image

LEON BATTISTA ALBERTI

ÜBER DIE MALKUNST

Herausgegeben, eingeleitet
und kommentiert von
OSKAR BÄTSCHMANN
und
SANDRA GIANFREDA

4. Auflage

Impressum

Die Deutsche Natinalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte biografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

4., unveränderte Auflage 2014
© 2002 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
1. Auflage 2002
Die Herausgabe dieses Werks wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-26402-5

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73831-1
eBook (epub): 978-3-534-73832-8

Menü

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Leon Battista Alberti über die Malkunst

Della Pittura – Über die Malkunst

Prologus – Prolog

Libro Primo [dirozzamenti] – Erstes Buch [Lehrstücke]

Libro Secondo [la pittura] – Zweites Buch [die Malkunst]

Libro Terzo [il pittore] – Drittes Buch [der Maler]

Kommentar

Anhang

Bibliographie

Abbildungsverzeichnis und -nachweis

Register

Vorwort

Die vorliegende Ausgabe des italienischen Textes von Leon Battista Albertis Della Pittura mit einer neuen deutschen Übersetzung erscheint mehr als hundertdreißig Jahre nach der zweisprachigen Edition von Hubert Janitschek. Vor zwei Jahren veröffentlichte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft einen Band mit den lateinischen Texten Albertis zum Standbild, der Malkunst und den Grundlagen der Malerei in der Übersetzung von Christoph Schäublin. Das vorliegende Buch erschließt nun auch die wichtige italienische Fassung Della Pittura, die wie der lateinische Traktat De Pictura auf Alberti zurückgeht, in einer neuen Übersetzung.

Für den italienischen Text stützen wir uns auf die Ausgabe, die Cecil Grayson 1973 im dritten Band von Albertis Opere Volgari vorlegte und die zwei Jahre später, korrigiert und um ein Glossar erweitert, in einem separaten Band publiziert wurde. Unsere Eingriffe in den Text Graysons beschränken sich auf wenige Korrekturen von Transkriptionsfehlern und missverständlichen Interpunktionen. Gegenüber Graysons Ausgabe bleibt die Zählung der Kapitel unverändert, hingegen sind einige längere Kapitel in Abschnitte unterteilt, entsprechend der Gliederung, die in der neuen lateinischen Ausgabe und deren Übersetzung eingeführt wurde. Die wesentlichen Veränderungen der lateinischen Fassung gegenüber der italienischen sind in den Fußnoten zweisprachig angemerkt, um die Analyse der beiden Versionen zu erleichtern. Für die Textnachweise stützen wir uns auf die Anmerkungen von Christoph Schäublin zur übersetzung des lateinischen Traktats.

In der Übersetzung haben wir versucht, so nahe wie möglich an Albertis Text zu bleiben und auch der Syntax zu folgen, soweit es die deutsche Sprache zulässt. Der deutsche Text soll in erster Linie eine Verständnishilfe sein und die Lektüre der italienischen Fassung unterstützen und erleichtern. Trotzdem waren wir bemüht, einen lesbaren deutschen Text zu erstellen. In allen Belangen war die neue Übersetzung von De Pictura von Christoph Schäublin eine große Hilfe. Francesca Roncoroni-Waser übernahm bereitwillig die wichtige Aufgabe, unsere Übersetzung aus dem Italienischen zu überprüfen und zu korrigieren.

Einleitung, Kommentar und Bibliographie der vorliegenden Ausgabe sollen das Verständnis der Schrift Albertis erleichtern, Zugang zur Diskussion verschaffen und die weitere Forschung unterstützen. Nicht wieder abgedruckt ist hier das umfangreiche Verzeichnis der Manuskripte und der gedruckten Ausgaben von De Statua, De Pictura und den Elementa Picturae und ihren Übersetzungen in die europäischen Sprachen, das in der großen Ausgabe vom Jahr 2000 vorgelegt wurde. Im Unterschied zu dieser Ausgabe sind hier Einleitung, Kommentar und Bibliographie auf den Traktat über die Malkunst konzentriert. Dabei stützen wir uns selbstverständlich auf die Forschungen, die für die große Ausgabe der lateinischen Schriften über das Standbild und die Malerei geleistet wurden.

Der dort abgestattete Dank sei deshalb hier kurz wiederholt: Für Gastrecht und Unterstützung der Forschungen danken wir dem Institute for Advanced Study in the Visual Arts der National Gallery in Washington, D. C., der Bibliotheca Hertziana in Rom und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Zahlreichen Kolleginnen und Kollegen danken wir für mannigfaltige freundschaftliche Hilfe: Elizabeth Cropper, Hubert Damisch, Charles Dempsey, Axel Christoph Gampp, Georg Germann, Pascal Griener, Andreas Hauser, Volker Hoffmann, Cecilia Hurley, Ricarda Liver, Hubert Locher, Alison Luchs, Sergiusz Michalski, Henry A. Millon, Johannes Nathan, Werner Oechslin, Wolfgang Pross, Antoinette Roesler-Friedenthal, Herwarth Röttgen, Tristan Weddigen, Matthias Winner und Frank Zöllner.

Der Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern danken wir für die Unterstützung unserer Arbeit.

Bern, September 2001

Oskar Bätschmann

Einleitung

Leon Battista Alberti über die Malkunst

Die Adressaten des Traktats über die Malkunst – Der Prolog von Della Pittura – Grundlagen des Malers: Geometrie und Optik – Die Begründung der perspektivischen Darstellung – Das Velum: der Perspektivbehelf – Umschreibung, Komposition und Lichteinfall – Invenzione: Erfindung – Hand und Ingenium des Malers – Istoria: das absolute Werk – Wirkung und Genuss der Gemälde – Natur und Virtù – Rezeption

Die Adressaten des Traktats über die Malkunst

Mit dem Traktat über die Malkunst legte Leon Battista Alberti um 1435/36 die erste systematische Abhandlung der Neuzeit über die Malerei vor. Er stellte diese Kunst auf das Fundament von Geometrie und Optik, verbesserte die Methoden der Maler, lenkte sie auf das Ziel hin, die Malkunst zu perfektionieren, und leitete die Liebhaber zum kennerschaftlichen Genuss der Gemälde an.

