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|3|Bruno P. Kremer
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Lektorat: Ruthild Kropp, Frankfurt
Layout, Satz und Prepress: schreiberVIS, Bickenbach
Einbandabbildung: © Jeja-istockphoto.com
Alle anderen Abbildungen
von Bruno P. Kremer
Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet:
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ISBN 978-3-8062-3101-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-3321-6
eBook (epub): 978-3-8062-3322-3
Weiden, Wiesen, Wirtschaftsgrünland
Weiden und Wiesen – ein geradezu archetypisches Bild
So ähnlich wie in der Savanne
Grasland in der Naturlandschaft
Wald im Wechsel und Wandel
Szenen aus der Nacheiszeit
Radikaler Einschnitt
Der Wald kehrt zurück
Wie wandern Pflanzenarten?
Verräterischer Pollen
Phasenreiches Geschehen
Erst Wald, dann Weide und zuletzt Wiese …
Der Mensch greift ein
Der Wald wird zur Weide
Die Doppelnatur der Landschaft
Ein neuer Umgang mit der Natur
Viele Flächen für neue Arten
Welche Natur schützen wir eigentlich?
Ganz verschiedene Vorlieben
Weiden auch außerhalb der Wälder
Auch Heiden sind Weiden
Von der Extensiv- zur Intensivweide
Umschau im Grünland: Weiden und Wiesen
Auf einer Wiese ist alles anders
Artenreiche Verwandtschaft
Jede Wiese ist ein Graswald
Wiesengräser aus der Nähe
Schönheit im Detail
Die etwas anderen Gräser
Der Blütenbau der Sauergräser
Wiesenkräuter kennenlernen
Ein Blick auf die Lebensstile
Bunter Blickfang Blüte
Der Haupteffekt ist Nebensache
Erfolgreich werben
Ab in die Mitte
In ganz anderem Licht betrachtet
Immer schön auf die Linie achten
Weniger scheinen als sein
Ein wenig Verhütungsbiologie
Schieberei im Untergrund
Orchideen wiesenweise
Von Phasen, Rhythmen und Wellen
Pflanzen suchen das Weite
Effektive Anhänglichkeit
Erfolg geht durch den Magen
Auch die Dunklen leuchten
Ein Platz für viele Tiere
Leben auf allen Ebenen
Zwischen unten und oben
Szenen aus der Welt unter der Wiese
Flatterhafte Farbtupfer
Fliegende Pelztiere
Das Lied der Grille
Die spinnt ja
Vögel auf Weiden und Wiesen
Wo bleiben Kuhfladen und Rossäpfel?
Keine ist wie die andere
Kennzeichnender Glatthafer
Manche Wiesen sind gar keine
Natur aus zweiter Hand – vielfältig, artenreich und einfach schön
Weithin berühmt: Westeifeler Narzissenwiesen
Angepasster Geophyt
Karriere in der Kräutermedizin
Wiesen im Bergland
Weidevieh und Alpenflora
Liebenswerte Streuobstwiese
Ein Lebensraum auf der Roten Liste
Vielfältiger Nutzen
Mengenweise Lebensräume
Ein Glanzlicht der Kulturlandschaft
Salzwiesen: Leben zwischen Land und Meer
Der Rand vor dem Land
Amphibische Welten
Ein Lebensraum der langen Streifen
Verzahnt und zoniert
Die seltsamen Schlickgräser
Von der Wattwiese zur Wirtschaftsweide
Salz-Lösungen
Ein Lebensraum für viele Tiere
Vom Vielfachscherrasen zur eigenen Blumenwiese
Literatur
Bildnachweis
Register
|7|Die Natur hat zehntausend Farben, und wir haben uns in den Kopf gesetzt, ihre Skala auf zwanzig zu reduzieren.
