“

Gekrönte Häupter – das Reich der Rituale

Das Reich der Juristen

Das Reich der Diplomaten

Das Reich im Krieg

LITERATUREMPFEHLUNGEN

PERSONEN- UND ORTSREGISTER

„TEUTSCHLAND“ – EINE SPURENSUCHE

Der Chronist zog eine deprimierende Bilanz. Neunhundert Jahre Krieg gegen die Muslime hatten die Christenheit von einer Niederlage zur nächsten geführt. Unendlich viel Blut war vergossen worden: Königreiche, Völker und Länder gingen dennoch verloren. Der Zorn der Heiden hatte nichts an Schärfe verloren. Ihre Eroberungszüge bedrohten nun die letzten Zufluchtsstätten der Christenheit. Europa schien dem Untergang geweiht zu sein.

So groß das Unglück, so erstaunlich war die Blindheit und Verstocktheit der geschlagenen Sünder. Ungerechtigkeit und Habgier, Eigennutz und Gottesferne – all jene teuflischen Triebe, die das Unglück verschuldet hatten, verseuchten die Christenheit nach wie vor. Der Verlust der alten Tugenden und die Blindheit gegen die Lehren der Geschichte zogen die Europäer immer weiter in den Strudel der Katastrophe hinein. Gott wird nicht eher seine Geißel ruhen lassen, bis man in den Spiegel der Wahrheit schaut und die Kräfte der Sünde mit Stumpf und Stil ausrottet. Geschichtsschreibung, so erklärte Johannes Thurmeier alias Aventinus im Vorwort seiner bayerischen Chronik aus dem Jahre 1526, soll dem Leser daher nicht schmeicheln, sondern ihm einen Spiegel vorhalten. Sie soll ihn belehren und ihm einen Ausweg aus einer schwierigen Situation weisen.

Durch akribische Auswertung von Dokumenten, Annalen, Bildern und weiteren Quellen will Aventinus das Dunkel erhellen, und er weiß fürwahr Erstaunliches zu berichten. Während alle Welt sich den Heldentaten der Juden, der Römer, der Griechen oder der Perser zuwendet, war die Geschichte des wichtigsten und glorreichsten Volkes der Erde bislang unerzählt geblieben – die der Deutschen und ihres vornehmsten Stammes, der Bayern. Noah selbst habe seinen Sohn Tuiscon – den Stammvater aller Deutschen – nach Norden entsandt, um einen Idealstaat zu gründen. Der Erfolg des Unternehmens war offenkundig: Die wilden Germanen brachten einen Heldenkönig nach dem anderen hervor, sie vereinten Gottesnähe, Bildung und Natürlichkeit miteinander. Siegreich überzogen sie den Kontinent mit Krieg. Bedroht wurde die Nation der edlen Wilden lediglich durch das Virus der römischen Dekadenz. Die französischen Brüder waren ihm bereits anheimgefallen. Nun hatte der Krankheitserreger seine Attacken auf Deutschland ausgedehnt. Es war daher an der Zeit, dass sich das Stammland der Germanen unter der Führung Bayerns wieder seiner sittlichen Wurzeln erinnerte. Kein Feind, weder Franzosen noch Türken, konnte den Deutschen dann noch widerstehen.

Das zunächst in lateinischer, später in deutscher Sprache erschienene Werk wurde von den humanistischen Freunden des Autors mit Begeisterung aufgenommen. Aventinus galt ihnen als einer der hervorragendsten Gelehrten seiner Zeit, als ein Mann, der völlig neue Aspekte der Geschichte Deutschlands zutage gefördert hatte. Deutschland – dieses Wort wurde von Aventinus mit erstaunlicher Geläufigkeit verwendet. Die Existenz einer deutschen Nation, die eine gemeinsame Geschichte, gemeinsame Tugenden, ein gemeinsames Vaterland besaß, schien für ihn – und nicht nur für ihn – außer Frage zu stehen.

Für national gesinnte Historiker des 19. Jahrhunderts waren dergleichen Bekenntnisse der Humanisten ein wahrer Glücksfall, schienen sie doch die These von der natürlichen, weit in die Geschichte zurückzuverfolgenden Existenz der Nation zu bestätigen. Im 16. Jahrhundert sei sie sich zum ersten Male ihrer selbst bewusst geworden. Dass dieses Bewusstsein sich gegen Rom wandte, gegen den welschen Tand, wurde in Zeiten des Kulturkampfes als weitere Bestätigung des eigenen Geschichtsbildes wahrgenommen. Der Kampf der deutschen Kaiser des Mittelalters fand hier, so frohlockte man, eine ideologisch reflektierte Fortsetzung. Leopold von Ranke wusste das 16. Jahrhundert als deutsches Drama zu inszenieren. Das um seine sittliche Gestalt und seine staatliche Einheit ringende Deutschland wurde weltgeschichtliche Bühne und kollektiver Akteur in einem. Was die Humanisten erstmals formulierten, wurde dabei von einem deutschen Heros aufgenommen, der Gelehrsamkeit und – so frohlockte man – deutsche Innerlichkeit zugleich verkörperte. Martin Luther, der deutsche Revolutionär, war Taktgeber einer Umwälzung, die die Nation in das Licht der Moderne führte und zugleich in die erste nationale Katastrophe. Thesenanschlag und Westfälischer Friede, deutsche Heldentat und deutsches Trauma bildeten in diesem Geschichtsbild gleichsam die Eckpunkte eines zentralen Abschnitts der deutschen Nationalgeschichte.

