Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Vorwort
Einführung
I - ASIENS WELTMACHTPOTENZIALE
Die demographische Dynamik Asiens
Die Rolle der Fertilität
Die Geschlechterverteilung
Bevölkerungsgröße
Demographischer Wandel und Abhängigkeitsrelation
Fokus Indien
Fokus China
Anmerkungen
Literatur
Wirtschaftliche und technologische Perspektiven für Asien
Kräftige Dynamik
Bremsende Faktoren des Wachstumsprozesses
Das Innovationspotenzial Asiens
Wirtschaftliche Integration als stimulierender Faktor
Zusammenfassung
Anmerkungen
Literatur
Asien, Europa und das globale Mächtegleichgewicht
Asiens Wirtschaftsaufschwung
Militärischer Machtgewinn
Asiens Einfluss in internationalen Organisationen
Geopolitische Folgen
Zusammenfassung
II - ASIENS HERAUSFORDERUNGEN
Innerasiatische Fragilitäten
Konflikte in Asien zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Konfliktpotenziale und wunde Punkte
Ausblick
Anmerkungen
Literatur
Asiatische Mobilität und Europa: Wie man das fast Unvermeidliche steuern und ...
Der Beginn des Zeitalters der Mobilität
Asiens Anteil an der internationalen Migration
Migration in der „direkten Nachbarschaft“
Der asiatische Migrationsstrom und Europa
Was ist für die Zukunft zu erwarten?
Schlussfolgerung
Ist eine nachhaltige Entwicklung in Asien möglich?
China: Umweltverschmutzung und soziale Spannungen
Indien: Ressourcenknappheit und Armut
Zusammenfassung
Anmerkungen
Literatur
III - ASIENS SOFT POWER
Indien und China - Aspekte der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung *
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Anmerkungen
Literatur
Asiatische Kultur und Gesellschaft in einer globalisierten Welt
Anmerkung
Kulturdiplomatie in Ostasien
1.
2.
3.
4.
Wo ist Chinatown?
Beispiel Ungarn
Beispiel Italien
Und Deutschland?
Anmerkungen
Literatur
Die Zukunft der klassischen Musik liegt in Asien
Asien und Europa: Konkurrenz oder spirituelle Synthesen?
Zur Geschichte
Im Heute
Perspektiven
Literatur
IV - ANTWORTEN AUF ASIEN
Kulturpolitische Chancen für Asien und Europa
1.
2.
3.
4.
Ein offenes und innovatives Europa in einer globalen Welt
Die Herausforderungen der Globalisierung
Die Herausforderungen für Europa
Eine Herausforderung für die europäische Politik: den Wandel erleichtern
1. Rahmenbedingungen für mehr Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit in ...
2. Den Wandlungsprozess und die Anpassung an veränderte Bedingungen erleichtern
Europas politisches Programm: die neue Lissabon-Strategie
Sind wir auf dem richtigen Weg?
Ergebnisse: Beschäftigung
Ergebnisse: Produktivität
Ergebnisse: Innovation
Der Weg in die Zukunft
Eine gleichberechtigte Partnerschaft im 21. Jahrhundert: Europas Antworten auf ...
Bestandsaufnahme
Europas Antworten auf Asiens Herausforderungen
Schlussfolgerungen
Anforderungen an eine europäische Asienstrategie
Handelspolitische Verflechtung
Diversität der bilateralen Beziehungen
Anforderungen an eine europäische Asienstrategie
Anmerkungen
Literatur
V - ANHANG
Die Autorinnen und Autoren
Vorwort
Ein chinesisches Sprichwort lautet: „Tong Chuang Yi Meng“- was sinngemäß bedeutet: „Zwei Menschen teilen das Leben, aber haben unterschiedliche Träume.“Übertragen auf Asien und Europa kann man dies auch so verstehen, dass Asiaten und Europäer zwar auf derselben Erde zu Hause sind, aber offenbar unterschiedliche Träume oder Vorstellungen hinsichtlich ihrer Zukunftsaussichten und ihrer Rolle in der Welt haben. Laut einer Umfrage des „Pew Global Attitudes Project“blickten im Jahr 2005 mehr als 75 Prozent der Chinesen und Inder optimistisch auf ihre Lebenssituation und künftige Entwicklung. Im Gegensatz dazu sahen in nahezu allen Ländern Europas die Menschen ihre Zukunft mehrheitlich pessimistisch.
Das Ende der Kolonialherrschaft in Asien, der rasante wirtschaftliche Aufschwung, besonders die Entfesselung der Massenmärkte in China (seit 1978) und in Indien (seit 1991), sowie die Überwindung der Weltordnung des Kalten Krieges haben das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein vieler asiatischer Länder gestärkt. Asien drängt mit Milliarden neuen Arbeitskräften sowie einem einmaligen Potenzial an Produzenten und Konsumenten in die globale Wirtschaft. Der Anspruch auf Mitbestimmung des Globalisierungsprozesses und Mitsprache in der Weltpolitik wird zunehmend deutlicher artikuliert. Asien stellt das eurozentrische Weltbild, das seit Jahrhunderten unsere Sicht der Dinge bestimmt hat, zunehmend in Frage. Der Kontinent der Zukunft formuliert sein gutes Recht auf Fortschreibung seiner eigenständigen Entwicklung, kulturelle Einflussnahme und souveräne außenpolitische Entscheidungen.
Diese Herausforderung ist schon deshalb so schwer in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen, weil Asien in sich kein homogener Erdteil ist. Es ist ein Kontinent der Extreme, der Widersprüche und der Vielfalt. Sowohl der höchste Punkt der Erde, der Mount Everest mit 8.848 Metern, als auch ihre tiefste Stelle, der Marianengraben, 11.000 Meter unter dem Meeresspiegel, befinden sich in Asien. Auf dem größten Kontinent der Erde lebt mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Er beheimatet eine ethnische und kulturelle Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Vorderasien mitgerechnet, haben dort alle als Weltreligionen bezeichneten Glaubensrichtungen, viele Hochkulturen und Zivilisationen ihren Ursprung.
Wenn an dieser Stelle dennoch der Versuch unternommen wird, Asien als Ganzes zu betrachten, so hängt das mit der zunehmenden wirtschaftlichen Integration asiatischer Staaten und dem Aufkeimen eines asiatischen Identitätsverständnisses zusammen sowie mit der Wucht, die von den höchst widersprüchlichen und sich wechselseitig verstärkenden Kräften in Asien ausgeht.