Alberti beurteilte den gegenwärtigen Zustand der Malerei und die Bildung der Maler kritisch (Della Pittura, 12, 39, 46, 56). Er schimpfte jene Künstler Dummköpfe – sciocchi –, die sich der Belehrung widersetzen, im eingebildeten Talent verharren und die Beobachtung und Reflexion der Natur vernachlässigen. Gegen diese geistige Trägheit stellte er die Verpflichtung zum unablässigen Studium der Grundlagen und der Natur, ferner die Übung der Hand, die Schulung des Ingeniums, den gelehrten Diskurs und die soziale Bildung. Die gleiche kritische Haltung nahm Alberti auch gegenüber den plastisch arbeitenden Künstlern und den Architekten ein. In der kurzen Schrift De Statua von 1434/35 beklagte er das skandalöse Fehlen einer zuverlässigen Messmethode, bot den plastisch arbeitenden Künstlern neue Instrumente für die Messung und die Übertragung eines Modells an und legte eine Tabelle der idealen menschlichen Proportionen vor.1 In De Re Aedificatoria von 1452 wandte sich Alberti gegen die ignorantia der gewöhnlichen Praxis der Architekten und behauptete, die Architektur könne sich nur entfalten und vollenden, wenn Übung und Experiment durch Reflexion zur Erkenntnis führen.2 Alberti schrieb seine Traktate für die Verbesserung und Vollendung der Künste.

Den Traktat über die Malkunst verfasste Alberti in italienischer wie in lateinischer Sprache. In einer Abschrift von Ciceros Brutus aus dem Besitz Albertis findet sich die Notiz, das opus de Pictura sei am 26.jAugust 1435 fertiggestellt worden.3 Die älteste Abschrift der italienischen Fassung, die den Prolog an Filippo Brunelleschi enthält (Abb. 1), vermerkt am Ende das Datum vom 17.jJuli 1436 in lateinischer Sprache.4 Im Prolog schreibt Alberti, er habe De Pictura im Namen Brunelleschis in toskanischer Sprache gemacht, was sowohl „auf dein Geheiß“ wie „für dich“ und „verfasst“ wie „übersetzt“ heißen kann.

Mit der Abfassung seiner Abhandlung über die Malkunst in zwei Sprachen fasste Alberti zwei nicht völlig kongruente Adressatenkreise in den Blick. Della Pittura war an die Künstler gerichtet, denen sich Alberti als Dilettant zuwandte und denen er als studioso dell’arte – gelehrter Kenner – mit seiner mathematischen und literarischen Bildung nützlich zu sein trachtete. Die Adressaten des lateinischen Traktats De Pictura waren in erster Linie die lateinkundigen Gelehrten und die Kunstliebhaber, zu denen Alberti vor allem gehörte. Die beiden Adressatenkreise hatten unterschiedliche Sprachkenntnisse, doch ist bekannt, dass sich etliche Künstler im 15. Jahrhundert um die Kenntnis des Lateins bemühten.5 Man weiss von lateinischen Abschriften, dass sie sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts bei Malern befanden: der Cod. Ashb. 1155 (1084) der Biblioteca Laurenziana in Florenz trägt den Besitzervermerk „Josephus Mallior pictor“, und Albrecht Dürer in Nürnberg besaß eine lateinische Abschrift, die 1540 für den ersten Druck von De Pictura in Basel benutzt wurde.6

images

Abb. 1. Die älteste Abschrift der italienischen Fassung von Albertis Prologus, 1436, Florenz, Biblioteca Nazionale.

Allerdings erkannte Alberti die durch die Sprachkompetenz bedingte Einschränkung des Adressatenkreises und verfasste deshalb seine Abhandlung über die Malkunst in italienischer wie auch in lateinischer Sprache. Seine vielfachen Bemühungen, sowohl die lateinkundigen wie die italienischsprachigen Leser zu erreichen, widerlegen die Versuche zur einseitigen Festlegung der Adressaten.7 Baxandall unterstützte noch 1971 die verbreitete Auffassung, De Pictura habe sich an ein gelehrtes Auditorium gewandt, mit den Argumenten, der lateinische Traktat habe in den humanistischen Studien akzeptiert werden können, die technischen Termini seien auf den Kreis der lateinkundigen Leser ausgerichtet und De Pictura habe ihren historischen Kontext in der Rhetorik um 1435.8 Die Kritik an der künstlerischen Praxis, die detaillierten Anleitungen zum Vorgehen in beiden Fassungen wie der Prolog an den Architekten Filippo Brunelleschi für Della Pittura bezeugen dagegen, dass der Traktat über die Malkunst auch die Künstler erreichen sollte. Zudem schrieb Alberti wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie Della Pittura die Elementi di Pittura in italienischer Sprache zur weiteren Unterrichtung der Maler in der angewandten euklidischen Geometrie.9 Die mathematische Grundlegung der Malerei konnte aus der Sicht Albertis den Makel der unbegründeten künstlerischen Praxis beheben und eine reflektierte Tätigkeit begründen.10 Die lateinische Fassung De Pictura sollte vielleicht auch zur dilettierenden Betätigung von Gelehrten oder Lateinschülern in der Kunst ermuntern, wofür der Beginn des zweiten Buches einige Vorbilder nennt. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass sowohl die lateinische wie die italienische Fassung des Traktats über die Malkunst wichtige Anleitungen für das professionelle Vorgehen enthalten, und demnach die Künstler in beiden Fassungen als Adressaten anvisiert waren. Zudem sollten die Schriften über die Malkunst und die Architektur auch die Verständigung über die Künste zwischen Auftraggebern, Künstlern und gelehrten Liebhabern der Malerei ermöglichen.

Die Frage der Priorität der lateinischen oder der italienischen Fassung hat zu einem andauernden Disput geführt.11 Die Unterschiede der beiden Fassungen können nach der neuen philologischen Analyse von Lucia Bertolini in aller Kürze charakterisiert werden.12 Im lateinischen Text sind gegenüber dem italienischen zahlreiche Präzisierungen der Sache oder der Tätigkeit festzustellen, besonders dort, wo im Italienischen allgemein cosa oder cose steht oder wo die Tätigkeit bloß mit fare umschrieben ist. Ferner hat Bertolini über hundert Stellen gezählt, wo die lateinische Fassung zusätzliche Erklärungen, präzisere Definitionen, Quellennachweise oder Korrekturen nach erneuter Lektüre der Quellen enthält.13 Dazu kommen die Beseitigung von Schreibfehlern oder Irrtümern in der lateinischen Fassung gegenüber der italienischen Abschrift in der Biblioteca Nazionale in Florenz, Cod. II.IV.38. In der lateinischen Fassung findet sich dagegen nur eine Weglassung: die „Maldemonstrationen“ sind nur einmal erwähnt, während sie in Della Pittura, 11, 19 zweimal vorkommen. Diese Unterschiede lassen die Annahme zu, dass die erhaltene italienische Abschrift in Florenz (F3) den überlieferten lateinischen Fassungen vorausgeht. Dass sich auf diese italienische Abschrift nicht nur das vom Kopisten hinzugefügte Datum vom 17.jJuli 1436, sondern auch Albertis Notiz vom 26.jAugust 1435 beziehen lässt, kann dagegen nicht mit gleicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Der Prolog von Della Pittura