Sicher, es gab auch andere Stimmen. Ernst Troeltsch und Max Weber etwa hatten schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in höchst gegensätzlicher Weise die europäischen Wirkungen der Wittenberger Reformation hervorgehoben und deren Bedeutung zugleich relativiert. Dergleichen Stimmen blieben zwar nicht ungehört, ihre volle Wirkungsmacht entfalteten sie aber erst, als die Auflösungserscheinungen der europäischen Nationalstaaten evident wurden.

Angesichts der zunehmenden Bedeutung multinationaler Strukturen und des wachsenden Interesses für außereuropäische Entwicklungen ist der Blick auf die Nation in den Jahren nach 1945 deutlich distanzierter geworden. Dass sie eine natürlich gewachsene Einheit darstellt und dass der aus ihr entspringende Nationalstaat der Königsweg in die Moderne ist, wurde von der Forschung als historischer Mythos entlarvt. Nationen, darin ist sich die jüngere Forschung einig, sind gedankliche Bastelarbeiten. Sie entstammen dem Hirn von Ideologieschmieden, die einer Gesellschaft neue Deutungen der Realität anbieten. Die Zahl der Konstrukteure und der von ihnen entworfenen unterschiedlichen Vorstellungen von der Nation ist unüberschaubar groß. Was Deutschland ausmacht, was es kennzeichnet, wie es handeln soll, in welche Strukturen es eingebettet ist, darüber herrschte und herrscht auf dem Markt der Ideen ein ohrenbetäubender Streit. Nur in einem Punkt sind die Möchtegernväter des Vaterlandes sich einig – und zwar darin, dass die Welt sich in exklusive Gemeinschaften von Menschen gliedert, in Nationen, deren Bindungen von unzerreißbarer Stärke sind. Es ist eine Grundüberzeugung, die in Europa im Zuge der politischen und industriellen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts immer stärker Fuß fasste und schließlich zu einem über alle sozialen Schichten hinweg akzeptierten Faktum wurde. Doch was ist mit der Zeit davor? Wenn Nationen Produkt einer auf die Bedürfnisse einer sich industrialisierenden Gesellschaft zugeschnittenen Ideologie sind, was ist dann mit dem Begriff „teutsche Nation“ im 16. oder 17. Jahrhundert gemeint?

Das Beispiel des Aventinus demonstriert, dass das Sprechen über Deutschland, das Entwerfen von Deutschlandbildern schon lange vor dem Siegeszug des Nationalismus einsetzte. Bevor in Museen, Opern, Gedenkstätten, Schulen und Kasernen der Glaube an die Nation eingeübt wurde, produzierten Gelehrte Appelle an alle deutschen Söhne und Reflexionen über die deutsche Geschichte.

Deutschland, das war für Aventinus zunächst einmal eine Nation, die sich auf gemeinsame Ahnen, eine gemeinsame Geschichte und damit auch auf einen gemeinsamen Schatz unvergesslicher Ruhmestaten berufen konnte. Sie war Quell der Ehre für alle deutschen Stände und zugleich ein Schlachtfeld ständischer Profilierung. Doch Deutschland repräsentierte noch mehr. Es war dem Chronisten eine von Gott geschaffene Einheit, ein erwähltes Volk, das die Christenheit rettete. Das Ringen um die rechte Gestalt der Kirche, um die Verteidigung der wahren Heilsbotschaft, war für den bayerischen Chronisten – und nicht nur für ihn – zugleich eine Frage nationaler Selbstbestimmung. Dass der Kaiser in dieser Frage ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, ja dass die Nation letztlich nur durch sein Wirken zusammengehalten wurde, bedurfte für ihn keiner weiteren Diskussion. Deutschland und das Reich waren für ihn eine untrennbare Einheit. Das Imperium, in dem neben Bayern und Franken auch Slowenen, Niederländer, Burgunder, Flamen, nicht aber Königsberger oder Schleswiger Platz fanden, geriet in der Chronik der Bayern zu einem exklusiven deutschen Herrschaftsverband.

