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EINFÜHRUNG

VON DAVID QUAMMEN

Über die Entstehung der Arten« ist in vielerlei Hinsicht ein überraschendes, besonderes Werk, doch von all seinen Besonderheiten ist diese meine liebste: Selten ist in der Geschichte der englischen Prosa so ein gefährliches, brisantes, folgenreiches Buch im Ton so bescheiden und leutselig gewesen. Und zwar, weil sein Autor, Charles Darwin, ein bescheidener und umgänglicher Mann war – scheu im Verhalten, aber selbstsicher bei seinen Ideen –, der weder wettern noch einschüchtern, sondern vielmehr überzeugen wollte.

Als ich an Bord des Königlichen Schiffs Beagle als Naturforscher Südamerika erreichte, ward ich überrascht von der Wahrnehmung gewisser Tatsachen in der Verteilung der Bewohner und in den geologischen Beziehungen zwischen der jetzigen und der früheren Bevölkerung dieses Weltteils. Diese Tatsachen schienen mir einiges Licht über die Entstehung der Arten zu verbreiten, diesem Geheimnis der Geheimnisse, wie es einer unserer größten Philosophen genannt hat.

Er klingt wie ein sanftmütiger Onkel, der sich höflich räuspert, um gleich zum Tee ein paar seltsame Beobachtungen und Vermutungen anzustellen.

Der Philosoph, auf den Darwin da anspielt, war Sir John Herschel, dessen Buch über »Naturphilosophie«, wie man das damals nannte, Charles in seiner Studentenzeit in Cambridge beeindruckt hatte. Die Naturphilosophie war empirisch und induktiv, aber sie wandelte sich kaum merklich zur »Naturtheologie«, einer frommen Denkschule, welche die Wunder der Natur als Beweis für die Allmacht und Güte Gottes begriff. Was war der Ursprung der neuen Arten, die die alten ausgestorbenen ersetzten? Die Orthodoxie verordnete, jede Spezies sei ein besonderer göttlicher Schöpfungsakt. Herschel selbst mag vermutet haben, dass »Zwischenursachen« damit zu tun hatten; das hieß jedoch keineswegs, zu akzeptieren, dass Arten durch einen materialistischen evolutionären Prozess entstanden waren. Deshalb stellte die Frage, wann, wo und wie Gott Arten schuf, um die ausgestorbenen zu ersetzen, noch immer das »Geheimnis aller Geheimnisse« für Sir John dar. Darwin teilte nach der Beagle-Fahrt Herschels Interesse an dem Geheimnis, war aber zu einer anderen Lösung gelangt.

Was die »Bewohner Südamerikas« anlangt, auf die Darwin gleichfalls anspielte, so zählten zu ihnen Armadillos, große flugunfähige Vögel namens Rheas, verschwundene Formen des Pferdes und ein ausgestorbenes Riesenfaultier mit der Gattungsbezeichnung Megatherium, die allesamt (neben der bekannteren Fauna der Galapagosinseln) sein Denken weiter in Richtung Evolutionstheorie trieben. Zu den bemerkenswertesten Dingen bei dieser Eingangsbehauptung in der »Entstehung« zählt, dass Darwin das Gewicht auf die Festlandspezies Südamerikas legt und die Galapagosinseln nicht einmal erwähnt. Diese – für ihn wichtigen, ja, aber nicht ganz so wichtigen, wie die Legende nahelegt – Inseln kommen erst weiter hinten im Buch zu ihrem Recht.

Sein vertrauensvoller erster Absatz geht so weiter:

Nachdem ich dies fünf Jahre lang getan hatte, getraute ich mich erst, eingehender über die Sache nachzusinnen und kurze Bemerkungen niederzuschreiben, die ich 1844 weiter ausführte, indem ich die Schlussfolgerungen hinzufügte, und seitdem war ich mit beharrlicher Verfolgung des Gegenstands beschäftigt.

Es war ein stetiges – so stetig wie das Tempo einer Schildkröte in einem Labyrinth –, aber kein direktes, kein schnelles Bemühen, denkt man an die acht Jahre, in denen er ein vierbändiges Werk über die Taxonomie der Rankenfüßer schrieb. Andere wissenschaftliche wie private Ablenkungen waren ebenfalls hinzugekommen, etwa seine Heirat, ein Buch über Korallenriffe, eine Hausrenovierung, zwei Ausgaben seiner Fahrt der Beagle, lange Aufenthalte in einer Kaltwasseranstalt wegen einer unklaren Erkrankung, die Kopfschmerzen, Herzrasen und Brechreiz verursachte, plus die Zeugung von zehn Kindern und der Tod seines Lieblings, seiner Tochter Anne. Aber nun war Darwin wieder in der Spur und überreichte der Welt endlich (am 26. November 1859, dem Erscheinungstag der ersten Auflage) dieses Buch, das die Theorie der Evolution beschreibt, die er 21 Jahre zuvor als junger Mann entworfen hatte. Er setzt hinzu:

Ich hoffe, dass man die Anführung der auf meine Person bezüglichen Einzelheiten entschuldigen wird: Sie sollen zeigen, dass ich nicht übereilt zu einem Entschluss gelangte.

Hier trat zu seiner Bescheidenheit noch schüchternes Understatement. Die gewundene Geschichte hinter Darwins großem Buch zeigt, dass er bei der Publikation der »Entstehung der Arten« alles andere als hastig vorging.

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Darwin kehrte am 2. Oktober 1836 von der langen Reise zurück – mit seinen Notizen und seinen gesammelten Proben sowie dem aufkeimenden Verdacht, dass die Theorie des besonderen Schöpfungsakts nicht richtig war. Er war 27 Jahre alt. Er fuhr eiligst nach Hause, um seine Familie wiederzusehen, ins Städtchen Shrewsbury in den Midlands, wo sein verwitweter Vater nach fünf Jahren einen ersten Blick auf ihn warf und zu Charles’ Schwestern sagte: »Nun ja, die Form seines Kopfes hat sich stark verändert.« Aber wahrscheinlich dachte er sich das bloß.

Darwin mietete sich in London ein Haus. In den nächsten zwei Jahren lebte er als beschäftigter Junggeselle, ging nur wenig in Gesellschaft (nachdem das Novum der Dinnerpartys und das Flirten mit heiratsfähigen jungen Frauen seinen Reiz verloren hatte) und konzentrierte sich entschlossen, aber insgeheim, auf die Frage, ob Arten unveränderlich waren (die vorherrschende Meinung) oder irgendwie veränderbar. Wenn Spezies änderungsfähig waren – wenn sie sich modifizierten, anpassten, zu neuen Formen entwickelten, wobei sie sich von einem gemeinsamen Vorfahr aus diversifizierten –, welcher Mechanismus rief dann diese Effekte hervor? Darwin wusste es nicht. Er hatte Ideen, wilde Thesen, aber keine Theorie – noch nicht. Er las viel. Er studierte die Proben von der Beagle. Er ging in den Zoo und beäugte den Orang-Utan. Er stopfte seine ausgewählten Tatsachen und einen Wirrwarr an Gedanken in kleine geheime Hefte, die er seine Transmutatios-Notizbücher nannte, da sie von der Veränderung der Arten handelten. Von »Evolution« sprach er erst später.