Hermann Hesse (1877 – 1962)
Mitteleuropa ist – von hochgelegenen Aussichtspunkten, vor allem aus der Flugzeugperspektive oder den noch übersichtlicheren Aufsichten vom erdnahen Weltraum in der Optik eines Vermessungssatelliten betrachtet – ein überraschend kunterbuntes und dabei ziemlich unregelmäßiges Flächenpuzzle: Ein erstaunlich wirres Mosaik aus Äckern, Feldern, Verkehrseinrichtungen, Gehölzen, Wäldern, Siedlungsflächen und eben auch Wiesen oder Weiden prägen überall das real erlebbare Erscheinungsbild der Landschaft – regional und erst recht lokal in durchaus unterschiedlichen und gänzlich verschiedenen landschaftswirksamen Flächenanteilen.
In Deutschland entfallen derzeit rund 53 % der etwas mehr als 35 Mio. km2 umfassenden Bodenfläche unseres Landes auf die von der Landwirtschaft in allen ihren Erscheinungsformen genutzten Anteile. Knapp 30 % vom Rest sind Wald- bzw. Forstfläche; etwa 7 % der Grundfläche nehmen die Siedlungen mit ihren Gebäuden ein, etwas weniger als 5 % die dem Verkehr eingeräumte Bodenfläche. Weniger als 2,5 % entfallen auf die Wasserflächen (Flüsse, Seen, Talsperren), und der gesamte Rest verteilt sich auf sonstige Nutzungen wie Bergbau und Erholung. Signifikante Veränderungen während der zurückliegenden Jahrzehnte betreffen vor allem die Siedlungsgebiete (Tendenz mit einem Flächenbedarf von etwas mehr als 110 ha pro Tag deutlich steigend), die Waldflächen (Anteile leicht steigend) und die Landwirtschaftsareale (Tendenz deutlich fallend).
Es bleibt jedoch vorerst zumindest in Deutschland noch ziemlich grün, aber das zumeist unerfreuliche und eher monochrome Grau von Siedlungs- und Verkehrsflächen ist dennoch klar auf dem Vormarsch. Dörfer und Städte wachsen unaufhörlich, und das ohnehin schon reichlich hypertrophe Verkehrsnetz mit Land- und Bundesstraßen sowie Autobahnen lässt fast keine größeren unzerschnittenen Landschaftsräume mehr zu. Schaut man sich innerhalb der landwirtschaftlich genutzten Gebiete die Flächenstücke in den amtlichen Statistiken einmal nach den verschiedenen Kulturarten an, so nimmt die auf die hier besonders thematisierten Wiesen und Weiden entfallende Fläche der Grünlandanteile in Baden-Württemberg knapp 40 % ein, in Sachsen-Anhalt aber nur wenig mehr als 14 %. Im Bundesdurchschnitt sind es etwa 28 %. Wo immer man sich in einer landwirtschaftlich geprägten Region aufhält, nehmen also Wiesen und/oder Weiden jeglichen Typs im Durchschnitt knapp ein Drittel der landwirtschaftlichen Fläche ein. Das Dauergrünland, wie man Wiesen und Weiden in der modernen Agrarterminologie begrifflich zusammenfasst, ist damit also ein wesentlicher und wichtiger Erlebnisinhalt unserer Landschaften, auch wenn die Anteile regional durchaus unterschiedlich ausfallen. Solche bedeutenden Flächenanteile sind aber erwartungsgemäß nicht nur irgendwelche Tabellenwerte in amtlichen Statistiken, sondern verkörpern besondere und zweifellos auch genauer betrachtenswerte Lebensräume, die sogar im modernen Arten- und Naturschutz einen besonderen Rang einnehmen.
Die bürgerliche Begrifflichkeit unterscheidet meist nicht exakt zwischen Wiesen und Weiden. Die Spielwiese ist eher ein Rasen, und der bei Pflanzenfreunden wegen seines Artenreichtums so geschätzte Trockenrasen ist gewöhnlich Weide. Auch die beinahe sprichwörtliche „Grüne Wiese“ am Dorf- oder |8|Stadtrand, auf der gerade ein neuer und möglicherweise ziemlich entbehrlicher Baumarkt mit der üblichen und erheblichen Flächenversiegelung entsteht, könnte ebenso gut eine Weide (gewesen) sein. Der Unterschied zwischen beiden Grünlandformen, wie die landwirtschaftliche Fachbezeichnung lautet, ist ganz einfach: Beide Flächenstücke dienen der Ernährung der Nutztiere – die Weide gleichsam im Direktverfahren, indem sie von den Weidetieren beknabbert wird, die Wiese erst deutlich später, wenn das auf ihr gewonnene Heu außerhalb der Vegetationsperiode an die Stalltiere verfüttert wird.