Der Begriff „Teutschland“ war in seiner Bedeutung an epochenspezifische Strukturen rückgebunden. Welche Bindungswirkungen die neu erfundene deutsche Geblütsnation entfalten konnte, wie Vergangenheit und Zukunft der Germania Sacra, der „teutschen“ Reichskirche, aussahen und wie die künftige Struktur des Reiches zu gestalten war – all dies war gleichermaßen umstritten. Die drei Deutschlandbilder des Aventinus beschreiben damit zentrale Konfliktfelder des 16. und 17. Jahrhunderts. Verbunden wurden sie – wie sich in seiner Chronik andeutet – durch den Versuch der Streitenden, ihre jeweilige Position mit dem Hinweis auf das Wohl und Wehe der Nation zu rechtfertigen. Ein verändertes Reden über die Nation spiegelte zugleich sich wandelnde gesellschaftliche, kirchliche und politische Ordnungsvorstellungen wider. Konfessionalisierung, Reichsverdichtung und die Konstruktion neuer Nationenbilder hingen eng miteinander zusammen. Die Wechselwirkungen, denen diese Prozesse unterlagen, und die Protagonisten, die sie prägten, sollen im Mittelpunkt der folgenden Studie stehen. Sie versteht sich als Spurensuche, die keine vorschnellen Kontinuitäten zwischen dem Reich und moderner Staatlichkeit, zwischen dem konfessionellen Gegensatz der Frühen Neuzeit und der Moderne, dem humanistischen Reden über die Nation und den nationalen Großmachtträumen des 19.und 20. Jahrhunderts herstellen soll. Die Umgestaltung und Neuformierung eines Raumes, der zwischen 1500 und 1648 mit zunehmender Selbstverständlichkeit als „Teutschland“ bezeichnet wurde, soll vielmehr in all ihrer Widersprüchlichkeit analysiert werden.

DIE GEBURT DER NATION – „TEUTSCHLAND“ ZWISCHEN 1500 UND 1648

DIE ERBEN DES TACITUS – EINE NATION WIRD GEFÄLSCHT

Enea Silvio Piccolomini pries sein Gastland in den höchsten Tönen. Die Deutschen seien, so teilte er dem Kanzler des Erzbischofs von Mainz 1457 mit, zu keinem Zeitpunkt ihrer Geschichte so reich gewesen wie heute; nie seien ihre Gelehrten angesehener und ihre Priester frömmer gewesen. Verglichen mit der kulturellen Ödnis des antiken Germaniens gleiche Deutschland einem irdischen Paradies. Zu danken sei diese Entwicklung vor allem Rom, das in selbstloser Missionstätigkeit die tumben Germanen in ein Volk verwandelt hatte, das sich mit den edlen Römern messen könne.

Von den Ex-Barbaren, die Piccolomini mit blumigen Worten in den Kreis mediterraner Kulturträger aufgenommen hatte, erwartete er vor allem finanzielle Unterstützung. Der unermüdliche Kämpfer für seinen päpstlichen Patron war in das Reich gesandt worden, um drohendes Ungemach abzuwenden. Eine Begrenzung der Zahlungen an die Kurie stand ins Haus, und die geistlichen Kurfürsten zählten aus wohlerwogenem Eigeninteresse zu den wichtigsten Befürwortern dieses Planes. Das Reich, so ließ man Rom wissen, sei ausgeblutet. Seine Heiligkeit könne unmöglich eine Steigerung der finanziellen Transferleistungen erwarten.

Piccolomini hielt dagegen – nicht mit Kritik, sondern mit einer überschwänglichen Hymne auf des Reiches blühende Landschaften. Die Botschaft war unmissverständlich: Deutschland hatte Grund zur Dankbarkeit und konnte sich nun, da die Christenheit von den Türken bedroht wurde, seinen Verpflichtungen nicht entziehen. Der gelehrte Kardinal, der Jahre später als Papst Pius II. sein erfolgloses Pontifikat einem neuen Kreuzzug gegen die muslimische Gefahr widmete, wurde nicht müde, diese These beständig zu wiederholen.

Sein wichtigster Beleg war die „Germania“ des römischen Geschichtsschreibers Publius Cornelius Tacitus – ein lange ignorierter Text, der auf gewundenen Wegen in die Hände Piccolominis gelangt war. Piccolomini hatte das Potential, das in der vielschichtigen ethnographischen Beschreibung des Barbarenvolkes lag, rasch erkannt. Die Schrift aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert gab den Deutschen, so das Kalkül, eine gemeinsame Geschichte und den Lesern Einblicke in die ungeschliffene Frühzeit eines Volkes, das nunmehr die Kaiserkrone für sich beanspruchte. Was mochte reizvoller sein, als diesen Gegensatz herauszustellen und den undankbaren Deutschen jene Wohltaten zu preisen, die ihnen der römische Einfluss beschert hatte?