Fast zwei Jahre lang tastete er erfolglos nach einer Erklärung, wie die Spezies sich verändern könnten. Dann, Ende September 1838, las er die »Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz« von Thomas Malthus, die seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkte, dass alle Spezies (auch der Homo sapiens) dazu neigen, sich in einer Rate fortzupflanzen, die zu Überbevölkerung führt, zu viel mehr Individuen, als vom Habitat und Nahrungsangebot her tragbar sind. Die Folge ist ein Kampf ums Überleben und um Möglichkeiten zur Fortpflanzung. Welche Individuen sind dabei erfolgreich? Jene, die durch kleine Abweichungen in der Anatomie, Physiologie oder im Verhalten für die physischen und sozialen Herausforderungen ihrer Lebensumstände am besten geeignet sind. Jetzt sah Darwin es. Er hielt seine Erleuchtung im aktuellen Notizbuch mit einer groben Analogie fest:

Man könnte sagen, es existiert eine Kraft, wie wenn hunderttausend Keile versuchen, jede Art von adaptierter Struktur in die Lücken im Aufbau der Natur zu zwängen oder vielmehr Lücken zu bilden, indem sie die schwächeren hinauswerfen.

Das Ergebnis des ganzen Zwängens, so erkannte er, »muss sein, die richtige Struktur auszuwählen und sie für die Veränderung passend zu machen«. Das war die erste Feststellung – sehr grob noch, sehr geheim, bloß ein noch ungeschiedenes Gedanken-Nugget – zu seiner Theorie der Evolution durch natürliche Zuchtwahl. Diese Analogie sollte dann in der »Entstehung« (siehe S. 80) in einem Kapitel auftauchen, in dem er den von ihm so genannten »Kampf ums Dasein« erklärte. Die Idee des Kampfes, sollte er hinzufügen, ist »die Lehre von Malthus mit verstärkter Kraft übertragen auf das ganze Tier- und Pflanzenreich«.

Rund zwei Monate nach seiner Erleuchtung, am 27. November, kritzelte Darwin eine deutliche, aber plump unterstrichene Behauptung in das aktuelle Notizbuch, mit der er die Theorie klarer umriss:

Drei Prinzipien, werden alles erklären

1. Enkel. Wie. Großväter

2. Tendenz zur kleinen Veränderung … vor allem bei physischer Veränderung

3. Große Fruchtbarkeit im Verhältnis zur Hilfe der Eltern.

Punkt drei bezog sich auf den Druck durch die Überbevölkerung, auf den Malthus ihn hingewiesen hatte. Punkt eins hielt die Grundtatsache des Erblichkeitsgesetzes fest – dass die Nachkommen dazu neigen, ihren nächsten Vorfahren sehr ähnlich zu sein. Und Punkt zwei erkannte die entscheidende Tatsache an, dass die Vererbung nicht exakt ist – dass in jeder Generation die Individuen sich durch willkürliche Abweichungen unterscheiden. Einige sind ein wenig größer oder kräftiger oder schneller oder haben einen längeren Hals oder ihr Gefieder ist in kräftigerem Rot oder Gelb als das der anderen. Solch eine Abweichung spiegelt sich auch in der Tatsache, dass selbst Geschwister (bis auf eineiige Zwillinge) nicht haargenau gleich sind. Doch nimmt man die drei Punkte zusammen, so erkannte Darwin, hat man einen funktionierenden Mechanismus, der über Generationen zur Anpassung führt. Das ist der Punkt, ab dem sich seine Theorie der Evolution am genauesten nachzeichnen lässt: 27. November 1838, Notizbuch E, S. 58.

Beeilte er sich, das zu veröffentlichen? Nein. Warum nicht? Weil er mehr als nur eine radikale geniale Idee mit subversiven Implikationen anbieten wollte; er wollte ein ganzes Gebäude an Beweisen und logischer Argumentation zur Untermauerung dieser radikalen genialen Idee vorlegen. Einen Grund zur Eile sah er nicht (später dann schon). Nach außen hin führte er weiter das Leben eines konventionellen jungen Naturforschers und parallel insgeheim das des Evolutionsforschers; er sammelte mehr Material aus gedruckten Quellen, aus dem Briefwechsel mit Tier- und Pflanzenzüchtern sowie seinen eigenen Beobachtungen und Experimenten. Und er war zusehends mit anderen Aufgaben und Rollen ausgelastet. Er heiratete seine Cousine Emma Wedgwood, die Erbin des Porzellanherstellers und eine fromme Christin. Er teilte ihre tiefe Gläubigkeit nicht, und sie wusste das und sorgte sich um sein Seelenheil; aber egal, irgendwie schafften sie es, dass ihre Ehe funktionierte. Sie flohen aus London und zogen in ein marodes Haus in dem kleinen Dorf Down. Er beendete seine Arbeit als Herausgeber des fünfbändigen Kompendiums ›The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle‹, das auf seinen Spezimen von dieser Expedition basierte. Er richtete sich in seinem Arbeitszimmer ein, das ihm als Home-Office diente, in dem großen Haus mit einer wachsenden Familie (bis 1844 vier lebende Kinder und eine kleine Tochter auf dem Kirchhof) und der Dienerschaft und seiner beschützenden Ehefrau, fern vom lärmigen London. Und dann verstrich immer mehr Zeit.

Und Darwin war stetig stärker eingebunden in seine Rollen als Ehemann, Vater, Landedelmann, öffentlichkeitsscheuer Verfasser von naturhistorischen Büchern und geachteter, wenn auch etwas langweiliger Wissenschaftler; und ihm war klar, wie haarsträubend und verwirrend seine Theorie wirken würde – auf Emma, seine wissenschaftlichen Freunde, die viktorianische Gesellschaft –, wenn er sie schließlich doch veröffentlichte.

Er unternahm in jenen Jahren mehrere Anläufe, die Theorie auszuformulieren. 1842 erstellte er einen Entwurf seiner Ideen und Argumente, legte ihn dann aber beiseite. 1844 schrieb er eine längere Version, legte aber auch diese zur Seite, mit einer Notiz für Emma, sie solle sie »im Falle meines plötzlichen Todes« publizieren. Wenn seine Theorie richtig war (was er glaubte), sagte er Emma, und wenn auch nur ein kompetenter Richter sie akzeptieren würde, dann wäre sie »ein beträchtlicher Schritt für die Wissenschaft«. Da hatte er recht. Doch er war noch nicht bereit, diesen Schritt öffentlich zu gehen.