Der Prolog von Della Pittura richtet sich an den Architekten Filippo Brunelleschi, den berühmten Erbauer der Domkuppel in Florenz. Neben ihm nennt Alberti als Protagonisten der Erneuerung der Künste in Florenz die Bildhauer Donatello, Lorenzo Ghiberti, Luca della Robbia und den bereits verstorbenen Maler Masaccio.14 Mit einigen Künstlern könnte Alberti bereits 1428 in Florenz oder während seines ersten längeren Aufenthalts in Rom von 1431 bis 1434 bekannt geworden sein. Unter Papst Eugen IV., der im März 1431 gewählt wurde, erhielten Donatello, Michelozzo, Pisanello und Filarete Aufträge in Rom. Alberti nannte Donatello im Prolog amicissimo – aufs Engste befreundet –, was auf einen freundschaftlichen Umgang des berühmten älteren Künstlers mit dem jungen Gelehrten schließen lässt.15

Im Prolog beklagt Alberti den Verlust vieler Künste und Wissenschaften seit der Antike und begründet den Niedergang mit der Entkräftung der Natur, die weder Giganten noch große Talente mehr hervorzubringen vermöge.16 Dem pessimistischen Befund wird die staunenswerte Erneuerung der Künste in Florenz im frühen Quattrocento entgegengestellt.17 Von den Protagonisten der Wiederherstellung der Architektur, der Plastik und der Malerei in Florenz behauptet Alberti, dass ihre Leistungen keineswegs hinter jenen der berühmten Künstler der Antike zurückstünden. Den früheren Gaben der reichen Natur stellt er die neueren Fähigkeiten zu industria e diligenza – Kunstgeschick und Fleiß – gegenüber, durch die der künstlerische ingegno – die schöpferische Fähigkeit – zur virtù, zur persönlichen Stärke und Tüchtigkeit, erhoben wird.18 Der ingegno befähigt dazu, bisher unbekannte Künste und Wissenschaften zu entdecken, die deshalb höher als die der Alten zu setzen sind, weil sie „ohne Lehrmeister und ohne irgendwelches Vorbild“ entstanden. Als Beispiel nennt Alberti die ingeniöse Konstruktion der Domkuppel ohne Standgerüst in Florenz durch Filippo Brunelleschi, deren Rohbau zu dieser Zeit fertiggestellt wurde.19 Zugleich rühmt er die babylonische Vermessenheit des himmelstrebenden Bauwerks und seinen Nutzen für die toskanischen Völker.

An den Florentiner Künstlern, die Architektur, Skulptur und Malerei erneut auf einen hohen Stand gebracht haben, findet Alberti die virtù des Künstlers wieder, die er im dritten Buch von Della Pittura propagiert. Ihre Werke und ihr Verhalten demonstrieren, dass zum ingegno intellektuelle Fähigkeiten und moralische Qualitäten wie Willensstärke, unablässige Ausdauer und beharrliche Anstrengung hinzutreten müssen.20 Durch diese Tugenden in Verbindung mit dem ingegno kommen hervorragende Werke zustande, in denen sich die Erneuerung der Künste manifestiert. Wie gegen die Wechselfälle des launischen Glücks hilft die virtù gegen die erschöpfte Natur.21

Im Prolog bezieht sich Alberti auf die zeitgenössische Diskussion über den kulturellen Fortschritt.22 Er verknüpft die Erneuerung der Künste in Florenz mit der Fähigkeit des trovare – des Erfindens oder Entdeckens –, die er im Text zweimal heraushebt. In De Statua setzte Alberti die Entdeckung – inventum – der Naturbilder an den Ursprung der plastischen Künste. Auf die Entdeckung folgt die tätige Verstärkung der Nachahmung zur Verstärkung der Ähnlichkeit, darauf das experimentelle Hinzufügen und Wegnehmen, das zur Ausbildung der Fähigkeit führt, aus formloser Materie jedes ähnliche Bildwerk (simulacrum) hervorzubringen.23 Analog sieht Alberti in der Entdeckung des Spiegelbildes im Wasser durch Narziss den Ursprung der Malerei und definiert zudem die Umarmung des Spiegelbildes als Ziel der Malkunst (Della Pittura, 26).24 Der erste Akt der Erfindung der Malerei ist die Entdeckung des Naturbildes im Wasser oder die Entdeckung des Schattenbildes. Als nächsten Akt nennt Alberti mit Quintilian das Umreißen dieser Bilder mit Linien, also die Umschreibung oder circonscrizione, die in seiner Systematik den ersten Teil der Malkunst ausmacht.25

Die Fähigkeit zu Entdeckung und Erfindung schreibt Alberti im Prolog den Künstlern in Florenz zu und wertet sie um so höher, als sie ohne Lehrmeister und ohne Vorbild „nie gehörte oder gesehene Künste und Wissenschaften entdecken.“ Besonders im Bezug auf den Tadel an den Dummköpfen, die meinen, die Kunst allein aus sich heraus schöpfen zu können (Della Pittura, 56), ist dies eine gewagte Behauptung. Doch ist an dieser Stelle in Della Pittura der Verzicht auf das Vorbild der Natur gemeint, nicht etwa das Nachahmen der Kunst anderer, das Alberti gleicherweise verwirft (Della Pittura, 58). Im Prolog betont er sowohl die erneuerte Fähigkeit zur Entdeckung und Erfindung von Künsten und Wissenschaften wie die virtù der Künstler, womit die Verbindung der künstlerischen Originalität mit der Natur und der Künstler mit den Gelehrten und mit der civitas sichergestellt wird.26

Grundlagen des Malers: Geometrie und Optik

Albertis Traktat über die Malkunst dokumentiert einen radikalen Wandel im künstlerischen Selbstverständnis und in der Auffassung der künstlerischen Arbeit. Er betrifft das wissenschaftliche Fundament, die rationale Begründung der Arbeitsschritte und die Festlegung des Ziels in der Perfektion des Künstlers und der Kunst.