Der Dichter traf mit seinen Ausführungen den Nerv seiner Zeitgenossen, hatte doch eine bis dato zweitrangige Kategorie seit Beginn des 15. Jahrhunderts langsam an Bedeutung gewonnen – die Nation. Die Einteilung der Christenheit in geographische Herkunftsgebiete war den europäischen Gelehrten seit Jahrhunderten vertraut. Nationen wurden an überregionalen Kommunikationszentren gebildet – an Universitäten, auf Konzilien oder in Handelsstädten. Ihre Zahl und Zusammensetzung variierte. Wer zu welcher Nation gehörte, wurde vor Ort entschieden. Die Kriterien schienen zunächst weitgehend beliebig zu sein. Das änderte sich in dem Maße, in dem die politischen und wirtschaftlichen Grenzlinien zwischen den Territorien und Königreichen stabiler wurden.

Bereits um 1416 wurde um die Zusammensetzung der Konzilsnationen in Konstanz heftig gerungen. Die Zugehörigkeit Böhmens und Polens zur deutschen Nation war dabei ebenso umstritten wie die Zusammenlegung der französischen mit der englischen. Noch war unklar, was die Nationen eigentlich ausmachte. Englische Gesandte vertraten beispielsweise die Position, dass eine Konzilsnation mehr als eine Sprachfamilie umfassen müsste, um als Gliederung innerhalb der Christenheit Anerkennung zu finden. Immerhin, dass die Nation ein praktikables, natürliches Gliederungsprinzip Europas darstellte und gegenüber einer ständischen Einteilung zu bevorzugen war, fand ungeachtet aller Meinungsunterschiede im Detail breite Zustimmung.

Noch in einem weiteren Punkte kündigte sich zwischen den Streitenden ein stillschweigender Konsens an: Nationen wurden von ihnen als eine Gemeinschaft von Menschen verstanden, die Anteil an gemeinsamer Reputation hatten. Sie umfassten nicht nur die Teilnehmer des Konzils, sondern auch die Daheimgebliebenen. Die Anwesenden bezogen die Abwesenden gleichsam in ihre Streitigkeiten mit ein. Vor allem das stolze Repertoire nationaler Vorurteile wurde auf diesem Wege beständig erweitert. Dass Franzosen wetterwendisch, Engländer verschlagen, Spanier jähzornig und Deutsche meistens volltrunken sind – diese sich aus antiken Quellen speisenden Erkenntnisse wurden im Europa des 15. und 16. Jahrhunderts zu Gemeinplätzen.

Von keiner anderen Gruppe wurde diese Entwicklung mit ähnlichem Enthusiasmus verfolgt und gefördert wie von den humanistischen Gelehrten. Humanismus – der Begriff umfasste eine widersprüchliche Bewegung, die im 14. Jahrhundert auf der italienischen Halbinsel entstanden war und ab Mitte des 15. Jahrhunderts auch im Reich Fuß fasste. Ihr Erkennungszeichen war ein geschliffenes Latein, das sich an den Vorgaben Ciceros orientierte. Der schöne Stil war dabei nicht Selbstzweck, vielmehr Kennzeichen des wohlgebildeten Mannes, der durch die Kunst des Überzeugens Konflikte beruhigte, Herzen bewegte und der Gerechtigkeit zum Sieg verhalf. Die Reinigung der Sprache machte am Fächerkanon der sogenannten Studia humanitas – Grammatik, Rhetorik, Geschichte, Poesie und Moralphilosophie – keineswegs halt. Humanisten waren Generalisten, vor denen kein Wissensgebiet sicher war. Durch Rückkehr zu antiker Klarheit sollte das verdunkelte Denken und Sprechen auch aus Philosophie, Physik, Theologie und Rechtswissenschaft vertrieben werden.

Nicht der Aufbau eines neuen Dogmengebäudes war dabei ihr Ziel. Humanisten stilisierten sich vielmehr als Suchende, die Fälschungen von Originalen unterschieden, vergessene Quellen klassischer Autoren aus Klosterbibliotheken ans Licht brachten und antiker Kunst neue Beachtung zuteil werden ließen. Neue Funde wurden gelehrten Freunden und Rivalen in Briefen, Reden und Büchern zur Prüfung vorgelegt. Rituale einer Gegenwelt des Geistes: höfliche Kenntnisnahme, Bezeugung von Dankbarkeit, Abgrenzung gegenüber dem Feind, überschwängliches Lob für den Geistesgenossen – all das wurde mit Genuss und formaler Strenge zelebriert.

Italien – Vorbild und Herausforderung

Welchen konkreten Nutzen der neu erschlossene Wissensschatz dem Gelehrten und seinen Mäzenen brachte, hatte Francesco Petrarca, einer der Begründer und Leitfiguren der Bewegung, seinen Zeitgenossen bereits im 14. Jahrhundert demonstriert. Der Dichter hatte das Hohelied eines ewigen, allen anderen Völkern überlegenen Kulturraumes gesungen. Sein Italien war durch unverlierbare Tugend, vermeintlich klare Grenzen und ständige Bedrohung durch Barbaren gekennzeichnet. Mit Barbaren meinte er vor allem die Franzosen, deren schauderhaftes Latein er ebenso anprangerte wie die mittelmäßige Qualität ihres Weins.