Sie rufen zugegebenermaßen starke Eindrücke hervor: Kann man sich denn überhaupt etwas Urwüchsigeres vorstellen als eine frühsommerlich knallgelbe Weide oder erst recht eine Wiese, die von bunten Blumen geradezu überquillt? Sind nicht die im Wind leicht wogenden Blütenmeere, über die Scharen von Schmetterlingen munter hinweg gaukeln, der sichtbare Ausdruck vom überbordenden Reichtum der Natur schlechthin? In vielen werden bei solchen Bildern sicherlich lebhafteste Kindheitserinnerungen wach, als man ganz in der Nähe seines dörflichen Wohnortes noch unbekümmert durch die Fluren streifen und die Fülle des Sommers einfach so mit allen Sinnen genießen konnte – um sich vielleicht mal eben in irgendeine Wiese in der Nähe zu werfen, sie zu hören, zu riechen und eventuell sogar zu schmecken. Andere werden mit solchen Vorstellungen vielleicht eher ihre Probleme haben, und das gleich aus zweierlei Gründen: Immerhin leben in Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts schon deutlich mehr Menschen in einer Stadt als in ländlich geprägten Räumen – übrigens mit steigender Tendenz – und damit im Allgemeinen reichlich naturfern. In der Stadt existieren nun aber bekanntermaßen keine erlebniswerten Wiesen, und andererseits besteht die eingangs umrissene Wiesenidylle mit ihren bunten Erlebniswelten selbst in ländlichen Gebieten vielleicht schon gar nicht mehr. Viele daraufhin befragte Menschen fühlen sich im urbanen Milieu dennoch erkennbar wohl, aber die hier erlebte und gelebte Naturferne bleibt nach übereinstimmender Überzeugung von Sozialpsychologen für die seelische Gesundheit dennoch problematisch und durchaus nicht folgenlos. Der Frankfurter Arzt und Psychologe Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) hat in seinem 1965 und damals vor dem zeitgebundenen Hintergrund der Wahrnehmungsbereitschaft der Öffentlichkeit vielleicht etwas zu früh erschienenen Werk Die Unwirtlichkeit unserer Städte ausdrücklich vor den psychischen Folgen der zunehmenden Naturentfremdung der Stadtbewohner gewarnt und ihnen |9|durchaus keine günstigen Prognosen gestellt. Die von Mitscherlich bemerkenswert konturscharf umrissene Situation hat sich im letzten halben Jahrhundert eher verstärkt, und die Folgen sind überall zu sehen: Wo sehen (Groß)Stadtkinder – und vor allem solche aus den zunehmend bildungsferneren Familien – aktiv und wissenden Auges lebendiges Grün? Wie erleben sie in der Direktwahrnehmung Jahreszeitlichkeit? Wo erfahren sie, wie Pflanzen keimen, wachsen und sich entfalten, um schließlich Früchte zu tragen oder sonstige Wohltaten zu entwickeln, von denen wir allemal abhängig sind?
1.1 Sieht aus wie die reine Natur, ist aber eigentlich keine.
Eine blumige Wiese erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als kontrastreicher Gegenentwurf zur deprimierenden Tristesse grauer und verwechselbar monotoner Vorortsiedlungen. Sicherlich können auch Waldwanderungen außerordentlich erholsam und erlebnisreich sein, aber im geschlossenen und dichten Hochwald fehlt doch meist der anregende und orientierende Blickbezug zur freien Landschaft.
1.2 Das Flugbild zeigt die bunte Mischung der verschiedenen Flächennutzungen neben wenigen naturlandschaftlichen Elementen wie Stillgewässern.
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1.3 Solche Vielfalt ist ein Glücksfall für das landschaftliche Erleben.