Im Gegensatz zu Cennino Cenninis Libro dell’Arte, das kurz vor 1400 entstanden ist, beschäftigte sich Alberti ausführlich mit grundsätzlichen Fragen. Cennini machte in den ersten drei Kapiteln einige Bemerkungen über die Herkunft und die Leistungen der Malerei, über den Anspruch des Malers auf Freiheit der Erfindung wie über die Grundlagen dieser Kunst oder über die geistigen und moralischen Anforderungen an die Maler.27 Diese Bemerkungen bleiben aber ohne Vertiefung. Die Hauptgegenstände von Cenninis Buch sind die Zubereitung der Malgründe und der Leime, die Qualität der Pigmente und die Applikation der Farben auf die unterschiedlichen Bildträger. Zur Grundlage der Malerei bemerkt Cennini nur kurz: „Das Fundament der Kunst, [und] der Anfang aller dieser von Hand ausgeführten Arbeiten sind die Zeichnung und der Farbauftrag.“28 Danach folgt die Aufzählung der verschiedenen handwerklichen Vorgänge, und erst im 13. Kapitel findet sich im Anschluss an die Praxis der Federzeichnung die Bemerkung, die Übung befähige zu „molto disegno entro la tua testa“, die auf die Entwicklung der Vorstellungskraft hinweist.29

Dagegen wollte Alberti weder eine Anleitung zum Handwerk geben noch Geschichten über die Malerei erzählen wie Plinius, sondern systematisch „die Malkunst von neuem aufbauen“ (Della Pittura, 26). Dazu wird sie zuerst auf das Fundament von Geometrie und Optik gestellt. Für die Geometrie stützte sich Alberti auf die Elemente von Euklid (Abb. 2) – eine Abschrift der lateinischen Übersetzung von Campana da Novara war in seinem Besitz – und auf die Practica geometriae, das Hauptwerk von Leonardo Pisano, gen. Fibonacci, der vom 13. Jahrhundert bis zu Galileo Galilei als maßgebender neuer Mathematiker anerkannt war.30 Seine erste Aufgabe sah Alberti darin, die euklidische Geometrie auf die Malerei anzuwenden und die Maler von der Notwendigkeit dieses Fundaments zu überzeugen. In Della Pittura, 1 wirbt Alberti um das Interesse der Maler und verwahrt sich zugleich gegen mögliche Einwendungen der Mathematiker. Deshalb beteuert er, als „Maler“ und nicht als Mathematiker über die mathematischen Grundlagen der Malkunst zu schreiben. Den Standpunkt des Malers zu vertreten, versichert er dann erneut bei der Farbentheorie und bei der Besprechung der Flächenprojektion (Della Pittura, 9, 16).

images

Abb. 2. [Euclides] Preclarissimus liber elementorum Euclidis perspicacissimi, Venedig 1482.

Alberti informierte sich über die künstlerischen und handwerklichen Tätigkeiten und betätigte sich mit Genuss als dilettierender Maler (Della Pittura, 28).31 In der Autobiographie von 1438 weist er mehrmals auf sein Interesse an der Arbeit von Künstlern und Handwerkern hin, die er in ihren Werkstätten aufgesucht, nach den Geheimnissen ihrer Kunst befragt und bei ihrer Arbeit beobachtet hatte.32 Zudem erzählt Alberti, er habe während der Diskussion über Literatur und Wissenschaft die Porträts seiner Freunde gemalt oder in Wachs geformt.33 In Della Pittura, 11, 19 erwähnt er seine „Wunderdinge der Malkunst“ oder „Maldemonstrationen“. Nach der Autobiographie handelt es sich um einen Guckkasten, mit dem er für Landschaftsveduten, Seestücke, Sternbilder und Vorstellungen des aufgehenden Tages eine verblüffende Wirkung erzielte. Offensichtlich setzten diese Demonstrationen die Vorführungen der Perspektivbilder von Brunelleschi fort.34

Im Wissen, dass seine angewandte Geometrie für die Künstler wie für die Mathematiker etwas Neues war, stellte Alberti die mathematischen Definitionen und seine Anwendung für die Maler in den Elementi di Pittura zusammen, in denen er wie in Della Pittura die mathematischen Definitionen in anschauliche Vorstellungen überführte. Sein Vorgehen verteidigte er mit einem kurzen lateinischen Text De punctis et lineis apud pictores, worin er den Unterschied zwischen Mathematikern und Malern erläuterte und den Kritikern der Elementi di Pittura in lateinischer Sprache entgegentrat.35

Einige Beispiele können die Schwierigkeiten dieser Anwendung der Geometrie aufzeigen. Die Elementi di Pittura bieten den Künstlern mit den mathematischen Definitionen die Anfangsgründe der Geometrie und ihre Anwendung auf die Malerei. Die Elementa Geometriae des Euklid beginnen mit der Definition des Punktes: „Punctus est quius pars non est.“ – „Ein Punkt ist, was keine Teile hat“. Dagegen schrieb Leonardo Pisano: „Punctum est id quod nullam habet dimensionem, idest quid non potest dividi“ – „Ein Punkt ist, was keine Ausdehnung hat, das heißt, was nicht geteilt werden kann.“ Alberti gibt in den Elementi di Pittura zunächst eine nach Leonardo Pisano verkürzte Definition: „El punto dicono essere quello che nulla si possa dividere in parte alcuna.“ – „Man sagt, ein Punkt sei das, was auf keine Weise in Teile geteilt werden kann“. Auf diese Überlieferung der antiqui, der Alten, folgt die Anwendung auf die Malerei, indem ihr Unterschied zur Geometrie geltend gemacht wird: „Punkt nennen wir in der Malerei eine so winzige Markierung, wie sie nicht noch kleiner sein könnte“.36 In Della Pittura folgt nach dem einleitenden Abschnitt die Definition des Punktes als eines Zeichens (segno), das sich sozusagen nicht in Teile zerlegen lässt. „Zeichen“ wird von Alberti an die Fläche als Trägerin der sichtbaren Markierung gebunden und mit dem Sehen verknüpft.37 Gegenüber den Elementi di Pittura ist die Veranschaulichung der geometrischen Begriffe in Della Pittura verstärkt. Die Fläche als Aneinanderfügung von Linien vergleicht Alberti mit dem Gewebe, die Linien mit den Fäden, die Begrenzung einer Fläche nennt er „Saum“ und die eines Kreises „Kranz“ (Della Pittura, 2).38

In Della Pittura ändert sich die Fragestellung mit dem Problem, dass Flächen nicht immer den gleichen Anblick bieten, sondern sich je nach Lage und Beleuchtung unterschiedlich darstellen. Alberti muss also vom Sehen sprechen, d.h. von der Optik, und die Theorie der Sehstrahlen hinzuziehen, nach der diese sich gleich feinen Fäden zwischen Auge und Fläche spannen. Dabei umgeht er die Streitfrage, ob diese Strahlen vom Objekt oder vom Auge ausgesandt werden, wie er überhaupt die weiteren Probleme der Optik über die Sehpyramide hinaus nicht erörtert.39 Die Voraussetzungen sind die ersten beiden Axiome von Euklids Optik: das erste stellt die geradlinige Ausbreitung der Sehstrahlen und ihre Distanz voneinander fest, das zweite behauptet die Bündelung der Sehstrahlen im Sehkegel, dessen Spitze im Auge liegt und dessen Basis durch die Oberfläche des gesehenen Gegenstandes gebildet wird.40 Bei der pirramide visiva, der Sehpyramide, unterscheidet Alberti zwischen den äußeren und den mittleren Strahlen: jene spannen sich zwischen der Begrenzung der Fläche und dem Auge und umgeben die Fläche wie ein Käfig, während diese der Strahlenmenge entsprechen, die von der Pyramide umschlossen wird. Sie sind von Farben und Licht getränkt, verändern sich aber je nach der Distanz zwischen Fläche und Auge. Daher vergleicht Alberti die mittleren Strahlen mit dem Chamäleon, das die Farbe seiner Umgebung annimmt.41 Ins Zentrum der Strahlen setzte Alberti den Zentralstrahl, der rechtwinklig auf die Fläche trifft und von den andern Strahlen umgeben ist wie ein Fürst von seinen Untertanen (Della Pittura, 8) (Abb. 3).