Diese durch antike Quellen veredelte Kombination aus Eigenlob und Diffamierung war auf konkrete Ziele gerichtet: Petrarca wollte mit seinen Traktaten die Kurie dazu bewegen, ihr Exil in Avignon zu verlassen und nach Rom zurückzukehren. Die Resonanz auf sein Lob der Romanitas war über den konkreten Anlass hinaus überwältigend. Die Eliten zwischen Mailand und Neapel waren in hohem Maße daran interessiert, Italien als gemeinsames Spielfeld nach außen abzugrenzen und dabei den Papst zu einer Macht neben anderen zu degradieren.

Der nun anbrechende Siegeszug des humanistischen Italienlobs hatte allerdings seine Tücken. Sie lagen vor allem in der Reaktion der nunmehr auf die Stufe von Barbaren reduzierten Nachbarländer. Auch hier bestand, wie die besagten Streitigkeiten zwischen den Konzilsnationen zeigten, die Notwendigkeit, politischen und ökonomischen Räumen, die im Verlaufe des 15. Jahrhunderts schärfere Konturen gewonnen hatten, ein Profil zu verleihen. Es galt, sie mit emotionalen Bindekräften zu versehen, um zentrifugalen Kräften entgegenzuwirken.

Piccolomini trug dem in höchst eigenwilliger Weise Rechnung. Deutschland wurde zwar als selbstständige, ruhmreiche Nation anerkannt, zugleich forderte der Kardinal aber die Unterwerfung der nordalpinen Kulturträger unter die Hegemonie der großen italienischen Lehrmeisterin. Angesichts der unverkennbaren Spannungen zwischen dem Reich und der Kurie war gerade diese Option alles andere als attraktiv.

Dennoch konnte Piccolomini im Reich auf einen harten Kern von Bewunderern der italienischen Gelehrtenkultur bauen. Peter Luder etwa, der zwischen 1440 und 1445 in Ferrara bei Guarino Veronese studiert hatte, betonte Zeit seines Lebens die kulturelle Überlegenheit des südlichen Nachbarn. Dafür hatte er gute Gründe. Luder stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Lediglich seine Bildung und seine Jahre in Ferrara eröffneten dem Weitgereisten die Chance des sozialen Aufstiegs. Seine Italienliebe war damit zugleich Werbung in eigener Sache und Kritik an der Hofkultur deutscher Fürsten.

Vierzig Jahre später hatten sich die Verhältnisse für die Humanisten deutlich verändert. Dass sich neben Bauernsöhnen nun auch Sprösslinge wohlhabender Kaufmannsfamilien wie Konrad Peutinger und Willibald Pirckheimer zur illustren Schar humanistischer Gelehrter gesellten, war ein deutliches Zeichen des Erfolges, den die Bewegung mittlerweile verzeichnen konnte. Gefördert von Kaiser Maximilian I., der die propagandistischen Möglichkeiten humanistischer Selbststilisierung erkannt hatte, breitete sich das Freundesnetz der Dichter, Historiker und Redner rasch über das ganze Reich aus. Als Professoren, Hofdichter und Räte konnten sie sich sozial etablieren und Einfluss auf politische Entscheidungsträger ausüben.

Für die Humanisten der 1490er Jahre bildete die deutsche Nation im Sinne eines überregionalen kulturellen und politischen Raumes durchaus eine greifbare Realität. Ihre Netzwerke hatten sich meist schon in Studienzeiten entwickelt und wurden durch regelmäßigen Briefverkehr gepflegt. Ihr Erfahrungshorizont reichte weit über die Grenzen des eigenen Territoriums hinaus, was einen wesentlichen Teil ihrer Attraktivität für den jeweiligen Dienstherrn ausmachte.

Ausbildungszentren und Lehrstühle nördlich der Alpen begannen eine immer wichtigere Rolle zu spielen. Der deutsche Gelehrtenraum emanzipierte sich von Italien. Dennoch spielten europäische Kontakte und Universitätsstudien in Italien weiterhin eine wichtige Rolle für die humanistische Sozialisation. Es waren gerade diese Auslandsaufenthalte, die ihnen vor Augen führten, wie ihre Heimat von italienischer Seite tatsächlich bewertet wurde. Anders als Piccolomini es seinen Freunden hatte weismachen wollen, galt das Land der Germanen dem Gebildeten dort nach wie vor als Heimstätte trunksüchtiger und jähzorniger Barbaren, deren minderwertige Sprache den niedrigen Entwicklungsstand dieses Volkes widerspiegelte. In einer Gelehrtenkultur, die von den Duellen rivalisierender Geistesgrößen geprägt war, provozierten solche Aussagen geradezu zwangsläufig Widerspruch.