In der offenen Flur ist das nun alles völlig anders: Täler und Höhen, Ebenen, Mulden und Hügelketten breiten sich angenehm rhythmisiert wie Mosaiksteine vor uns aus und lassen so auch größere Landschaftsbestandteile im direkten Zusammenhang erleben. Felder und Gebüsche, eben auch Wiesen oder Weiden, dazu Bäche, Tümpel oder Weiher, eingestreute Einzelhöfe oder verdichtete Dörfer – kurz, alles, was wir aus moderner Perspektive eine sympathische Kulturlandschaft nennen, gilt nach übereinstimmender Einschätzung der vielen in regionalen Wandervereinen zusammengeschlossenen Aktiven als besonders beliebte und erlebniswerte Landschaft. Nach Einschätzung etlicher ernst zu nehmender Evolutionsforscher und Kulturanthropologen rührt diese besondere Empfindung aus der Tatsache her, dass wir unsere auf eine Zeit vor etwa 5 Mio. Jahren zurückreichenden evolutiven Wurzeln eben in einer von ihrem Erscheinungsbild her sehr ähnlich beschaffenen Offenland-Landschaft des zentralen Afrikas zu suchen haben. Somit wirkt in unserer Wahrnehmung einer besonders erlebniswerten Landschaft immer noch das offenbar geradezu engrammatisch festgelegte Erfahrungsgut der frühesten Vorfahrenlinien unserer eigenen Spezies nach.
Über Wald und Wasser oder Heide und Moor gibt es in der literarischen Szene jede Menge Gedichte, Geschichten und Erzählungen. Das offene Kulturland mit seinen Wiesen und Weidegründen ist in dieser Dichtung aber offenbar total übersehen oder jedenfalls als nicht besonders erwähnenswert empfunden worden. Vermutlich ist es in seinen spezifischen Werten erst allzu spät entdeckt worden – und damit zu einem Zeitpunkt, als die ursprünglich einmal so sympathisch kleinteilige Kulturlandschaft bereits längst und weithin zur flächendeckenden agrarischen Industrielandschaft verkommen war.
Hingegen: Was kann man im Wiesenland nicht alles erleben und erfahren? Immerhin ist eine funktionierende Wiese wesentlich mehr als nur eine Ansammlung schnurgerader, relativ biegefester und vermeintlich ziemlich langweilig aussehender Grashalme. Wiesen, egal ob etwas feuchter oder deutlich |11|trockener, sind tatsächlich überraschend artenreiche ökologische Vereine aus Pflanzen, Tieren und sonstigen Lebewesen. Zum jahreszeitlich wechselnden Erscheinungsbild einer beliebigen Wiese gehört ganz einfach auch die enorm bunte Vielfalt der wiesentypischen Falter, das Gewimmel verschiedener Käfer, pelziger Hummeln, emsiger Wollschweber und anderer Schwebfliegen sowie das unermüdliche Heer der Honigbienen auf dem überreichen Blütenangebot. Eine Wiese ist zudem Brutraum für besonders spezialisierte Wiesenvögel, dazu auch Futterreserve für mancherlei Säugetiere aus den angrenzenden Flurstücken bzw. Gehölzen sowie tagsüber Jagdrevier von Mäusebussard, Turmfalke und nächtens von verschiedenen Eulen. Eine Wiese kann man übrigens mit vielen, wenn nicht sogar mit allen Sinnen erfahren – als kunterbunte Farbpalette sehen, süßen Honig- bzw. Heuduft über die Nase einatmen und dem eifrigen Wettgesang von Grillen, Gras- und Heuhüpfern lauschen. Wenn man das alles recht bedenkt, kommt eine bunte Wiese der Vorstellung vom Paradies (obwohl diese eher gartengeprägt ist) doch schon recht nahe.