In jenem Jahr erschien in London noch ein Buch mit dem Titel »Vestiges of the Natural History of Creation«. Provokant in seiner Aussage und sehr mysteriös, weil der Autor anonym zu bleiben entschied, verkauften sich die »Spuren« gut (vier Auflagen in einem Jahr) und sorgten mit ihren verträumten, wirren, unbewiesenen Thesen über einen kosmischen Prozess der evolutionären Veränderung beim Publikum für viel Aufsehen. Das Buch amüsierte die unkritischen Leser und stieß bei den vorsichtigen Wissenschaftlern auf Ablehnung, für die es ein Obstkuchen mit unechtem Zuckerwerk war. Darwin sah dies jedoch als Zeichen, dass die Zeit für einen Text zur Evolution noch nicht reif, ja wohl ungeeigneter denn je war. Er wollte nicht mit dem namenlosen Autor der »Vestiges« als Lieferant von bösen geistigen Kohlehydraten in einen Topf geworfen werden.

Zehn Jahre vergingen.

Darwin sezierte, skizzierte und beschrieb zahlreiche Rankenfußkrebse. Weitere fünf Kinder wurden geboren, nun tobten acht durchs Haus. Dann starb Annie mit zehn Jahren herzzerreißend an Tuberkulose, wie es scheint. Ihr Leiden und Sterben, das er an ihrem Bett miterlebte, entfernte Darwin noch weiter von den orthodoxen christlichen Trostsprüchen. Er war nie sonderlich fromm gewesen (obwohl er sich in Cambridge auf die anglikanische Priesterweihe vorbereitete, bevor ihn die Fahrt mit der Beagle von dieser Laufbahn abbrachte), und sein langsames Wegdriften vom Christentum war genauso stark mit intellektuellen Zweifeln verbunden wie mit persönlichen Gefühlen. Aber das Leid von Unschuldigen wie Annie und seine Skepsis hinsichtlich des besonderen Schöpfungsakts und anderer wundersamer Eingriffe sowie seine Ablehnung des Dogmas von der ewigen Verdammnis der Ungläubigen machten es ihm unmöglich, gläubig zu sein oder auch nur die Idee eines allmächtigen gütigen Gottes zu akzeptieren. Später sagte er: »Ich gab das Christentum nicht auf, bevor ich vierzig Jahre alt war.« Als Annie starb, war er zweiundvierzig.

1854, nach Beendigung des langen Umwegs über die Taxonomie der Rankenfußkrebse, zog Darwin seine alten Notizen zur Transmutation wieder hervor und machte sich an die Evolutionstheorie als Vollzeitprojekt.

Die nächsten zwei Jahre verbrachte Darwin erneut mit Lesen, Forschen, Experimentieren und Nachdenken. Er fügte seiner Theorie ein weiteres entscheidendes Element hinzu, das er »das Prinzip der Divergenz« nannte (siehe S. 124–139) und mit dem er nicht nur die Anpassung und Komplexität der Arten, sondern auch ihre Diversifikation von gemeinsamen Abstammungslinien – dem Ursprung der biologischen Diversität – erklären konnte. Dann fing er an zu schreiben. Bis zum Frühsommer 1858 hatte er eine Reihe von Kapiteln zu dem, was er »mein großes Buch« zu nennen begonnen hatte. Die Kapitel umfassten über eine Viertelmillion Wörter, doch er meinte, er habe erst die Hälfte. Da landete ein Brief in seiner Post. Er kam von einem jungen Engländer namens Alfred Russel Wallace, einem autodidaktischen Naturforscher und kommerziellen Sammler mit wenig Schulbildung und nicht vom selben gesellschaftlichen Status wie Darwin (wiewohl sie eine wissenschaftliche Brieffreundschaft pflegten). Wallace hatte vier Jahre lang die Inseln des Malaiischen Archipels (heute großenteils Indonesien) bereist und davor schon vier Jahre am Amazonas verbracht. Sein Brief war in einem Handelshafen im Norden der Molukken aufgegeben worden. Er enthielt ein Manuskript. Lieber Mr Darwin, stand in dem Brief, hier ist eine recht ungewöhnliche Theorie, die ich entwickelte; wenn Sie meinen, dass der beigelegte Aufsatz es verdient, würden Sie ihn bitte an eine Person mit Einfluss weiterleiten? Wallace beschrieb in dem Papier die Evolution durch natürliche Zuchtwahl – nicht in diesen Worten, aber mit Gedanken, die mit Darwins eigener Theorie fast identisch waren.

Das ist die klassische Geschichte einer wissenschaftlichen Konvergenz, die bereits viele Male erzählt wurde; doch die grundlegenden Fakten verdienen es, noch einmal geschildert zu werden. Nach ein paar Tagen voller Panik und Verzweiflung vertraute Darwin die Sache seinen beiden engsten wissenschaftlichen Freunden an, dem Geologen Charles Lyell und dem Botaniker Joseph Hooker, die ihren Einfluss in der Wissenschaftsgemeinde nutzten (ohne Wallace darüber zu informieren), die Entdeckung durch die beiden bekanntzugeben. Hooker stellte einige Auszüge von Darwins unveröffentlichten Schriften, die gerade mal zum Umreißen seiner Theorie reichten, zusammen. Dieser Abriss und Wallace’ Papier wurden bei einer Sitzung der Linnean Society am 1. Juli 1858 vorgetragen und die Urheberschaft der Idee wurde beiden zugesprochen, was immer dies bringen mochte.

Tatsächlich hatte es eine Weile den Anschein, es brächte nur sehr wenig. Auf die Bekanntgabe kam so gut wie keine Reaktion von anderen Wissenschaftlern, von der breiten Öffentlichkeit ganz zu schweigen. Darwin selbst hatte die Sitzung der Linnean Society nicht besucht, und Wallace, immer noch drüben im Osten, wusste nicht einmal etwas davon. An den Anwesenden ging die Bedeutung des Gesagten fast völlig vorbei. Vorrangig hatte das Ereignis zur Folge, dass es Darwin anspornte, aktiv zu werden. Das Ganze zwang ihn zu der Erkenntnis, dass die Aussicht, obwohl er nach wie vor Bedenken wegen der öffentlichen Präsentation seiner Theorie hegte, das Rennen um den ersten Platz zu verlieren und jemand anderen als den Entdecker der Evolution durch natürliche Zuchtwahl anerkannt zu sehen, gefiel ihm noch weniger. Deshalb ließ er das halbfertige Buchmanuskript liegen und begann von Neuem zu schreiben, diesmal knapp und prägnant und – schnell.