Asien in all seinen Facetten und Gegensätzlichkeiten eignet sich für Europa als ideale Projektionsfläche seiner eigenen Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste. Und es scheint - zumindest hinsichtlich der vielfältigen Publikationen der letzten Jahre - eher auf den einzelnen Betrachter anzukommen, ob Asien als Kontinent der Zukunft mit unendlichen Möglichkeiten und als Triebkraft weltweiten Wachstums betrachtet wird oder als globaler Rivale und tickende Zeitbombe, die die Welt in den Abgrund zu stürzen vermag. Neben dieser Zwiespältigkeit ist unser Verhältnis zu Asien vor allem aber noch immer geprägt von einem mangelnden ernsthaften Bemühen, die Menschen dieses Erdteils tatsächlich kennenzulernen.
Bei einer Diskussion im Rahmen des von den Unterzeichnern gemeinsam veranstalteten Salzburger Trilogs hat die berühmte chinesische Fernsehproduzentin und Unternehmerin Yue-Sai Kan darauf hingewiesen, wie sehr sich viele Asiaten um die westliche Kultur und um westliche Sprachen bemühen, und sie kritisierte zu Recht, dass wir Europäer zu wenig neugierig auf die andere Seite des eurasischen Kontinents seien. Das mag angesichts der massiven Investitions- und Handelsströme von Europa nach China, Indien und in andere asiatische Staaten zwar paradox klingen, doch Wirtschaftsbeziehungen führen nicht automatisch zu einem besseren Verständnis für den jeweiligen Partner. Im Gegenteil: Asiens rasanter Aufstieg löst in der westlichen Welt zunehmende Besorgnis aus. Angst vor der aggressiven Konkurrenz und um den eigenen Arbeitsplatz, Angst vor Ressourcenverknappung, Angst vor Macht- und Einflussverlust machen sich sowohl in Europa als auch in den USA breit.
Doch Angst ist ein schlechter Ratgeber. Notwendig ist vielmehr ein realistischer Blick auf die Chancen und Risiken dieses größten aller Kontinente, der zurzeit wohl unbestritten zu den dynamischsten und pulsierendsten Regionen der Welt zählt und dessen wirtschaftliche und demographische Rahmenbedingungen sich unmittelbar in wachsende politische Relevanz übersetzen.
Um ein solch vorurteilsfreies, ausgewogenes und vertieftes Verständnis Asiens und der möglichen Handlungsoptionen des Westens ging es bereits in vielen Gesprächen und Expertenrunden der Bertelsmann Stiftung in Japan, China und Indien. Beim Salzburger Trilog 2006 zum Thema „Neue Kräfte in Asien - Rückwirkungen für Europa“forderten die teilnehmenden Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft und Kultur vor allem, dass die in Europa vorherrschende ökonomische Betrachtung Asiens durch eine politische und kulturelle Sichtweise ergänzt werden müsse.
Ein erster Ertrag dieser Forderungen nach einer Gesamtschau auf Asien ist der vorliegende Band, den die Bertelsmann Stiftung anlässlich der Asien-Pazifik-Wochen 2007 herausgibt. Viele namhafte Autoren haben mit ihrer individuellen Perspektive zur Entwicklung dieses Gesamtbildes beigetragen. Im Mittelpunkt stehen Asiens wirtschaftliche, demographische und politische Potenziale. Diese werden ergänzt durch Ausführungen zu den innerasiatischen Herausforderungen und Asiens Einfluss auf internationale Organisationen, auf Wertebildung und Kultur.
Am Ende des Buches steht die Frage nach der europäischen Antwort auf diese Entwicklungen. Offensichtlich liegt ein Teil der Antwort darin begründet, die neuen Weltmächte anzuerkennen. Darüber hinaus zwingt uns Asien, unsere Wirtschaft und Gesellschaft kontinuierlich zu reformieren, unsere Kernkompetenzen und unsere Innovationskraft weiter auszubauen sowie Nischen klug zu nutzen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Zudem müssen wir uns der Tatsache stellen, dass viele Politikfelder, insbesondere die Handels-, Umwelt-, Energie-, Demokratie- und Menschenrechtspolitik, Potenzial für Spannungen und Konflikte bergen. Umso mehr ist Europa gefordert, an seiner politischen Handlungsfähigkeit zu arbeiten, damit es seine Interessen besser bündeln und vertreten kann.
Ein stärker interessegeleitetes Engagement in einer multipolaren Welt muss nicht zwangsläufig bedeuten, in Rivalität zu diesen erstarkenden Ländern zu treten. Vielfach bieten sich Partnerschaften an, vor allem mit Europas strategischen Partnern China, Indien und Japan, aber ebenso mit den demokratischen Gesellschaften in Südkorea oder Indonesien, um einige zu nennen. Je weitreichender und intensiver die wechselseitigen Verflechtungen sind, desto geringer wird die Konfliktgefahr sein. Grundlegende Kenntnisse der asiatischen Geschichte, Kultur und Gegenwart sind dabei Voraussetzung für ein ehrliches Bemühen, Asien besser zu verstehen. Für Europa werden der interkulturelle Dialog, die Kooperation und Gestaltung eines friedlichen Zusammenlebens mit Asien im 21. Jahrhundert die Schlüssel zur Bewältigung aller geostrategischen und globalen Herausforderungen sein.
Wir hoffen, dass die Beiträge dieser Publikation zu einer weiterführenden Beschäftigung mit Asien anregen, auch zu einem Blick über europäische Belange hinaus, und dass sie vor allem die Chancen und Möglichkeiten aufzeigen, die sich dadurch bieten, dass Asien die Welt verändert.
Liz Mohn
Wolfgang Schüssel
Einführung
Im Raum zwischen Pakistan im Westen, Japan im Osten, China im Norden und Indonesien im Süden hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine wirtschaftliche Entwicklung vollzogen, die in ihrem Ausmaß und ihren Auswirkungen ohne Beispiel ist. Asiatische Akteure sind inzwischen selbstverständlicher - und selbstbewusster - Teil der Globalisierung. Doch die Entwicklungen in Asien sind auch Unwägbarkeiten unterworfen. Ob die gegenwärtige Dynamik und der damit einhergehende Machtgewinn anhalten, ist nicht absehbar. Wie sich das kräftige Wachstum auf Sozialsysteme und Umwelt auswirkt, bleibt offen. Auch können zahlreiche zwischen- oder innerstaatliche Spannungen das „Asiatische Jahrhundert“trüben oder verzögern. Beide Perspektiven, sowohl der ungebremste Bedeutungsverlust des Westens als auch eine global ausstrahlende Asienkrise, sind aus europäischer Sicht wenig erstrebenswert. Doch welche Wahrnehmung trifft die Realität?