Das diffizilste Problem war, die Sehpyramide Euklids mit den Variablen des Sehens zu verbinden, zu denen der Zentralstrahl, die Abstände zwischen Flächen und Spitze, die Zahl und die Stellung der Flächen ebenso gehören wie auch Licht, Schatten und Farben. Die Beobachtungen führen zur Annahme, dass eine große Zahl von kleinen Pyramiden in der großen Sehpyramide enthalten ist. Mit dieser Annahme sind Albertis Vorbereitungen für die beiden entscheidenden Schritte abgeschlossen: die neue Definition des Bildes als der Schnittfläche durch die Sehpyramide und die Verknüpfung dieser Definition mit der Konstruktion der perspektivischen Darstellung.

images

Abb. 3. Die einzelnen Schritte der perspektivischen Konstruktion nach Alberti.

Vermutlich war für Alberti neben den zahlreichen Abhandlungen über die Optik, die seit der Rezeption von Alhazen entstanden, die in Padua praktizierte Verbindung von optischen Beobachtungen mit der Mathematik eine wichtige Grundlage. Albertis unmittelbare Voraussetzung bildeten die Quaestiones perspectivae von Biagio Pelacani da Parma (gest. 1416), der in Pavia, Bologna, Padua und Florenz Philosophie und Logik lehrte, und die kurze Abhandlung Della Prospettiva, als deren wahrscheinlicher Verfasser heute Paolo dal Pozzo Toscanelli gilt.42 Der Arzt, Mathematiker, Geograph, Kartograph, Astronom und Optiker Toscanelli kehrte nach Studien in Padua um 1424 nach Florenz zurück und freundete sich mit Filippo Brunelleschi, Masaccio, Lorenzo Ghiberti und später auch mit Alberti an, der ihm die Intercoenales widmete und in der Autobiographie seine Briefe ad Paulum phisicum erwähnte.43 Ein Beitrag Toscanellis an die geometrische Konstruktion der perspektivischen Darstellung gilt als wahrscheinlich.44

Die Begründung der perspektivischen Darstellung

Die Ausführungen Albertis über die Sehpyramide entsprechen den um 1430 verbreiteten optischen Kenntnissen. Dagegen ist die Definition des Bildes als Schnittfläche (intersegazione) durch die Sehpyramide und als Projektion der Basisfläche die entscheidende Neuerung. Dazu stellte Alberti den Vergleich mit einer Bildfläche aus Glas an, die für die Sehpyramide durchsichtig ist. Zudem beobachtete er, dass die Maler zuweilen einen gewissen Abstand zum Gemälde einnehmen und sich an die Spitze der Sehpyramide stellen, um die Darstellung aus der richtigen Distanz zu überprüfen (Della Pittura, 12). Alberti hatte die Schwierigkeit zu bewältigen, dass die Basisfläche der Sehpyramide viele unterschiedliche Flächen enthält, die parallel, senkrecht, schräg oder waagerecht zur Schnittfläche liegen können. Seine Lösung war, die Schnittfläche als proportionale Projektion der Basisfläche und ihrer Inhalte zu betrachten. Die Erörterung der proportionalen Projektion nimmt mehrere Abschnitte in Anspruch (Della Pittura, 13–18). Darauf legt Alberti den berühmt gewordenen, anschaulichen Vergleich des Bildes mit dem Fenster vor (Della Pittura, 19). Glas und Fenster als virtuelle Schnitte durch die Sehpyramide und die Projektionsebenen der Grundfläche waren vermutlich leitend für die neue Definition des Bildes und für die Entwicklung der perspektivischen Konstruktion.

Filarete schrieb um 1460/62, Brunelleschi habe die zentralperspektivische Konstruktion durch die Analyse eines Spiegelbildes entdeckt.45 Manetti, der Biograph Brunelleschis, hob um 1480 dessen Leistungen in der Wissenschaft der Verkürzungen und Vergrößerungen hervor, die von den Malern prospettiva genannt werde. Manetti beschrieb zwei Darstellungen: die des Florentiner Baptisteriums auf einem quadratischen Täfelchen von etwa einem halben braccio Seitenlänge und die der Piazza della Signoria mit dem Palazzo Vecchio auf einer großen Tafel. Doch berichtet der Biograph nur vom Effekt der ersten zentralperspektivisch angelegten Architekturveduten, aber nichts über die Methode der Konstruktion.46 Entsprechend zahlreich sind die Versuche, Brunelleschis Verfahren zu rekonstruieren.47 Hoffmann machte den Vorschlag, Brunelleschi habe für die Darstellung des Baptisteriums, die nach Manetti drei braccia hinter dem Eingang des Doms angefertigt wurde, ein im Portal angebrachtes Fadengitter als Perspektivapparat benutzt und von einem fixierten Beobachtungspunkt aus das Gebäude auf ein entsprechend quadriertes Täfelchen aufgezeichnet.48

Mit Albertis neuer Definition des Bildes als senkrechter Durchschneidung der Sehpyramide und als Projektion der Basisfläche der Sehpyramide auf die Schnittfläche waren die Voraussetzungen für die linearperspektivische Konstruktion geschaffen. Für die Darlegung der Sehstrahlmethode konnte sich Alberti auf die Experimente Brunelleschis stützen. Im Text führt er die Methode mit einem einfachen Beispiel ein, der Verkürzung eines liegenden quadrierten Vierecks. Zunächst ist eine viereckige Bildfläche von beliebiger Größe anzunehmen und darauf die Darstellung (die Körperhöhe) eines stehenden Menschen festzulegen, die den Horizont bestimmt. Die Körperhöhe wird in drei gleiche Teile (braccia) unterteilt und das relative Maß eines braccio für die Teilung der Grundlinie verwendet (Abb. 3).49 Auf der Höhe des stehenden Menschen ist ein Zentralpunkt (Fluchtpunkt) anzunehmen und mit den Punkten auf der Grundlinie zu verbinden. Wenn man den Zentralpunkt auf eine andere Höhe setzt, scheinen Betrachter und Darstellung nicht mehr auf der gleichen Ebene zu stehen. Damit nimmt Alberti eine stehende, nicht etwa eine kniende Haltung des Betrachters an. Dies muss herausgehoben werden, denn damit führte Alberti vierhundert Jahre vor Hegel den Betrachter ein, der in aufrechter Haltung sich mit dem Kunstwerk beschäftigt, das auf den Stehenden berechnet ist. Georg Wilhelm Friedrich Hegel stellte in der Ästhetik das Ende der höchsten Bestimmung der Kunst mit der Metapher vor Augen, dass wir zwar die Darstellungen der griechischen Götter, Gottvaters, Christus’ und Marias vortrefflich finden, doch unsere Knie nicht mehr davor beugen.50