1.4 Nur blumiges Grünland ist ein echter Lebensraum.
Indessen: Die Wirklichkeit sieht häufig ganz anders aus. Grünland ist aus heutiger Sicht ein landwirtschaftlicher, auf Ertrag getrimmter Produktionsraum, in dem die aus mancherlei nachvollziehbaren Gründen auf Ertrag erpichten Landwirte mit Gift und Gülle Überschüsse erwirtschaften – wobei diese paradoxerweise meist gar nicht benötigt werden. Zudem hat in landwirtschaftlich intensiv bewirtschafteten Regionen auch die Landschaftsästhetik mit ihrem sympathischen Flächenmosaik überhaupt keinen besonderen Stellenwert mehr. Entsprechend eintönig und einförmig sehen die Fluren gebietsweise aus – eben genauso bürokratisch und seelenlos abgezirkelt, |12|wie es die amtlich durchgeführten Flurbereinigungen vorgegeben haben. Von Erholungsraum, Sozialfunktion, Regenerationsgebiet für Trinkwasserreserven oder Biotopgefüge mit umfangreicher Artenliste kann hier keine Rede mehr sein. Große Teile nicht nur der mitteleuropäischen Agrarlandschaft sind nach knallharten industriellen Maßstäben bewirtschaftete Flächen fernab jeglicher Ökologie.
1.5 Oftmals bietet das intensiv genutzte Grünland nur Monotonie.
Aber glücklicherweise gibt es sie ja noch – die ausgedehnten Feuchtwiesen im nordwesteuropäischen Tiefland, die Trockenrasen im nicht ackerfähigen, weil zu steilhängigen Mittelgebirgsgürtel oder die enorm blumigen Futterwiesen der traditionellen alpinen Grünlandwirtschaft. Wir sollten diese faszinierenden Versatzstücke unserer herkömmlichen Kulturlandschaft umfassend genießen, solange es diese überreichen Lebensräume noch gibt, und im Verbund mit den großen Naturschutzorganisationen Sorge dafür tragen, dass sie in der sonst schon allzu stark verarmten Durchschnittsagrarlandschaft nicht noch weiter auf Außenseiterpositionen verdängt werden oder gar vollends untergehen.
Es erscheint zweifellos angebracht, bereits an dieser Stelle eine weit verbreitete Fehleinschätzung gerade zu rücken: Obwohl ausnahmslos alle Naturliebhaber beim Anblick einer enorm blumigen Weide oder Wiese geradezu in Verzückung geraten, verkünden die Landschaftsökologen und Vegetationskundler übereinstimmend und möglicherweise etwas ernüchternd, dass diese überaus sympathischen Lebensräume in unseren Landschaften tatsächlich ausnahmslos eine Erfindung des Menschen sind. Ihre Entstehung sei eng an den kulturellen Aufstieg der Menschheit seit der Steinzeit gebunden, betonen sie. Sie seien somit im weitesten Sinne historisch bedingt und daher sogar vergleichsweise junge Landschaftselemente. Diese aus fachlicher Sicht durchaus zutreffende Einschätzung bedarf nun zugegebenermaßen der genaueren Erläuterung und Inspektion – wir werden sie weiter unten liefern. Aber: Das schmälert nun keineswegs die besonderen Erlebnisqualitäten, denn der Lebensraum Wiese ist bemerkenswert facettenreich und bietet zu allen Jahreszeiten vielerlei für Auge und Ohr sowie für Herz und Hirn. Eine Wiese erschließt sich aber in ihren ökologischen Qualitäten und tatsächlichen Erlebniswerten möglicherweise nicht auf den ersten Blick. Daher lädt Sie dieses Buch zu jahreszeitlich mit besonderen Schwerpunkten ausgestatteten Wiesen-Inspektionen ein, die jeweils ein besonderes Thema aus der Ökologie unserer Wiesen oder Weiden aufgreifen. Dabei stehen Beobachten, Sehen, Erleben und Verstehen klar im Vordergrund.