Dieser Sammelband versucht, die Entwicklungen in Asien umfassender zu betrachten. Er will zu einem ausgewogenen Asienbild beitragen und die Handlungsoptionen aufzeigen, die sich für Europa ergeben. Regional stehen China, Indien und Japan naturgemäß im Mittelpunkt, doch öffnet sich der Blick immer wieder für weitere Facetten vor allem in Ost-, Südost- und Südasien. Thematisch werden die vielfältigen ökonomischen, gesellschaftspolitischen und auch kulturellen Veränderungsimpulse analysiert, die von den neuen Kräften in Asien ausgehen. Und hinter allen Beiträgen steht die Frage, was dies aus europäischer Sicht bedeutet.
Der erste Teil des Buches betrachtet die Faktoren, die sich unmittelbar in wachsende wirtschaftliche und politische Einflussnahme übersetzen.
Der Demographieexperte Carl Haub sieht den entscheidenden Schlüssel für den Bedeutungszuwachs Asiens in seinem Anteil an der Weltbevölkerung und seiner sich verändernden Altersstruktur. Vier Milliarden Menschen, also rund 60 Prozent der Weltbevölkerung, verkörpern für ihn das unerschöpfliche Potenzial Asiens, sowohl als Markt wie auch als Produzent. Der Vorteil gegenüber dem Westen besteht jedoch laut Haub vor allem darin, dass bei allen nationalen Unterschieden in der demographischen Entwicklung die Erwerbstätigen insgesamt einen immer größeren Anteil an der asiatischen Bevölkerung ausmachen werden, während dieser Anteil in Europa permanent sinkt.
Horst Siebert, langjähriger Präsident des renommierten Kieler Instituts für Weltwirtschaft, erläutert in seinem Beitrag, wie sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft zunehmend in Richtung Asien verlagert hat. Seiner Einschätzung nach werden die Wachstumsraten des gesamten Kontinents weiterhin über dem weltweiten Durchschnitt liegen. Doch ist davon auszugehen, dass ökologische und soziale Kosten auch in Asien zunehmend internalisiert werden müssen und die Dynamik bremsen. Gleichzeitig aber werden die wachsende Innovationskraft, wirtschaftliche Integration und technologische Führungsrolle asiatischer Schlüsselländer die Region weiter stimulieren.
Unter dem Gesichtspunkt der wachsenden Verteidigungshaushalte, verfügbaren Waffensysteme und -kapazitäten bezeichnet der Historiker Paul Kennedy den Aufstieg der neuen - wenngleich uralten - asiatischen Großmächte, vor allem Chinas und Indiens, als die epochale Veränderung in der Weltpolitik. Geostrategisch wird keine Region dieser Welt von dem sich abzeichnenden Wandel der globalen Machtverteilung unangetastet bleiben. Für Europa folgt daraus ein relativer Bedeutungsverlust, besonders was den Einfluss in internationalen Organisationen angeht. Abzusehen ist für Kennedy ferner, dass Asien zum Schauplatz einer klassischen Macht- und Gleichgewichtspolitik wird, wie Europa sie seit Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr kennt.
Vor diesem Hintergrund thematisiert der zweite Teil einige der sich abzeichnenden gesellschaftspolitischen Herausforderungen, die die weitere wirtschaftliche und politische Entwicklung Asiens durchaus mit Fragezeichen versehen.
Der Politikwissenschaftler und Konfliktforscher Aurel Croissant weist in seinem Beitrag nach, dass Asien wie kaum eine andere Weltregion von gesellschaftlichen, häufig gewaltsamen Interessengegensätzen gekennzeichnet ist. Vor allem die hohe ethnische, sprachliche und religiöse Fragmentierung des Kontinents schafft das Potenzial für innerasiatische Fragilitäten und für die Transnationalisierung von Konfliktgeschehen. Weitere Potenziale für Konflikte sind instabile politische Ordnungen, knappe Ressourcen, die absolute oder relative Armut, der Faktor Gesundheit sowie der ökologische Raubbau.
Ressourcenmangel und Armut in Indien sowie gesellschaftliche Spannungen und Umweltverschmutzung in China stehen auch im Zentrum des Beitrags von Jodie Thorpe und John Elkington, dem Wegbereiter der Nachhaltigkeitsdebatte auf Unternehmensebene. Der enorme Energieverbrauch, die steigende Wasserund Umweltverschmutzung sowie die Bedrohung der Artenvielfalt und des sozialen Zusammenhalts in Asien werden aus ihrer Sicht zunehmend zu einer asiatisch-europäischen Gestaltungsaufgabe. Die asiatischen Staaten sind nach Ansicht von Thorpe und Elkington überfordert, die Frage der Nachhaltigkeit des globalen Wirtschaftswachstums allein zu beantworten, und somit auf gemeinsame Lösungsansätze angewiesen.
Der Präsident des Migration Policy Institute, Demetrios Papademetriou, prognostiziert eine ähnliche Interdependenz angesichts der exponentiellen Zunahme asiatischer Migration. Die Migrationsströme fließen vor allem gen Westen. Ursache ist weniger ein wirtschaftlicher, demographischer oder ökologischer Druck in Asien als vielmehr der wachsende Bedarf an niedrig- und hochqualifizierten Arbeitskräften im Westen sowie eine stärker selektive Immigrationspolitik der Europäischen Union. Inwieweit die wachsenden Migrationszahlen zu einem asiatischen „Brain Drain“führen, lässt Papademetriou bewusst offen. Er hält es für wahrscheinlicher, dass umgekehrt Asien für die europäische Leistungselite attraktiver wird, weil sie dort voraussichtlich die weltweit besten Arbeitsbedingungen vorfinden wird.