Das von Alberti geschilderte Verfahren war soweit den Malern vertraut, doch fehlte ihnen eine Methode für die Festlegung der Distanz zwischen der Grundlinie und den waagerechten Transversalen. Sie nahmen die erste Waagerechte nach Gutdünken an und verkleinerten den Abstand der folgenden Transversalen jeweils um ein Drittel. Um das fehlerhafte Vorgehen zu korrigieren, bedient sich Alberti einer zweiten Zeichenfläche für den seitlichen Aufriss der Sehpyramide (Della Pittura, 20). Dazu wird die Grundlinie des Bildrechtecks durch eine gerade Linie auf die Zeichenfläche verlängert und in die gleichen Abschnitte geteilt. Danach wird auf der Höhe des Zentralpunktes über dem einen Ende der geraden Linie ein Punkt (Augenpunkt) markiert und mit den Einteilungspunkten auf der verlängerten Linie verbunden. Damit ist die Sehpyramide durch mehrere Strahlen im Seitenriss dargestellt und für die Durchschneidung durch eine Senkrechte vorbereitet. Der Abstand zwischen dem Augenpunkt und dem Schnitt bestimmt den Grad der Tiefenillusion und muss deshalb variabel und korrigierbar sein. Die Schnittpunkte der Senkrechten mit den Sehstrahlen ergeben die Abstände der Transversalen von der Grundlinie. Diese Abstände sind von der Konstruktion im Seitenriss auf das Bildrechteck zu übertragen. Zur Kontrolle wird im Trapez eine Diagonale gezogen. Wenn die Ecken der aneinanderstoßenden Vierecke auf dieser Linie liegen, ist die Konstruktion korrekt.

Das Vorgehen Albertis ist nicht von ausreichender Klarheit. Voraussetzungen bleiben ungenannt, erläuternde Zeichnungen sind nicht beigegeben, die Teilung der Grundlinie in relative braccia ist nicht begründet, und das Verfahren ist nicht unbeschwerlich. Die Einschränkung auf die perspektivische Darstellung eines quadrierten Quadrats wird nicht genannt, da dieses Grundproblem vielleicht bekannt war. Die perspektivische Konstruktion von Teilen, die über dem Zentralpunkt liegen, oder die von Kreisen werden erst im zweiten Buch erörtert (Della Pittura, 34). In der Handschrift von De Pictura von 1518 in Lucca wurde Albertis Verfahren bereits mit der einfacheren Distanzpunktmethode illustriert (Abb. 4), die wahrscheinlich erstmals von Piero della Francesca beschrieben wurde.51 Albertis Konstruktion sah im Gegensatz zu allen folgenden die Variation der Distanz im Seitenriss der Sehpyramide vor, sodass die passende Verkürzung experimentell bestimmt und nach Bedarf neu festgelegt werden konnte.52

images

Abb. 4. Albertis perspektivische Konstruktion, Lucca, Biblioteca Governativa.

Alberti nannte keine Beispiele für seine perspektivische Konstruktion, von der erst 1625 behauptet wurde, sie sei legittima – gesetzmäßig.53 Obwohl der Prolog von Della Pittura auch den Maler Masaccio nennt, übergeht Alberti dessen Trinitätsfresko von etwa 1426 in S. Maria Novella in Florenz, das erste Gemälde, das zwar perspektivisch korrekt konstruiert ist und die Betrachterdistanz umschreibt, aber wegen der Ansicht von unten nach oben die eindeutige Rekonstruktion der Perspektive verhindert.54

Alberti fordert einen Maler, der wohlunterrichtet in allen freien Künsten ist, besonders aber in der Geometrie (Della Pittura, 53). Das schließt die Kenntnis der Geometrie und Optik Euklids wie der linearperspektivischen Raumkonstruktion ein.55 Ghiberti verlangt im ersten seiner Commentarii vom Bildhauer wie vom Maler Kenntnisse in Grammatik, Geometrie, Philosophie, Medizin, Astrologie, Perspektive, Historie, Anatomie, Theorie der Zeichnung und Arithmetik.56 Im Anschluss an die gelehrten Anforderungen beantwortet er aber die Frage des Fundaments der Künste mit einer Behauptung, die an Cennini erinnert: „Die Zeichnung ist das Fundament und die Theorie dieser beiden Künste“ [Malerei und Skulptur].57 Dagegen wird Leonardo die Geometrie zur Bedingung einer Malerei als Wissenschaft erklären: „Keine menschliche Forschung kann man wahre Wissenschaft nennen, wenn sie nicht durch die mathematische Darlegung hindurchgeht.“58

Das Velum: der Perspektivbehelf

Die größte und noch weitgehend unerkannte Bedeutung für die Entwicklung der perspektivischen Konstruktion, die künstlerische Praxis und die proportionale Vergrößerung eines Entwurfs dürfte dem Perspektivbehelf, dem halbtransparenten velum oder velo, dem Fadengitter, zukommen. Das Velum ist ein lose gewobenes Tuch mit eingelegter Quadrierung, das den senkrechten Schnitt durch die Sehpyramide darstellt und die Vermessung der Projektion auf der Schnittfläche erlaubt. Die Messpunkte für die Gegenstände und Figuren kann der Maler vom quadrierten Tuch auf ein entsprechend quadriertes Blatt übertragen. Alberti beschreibt in Della Pittura, 31, 32 den Gebrauch des Velums für das sichere Festhalten der Umrisse von Körpern auf einem quadrierten Blatt. In der lateinischen Fassung rühmt sich Alberti, die Verwendung des Velums entdeckt zu haben.59 In Della Pittura findet sich diese Bemerkung nicht, vielleicht weil ein Fadengitter oder Raster in den Werkstätten bekannt war und die Verwendung des Velums für eine perspektivische Vedute auf Brunelleschi zurückging. Möglicherweise spielte das Velum eine Rolle für die Entwicklung der Sehstrahlmethode, die aus dem Perspektivapparat abgeleitet werden kann.60 Leonardo erwähnte das perspektivische Fenster mehrfach, skizzierte auch einen perspektivischen Zeichenapparat und beschrieb 1492 das Velum, nicht ohne zu bemerken, dass es die Faulheit begünstige.61 Eine Illustration des Velums und seiner Anwendung für die verkürzte Darstellung eines Körpers (Abb. 5) erschien erst in der zweiten Auflage von Dürers Underweysung der Messung von 1538.62

images

Abb. 5. Albrecht Dürer, Der Zeichner mit Fadengitter und quadriertem Papier, Holzschnitt, Nürnberg 1538.