Die knappe Darlegung quälte ihn, da er so viele seiner Beweise ausließ, die er in mehr als zwanzig Jahren gesammelt hatte; er ließ Fußnoten und Quellenangaben weg, die, wie er dachte, notwendig gewesen wären, um dem Werk wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu verleihen. Er entschuldigte die Unterlassungen mit dem Hinweis in seinem neuen Manuskript, das dünne Buch sei nur ein »Auszug«, ein verkürzter Abriss des großen Buches, an dem er geschrieben hatte. Er jammerte mehrfach, in seiner Einleitung und an anderen Stellen, dass der fehlende »Platz« ihn daran hindere, sein gesamtes Material vorzulegen und all seine Quellen anzuführen. Das eigentliche Problem allerdings war die fehlende Zeit, da er schnell etwas veröffentlichen wollte, bevor er das Urheberrecht an der Theorie gänzlich verlor. Nach zehn Monaten hektischer Arbeit hatte er einen Entwurf fertig.

Darwin wollte das Buch ›An Abstract of an Essay on the Origin of Species and Varieties through Natural Selection‹ nennen, doch sein Verleger John Murray überzeugte ihn, dass ›An Abstract‹ todlangweilig klinge. Dann musste Darwin die Druckfahnen korrigieren, die holprigeren Passagen umschreiben und ein Register erstellen. Im September 1859 hatte er von dem Ganzen die Nase voll. »So viel zu meinem grässlichen Buch«, schrieb er an einen Freund, »das mich so viel Mühe gekostet hat, dass ich es beinahe schon hasse.« Doch Anfang November, als er ein erstes gedrucktes Exemplar in Händen hielt, änderte sich seine Einstellung. »Ich bin unendlich froh und stolz«, sagte er zu John Murray, »über das Erscheinen meines Kindes.« Der endgültige Titel hatte (ein klein wenig) mehr Pep als die »Auszug«-Version, obwohl er noch immer im viktorianischen Stil lang und gewunden war: »On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle of Life«. Drei Wochen später teilte Murray Darwin die gute Nachricht mit: Die gesamte Auflage (1250 Exemplare abzüglich ein paar Dutzend für Werbezwecke) war am ersten Tag im Großhandel ausverkauft.

Fünf weitere, jeweils von Darwin überarbeitete Auflagen sollten zu seinen Lebzeiten folgen. Für die dritte Auflage 1861 stellte er die ›Historische Skizze der Fortschritte in den Ansichten über den Ursprung der Arten‹ als eine Art Vorwort dazu. Diese Abhandlung (hier als Anhang auf S. 514–525) listet einige zuvor publizierte Thesen eines noch nicht gefestigten Gedankengebäudes zur Evolution (und sogar einige Vorwegnahmen der natürlichen Zuchtwahl) auf. Dass er die Ideen bis auf Aristoteles zurück und danach über Jean-Baptiste Lamarck, Alfred Wallace und andere nachzeichnete, war eine Reaktion auf die Kritik, Darwin habe mehr Originalität für sich beansprucht, als ihm zustehe. In der fünften Auflage 1869 fügte er die Wendung »Überleben des Tüchtigsten« ein, die er der Anschaulichkeit halber von dem Philosophen Herbert Spencer übernahm. In der sechsten Auflage 1872 ließ er im Titel »Über die« weg und vereinfachte ihn zu ›Entstehung der Arten‹.

Darwin starb am 19. April 1882 mit 73 Jahren an einem Herzleiden. Aber das Buch lebte weiter.

Die Rezeptionsgeschichte von Darwins Theorie nach ihrer ersten vollen Darlegung (1859), den späteren Bearbeitungen (die nicht alle Verbesserungen darstellten) und ihrer anschließenden Kommunikation, Übersetzung, Interpretation, Fehlinterpretation, Popularisierung, Vereinfachung und Verzerrung durch andere ist ein kompliziertes Thema, auf das ich hier nicht eingehen werde. Das gehört nicht nur zur Biographie von Charles Darwin und die Geschichte seines berühmtesten Buches, sondern zur Historie der Evolutionsbiologie in den letzten 150 Jahren. Sie können sie, wenn Sie möchten, in Büchern wie ›Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt‹ von Ernst Mayr oder in ›Die Entdeckung der Evolution‹ von Uwe Hoßfeld und Thomas Juncker sowie vielen anderen finden. Und Sie können in Ihrer nächstgelegenen Universitätsbibliothek ganze Regale voll zu dem Thema finden. Ich bezwecke hier etwas anderes: Ihre Aufmerksamkeit auf die tatsächlichen Worte, Sätze und Kapitel des einen Buches zu lenken, mit dem alles anfing.

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Die Lektoren bei Sterling Publishing Co. und ich haben entschieden, Ihnen den Text der Erstausgabe vorzulegen, da er die frischeste, dramatischste, gewagteste und folgenreichste aller Versionen war, die Darwins Feder entsprangen. Es ist der Text, der im November 1859 in London in die Buchhandlungen kam und zu dem revolutionären Umdenken führte, wie wir Menschen unseren Platz im Universum und unsere Verwandtschaft mit allen Lebewesen auf der Erde sehen. Zweifelsohne haben Sie schon viele Bemerkungen über Phänomene gehört, die »darwinistisch« seien, und wurden Sie mit Gedankengebäuden konfrontiert, die »Darwinismus« darstellen sollen. Lassen Sie sich nicht von Ersatzspielern in die Irre führen. Geben Sie nichts auf Hörensagen. Wenn Sie wissen wollen, was Charles Darwin gesagt und gedacht, wofür er gestanden hat – dann lesen Sie dieses Buch.

Die ›Entstehung der Arten‹ wurde nicht für Fachleute geschrieben. Es wurde für alle geschrieben, die lesen, nachdenken und Fragen stellen. Der Stil ist ab und an anstrengend, aber oft auch elegant; die Details sind spannend; die Logik ist luzide; und der Tonfall ist der eines leutseligen Gentleman.

Doch Sie werden zwischen diesen beiden Buchdeckeln noch mehr finden als nur den Text von Darwins großem Buch. Wir haben uns erlaubt, zu Ihrem Vergnügen und Ihrer Information dem Hauptgang einige literarische Beilagen und optische Aromen zur Seite zu stellen. Darwins Reise an Bord der Beagle, welche die Entwicklung seiner Theorie so stark beschleunigte, wird auf zweierlei Weise nachgezeichnet: mit Auszügen aus seinem Reisebericht (erschienen 1839 als ›Reise eines Naturforschers um die Welt‹ und später unter anderen Titeln, deren bekanntester ›Die Fahrt der Beagle‹ ist) sowie Bildern von den Orten, die er besuchte, den Geschöpfen, die er sah (und einigen, die er hätte sehen können, aber nicht gesehen hat), und vom Schiff selbst. Aus seinem sonstigen Leben servieren wir Ihnen Auszüge aus seiner Autobiographie, die er in ruhigen Augenblicken zwischen 1876 und 1881 entwarf und die für seine Familie gedacht war und erst nach seinem Tod publiziert wurde. Schließlich nahmen wir einige Gedanken und Briefe aus dem Band ›Leben und Briefe von Charles Darwin‹ auf, den sein Sohn Francis 1887, fünf Jahre nach Charles’ Tod, herausgab. Daneben haben wir eine Chronologie (S. 144–148) gestellt, die Darwins Leben bis zur Veröffentlichung der »Entstehung« nachzeichnet, und zahlreiche andere faszinierende, malerische und aussagekräftige Bilder mit einem Bezug zu ihm als Mensch und zur »Entstehung«. Das ist immerhin eine illustrierte Ausgabe von Darwins großem Werk – vielleicht die einzige im Augenblick.