Der dritte Teil befasst sich mit der kulturellen Dimension des Globalisierungsprozesses. Asien verändert die Welt auch auf der Werteebene, in den Künsten und im Hinblick auf Spiritualität und Religion. Angesichts der Heterogenität und der verschiedenen historischen Erfahrungen des Kontinents kann von der asiatischen Kultur nicht die Rede sein, und so sind die kulturellen Einflüsse Asiens nur schwer zu messen. Die Autoren geben aber Beispiele dafür, wo sich der Zusammenfluss unterschiedlicher Kulturströmungen nachweisen lässt.
Den Auftakt macht der Nobelpreisträger, Ökonom und Philosoph Amartya Sen mit seinem ideengeschichtlichen Abriss über die chinesisch-indischen Beziehungen. Sen verdeutlicht anhand der Verbreitung des Buddhismus, der Entwicklung in Astronomie und Mathematik, der Gesundheitsversorgung und der Tradition des öffentlichen Gesprächs, inwieweit sich China und Indien wechselseitig zu wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen angeregt haben, die weltweit Bedeutung erlangten. Für Sen sind diese zivilisatorischen Beeinflussungen nicht nur der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte eines Drittels der Menschheit, sondern in einem weiteren Sinn auch für die produktive Kraft der sogenannten kulturellen Globalisierung.
Karan Singh, indischer Politiker, Visionär und Präsident des Indian Council for Cultural Relations, stimmt mit Amartya Sen darin überein, dass den innerasiatischen Kulturbeziehungen bei weitem nicht die Aufmerksamkeit zuteil wird, die sie verdienen. Für Singh sind sie die kulturellen und gesellschaftlichen Wurzeln einer aufkeimenden asiatischen Identität, die sich in der Globalisierung erst noch bewähren muss. Diese Identität umfasst für ihn eine Pluralität religiöser und philosophischer Identitäten und das Bekenntnis zu einer multipolaren Weltordnung bei gleichzeitig wachsender asiatischer Integration. Insoweit zieht Singh einen direkten Vergleich zur Europäischen Union und fordert zu einer Vertiefung des europäisch-asiatischen Kulturaustausches auf.
Der japanische Diplomat und Präsident der Japan Foundation, Kazuo Ogoura, nähert sich in seinem Beitrag den gegenwärtigen Tendenzen ostasiatischer Kulturdiplomatie. Am Beispiel Japans, Chinas und Südkoreas bestätigt er einen wachsenden Kulturaustausch und interpretiert ihn aus japanischer Perspektive als Beleg für die zunehmende Integration der genannten Länder in den Globalisierungsprozess. Gleichwohl bleibt er skeptisch, ob man aufgrund der sich intensivierenden Kulturdiplomatie auch auf eine wachsende „Soft Power“Ostasiens schließen kann. Für Ogoura ist dieser von Joseph S. Nye geprägte Begriff nicht auf Regierungshandeln anwendbar, sondern allein auf zivilgesellschaftliches Engagement - und somit nur bedingt tragfähig in der ostasiatischen Region, wo autonomes zivilgesellschaftliches Handeln an Grenzen stößt.
Zu den kulturellen Rückwirkungen der wachsenden asiatischen Migration gehören auch Veränderungen in europäischen Stadtbildern, wie der Stadtplaner Eduard Kögel in seinem Beitrag zu ostasiatischen Immigrantensiedlungen in Ungarn und Italien ausführt. Eine klar umrissene Infrastruktur weicht dezentralen, informellen und flexiblen Netzwerken, die von einer gemeinsamen ethnischen Herkunft getragen werden. Die Interaktion mit der europäischen Gesellschaft bleibt auf den Handel beschränkt. Wie zuvor schon Papademetriou spricht deshalb auch Kögel die zunehmend drängende Frage, wie Europa die asiatischen Immigranten integriert, offen an.
Der spanische Komponist, Dirigent und Diplomat Delfín Colomé verdeutlicht für den Bereich der klassischen Musik, dass die traditionell dem Westen vorbehaltene Kultur nicht mehr nur einseitig nach Asien ausstrahlt. Vielmehr wird die klassische Musik zunehmend von leistungsbereiten, talentierten und hervorragend ausgebildeten asiatischen Interpreten und Komponisten mit geprägt. Colomé begrüßt die wechselseitige Beeinflussung sehr, eröffnet diese Form der kulturellen Globalisierung doch ein ungeahntes Innovationspotenzial für die Weltsprache Musik.
Der Religionswissenschaftler Michael von Brück schöpft in seinem Beitrag aus einer langjährigen intensiven Auseinandersetzung mit den fernöstlichen Philosophien und Religionen. In einem Rückblick, der bis in die griechische Antike reicht, weist von Brück nach, dass und wie die Faszination für Ostasien das europäische Denken seit frühester Zeit bestimmt hat. In der Gegenwart sind es vor allem Ayurveda, Yoga und Zen-Buddhismus, die vom hoch spezialisierten und zivilisationsmüden Westen auf der Suche nach ganzheitlichen und spirituellen Erfahrungen aufgesogen werden.
Asien verändert die Welt des 21. Jahrhunderts. Ob wir in Europa die damit verbundenen Chancen nutzen, liegt an uns. Die vernetzte Welt bietet sehr wohl viele Möglichkeiten, gemeinsam zu agieren und auch gemeinsam zu profitieren. Der abschließende Teil dieses Bandes richtet den Blick deshalb auf die kultur-, wirtschafts- und geopolitischen Handlungsoptionen.
Hans-Georg Knopp, der Generalsekretär des Goethe-Instituts, fordert, den Kulturdialog mit Fernost von Grund auf anders anzulegen als die Dialogpolitik mit dem Islam. Der Kulturaustausch sollte trotz der schwindenden kulturellen Normsetzungsmacht des Westens keinem defensiven, ängstlichen Impuls entspringen. Vielmehr steht die Kulturpolitik vor der Aufgabe, die Offenheit europäischer Künstler und Intellektueller gegenüber Asien, ihre Veränderungsbereitschaft und den Freiraum zu gemeinsamer ästhetischer Gestaltung mit ihren asiatischen Kollegen zu fördern. Über solche Prozesse entstehen authentische Interkulturalität und eine globale Perspektive, die auch im wirtschaftlichen und politischen Bereich stabilisierend wirken.