Duftendes Wiesenheu
Erntefrisches Heu, und sogar das tütenweise für Heimtiere in Zoohandlungen erhältliche, verströmt einen angenehm süßlichen, aromatischen Duft, der neben anderen flüchtigen Komponenten vor allem auf die Verbindung Cumarin zurückgeht. Diesen charakteristischen Aromastoff kennt man üblicherweise von der mit Waldmeister angesetzten Maibowle oder aus dem grünen Sirup für die Berliner Weiße. Waldmeister kommt aber auf Wiesen gar nicht vor. Cumarin-Lieferanten sind hier zwei Gräser, einerseits das auf Futterwiesen sehr häufige Ruchgras und andererseits das eher in Feuchtwiesen vorkommende Mariengras. An den frisch gepflückten Gräsern ist der angenehme Duft kaum wahrzunehmen. Wenn man aber einen Halm zwischen den Fingernägeln zerquetscht, stellt sich nach kurzer Zeit unverkennbar das intensive Aroma ein. In den Pflanzen liegt der Duftstoff als duftloses Glucosid Melilotosid vor. Wenn man das grüne Gewebe zerstört, setzt darin augenblicklich eine enzymatische Reaktion ein und spaltet ein Molekül Traubenzucker (Glucose) ab. Das Restmolekül, eine Phenylpropan-Verbindung bildet, spontan durch Lactonbildung einen zweiten Ring aus, und dieser ist das duftintensive Cumarin. In kleinen Mengen ist Cumarin unbedenklich. Bei höherer Dosierung können Kopfschmerz und Benommenheit auftreten.
Die erwähnte Maibowle könnte man tatsächlich alternativ zum Waldmeister mit ein paar zerstückelten Halmen von Ruch- oder Mariengras ansetzen (Heubowle …) – für die so beglückten Gäste der Frühsommerparty vermutlich ein wenig gewöhnungsbedürftig. Mit ein paar Sprossabschnitten der heimischen Steinklee-Arten ginge es übrigens auch, denn diese führen ebenfalls die Ausgangssubstanz Melilotosid. Sie ist sogar nach dieser Gattung (Melilotus spp.) benannt.
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1.6 Steppenartig, aber überwiegend anthropogen: Weidelandschaft in Neuseeland
Entdecken Sie also im Ablauf der Jahreszeiten, was es vom Frühjahr bis in den Winter auf Wiesen oder Weiden an aktuellen oder übergreifenden Entwicklungen bzw. Geschehnissen zu beachten gilt.
Während große Teile Europas von Natur aus Waldland sind, bestehen in vielen außereuropäischen Regionen auch boden- sowie klimaabhängig ausgedehnte natürliche Graslandflächen, in denen Gehölzoder Baumwuchs nicht möglich ist. Nach einem russischen Stammwort bezeichnet man solche Pflanzenverbände als Steppe. Ihre Standorte zeichnen sich durch kontinentales Klima mit kalten Wintern und sommerlicher Trockenheit aus. Die ungleiche jahreszeitliche Niederschlagsverteilung lässt aktives Pflanzenwachstum meist nur im Frühjahr und im Herbst zu. Bei nur mäßiger Niederschlagsversorgung zeigt sie sich gewöhnlich als niedrigwüchsiges, allenfalls bis 0,5 m hohes lückiges Grasland, während sie bei etwas höherem jährlichem Regen- oder Schneefall auch mit bis zu 2 m hohen blumigen Beständen als Langgras- oder Wiesensteppe entwickelt ist. Viele hier vorhandene Arten kommen auch in den mitteleuropäischen Wirtschaftswiesen vor, beispielsweise Wiesen-Salbei, Kriech-Klee und Wiesen-Wucherblume.