Gefälschte Wurzeln – die Germanen

Die Streiter für den Ruhm der deutschen Nation standen indes vor einer Reihe kniffliger Fragen: Wo lag eigentlich Deutschland? Woher stammten die Deutschen? Wie hatten sie sich von heidnischen Waldbewohnern zu kultivierten Städtern gewandelt? Ein erster Versuch, auf diese Fragen neue, sich von Piccolomini abhebende Antworten zu finden, wurde 1492 von Konrad Celtis unternommen. Celtis, dessen deutsche Landesbeschreibung über Vorarbeiten nicht hinauskam, folgte in einem Punkt seinem italienischen Vorläufer: Auch er sah die germanischen Stämme des Tacitus als Ahnen der Deutschen. Diese Abkunft wird nicht mit Scham, sondern mit Stolz festgestellt, denn Germanien ist für Celtis keineswegs ein finsterer Ort, der von tierhaften Wilden bewohnt wird. Vielmehr sieht er das deutsche Territorium, das er mit machtvollen Versen preist, als idealen Nährboden für ein tapferes und tugendhaftes Volk. Nirgendwo, so gibt er zu bedenken, sei das Klima der Entwicklung des Menschen dienlicher als hier. Wie für die italienische Konkurrenz ist für Celtis das Siedlungsgebiet der Nation, dessen Grenzen er mit Flussläufen, Meeren und Bergen zu ziehen weiß, mehr als eine Bühne des historischen Geschehens. Es bildet eine natürliche Einheit, welche die in ihr lebenden Menschen formt. Deutschland nimmt dabei selbstverständlich eine bevorzugte Stellung ein. Diese Nation sei von Anbeginn der Zeiten zu weltgeschichtlichen Missionen ausersehen, entspringe als ältestes und vornehmstes aller Völker einem göttlichen Vorfahren und sei aus dem Gebiet, das ihr zugewiesen wurde, nie vertrieben worden. Celtis hält damit dem italienischen Anspruch auf kulturelle Überlegenheit eine Art deutsches Erstgeburtsrecht entgegen. Die Deutschen werden zur aristokratischen Nation schlechthin – sie seien älter, von reinem Geblüt und bewohnten noch immer ihr angestammtes Territorium.

Damit ist das Leitmotiv der deutschen Nationalgeschichte vorgezeichnet. Es ist gekennzeichnet durch Natürlichkeit und Reinheit. Seit Urzeiten habe Deutschland seine Unbeflecktheit bewahrt und seine uneinholbare Überlegenheit gegenüber den anderen Nationen Europas unter Beweis gestellt. Frömmigkeit, Tapferkeit und Vaterlandsliebe werden zu deutschen Tugenden erklärt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Die deutschen Gelehrten werden dabei zu innerweltlichen Priestern, zu Hütern des unverfälschten deutschen Wesens und zu Lehrern der Nation. Das bedeutet nicht, dass Celtis den Gedanken einer Befruchtung von außen grundsätzlich ablehnte. So räumt er den von Kaiser Tiberius angeblich nach Germanien vertriebenen Druiden eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Nation ein. Sie werden zu Vermittlern griechischer Kultur, zu einem ersten Gelehrtenstand, der das Gute und Reine – das den Deutschen Gemäße – vom Tand zu scheiden weiß. Letzteres kommt nach Einschätzung des Humanisten zumeist aus Rom. Italien ist Deutschland nicht über-, sondern unterlegen. Es ist unnatürlich und muss vom humanistischen Geistesadel in energischer, ritterlicher Abwehr vom Ort der Reinheit ferngehalten werden.

Die Nachfolger und Schüler des sogenannten Erzhumanisten Celtis modifizierten dieses Bild in einigen wichtigen Aspekten. So etwa Konrad Wimpfeling, der in seinem 1504 erschienenen „Kurzen Auszug der deutschen Geschichte“ die Druiden nicht mehr als Veredler der Germanen, sondern als fremdländische Sittenverderber darstellt. Tugend sei ein deutsches Gewächs. Von außen kämen grundsätzlich nur negative Einflüsse. Da dies für das Christentum kaum gelten durfte, ernannte Wimpfeling den aus Dalmatien stammenden Kirchenvater Hieronymus schlichtweg zum Deutschen.

Selbst kritische Stimmen konnten sich der Grundthese von der deutschen Reinheit als Kern deutscher Identität nicht verschließen. Beatus Rhenanus etwa wies nationale Stammbäume, die die Deutschen von Noah herleiteten, ebenso konsequent zurück wie die Vorstellung, dass die Germanen als direkte Vorfahren der Deutschen anzusehen seien. Dennoch legte er den Lesern seines Werkes eine These zu Füßen, die ihnen die bittere Pille historischer Quellenanalyse versüßen sollte. Trotz aller historischen Brüche, so Beatus Rhenanus, seien die Deutschen Erben eines Urprinzips, das bereits die Germanen gekennzeichnet habe: Sie seien frei. Tyrannei mochte in anderen Teilen Europas herrschen, in Deutschland sei ein Hort unverfälschter Freiheit erhalten geblieben.