In wirtschaftlicher Hinsicht muss das Hauptaugenmerk Europas nach Ansicht des Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, auf der Umsetzung der erneuerten Lissabon-Strategie liegen, mit deren Hilfe die Europäische Union zum dynamischsten und wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt werden soll. Der Schlüssel dafür liegt in einer wissensbasierten und innovationsfreundlichen Gesellschaft: Mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung, die bessere Durchsetzung geistiger Eigentumsrechte und ein intensiverer Technologietransfer sind entscheidend für Europas Wettbewerbsfähigkeit. Denn nur durch Innovation kann Europa seine sozialen und ökologischen Errungenschaften auch für die Zukunft sichern und sich gleichzeitig neue, zukunftsfähige Marktsegmente erschließen.
Für Pascal Lamy, den Generalsekretär der Welthandelsorganisation (WTO), verlangen die wirtschaftlichen Herausforderungen, die der Aufstieg Asiens mit sich bringt, deshalb von der EU und den USA grundlegende Reformen. Nach innen müssen beide Vorkehrungen treffen, um ihre globale Wettbewerbsfähigkeit zu fördern. Nach außen fordert Lamy, handelsprotektionistische Maßnahmen entschieden zu bekämpfen, das multilaterale Handelssystem zu stärken und die europäischen Märkte offenzuhalten, sodass auch andere von deren Chancen profitieren können. Europa sollte vor allem die Initiative übernehmen, wenn es darum geht, Asien in den Steuerungsgremien und Entscheidungsprozessen der internationalen Organisationen eine seiner Bedeutung angemessenere Rolle zuzugestehen.
Die geopolitischen Entwicklungen in Asien, besonders der Aufstieg Chinas und Indiens zu neuen Weltmächten, erfordern nach Ansicht des Politikwissenschaftlers und Europaexperten Werner Weidenfeld von der Europäischen Union eine aktive, strategische und kohärente Asienpolitik, die in enger Zusammenarbeit mit ihren internationalen Partnern entwickelt und umgesetzt wird. Gerade für Letzteres ist die EU jedoch nicht angemessen aufgestellt: Zum einen verfolgt sie ihre außenpolitischen Prinzipien je nach Partnerland unterschiedlich konsequent. Zum anderen wird der wirtschaftlichen Konkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihrer gemeinsamen Wettbewerbsfähigkeit im globalen Maßstab. Zudem fehlt ein asienbezogener strategischer Dialog mit den USA wie auch die Handlungsfähigkeit, um politische, notfalls militärische Verantwortung zu übernehmen. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen sind bekannt - die strategischen Antworten der EU müssen nach Auffassung des Autors jedoch noch zu Ende gedacht werden.
Zum Abschluss bleibt die Erkenntnis, die sich im Titel dieses Buches und der Asien-Pazifik-Wochen 2007 findet: Asien verändert die Welt. Nur wenn die Europäische Union, die Mitgliedstaaten sowie ihre Bürgerinnen und Bürger auf diese Veränderungen reagieren, ihre Herausforderungen annehmen und die Kategorien des eurozentrischen Weltbildes überwinden, werden sie von der Entwicklung Asiens nicht nur betroffen sein, sondern sie auch mitgestalten können.
I
ASIENS WELTMACHTPOTENZIALE
Die demographische Dynamik Asiens
CARL HAUB
„Demographie ist Schicksal“, stellte der französische Soziologe August Comte bereits im 19. Jahrhundert fest. Wenn dem so ist, verfügt Asien mit einiger Sicherheit über den Schlüssel für die wirtschaftliche Zukunft der Welt. Hinsichtlich Größe und Wachstum der Bevölkerung sticht keine Region so hervor wie Asien. Dort leben weltweit die meisten Verbraucher und Produzenten. Der Kontinent erfreut sich einer günstigen Quote aktiver Arbeitnehmer zu Ruheständlern und Kindern, und dies wird auch künftig so bleiben. Jedoch wird sich der Kontinent kaum auf einen gemeinsamen Begriff bringen lassen, denn Asien umfasst einige der vielfältigsten Länder der Erde.
Asien ist stets die weltweit bevölkerungsreichste Region gewesen und wird dies aller Voraussicht nach auch bleiben. Dort leben vier Milliarden Menschen - etwa 60 Prozent der Weltbevölkerung. Man nimmt an, dass diese Zahl bis Mitte des 21. Jahrhunderts auf mindestens 5,3 Milliarden ansteigen wird, also auf das 1,3-Fache der heutigen Bevölkerung. Dieser Anstieg ist, verglichen mit Afrika, nicht dramatisch: Die afrikanische Bevölkerung wird sich voraussichtlich bis Mitte des Jahrhunderts mehr als verdoppeln und von heute 0,9 Milliarden auf zwei Milliarden Menschen anwachsen.1 Das langsamere Bevölkerungswachstum ist der eigentliche Schlüsselfaktor für den zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss Asiens auf der internationalen Bühne.
Die „Bevölkerungsexplosion“des 20. Jahrhunderts - und der Begriff trifft hier tatsächlich zu - wurde ausgelöst durch eine enorme Verbesserung der Gesundheitsversorgung in den Entwick lungsländern bei gleichbleibenden Geburtenraten.2 Die Sterberaten besonders von Säuglingen sanken dort aufgrund stark verbesserter Gesundheitsmaßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg schneller, als dies jemals in den Industrienationen geschehen ist. Das Bevölkerungswachstum stieg mit teilweise über drei Prozent pro Jahr auf nie gekannte Werte. Bei einer solchen Wachstumsrate würde sich die Bevölkerung binnen 23 Jahren verdoppeln.
Die Welt war mit einer völlig neuen Situation konfrontiert. Die armen Länder mussten sich der Auswirkungen dieser Entwick lung bewusst werden - andernfalls hätten sie wohl weiterhin ihr Dasein in Armut fristen müssen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannten die asiatischen Länder dieses neue Dilemma und reagierten darauf. In Afrika blieb eine Reaktion weitgehend aus.
Die Geschichte hat gezeigt, dass mit zunehmender Verstädterung, Bildung und Industrialisierung die Geburten- und Sterberaten deutlich sinken. Dieser „demographische Wandel“, der in Asien vor einigen Jahrzehnten begonnen hat, ist einer der Hauptgründe für den jetzigen Aufstieg des Kontinents zum Global Player. Neben dem niedrigen Bevölkerungswachstum ist ein weiteres Ergebnis des demographischen Wandels die veränderte Altersstruktur. Diese kann ermittelt werden, indem man etwa die Gesamtbevölkerung ins Verhältnis zu einer der drei Altersgruppen setzt: jünger als 15 Jahre, zwischen 15 und 64 Jahren („erwerbsfähiges Alter“) und älter als 65 Jahre.