Die visuelle Komponente unseres Buches führt schon für sich genommen in die wissenschaftlichen Ideen der »Entstehung« und den historischen Hintergrund ihrer Veröffentlichung ein. Es ist eine reiche Galerie von Fotografien, Ölporträts, alten Holzschnitten, Skizzen und anderen Reproduktionen, darunter viele der wunderbaren kolorierten Lithographien (von Elizabeth Gould, der Ehefrau des Ornithologen John Gould, und anderen), die ursprünglich in den Bänden von ›The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle‹ erschienen. So finden Sie z.B. auf Seite 3 ein schönes Porträt von Erasmus Darwin, dem Großvater von Charles, der im 18. Jahrhundert selbst ein bekannter Intellektueller und früher Theoretiker über das Thema Evolution war. Die Seiten 12 und 13 zeigen Ihnen einen erstaunlichen Vogelfalter aus Neuguinea; andere lebendige Bilder sind u.a. das Wasserschwein im heutigen Uruguay (S. 67), die Galapagos-Riesenschildkröte (S. 177) und weitere endemische Spezies des Archipels, die Lemuren auf Madagaskar (S. 184), die bizarr angepassten Baumkängurus in Australien und Neuseeland (S. 460) usw.

Auf der historischen Ebene bieten wir Ihnen einen Blick auf die Länder, Institutionen und Schauplätze, die in Darwins Leben wichtig waren, und auf die Menschen, die ihm privat und wissenschaftlich nahestanden. Das Haus, in dem er aufwuchs (The Mount, S. 53), erinnert uns daran, dass er aus einer begüterten Familie stammte – ein entscheidender Umstand für Darwins berufliche Laufbahn, da er sich nie von der Forschung abwenden musste, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Das Bild seines Studentenausweises (S. 76) der medizinischen Fakultät in Edinburgh, die er nach zwei Jahren angewidert verließ, erinnert uns daran, dass er als junger Mann – wie so viele junge Männer – verwirrt und unentschlossen war und den Weg zu seiner eigentlichen Berufung nicht auf Anhieb fand. Das sind beredte visuelle Artefakte. Dann sind da noch die Personen, die ihn unterstützten, die Männer (und ein paar Frauen), die ihm halfen, zu dem zu werden, der er war, und das zu tun, was er tat: Robert Fitzroy, der Kapitän der Beagle (der auf S. 20 so gebieterisch dreinblickt); John Stevens Henslow, sein großherziger Mentor in Cambridge (S. 95); Charles Lyell, der Modernisierer der Geologie und Darwins erster bedeutender wissenschaftlicher Freund und Gönner nach der Beagle-Reise (S. 178); die Bulldogge Thomas Huxley, der öffentlich für Darwins Theorie die Schlachten schlug, für die Darwin selbst zu schüchtern war (S. 317); sein engster akademischer Vertrauter Joseph Hooker (S. 322, auf einem wunderbaren Gemälde, das den stets jungen und geschmeidigen Verstand hinter dem grau werdenden Bart andeutet); und schließlich Darwins Ehefrau Emma (auf S. 212 zur Zeit ihrer Heirat und auf S. 485 in späteren Jahren).

Eines dieser nachhallenden Bilder möchte ich Ihnen besonders ans Herz legen: Darwin selbst, gemalt von John Collier nach dem Tod des Forschers (S. 487). Der Künstler hat, wie ich finde, in diesen Augen etwas Wahres und Wichtiges eingefangen. Er erfasste den festen Blick eines sanften, aber grundehrlichen Mannes, eines Mannes, der die Welt nicht in Aufruhr versetzen wollte, aber auch nicht davor zurückschreckte zu sagen, was er über die Ursprünge der Anpassung, Diversität und Komplexität bei den Lebewesen auf unserer Erde für richtig hielt.

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»Kulturelle Bildung« ist ein Begriff, mit dem u.a. anderen etwas vorgeschrieben wird, und unter diesem Banner sollte niemand angegangen oder herablassend behandelt werden. Niemand kann genau sagen, welche paar großartigen Bücher für die Selbstverwirklichung und Bildung anderer Menschen unbedingt notwendig sind. Wir müssen nicht alle dieselben Dinge wissen. Der Physiker und Romancier C. P. Snow, der glaubte, die heutige Ausbildung trenne zu stark zwischen Wissenschaft und Kunst und die Leute auf der Kunstseite neigten zu Selbstgefälligkeit, argumentierte 1959 in seinem Vortrag »Die Zwei Kulturen« treffend, dass beispielsweise die völlige Unkenntnis des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik (der über die Entropie) eine nicht weniger eklatante Lücke darstellt wie die völlige Unkenntnis der Werke Shakespeares. Natürlich könnte man Snow als englischen Grantler abtun, und es ist heutzutage durchaus möglich, in Amerika (und wohl auch in Britannien oder Deutschland) sein Examen zu machen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung von der Entropie und Hamlet zu haben. Dennoch, und auf die Gefahr hin, selbst als Grantler zu erscheinen, traue ich mich, anderen etwas vorzuschreiben: ›Die Entstehung der Arten‹ ist ein Buch, das jeder gebildete Mensch lesen sollte.

Und genauso wichtig: Es ist ein Buch, das für jeden gebildeten Menschen ein Genuss ist.

Weiterführende Literaturempfehlungen

Charles Darwin: Voyaging
von Janet Browne

Charles Darwin: The Power of Place
von Janet Browne

Darwin’s Origin of Species: A Biography
von Janet Browne

Die Fahrt der Beagle
von Charles Darwin

Charles Darwin, Mein Leben: 1809–1822. Vollständige Ausgabe der »Autobiographie«
hrsg. von Nora Barlow

Der blinde Uhrmacher
von Richard Dawkins

Darwin: Discovering the Tree of Life
von Niles Eldredge

The Triumph of the Darwinian Method
von Michael T. Ghiselin

Darwin, His Daughter, and Human Evolution
von Randall Keynes

… und Darwin hat doch recht
von Ernst Mayr

Charles Darwin: Der große Naturforscher und seine Theorie der Evolution
von David Quammen

 

 

Die ENTSTEHUNG der ARTEN

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»Doch im Hinblick auf die stoffliche Welt können wir wenigstens so weit gehen, dass wir erkennen: Die Erscheinungen werden nicht durch isolierte Eingriffe der göttlichen Macht bewirkt, ausgeübt in jedem einzelnen Fall, sondern durch die Aufstellung allgemeiner Gesetze.«

—W. Whewell: Bridgewater Treatise.