Die edelste Nation auf Erden

Der Kern der von den Humanisten postulierten deutschen Vorzugsstellung lag im Vergleich. Deutschlands Lage und seine Geschichte wurden als Beleg für die ungebrochene Überlegenheit über die Nachbarnationen angeführt. Wandel wurde zwar nicht ignoriert, wohl aber relativiert. Im Vordergrund stand die Tradition, die harmonische Fortentwicklung des nationalen Genius. Der beständige Seitenblick auf die Anderen hatte dabei nichts mit Wettbewerb zu tun, denn die eigene Position ließ sich weder verbessern, noch war ein Aufstieg der Nachbarn möglich. Die Hierarchie der europäischen Nationen war in den Augen von Celtis, Aventinus, Wimpfeling oder Bebel unwandelbar. Nur Deutschland gebühre die Führung des Abendlandes. Drohe der Verlust der Kaiserkrone, so läge die Schuld in den eigenen Mauern. Krisen waren nicht Anlass, vom anderen zu lernen, sondern zu Selbstbesinnung und Reinigung. In der Kommunikation mit den Gegenspielern in Italien oder Frankreich bahnte sich, wie der hellsichtige Gelehrte Erasmus von Rotterdam mit Entsetzen feststellte, eine Kultur der wechselseitigen Diffamierung an. Leistungen des anderen wurden konsequent ignoriert, verunglimpft oder vereinnahmt. Nur wer die deutsche Überlegenheit anerkannte, durfte auf Gnade in ihren Augen hoffen.

Diese Forderung wurde umso eindringlicher erhoben, als sie mit dem Gestus scheinbarer Selbstlosigkeit vorgetragen wurde, denn letztlich musste doch ganz Europa ein Interesse daran haben, dass die Gralshüterin reiner Sitten, die deutsche Nation, ihre überlegene Stellung bewahrte. Europa – ein Begriff, der im Verlaufe des 16. und 17. Jahrhunderts jenen der Christenheit langsam verdrängte – blieb also ein wichtiger Ankerpunkt nationaler Selbstbestimmung. Mehr noch, er öffnete die Tür zur übernationalen Kooperation. Bei aller Rivalität waren sich die europäischen Humanistenfamilien in einigen Punkten einig: Sie beschworen die Einheit Europas und mahnten ihre Völker, dass die besondere Mission ihrer Nation nur dann erfüllt werden könne, wenn man den Ratschlägen des Geistesadels folge. Verteidigerin der Nation war also eine schmale Schicht von Gebildeten, die dem internationalen Austausch und Wettbewerb verpflichtet blieb. Bei aller Abgrenzung mussten schon aus diesem Grunde Tabus in der Kunst des Beleidigens erhalten bleiben.

Rivalitäten ließen sich auf den Kampfplätzen der Humanisten so schnell, wie sie formuliert wurden, wieder verdrängen. Das zeigte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als das Bild des edlen, wenn auch ungeschliffenen und wilden Germanen der Urzeit zunehmend ins Wanken geriet. Neben einer Verfeinerung der Quellenkritik waren hier die Zwänge einer neuen Zeit deutlich zu spüren. Konfessionelle Konflikte ließen die Begeisterung für den germanischen Bruder erkalten und die Freundschaft zum fremden Konfessionsgenossen in den Vordergrund treten. Einer der ersten und einflussreichsten Gelehrten, die sich diesen neuen Rahmenbedingungen anpassten, war der in den Niederlanden tätige Geograph Philipp Clüver alias Cluverius. Dieser pries zwar weiterhin die natürliche Frömmigkeit der angeblichen Vorfahren der Deutschen, doch sprachen die Illustrationen seiner Topographien eine andere Sprache – hier sah man brutale Wilde, die mit den zivilisierten Waldbewohnern eines Wimpfeling nur noch wenig zu tun hatten.

Bei allem Lob des deutschen Nationalcharakters wurden nun auch die offenbar schon seit Urzeiten bestehenden Mängel der Deutschen in den Blick genommen. Diese Wiederaufnahme der aus Sicht deutscher Humanisten geradezu ketzerischen Leitthese Piccolominis ließ eine alte Frage neu in den Vordergrund treten: Wurden Wesen und Schicksal des Menschen wirklich wesentlich durch das Klima seiner Heimat und die Gestirne über seinem Geburtsort bestimmt? Die Humanisten hatten diese Lehre mit Inbrunst verfochten, und sie konnten dabei auf zahlreiche antike Gewährsmänner verweisen. Schließlich hatten schon Strabo und Poseidonios, um nur die prominentesten unter ihnen zu nennen, den Zusammenhang zwischen der Gunst des griechischen Klimas und den Kulturleistungen der Einwohner dieser Region beschrieben. Zweiflern wie dem großen Kirchenlehrer Thomas von Aquin schenkten die Gelehrten des 16. Jahrhunderts zunächst kaum Beachtung. Zur Jahrhundertwende begann sich diese Haltung zu verändern.