Länder mit hohen Geburtenraten, also mit einem Durchschnitt von mindestens sechs Kindern pro Frau, in denen 45 Prozent der Bevölkerung oder mehr jünger als 15 Jahre alt sind, werden als „jung“eingestuft. Unter solchen Bedingungen kann die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes erschwert werden, denn eine ständig wachsende Bevölkerung belastet die häufig schwachen Staatshaushalte. So eine Situation kann auch ein Hinweis darauf sein, dass ein Staat sich nicht mit den negativen Auswirkungen eines schnellen und stetigen Bevölkerungswachstums auseinandersetzt.
Die Rolle der Fertilität
Der Schlüssel zur demographischen Entwicklung Asiens liegt in der sogenannten zusammengefassten Geburtenziffer („total fertility rate“, TFR) - der durchschnittlichen Zahl der Kinder, die eine Frau - bei konstanter Gesamtgeburtenrate des Landes - in ihrem Leben zur Welt bringt. So werden beispielsweise in Indien etwa 27 Millionen Kinder pro Jahr geboren. Das entspricht 24 Geburten pro 1.000 Einwohner. Bei dieser Geburtenrate würde eine indische Frau im Laufe ihres Lebens durchschnittlich etwa drei Kinder gebären; die TFR beträgt somit drei.
Die Bevölkerung „erneuert“sich, wenn Paare im Durchschnitt zwei Kinder haben, sich also lediglich selbst ersetzen und nicht die zukünftige Generation vergrößern. Beträgt die Geburtenziffer über einen langen Zeitraum hinweg etwa zwei, führt dies zu einem Nullwachstum der Bevölkerung. Einige asiatische Länder liegen derzeit über der Erneuerungsrate, einige kommen ihr sehr nahe, und einige bewegen sich deutlich unter dieser Marke. Auch Europa liegt unter der Erneuerungsrate: Hier führen die niedrigen Geburtenraten dazu, dass man eine weiter abnehmende und gleichzeitig alternde Bevölkerung befürchtet.
Asien unterscheidet sich von anderen großen Entwicklungsregionen wie Afrika und Lateinamerika insofern, als die Geburtenziffer dort am stärksten variiert: In Südkorea und Taiwan beträgt sie 1,1 - in Afghanistan hingegen 6,8. Einige der wirtschaftlich erfolgreichsten asiatischen Länder haben sehr niedrige Geburtenziffern: Südkorea, Taiwan, Singapur (je 1,2), Japan (1,3), China (1,6), Thailand (1,7) und Sri Lanka (2,0). Zu den Ländern mit niedrigen oder mittleren Raten gehören Vietnam (2,1), Indonesien (2,4), Malaysia (2,6), Indien (2,9) und Bangladesch (3,0). Höher sind die Raten auf den Philippinen (3,4), in Nepal (3,7) und in Pakistan (4,6).3
Wie man an den Zahlen erkennen kann, ist der Status als aufstrebende Weltwirtschaftsmacht nicht zwingend an die Geburtenrate eines Landes gebunden, so wichtig diese auch für die demographische Entwicklung sein mag. Länder mit erheblichem wirtschaftlichem Einfluss, aber einer sehr niedrigen TFR, wie Japan, Südkorea und Taiwan, sehen sich heute mit einer massiven Alterung der Gesellschaft konfrontiert. Sie führt zu einem schwächeren heimischen Markt und einer erwerbstätigen Bevölkerung, die aufgrund ihres steigenden Alters immer höhere Löhne beansprucht; gleichzeitig wird das zahlenmäßige Verhältnis von Arbeitnehmern und Rentnern ungünstiger. Man kann diese Länder also als „alternde asiatische Tigerstaaten“bezeichnen. In Vietnam werden niedrige Geburtenraten vom Staat erzwungen, und dennoch ist das Land derzeit nicht in der Lage, sein wirtschaftliches Potenzial auszuschöpfen. Dies lässt sich auf den niedrigen Bildungsstand und den Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zurückführen.
Bangladesch ist es gelungen, seine Geburtenziffer deutlich zu senken, obwohl es kaum über Bodenschätze verfügt und die Mehrheit der Bevölkerung Bauern sind. Das Land ist allerdings noch weit davon entfernt, als wirtschaftlicher Global Player wahrgenommen zu werden. Auch wenn die Geburtenziffer an sich also noch kein Indikator für den wirtschaftlichen Einfluss eines Landes ist, sollte man sie doch immer im Blick behalten. Sie kann helfen, den zukünftigen Bevölkerungsanteil eines Landes im erwerbsfähigen Alter zu berechnen - den man heute allgemein als die „demographische Dividende“bezeichnet.
Die Geschlechterverteilung
Ein weiteres wichtiges Thema ist das numerische Verhältnis von neugeborenen Mädchen zu Jungen, das sich in mehreren wichtigen asiatischen Ländern anormal entwickelt. In Ländern, wo Jungen eher erwünscht sind, kommt es vor, dass Paare nach einer Ultraschall-Untersuchung weibliche Föten abtreiben lassen. So wird das weltweit normale Verhältnis von 100 neugeborenen Mädchen zu 105 neugeborenen Jungen verzerrt. In China ist die Lage bereits dramatisch: 4 Auf 100 neugeborene Mädchen kommen 119 Jungen. In Indien sind es 114 Jungen.5 Sowohl in China6 als auch in Indien7 scheint sich die Situation weiter zu verschlechtern. In Südkorea beträgt das Verhältnis 108 Jungen zu 100 Mädchen, doch die Zahlen verbessern sich allmählich.8 Alle drei Länder unternehmen erhebliche Anstrengungen, um die Abtreibung weiblicher Föten zu unterbinden, aber die Geschlechterstruktur ist bereits stark aus dem Gleichgewicht gebracht. Dieses neuartige Phänomen wird zweifelsohne soziale Probleme - von der Abwanderung von Männern bis hin zu Frauenhandel - mit sich bringen.