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»Als Schlussfolgerung lasse man keinen aus einer schwachen Einbildung von Ernsthaftigkeit, oder aus falscher Bescheidenheit, denken oder behaupten, dass ein Mensch das Buch von Gottes Wort oder das Buch von Gottes Werken zu weit erforschen oder darin zu gut gebildet sein könne; in der Theologie oder Philosophie; sondern vielmehr lasse man die Menschen nach endlosem Fortschreiten oder Fertigkeiten in beidem streben.«

—Bacon: Advancement of Learning.

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Darwins Mutter Susannah stammte aus der wohlhabenden Familie Wegdwood, der die berühmte Porzellanmanufaktur gehörte.

Inhalt

EINLEITUNG

ERSTES KAPITEL: ABÄNDERUNG DURCH DOMESTIKATION

Ursachen der Veränderlichkeit – Wirkungen der Gewohnheit – Wechselbeziehungen der Bildung – Erblichkeit – Charaktere kultivierter Varietäten – Schwierige Unterscheidung zwischen Varietäten und Arten – Entstehung kultivierter Varietäten von einer oder mehreren Arten – Zahme Tauben, ihre Verschiedenheiten und Entstehung – Frühere Züchtung und ihre Folgen – Planmäßige und unbewusste Züchtung – Unbekannter Ursprung unserer kultivierten Rassen – Günstige Umstände für das Züchtungsvermögen des Menschen.

ZWEITES KAPITEL: ABÄNDERUNG IM NATURZUSTAND

Variabilität – Individuelle Verschiedenheiten – Zweifelhafte Arten – Weit verbreitete, sehr zerstreute und gemeine Arten variieren am meisten – Arten größerer Sippen in einer Gegend beisammen variieren mehr, als die der kleinen Sippen – Viele Arten der großen Sippen gleichen den Varietäten darin, dass sie sehr nahe aber ungleich miteinander verwandt sind und beschränkte Verbreitungsbezirke haben.

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DRITTES KAPITEL: DER KAMPF UMS DASEIN

Stützt sich auf natürliche Züchtung – Der Ausdruck im weiteren Sinne gebraucht – Geometrische Zunahme – Rasche Vermehrung naturalisierter Pflanzen und Tiere – Natur der Hindernisse der Zunahme – Allgemeine Mitbewerbung. – Wirkungen des Klimas – Schutz durch die Zahl der Individuen – Verwickelte Beziehungen aller Tiere und Pflanzen in der ganzen Natur – Kampf auf Leben und Tod zwischen Einzelwesen und Varietäten einer Art, oft auch zwischen Arten einer Sippe – Beziehung von Organismus zu Organismus die wichtigste aller Beziehungen.

VIERTES KAPITEL: NATÜRLICHE ZÜCHTUNG

Natürliche Auswahl zur Nachzucht; ihre Gewalt im Vergleich zu der des Menschen; ihre Gewalt über Eigenschaften von geringer Wichtigkeit; ihre Gewalt in jedem Alter und über beide Geschlechter – Sexuelle Zuchtwahl – Über die Allgemeinheit der Kreuzung zwischen Individuen der nämlichen Art – Umstände günstig oder ungünstig für die natürliche Züchtung, insbesondere Kreuzung, Isolation und Individuenzahl – Langsame Wirkung Erlöschung durch natürliche Züchtung verursacht. – Divergenz des Charakters, in Bezug auf die Verschiedenheit der Bewohner einer kleinen Fläche und auf Naturalisation – Wirkung der natürlichen Züchtung auf die Abkömmlinge gemeinsamer Eltern durch Divergenz des Charakters und durch Unterdrückung – Erklärt die Gruppierung aller organischen Wesen.

FÜNFTES KAPITEL: GESETZE DER ABÄNDERUNG

Wirkungen äußerer Bedingungen – Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe in Verbindung mit natürlicher Züchtung; Flieg- und Sehorgane – Akklimatisierung – Wechselbeziehungen des Wachstums – Kompensation und Ökonomie der Entwicklung – Falsche Wechselbeziehungen – Vielfache, rudimentäre und wenig entwickelte Organisationen sind veränderlich – In ungewöhnlicher Weise entwickelte Teile sind sehr veränderlich; spezifische mehr als Sippencharaktere – Sekundäre Geschlechtscharaktere veränderlich – Zu einer Sippe gehörige Arten variieren auf analoge Weise – Rückkehr zu längst verlorenen Charakteren – Summarium.

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SECHSTES KAPITEL: SCHWIERIGKEITEN DER THEORIE

Schwierigkeiten der Theorie einer abändernden Nachkommenschaft – Übergänge – Abwesenheit oder Seltenheit der Zwischenabänderungen – Übergänge in der Lebensweise – Differenzierte Gewohnheiten in einerlei Art – Arten mit Sitten weit abweichend von denen ihrer Verwandten – Organe von äußerster Vollkommenheit – Mittel der Übergänge – Schwierige Fälle – Natura non facit saltum – Organe von geringer Wichtigkeit – Organe nicht in allen Fällen absolut vollkommen – Das Gesetz von der Einheit des Typus und den Existenzbedingungen enthalten in der Theorie der natürlichen Züchtung.

SIEBENTES KAPITEL: INSTINKT

Instinkte vergleichbar mit Gewohnheiten, doch anderen Ursprungs – Abstufungen – Blattläuse und Ameisen – Instinkte veränderlich – Instinkte gezähmter Tiere und deren Entstehung – Natürliche Instinkte des Kuckucks, des Straußes und der parasitischen Bienen – Sklavenmachende Ameisen – Honigbienen und ihr Zellenbauinstinkt – Schwierigkeiten der Theorie natürlicher Züchtung in Bezug auf Instinkt – Geschlechtslose oder unfruchtbare Insekten – Zusammenfassung.

ACHTES KAPITEL: BASTARDBILDUNG

Unterschied zwischen der Unfruchtbarkeit bei der ersten Kreuzung und der Unfruchtbarkeit der Bastarde – Unfruchtbarkeit der Stufe nach veränderlich; nicht allgemein; durch Inzucht vermehrt und durch Zähmung vermindert – Gesetze für die Unfruchtbarkeit der Bastarde – Unfruchtbarkeit keine besondere Eigentümlichkeit, sondern mit anderen Verschiedenheiten zusammenfallend – Ursachen der Unfruchtbarkeit der ersten Kreuzung und der Bastarde – Parallelismus zwischen den Wirkungen der veränderten Lebensbedingungen und der Kreuzung – Fruchtbarkeit miteinander gekreuzter Varietäten und ihrer Blendlinge nicht allgemein – Bastarde und Blendlinge unabhängig von ihrer Fruchtbarkeit verglichen – Zusammenfassung.