Erstaunlicherweise verglich Vasari die Erfindung des Velums durch Alberti mit der epochalen des Buchdrucks: „Im Jahr 1457 als der deutsche Johann Gutenberg die äusserst nützliche Buchdruckerkunst erfand, wurde von Leon Battista etwas Ähnliches entdeckt, wie nämlich mittels eines Instruments natürliche Perspektiven darzustellen und die Figuren zu verkleinern seien, wie gleicherweise kleine Dinge in eine grössere Form zu bringen und zu vergrössern seien: alles ausgeklügelte Dinge, der Kunst nützlich und wirklich schön.“63 Von dem wunderbaren Instrument gibt Vasari keine Beschreibung, doch meint er analog zu Della Pittura eine Vorrichtung, die gleicherweise die perspektivische Zeichnung erleichtern, die proportionale Reduktion von Figuren vereinfachen und auch zur Vergrößerung von Figuren und Entwürfen dienen kann.

Alberti empfiehlt das Velum für die Umschreibung der Körper. Dazu werden drei Vorteile aufgeführt: erstens ermöglicht das Fadengitter bei fixiertem Augenabstand die unveränderte Betrachtung der Gegenstände, zweitens erleichtert es die perspektivisch richtige Reduktion von Raum und Körpern auf die Fläche und drittens dient es für die Festlegung der Grenzen auf der Malfläche einer Tafel oder Wand, die dazu entsprechend quadriert sein muss (Della Pittura, 31).

Nach den Äußerungen von Alberti und Vasari muss das Velum auch für die Übertragung und die proportionale Vergrößerung des Entwurfs in Betracht gezogen werden. Das Problem stellt sich den Malern ähnlich wie den plastisch arbeitenden Künstlern. Es ist möglich, dass die einfache Methode der Vergrößerung durch ein Gradnetz, die Lorenzo Ghiberti am Schluss seines zweiten Kommentars erwähnt, sich mit dem Verfahren von Alberti deckt und mit Uccellos quadrierter Entwurfszeichnung von 1436 belegt wird.64 Die Analysen in Dürers Underweysung der messung von 1525 entsprechen der Umkehrung von Höhenvermessungen.65 Einfache Hilfsmittel aus fixem Okular und Visiergeräten sind aus Ludovico Cigolis Perspektivlehre vom Anfang des 17. Jahrhunderts bekannt, Accolti und andere haben aufgezeigt, wie im Entwurf die Verzerrung eines Deckenbildes eingerechnet wird, und Andrea Pozzo sah am Ende des Jahrhunderts die Abbildung eines Gradnetzes auf dem Gewölbe mit Licht oder Visierfäden vor.66 In Della Pittura deutet nichts darauf hin, dass der Verfasser eine über das Gradnetz hinausgehende Verwendung des Velums gefunden hätte.

Umschreibung, Komposition und Lichteinfall

Im zweiten Buch von Della Pittura wird die Malkunst in die folgenden drei Teile gegliedert: die Umschreibung von Flächen, Körpern und Standort (circonscrizione), die Zusammenfügung von Flächen und Körpern (composizione), der Lichteinfall (ricevere di lumi), von dem die Beleuchtung und die Farbe der Flächen abhängen (Della Pittura, 30, 50). Für die Gliederung der Malerei beruft sich Alberti auf die Natur entsprechend dem induktiven und kumulativen Vorgehen des ordo naturae, der im analytischen und deduktiven ordo disciplinae seinen komplementären Gegensatz hat.67

Die Umschreibung hat die Funktionen, die Grenzen der Körper und Flächen festzuhalten und die Komposition und den Lichteinfall vorzubereiten. Alberti empfiehlt den Gebrauch von Linien höchster Feinheit gemäß dem Beispiel von Parrhasios, Apelles und Protogenes und dazu eine andauernde Übung der Hand.68 Die Umschreibung ist nicht an die Skizze oder die Zeichnung gebunden, die erst im Zusammenhang mit der Anordnung und der Komposition einer istoria erwähnt werden (Della Pittura, 61). Alberti rät, sich des Velums für kleinere Flächen zu bedienen und für größere die perspektivische Konstruktion zu wählen, ausgehend vom Fußboden bis zu den aufrechtstehenden Gebäudeteilen. Mit der Anleitung zur perspektivischen Darstellung von Kreisflächen schließt die Erörterung der Umschreibung ab (Della Pittura, 34).

images

Abb. 6. Pisanello, Zwei Zeichnungen nach einem Jünglingsakt und eine zu einem heiligen Petrus, 1427–1432, Berlin, Kupferstichkabinett.

Alberti unterscheidet nicht ausdrücklich zwischen der Umschreibung als Nachahmung von Körpern oder Ansichten und der Umschreibung als Vorbereitung der Komposition, dem Entwurf. Auch nimmt er die bereits bekannte Unterscheidung zwischen disegno und colorire nicht auf, die Cennini als Grundlage des Handwerks der Malerei bezeichnet hatte.69 Disegno wird von Alberti nur in der italienischen Fassung erwähnt und zwar als Synonym zu circonscrizione oder in Verbindung mit dem Rat, sich eher in der Wiedergabe eines Reliefs zu üben als in der Umreißung von plastischen Figuren. Disegnare findet sich in Della Pittura bei der Anweisung, eine Figur zuerst nackt, danach bekleidet zu skizzieren, wofür lateinisch subsignare steht. Alberti braucht auch trarre oder ritrarre (reißen oder herausreißen) in Verbindung mit der Nachahmung von Figuren nach der Natur oder nach Gemälden (Della Pittura, 56–58).70

Wenn man Cenninis Unterscheidung auf Albertis Teile der Malerei anwenden wollte, wäre unter disegno sowohl die circonscrizione wie auch die composizione zu begreifen. In der Konfusion um disegno (die Arbeit mit dem Stift, die gezeichnete Vorbereitung des Gemäldes, die Umrisszeichnung ohne Relief) vermutete Baxandall den Grund für Albertis Verzicht auf den Begriff in der Gliederung und betrachtete Piero della Francescas Gliederung der Malerei in die Teile disegno, commensuratio und colorare als ersten Versuch einer Ordnung der Tätigkeiten.71 Piero della Francesca schränkte disegno auf die Wiedergabe der Umrisse ein und verstand unter commensuratio die Perspektive, während Albertis circonscrizione sowohl die Umschreibung der Körper und Dinge wie deren Positionierung in einer korrekt konstruierten Raumdarstellung umfasst.