Bevölkerungsgröße
Die Größe der Bevölkerung ist nicht der einzige Indikator für den Einfluss eines Landes, auch wenn sie eindeutig auf sein Potenzial sowohl als Markt als auch als Produzent hindeutet. Mehr als 60 Prozent der 3,9 Milliarden Asiaten verteilen sich auf zwei Nationen: 1,3 Milliarden Menschen leben in China und 1,1 Milliarden in Indien. Indonesien ist mit 226 Millionen Menschen nach den USA das viertgrößte Land der Welt. Weitere bevölkerungsreiche Länder sind Pakistan (166 Mio.), Bangladesch (147 Mio.), die Philippinen (86 Mio.), Vietnam (84 Mio.), Thailand (65 Mio.), Myanmar (51 Mio.) und Südkorea (49 Mio.).9
Die wirtschaftliche und politische Entwicklung hängt von vielen weiteren Faktoren ab, wie den sozialen Bedingungen im Land, der politischen Geschichte, der kulturellen und religiösen Situation und den gesetzlichen Bestimmungen für Auslandsinvestitionen. Doch allein seine Größe wird Asien zu einem Global Player machen. Ein beeindruckender Indikator ist hier die Tatsache, dass in Indien allein eine Altersgruppe - Jungen unter fünf Jahren - mit 62 Millionen größer ist als die gesamte französische Bevölkerung.10 Auch wenn nur relativ wenige Menschen in Indien einen westlichen Lebensstil mit dem entsprechenden Konsumverhalten haben, ist das Potenzial des indischen Marktes enorm.
Demographischer Wandel und Abhängigkeitsrelation
Die sich verändernde Altersstruktur ist einer der Schlüssel zu Asiens wirtschaftlichem Aufschwung. Die Geburtenrate sinkt, und daher geht auch der Anteil der Kinder und Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung zurück, während die Erwerbstätigen einen immer größeren Teil der gesamten Bevölkerung ausmachen. Im Jahr 1970 waren in Asien 40 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre alt. Im Jahr 2007 sank der Anteil dieser Gruppe auf 27 Prozent, und er wird mit großer Sicherheit im Jahr 2020 nur noch bei 24 Prozent liegen. Zwischen 1970 und 2007 stieg der Prozentsatz der über 65-Jährigen nur sehr langsam von 4,1 auf 6,6 Prozent.11 Folglich verkleinern sich die nichterwerbstätigen Bevölkerungsgruppen stark.
Für wissenschaftliche Untersuchungen derartiger Veränderungen werden häufig Indikatoren zu Hilfe genommen, wie die Abhängigkeitsrelation beziehungsweise das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Nichterwerbstätigen. Die klassischen erwerbslosen Altersgruppen sind die unter 14-Jährigen und die über 65-Jährigen, obwohl diese Kategorien nur bei wenigen Gesellschaften genau passen. In den Industrienationen beispielsweise sind weit weniger 15- bis 19-Jährige erwerbstätig, und viele Menschen gehen vor ihrem 65. Lebensjahr in Frührente. Diese Tendenz wird auch für Entwicklungsländer gelten, deren Bildungsniveau weiter steigt und Rentensysteme besser werden. Trotzdem verwenden wir hier im Weiteren den Begriff der klassischen „abhängigen“(also erwerbslosen) Altersgruppen.
In Asien kamen 1970 durchschnittlich 126 Erwerbstätige auf 100 „Abhängige“; im Jahr 2007 sind es 193, und man erwartet, dass das Verhältnis auf bis zu 207 Erwerbstätige (pro 100 Abhängige) im Jahr 2020 anwachsen wird. Für Europa lauten die Zahlen für diese Jahre: 179, 217 und 194. Bei genauerem Hinsehen wird ihre wahre Bedeutung klar: In den letzten Jahren hat sich die Bevölkerungspyramide Europas auf den Kopf gestellt. Im Jahr 2005 lebten in Europa 56 Millionen Menschen im Alter zwischen 40 und 44 Jahren und nur 37 Millionen Null- bis Vierjährige. Für Asien dagegen waren diese Altersgruppen mit 259 Millionen bzw. 357 Millionen Menschen zu beziffern.12 Dieser Unterschied definiert die demographische Dividende des Kontinents sowie die Jugendlichkeit der asiatischen Arbeitskräfte und des Marktes. Selbst mit sinkenden Geburtenraten wird die Bevölkerungspyramide Asiens weiterhin ein jugendliches Fundament haben, das mindestens so groß ist wie die älteren Bevölkerungsgruppen. Folglich wird Asien jung bleiben.
Mit anderen Worten: Asien altert, aber nur langsam. Im Jahr 2005 lag das Durchschnittsalter der asiatischen Bevölkerung bei 27,7 Jahren, und Schätzungen zufolge wird es bis 2020 lediglich auf 32,2 Jahre steigen. Die europäische Bevölkerung war dagegen 2005 durchschnittlich 39 Jahre alt, und für 2020 rechnen Fachleute mit einem Durchschnitt von 43,1 Jahren. Zudem wird erwartet, dass der Anteil der über 65-Jährigen in demselben Zeitraum in Europa von 16 auf 19,1 Prozent anwachsen wird.13
Asien steht an einem bedeutenden Punkt in seiner Geschichte. Noch vor einigen Jahrzehnten waren die asiatischen Gesellschaften vornehmlich agrarisch geprägt und „zu jung“für die schwere Last, die stetig nachwachsenden Generationen mit Bildung und gleichzeitig die gesamte Bevölkerung mit Wohnraum, Nahrung und Gesundheitsdiensten zu versorgen. Da sich das Bevölkerungswachstum verlangsamt hat, können diese Aufgaben nicht nur bewältigt werden, sondern hat sich auch die Qualität der Leistungen verbessert. Dank der demographischen Veränderungen ist Asien dazu immer mehr in der Lage, einige Länder natürlich früher als andere.
Fokus Indien
Asiatische Länder werden künftig Anwärter auf Spitzenpositionen in der Weltwirtschaft sein, und einige haben diese Positionen bereits jetzt erreicht. Doch wird dies nicht automatisch geschehen. Indien, das in letzter Zeit oft als aufstrebende Macht bezeichnet wurde, hat immer noch das Problem einer unterernährten, wenig gebildeten und weitgehend dörflichen Bevölkerung, während die Oberschicht als elitäre Minderheit hauptsächlich in den großen Metropolen beheimatet ist. Die Geburtenrate ist auch in Indien gesunken, aber nicht überall gleich stark: In den meisten großen, wenig gebildeten nördlichen Staaten ist sie nur langsam zurückgegangen. Trotzdem hat Indien die Kraft und auch das Geschick, einen größeren Teil der Gesellschaft an der wachsenden Wirtschaft teilhaben zu lassen.