NEUNTES KAPITEL: UNVOLLKOMMENHEIT DER GEOLOGISCHEN ÜBERLIEFERUNGEN

Mangel mittlerer Varietäten zwischen den heutigen Formen – Natur der erloschenen Mittelvarietäten und deren Zahl – Länge der Zeitperioden nach Maßgabe der Ablagerungen und Entblößungen – Armut unserer paläontologischen Sammlungen – Unterbrechung geologischer Formationen – Abwesenheit der Mittelvarietäten in allen Formationen – Plötzliche Erscheinung von Artengruppen – Ihr plötzliches Auftreten in den ältesten fossilführenden Schichten.

ZEHNTES KAPITEL: GEOLOGISCHE AUFEINANDERFOLGE ORGANISCHER WESEN

Langsame und allmähliche Erscheinung neuer Arten – Ungleiches Maß ihrer Veränderung – Einmal untergegangene Arten kommen nicht wieder zum Vorschein – Artengruppen folgen denselben allgemeinen Regeln des Auftretens und Verschwindens, wie die einzelnen Arten – Erlöschen der Arten – Gleichzeitige Veränderungen der Lebensformen auf der ganzen Erdoberfläche – Verwandtschaft erloschener Arten mit anderen fossilen und mit lebenden Arten – Entwicklungsstufe aller Formen – Aufeinanderfolge derselben Typen im nämlichen Ländergebiet – Zusammenfassung des jetzigen mit früheren Abschnitten.

ELFTES KAPITEL: GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG

Die gegenwärtige Verbreitung der Organismen lässt sich nicht aus den natürlichen Lebensbedingungen erklären – Wichtigkeit der Verbreitungsschranken – Verwandtschaft der Erzeugnisse eines nämlichen Kontinentes – Schöpfungsmittelpunkte – Ursachen der Verbreitung sind Wechsel des Klimas, Schwankungen der Bodenhöhe und mitunter zufällige – Die Zerstreuung während der Eisperiode über die ganze Erdoberfläche erstreckt.

ZWÖLFTES KAPITEL: GEOGRAPHISCHE VERBREITUNG. (FORTSETZUNG.)

Verbreitung der Süßwasserbewohner – Bewohner der ozeanischen Inseln – Abwesenheit von Batrachiern und Landsäugetieren – Beziehungen zwischen den Bewohnern der Inseln und der nächsten Festländer – Über Ansiedlung aus den nächsten Quellen und nachherige Abänderung – Zusammenfassung der Folgerungen aus dem letzten und dem gegenwärtigen Kapitel.

DREIZEHNTES KAPITEL: WECHSELSEITIGE VERWANDTSCHAFT ORGANISCHER KÖRPER; MORPHOLOGIE; EMBRYOLOGIE; RUDIMENTÄRE ORGANE

Klassifikation: Unterordnung der Gruppen – Natürliches System – Regeln und Schwierigkeiten der Klassifikation erklärt aus der Theorie der Fortpflanzung mit Abänderung – Klassifikation der Varietäten – Abstammung bei der Klassifikation gebraucht – Analoge oder Anpassungs-Charaktere – Verwandtschaften: allgemeine, verwickelte und strahlenförmige – Erlöschung trennt und begrenzt die Gruppen – Morphologie: zwischen Gliedern einer Klasse und zwischen Teilen eines Einzelwesens – Embryologie: deren Gesetze daraus erklärt, dass Abänderung nicht in allen Lebensaltern eintritt, aber in korrespondierendem Alter vererbt wird – Rudimentäre Organe: ihre Entstehung erklärt – Zusammenfassung.

VIERZEHNTES KAPITEL: ALLGEMEINE WIEDERHOLUNG UND SCHLUSS

Wiederholung der Schwierigkeiten der Theorie natürlicher Züchtung – Wiederholung der allgemeinen und besonderen Umstände, zu deren Gunsten – Ursachen des allgemeinen Glaubens an die Unveränderlichkeit der Arten – Wie weit die Theorie natürlicher Züchtung auszudehnen ist – Folgen ihrer Annahme für das Studium der Naturgeschichte – Schlussbemerkungen.

ANHANG: HISTORISCHE SKIZZE DER FORTSCHRITTE IN DEN ANSICHTEN ÜBER DEN URSPRUNG DER ARTEN

GLOSSAR DER WICHTIGSTEN FACHBEGRIFFE IN DIESEM BUCH

 

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EINLEITUNG

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Joseph Hooker, Charles Lyell und Charles Darwin. Darwin besprach mit diesen beiden Freunden seine gefährlichsten Gedanken, bevor er sie veröffentlichte.

Als ich an Bord des Königlichen Schiffs »Beagle« als Naturforscher Südamerika erreichte, ward ich überracht von der Wahrnehmung gewisser Tatsachen in der Verteilung der Bewohner und in den geologischen Beziehungen zwischen der jetzigen und der früheren Bevölkerung dieses Weltteils. Diese Tatsachen schienen mir einiges Licht über die Entstehung der Arten zu verbreiten, diesem Geheimnis der Geheimnisse, wie es einer unserer größten Philosophen genannt hat. Nach meiner Heimkehr im Jahre 1837 schien es mir, dass sich etwas über diese Frage müsse ermitteln lassen durch ein geduldiges Sammeln und Erwägen aller Arten von Tatsachen, welche möglicherweise etwas zu deren Aufklärung beitragen könnten. Nachdem ich dieses fünf Jahre lang getan hatte, getraute ich mich erst eingehender über die Sache nachzusinnen und einige kurze Bemerkungen darüber niederzuschreiben, welche ich im Jahre 1844 weiter ausführte, indem ich die Schlussfolgerungen hinzufügte, welche sich mir als wahrscheinlich ergaben, und von dieser Zeit an war ich mit beharrlicher Verfolgung des Gegenstandes beschäftigt. Ich hoffe, dass man die Anführung dieser auf meine Person bezüglichen Einzelheiten entschuldigen wird: Sie sollen zeigen, dass ich nicht übereilt zu einem Entschluss gelangt bin.

Aus „Leben und Briefe von Charles Darwin“, hrsg. von seinem Sohn Francis Darwin

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Ich hatte mir den ersten Band von Lyells ›Principles of Geology‹ mitgenommen, den ich aufmerksam studierte; und das Buch erwies mir in vielerlei Hinsicht die besten Dienste. Der erste Ort, den ich untersuchte, nämlich St. Jago auf den Kapverdischen Inseln, zeigte mir eindeutig die wunderbare Überlegenheit von Lyells Weise, die Geologie zu behandeln, verglichen mit jedem anderen Autor, dessen Werk ich dabeihatte oder jemals später las.