Im Hinblick auf die composizione wäre die Umschreibung zu verstehen als linearer Entwurf der perspektivischen Konstruktion mit Körpern und Gebäuden. Deshalb führt Alberti aus, die Umschreibung habe in hohem Maß mit der Komposition zu tun, der kunstgerechten Zusammenfügung von Teilen zu einem Gemälde (Della Pittura, 33, 35). Unter composizione handelt Alberti denn auch nicht mehr von dieser Aufgabe der Umschreibung, sondern von der Zusammenfügung der Körper im Hinblick auf die Schönheit der Gesichter, von den Proportionen der Glieder und Körper, von der Bewegung und Anmut der Körper, von der Darstellung von Lebenden und Toten, der Übereinstimmung von Figur und Aussehen und der Ausrichtung der Bekleidung nach dem Prinzip der Würde.72 Diese Prinzipien werden veranschaulicht mit einer Reihe von komischen Fehlern, wie etwa einer Helena oder Iphigenie mit den Händen einer Bäuerin, eines alten Ganymed mit athletischen Schenkeln oder einer Venus in einem groben Mantel. Für die Abstimmung der Maße eines Körpers empfiehlt Alberti in Della Pittura, 36 ausdrücklich das Studium des nackten Körpers und der Anatomie. Pisanellos Zeichnung zweier männlicher Akte in Berlin (Abb. 6) kann die fast gleichzeitige Werkstattpraxis belegen.73

Unter den gleichen Prinzipien wird die Zusammenfügung der Körper als die hauptsächliche Bedingung der Darstellung einer istoria oder storia beschrieben (Della Pittura, 39). Die composizione de’ corpi im Hinblick auf die Übereinstimmung der Größe der Figuren und ihrer Aufgaben unter den Anforderungen von Fülle und Mannigfaltigkeit, körperlicher und seelischer Bewegung bildet die eine Voraussetzung für die istoria, deren andere in der invenzione liegt, die im dritten Buch behandelt wird.

Den dritten Teil der Malkunst, die Beleuchtung der Flächen und die Abstimmung der Farben untereinander, bespricht Alberti in wenigen Kapiteln (Della Pittura, 46–49). Dabei greift er auf seine kurzen Darlegungen über die Farbtheorie zum Gebrauch des Malers im ersten Buch zurück (Della Pittura, 9–10). Der Ursprung der Farben wird nicht erörtert, weil die Kenntnis der Arten der Farben und ihrer Verwendung für die Maler ausreicht. Deshalb wendet sich Alberti gegen die vielfältig tradierte Siebenzahl der Farben nach Aristoteles und gegen ihre lineare Einordnung in eine Skala zwischen Weiß und Schwarz, die zugleich die Entstehung der Farben als Mischung von Licht und Dunkel darstellen sollte.74 Stattdessen nimmt er vier Farbgattungen – generi di colori – entsprechend den vier Elementen an: Feuer – Rot, Luft – Himmelblau, Wasser – Grün, Erde – Aschfarben. Die übrigen Farben sollen aus Mischungen dieser vier Farben hervorgehen. Weiß und Schwarz wandeln die Farbgattungen durch Aufhellung oder Verdunkelung zu unendlich verschiedenen Arten von Farben ab.

Gegen die aristotelische Lehre brachte Alberti damit eine Erfahrung der Werkstätten in die Farbtheorie ein, denn nur von daher kann die Beobachtung stammen, dass die Zufügung von Weiß und Schwarz den Farbton verändert und jede Farbe sich zu Weiß aufhellen und zu Schwarz abschattieren lässt. Zudem äußert sich Alberti in Della Pittura, 11 über die Beobachtung von farbigen Reflexen, aber diese interessante Wahrnehmung bleibt für die Schattierung der Körper folgenlos, weil diese nur mit Schwarz und Weiß vorgenommen werden soll. Für Albertis problematische Festlegung der Farbgattungen gibt es zwei einander ergänzende Erklärungen: in der Opposition gegen die aristotelische Farbtheorie ist die Übereinstimmung mit einer Naturordnung ein notwendiges Argument, und die Vierzahl der Farben hat in den berühmten vier Farben der griechischen Maler einen historischen Beleg, obwohl diese nach Plinius neben Schwarz und Weiß die Erdfarben Ocker und Rot brauchten.75 Auf die vier Farben der griechischen Maler weist Alberti in Della Pittura, 46 hin. Allerdings ist es schwierig, eine einleuchtende Erklärung zu finden, warum Alberti unter die Grundfarben das Grau (bigia e cenericcia) statt Gelb oder Ocker aufnahm, nachdem er Weiß und Schwarz aus den Farben ausgeschieden hatte.76 Leonardo, der Alberti in der Zuordnung der Grundfarben zu den Elementen folgt, wird dies ebenso korrigieren wie es Filarete vor ihm tat.77 Gage zeigte hingegen, dass die Farbe Grau, die Mischung von Weiß und Schwarz, für Alberti das Mittel war, das die Kohärenz der Farben und des Reliefs sichern konnte.78

Im zweiten Buch diskutiert Alberti zunächst die Verwendung von Weiß und Schwarz für die plastische Erscheinung der Körper, den rilievo, der durch Licht und Schatten hervorgebracht wird. Die Erzeugung der Plastizität durch Schwarz und Weiß betrachtete Alberti als höheren Beweis für die Begabung des Malers als den Gebrauch einer Fülle von verschiedenartigen Farben. Dabei verweist er auf die geringe Anzahl von Farben, deren sich die antiken Maler bedienten, und auf den durch Quintilian berühmten Erfinder der gemalten Plastizität, Zeuxis.79

Die Grundlage für den rilievo ist die Beobachtung der Natur. Die Mittel der Darstellung sind Schwarz für die Schatten, Weiß für die Lichter, das Vorgehen ist die sparsame und vorsichtige Aufhellung und Verdunkelung der Lokalfarben. Dabei schreibt Alberti die Beachtung eines Gleichgewichts vor, nach der eine gleichwertige Abschattung eine Aufhellung aufwiegen soll (Della Pittura, 46). Als Ziel bezeichnet Alberti, dass die gemalten Gegenstände oder die Körper und Gesichter plastisch hervorzutreten scheinen. Zur Kontrolle und Korrektur empfiehlt er die Anwendung eines Spiegels.80 Die Plastizität kann durch eine leichte Untermalung oder durch Aufhellung oder Abschattierung bereits bemalter Flächen erzielt werden, indem man Weiß oder Schwarz wie feinen Tau auf die Fläche aufbringt (Della Pittura, 47).81 Die näher liegende Beimischung von Weiß oder Schwarz zu den Farbpigmenten oder zu der bereits zubereiteten Farbe, die erst noch zu applizieren ist, erwägt Alberti nicht. Reines Weiß und Schwarz sollen nicht als Lokalfarben verwendet werden, vielmehr sind diese durch stark abgedunkelte oder aufgehellte Farben zu ersetzen (Della Pittura, 47)(Della Pittura, 49).