In ganz Europa äußerten Philosophen nun Zweifel an der Vorbestimmtheit nationaler Charaktere. Jean Bodin, Johann Heinrich Alstedt oder Balthasar Gracian betonten, dass jede Nation einen Erziehungsprozess durchlaufen müsse. Zwar gleiche keine Nation der anderen, die Idee, dass es natürliche Qualitätsunterschiede gebe, sei aber zurückzuweisen. Barbarei finde man überall. Nur die Instrumente, die man einsetzen müsse, um sie zu bekämpfen, unterschieden sich. Jene, die diesen Erziehungsprozess erfolgreich durchlaufen hätten und ihre Nationen in eine glücklichere Zukunft führten, glichen einander. Der Geistesadel sei also ungeachtet der nationalen Ursubstanz, aus der er hervorgegangen ist, eine von Homogenität und gegenseitigem Respekt getragene Gemeinschaft.

Wandlungen und Varianten des Nationenbildes im 17. Jahrhundert

Vom alten Lob der unverfälschten Reinheit war nur ein einzelnes, wenngleich wichtiges Element übriggeblieben. Wie die Mehrzahl der Humanisten sah auch Opitz einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der unverfälschten Ursprünglichkeit einer Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten. Das sollte Folgen haben: Dichtergesellschaften beschäftigten sich nunmehr verstärkt mit der Verbesserung und Reinigung der deutschen Sprache. Neben der Begeisterung für das Deutsche, das Justus Georg Schottel oder Philipp von Zesen als älteste und edelste europäische Sprache zu identifizieren wussten, verband viele Literaten vor allem eines: der Hass auf Frankreich. Dessen Einfluss wurde als diabolische Kraft gedeutet, die planvoll das deutsche Sprachwesen zu verderben suchte. Französische Fremdwörter und französische Kunstformen wie der Roman wurden geradezu als Angriff des Urbösen auf die Reinheit der Nation gedeutet.

So standen sich Mitte des 17. Jahrhunderts zwei Grundkonzepte der deutschen Nation gegenüber. Auf der einen Seite gab es die pragmatische Sicht eines Martin Opitz, die von Selbstbesinnung, Weiterentwicklung und selbstbewusster Konkurrenz ausging, auf der anderen Seite formierten sich weiterhin die Verteidiger vererbter deutscher Dominanz. Welche dieser Alternativen dominierte, hing nicht zuletzt von dem machtpolitischen Umfeld ab, in dem die Dichter sich bewegten.

Dies wird in kaum einem Werk deutscher Literatur so deutlich wie in Johann Michael Moscheroschs eigenwilligem Reiseroman „Wunderliche und Wahrhafftige Gesichte Philanders von Sittewald“ von 1644. Der Autor lässt seinen Helden im Traum mit den deutschen Stammvätern zusammentreffen. Die erweisen sich als äußerst unfreundliche Herren, die ihren Nachfahren nicht als einen der ihren anerkennen wollen. Statt rein, natürlich und einfach durch die Welt zu schreiten, ist der nämlich mit modischem Tand ausgestattet. In heiligem Zorn reißen sie ihm die französischen Kleider vom Leibe. Der Träumer lässt dies anfangs mit sich geschehen. Erst als man ihm die Schuhe von den Füßen reißt, beginnt er Widerworte zu äußern. Der Rigorismus der alten Wollsockenträger wird ihm unheimlich. Auf irgendetwas muss man doch schließlich laufen. Die Devise „besser barfuß als französisch“ will ihm nicht recht einleuchten. Und überhaupt: Gibt es nicht in jedem Land edle und unedle, gerechte und ungerechte Menschen? Was soll diese Verdammung alles Französischen, deren Furor weit über jenen der humanistischen Denker hinausgeht?

Erst nach einigem Grübeln weiß der Träumer eine nüchterne Antwort auf diese Fragen zu geben. Frankreich, so Philander, überschwemmt Deutschland mit seinen Textilprodukten, seine Künstler dominieren an deutschen Höfen, seine Heere bedrohen die deutschen Grenzen – Hass gegen Frankreich zu predigen ist daher politisch durchaus sinnvoll. Diese satirische Selbstreflexion offenbart Erstaunliches – sie zeigt, dass das Räsonieren über Deutschland längst über den Kreis der Gelehrten hinausging. Zwar kann von einem Massenphänomen keine Rede sein, doch ist es zu einem politischen Kampfmittel mit Breitenwirkung geworden. Auf einen der Hauptförderer dieser Entwicklung wird nun einzugehen sein – auf das habsburgische Kaiserhaus.