Mein Werk ist nun nahezu vollendet; aber ich will mir noch zwei oder drei weitere Jahre Zeit lassen, um es zu ergänzen; und da meine Gesundheit keineswegs fest ist, so sah ich mich zur Veröffentlichung dieses Auszugs gedrängt. Ich sah mich noch umso mehr dazu veranlasst, als Herr Wallace, welcher jetzt die Naturgeschichte der malaiischen Inselwelt studiert, zu fast genau denselben allgemeinen Schlussfolgerungen über die Artenbildung gelangt ist. Letztes Jahr sandte er mir eine Abhandlung darüber mit der Bitte zu, sie Sir Charles Lyell zuzustellen, welcher sie der Linnéschen Gesellschaft übersandte, in deren Journal sie nun im dritten Bande abgedruckt worden ist. Sir C. Lyell sowohl als Dr. Hooker, welche beide meine Arbeit kennen (der Letzte hat meinen Entwurf von 1844 gelesen), beehrten mich, indem sie den Wunsch ausdrückten, ich möge einen kurzen Auszug aus meinen Handschriften zugleich mit Wallaces Abhandlung veröffentlichen.

Dieser Auszug, welchen ich hiermit der Lesewelt vorlege, muss notwendig unvollkommen sein. Er kann keine Belege und Autoritäten für meine verschiedenen Feststellungen beibringen, und ich muss den Leser ansprechen, einiges Vertrauen in meine Genauigkeit zu setzen. Zweifelsohne mögen Irrtümer mir untergelaufen sein; doch glaube ich mich überall nur auf verlässliche Autoritäten berufen zu haben. Ich kann hier überall nur die allgemeinen Schlussfolgerungen anführen, zu welchen ich gelangt bin, in Begleitung von nur wenigen erläuternden Tatsachen, die aber, wie ich hoffe, in den meisten Fällen genügen werden. Niemand kann mehr als ich selber die Notwendigkeit fühlen, alle Tatsachen, auf welche meine Schlussfolgerungen sich stützen, mit ihren Einzelheiten bekannt zu machen, und ich hoffe, dies in einem künftigen Werk zu tun. Denn ich weiß wohl, dass kaum ein Punkt in diesem Buch zur Sprache kommt, zu welchem man nicht Tatsachen anführen könnte, die oft zu gerade entgegengesetzten Folgerungen zu führen scheinen. Ein richtiges Ergebnis lässt sich aber nur dadurch erlangen, dass man alle Erscheinungen und Gründe zusammenstellt, welche für und gegen jede einzelne Frage sprechen, und sie dann sorgfältig gegeneinander abwägt, und dies kann nicht wohl hier geschehen.

Ich muss bedauern, nicht Raum zu finden, um so vielen Naturforschern meine Erkenntlichkeit für die Unterstützung auszudrücken, die sie mir, mitunter ihnen persönlich ganz unbekannt, in uneigennützigster Weise zuteilwerden ließen. Doch kann ich diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne wenigstens die große Verbindlichkeit anzuerkennen, welche ich Dr. Hooker dafür schulde, dass er mich in den letzten fünfzehn Jahren in jeder möglichen Weise durch seine reichen Kenntnisse und sein ausgezeichnetes Urteil unterstützt hat.

Wenn ein Naturforscher über die Entstehung der Arten nachdenkt, so ist es wohl begreiflich, dass er in Erwägung der gegenseitigen Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen, ihrer embryonalen Beziehungen, ihrer geographischen Verbreitung, ihrer geologischen Aufeinanderfolge und anderer solcher Tatsachen zu dem Schluss gelangen könne, dass jede Art nicht unabhängig von anderen erschaffen sei, sondern nach der Weise der Varietäten von anderen Arten abstamme. Dem ungeachtet dürfte eine solche Schlussfolgerung, selbst wenn sie richtig wäre, kein Genüge leisten, so lange nicht nachgewiesen werden kann, auf welche Weise die zahllosen Arten, welche jetzt unsere Erde bewohnen, so abgeändert worden seien, dass sie die jetzige Vollkommenheit des Baues und der Anpassung für ihre jedesmaligen Lebensverhältnisse erlangten, welche mit Recht unsere Bewunderung erregen. Die Naturforscher verweisen beständig auf die äußeren Bedingungen, wie Klima, Nahrung usw., als die einzig möglichen Ursachen ihrer Abänderung. In einem sehr beschränkten Sinne kann dies, wie wir später sehen werden, wahr sein. Aber es wäre verkehrt, lediglich äußeren Ursachen z.B. die Organisation des Spechtes, die Bildung seines Fußes, seines Schwanzes, seines Schnabels und seiner Zunge zuschreiben zu wollen, welche ihn so vorzüglich befähigen, Insekten unter der Rinde der Bäume hervorzuholen. Ebenso wäre es verkehrt, bei der Mistelpflanze, die ihre Nahrung aus gewissen Bäumen zieht, und deren Samen von gewissen Vögeln ausgestreut werden müssen, wie ihre Blüten, welche getrennten Geschlechtes sind, die Tätigkeit gewisser Insekten zur Übertragung des Pollens von der männlichen auf die weibliche Blüte voraussetzen, die organische Einrichtung dieses Parasiten mit seinen Beziehungen zu jenen verschiedenerlei organischen Wesen als eine Wirkung äußerer Ursachen oder der Gewohnheit oder des Willens der Pflanze selbst anzusehen.

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Dr. Erasmus Darwin (1731–1802), Wissenschaftler, Dichter, Erfinder und Großvater väterlicherseits von Charles Darwin. Er hegte diffuse Ideen über die Evolution und verfasste erotische Verse über Pflanzen.

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Erasmus Darwins zweiteilige Dichtung über die Vegetation. Teil II war der feurige.

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Tafeln aus The Botanic Garden.

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Erasmus Darwins Zoonomia, ein Prosawerk mit seinen Ideen zur Evolution. Sein Enkel Charles las es als junger Student, wurde davon aber nicht bewusst beeinflusst.

Es ist daher von der größten Wichtigkeit, eine klare Einsicht in die Mittel zu gewinnen, durch welche solche Umänderungen und Anpassungen bewirkt werden. Beim Beginn meiner Beobachtungen schien es mir wahrscheinlich, dass ein sorgfältiges Studium der Haustiere und Kulturpflanzen die beste Aussicht auf Lösung dieser schwierigen Aufgabe gewähren würde. Und ich habe mich nicht getäuscht, sondern habe in diesem wie in allen anderen verwickelten Fällen immer gefunden, dass unsere Erfahrungen über die im gezähmten und angebauten Zustand erfolgenden Veränderungen der Lebewesen immer den besten und sichersten Aufschluss gewähren. Ich halte es für wichtig, meine Überzeugung von dem hohen Wert solcher von den Naturforschern gewöhnlich sehr vernachlässigten Studien auszudrücken.