Darüber hinaus ist die potenzielle demographische Dividende ausschlaggebend. 1970 betrug das Verhältnis zwischen erwerbstätiger und nichterwerbstätiger Bevölkerung nur 127 zu 100. Doch die sinkende Geburtenrate hat es im Jahr 2007 auf 173 zu 100 erhöht. Falls die Geburtenrate weiterhin sinkt, wird dieses Verhältnis auf bis zu 200 zu 100 steigen. Diese allgemeine Quote verbirgt jedoch die Tatsache, dass Indiens erwerbstätige Bevölkerung jung bleiben wird, wie das Durchschnittsalter zeigt. Es wird allen Erwartungen zufolge bis 2020 von derzeit 24 Jahren auf nicht mehr als 29 Jahre steigen. Indien bleibt jung aufgrund der relativ hohen Geburtenrate in der Vergangenheit sowie der Tatsache, dass der prozentuale Anteil der über 65-Jährigen von derzeit 5,5 Prozent vermutlich auf nur sieben Prozent im Jahr 2020 steigen wird.14
Fokus China
In China ist die Geburtenrate durch die nationale Bevölkerungspolitik viel niedriger als in Indien. Mit 1,6 ist die TFR heute sehr niedrig, und dies würde vermuten lassen, dass China ebenso wie viele europäische Staaten mit einer alternden Bevölkerung konfrontiert sein wird. Langfristig ist das wahrscheinlich auch der Fall, doch da die Geburtenrate erst in den letzten Jahrzehnten stark gesunken ist, wird kurz- bis mittelfristig wohl Chinas eigene demographische Dividende entscheidend sein. Im Jahr 1970, mit einer TFR von 5,5 Kindern pro Frau, lag das Verhältnis von erwerbstätiger zu nichterwerbstätiger Bevölkerung bei 152 zu 100. Als Folge des dramatischen Geburtenrückgangs liegt dieser Wert heute bei 250 zu 100. Laut Schätzungen wird er auch 2020 noch relativ hoch sein, bei etwa 230 zu 100.15 Damit wird China eine ältere Erwerbstätigengruppe haben als Indien. Das Durchschnittsalter der chinesischen Bevölkerung von derzeit 32,6 Jahren wird voraussichtlich bis 2020 auf 37,9 Jahre ansteigen. Dies resultiert ebenfalls aus der momentan niedrigen Geburtenrate.
Ähnliche Schlüsse können für viele andere asiatische Staaten gezogen werden, deren Entwicklung heute vergleichbar oder weniger ausgeprägt ist. Praktisch alle Länder in Asien sind aber in einem demographischen Wandel begriffen: Entweder haben sie ihn bereits vollendet, oder sie sind dabei, ihn zu vollziehen.
Wenn wir abermals China und Indien betrachten, die Länder mit den meisten potenziellen Konsumenten und Produzenten, sollte hervorgehoben werden, dass Bevölkerungszahlen zwar ein grundlegender Indikator des Potenzials eines Landes sind, aber mehr auch nicht. Die Geschwindigkeit des wirtschaftlichen Aufschwungs wird von vielen Faktoren abhängig sein. Noch heute arbeiten im landwirtschaftlichen Sektor 44 Prozent der chinesischen 16 und 57 Prozent der indischen Beschäftigten,17 und oftmals reicht es gerade zum Überleben.
Doch unabhängig von der Geschwindigkeit und dem Ausmaß der wirtschaftlichen Entwicklung wird der Einfluss Asiens in den nächsten Jahren wachsen. Dies ist durch die Größe der Bevölkerung und ihr niedriges Durchschnittsalter sichergestellt. Asiens Macht wird in Zukunft politisch wie auch wirtschaftlich anhand vieler Faktoren zu spüren sein: angefangen von der Größe des Marktes über die Möglichkeiten der Produktion bis hin zu dem Einfluss in internationalen Organisationen.
Anmerkungen
1 Population Reference Bureau 2006.
2 Die Definition der Begriffe „Industrienationen“und „Entwicklungsländer“richtet sich nach den Konventionen der Vereinten Nationen. Die Industrienationen umfassen demnach Europa (inklusive Russland), Nordamerika, Australien, Japan und Neuseeland. Als Entwicklungsländer werden alle anderen Länder in Afrika, Asien, Lateinamerika, Ozeanien und der Karibik bezeichnet.
3 Population Reference Bureau 2006.
4 China Population Information and Research Center 2006.
5 Registrar General and Census Commissioner of India 2005.
6 China Population Information and Research Center 2005 und 2006.
7 Registrar General and Census Commissioner of India 2004 und 2005.
8 Korea National Statistics Office.
9 Population Reference Bureau 2006.
10 United Nations 2005.
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Ebd.
15 Ebd.
16 International Labour Office 2005.
17 Ministry of Labour and Employment 2004.
Literatur
China Population Information and Research Center. „Family planning becomes controversial topic“. December 30, 2005. http://www.cpirc.org.cn/en/enews20051230.htm (Download 20.4.2007).
China Population Information and Research Center. „China to keep population below 1.3 b[illion]“. July 1, 2006. http://www.cpirc.org.cn/en/enews20060107.htm (Download 20.4.2007).
International Labour Office. Yearbook of Labour Statistics 2005. Geneva 2005.
Korea National Statistics Office. Seoul. http://kosis.nso.go.kr/cgibin/sws_888.cgi?ID=DT_1B8000A&IDTYPE=3&A_LANG=2&FPUB=4&SELITEM= (Download 14.4.2007).
Ministry of Labour and Employment, Government of India. Indian Labour Yearbook. Shimla/Chandigarh 2004.
Population Reference Bureau. World Population Data Sheet. Washington D. C. 2006.
Registrar General and Census Commissioner of India. Sample Registration System Report. New Delhi 2004.
Registrar General and Census Commissioner of India. Sample Registration System Report. New Delhi 2005.
United Nations. World Population Prospects, 2004 Revision. New York 2005.
Wirtschaftliche und technologische Perspektiven für Asien
HORST SIEBERT