Wenn von Steppe die Rede ist, meint man fast immer die ausgedehnten eurasischen Grasländer, die sich vom östlichen Österreich (Burgenland) über die ungarische Puszta und die Ukraine bis in die östliche Mongolei erstrecken. Aus den erwähnten klimatischen Gründen überwiegend von Gräsern dominierte Pflanzenverbände gibt es dagegen auch in anderen gemäßigten Gebieten der Erde. Die in Nordamerika vorhandene Ausprägung einer Steppe ist die üblicherweise (nach einem französischen Stammwort) so bezeichnete Prärie – die kennzeichnende Vegetationszone im Mittleren Westen der USA sowie der nördlich anschließenden Prärieprovinzen Kanadas. Die das Pflanzenwachstum begrenzende Kontinentalität mit ihrer auffälligen Niederschlagsarmut geht auf die Regenschattenwirkung der Rocky Mountains zurück. Von Ost nach West lässt sich hier eine kennzeichnende Typenserie mit Langgras-, Mischgras- und |14|Kurzgrasprärie beobachten. Viele ihrer Teilregionen werden heute allerdings großflächig künstlich bewässert und landwirtschaftlich vor allem für den Anbau von Weizen und Mais genutzt. Zum Pflanzenkleid der Prärien gehören nicht nur Gräser unterschiedlicher Wuchshöhen, sondern auch zahlreiche blumige Arten. Nicht wenige von ihnen haben den Weg in unsere Gärten gefunden und sind beliebte Sommerblumen, beispielsweise Prachtscharte (Liatris), Sonnenhut (Rudbeckia) und Mädchenauge (Coreopsis), ferner Indianernessel (Monarda) und Nachtkerzen (Oenothera). Auch die als Bienen- bzw. Zierpflanzen eingeführten Goldruten-Arten (Solidago) stammen aus diesen Gebieten (Abb. 1.7). Sie sind unterdessen in Mitteleuropa an vielen Stellen eingebürgert und gelten sogar als invasive Neophyten. Die im 19. Jahrhundert durch die weißen Siedler nahezu ausgerotteten Bisons werden in Teilbereichen des Präriegürtels seit wenigen Jahren erneut angesiedelt.
1.7 Viele Pflanzenarten aus den nordamerikanischen Prärien haben den Weg in unsere Gärten gefunden, darunter auch die Kanadische Goldrute. Als invasiver Neophyt wird sie allerdings eher kritisch wahrgenommen.
Das Projekt erscheint nach den derzeitigen Erfolgen aussichtsreich.
Auch die südamerikanische Pampa, im Westen von den Anden und im Osten vom Atlantik begrenzt, ist vegetationstypologisch eine Steppe. Sie stellt mit ihrer hier umfangreich stattfindenden Rinderzucht die landwirtschaftlichen Kerngebiete von Argentinien und Uruguay dar. Schließlich wären in diesem Zusammenhang Teile des australischen Outback, das südafrikanische High Veld sowie die High Country Neuseelands zu erwähnen. Das Erscheinungsbild dieser |15|Vegetation ist auf den ersten Blick immer recht ähnlich, aber die genaue Artenzusammensetzung unterscheidet sie erheblich.
1.8 Die weiten Savannen Zentralafrikas sind zum Teil natürlich, aber in vielen Gebieten auch nutzungsbedingt entstanden.
1.9 Die aromatisch duftende Indianernessel ist eine Leihgabe der nordamerikanischen Hochgrasprärie.
1.10 Das Mädchenauge ist eine beliebte Zierpflanze unserer Sommergärten und ebenfalls ursprünglich eine nordamerikanische Prärieschönheit.
Die für die großen umherziehenden Tierherden so bedeutsamen tropischen Savannengebiete in Afrika etwa in der Serengeti oder Massai Mara versteht man, obwohl sie sich ebenfalls weithin als hochwüchsiges Grasland – in der Hochgrassavanne sogar mit bis zu 4 m hohen Gräsern – zeigen, in der neueren Pflanzengeografie überwiegend als anthropogen entstandene Waldersatzgesellschaft, wenngleich es auch gebietsweise vom Menschen unabhängig entstandene Brand- sowie Brand-Wildfraß-Savannenbereiche gibt. Vielfach sind die Savannen von lockerem und oft sehr dornigem Buschwerk durchsetzt.
Obwohl die Dünen an der Küste zumindest in ihren Initialstadien der Weiß- und in Teilen auch noch der anschließenden Graudüne ausschließlich von Gräsern wie Dünen-Quecke, Strandhafer und Strandroggen dominiert werden, zählt man sie in der Vegetationskunde konventionell nicht zum natürlichen Grasland. Die Dünengräser legen mit ihrem ausgedehnten Wurzelsystem die immer als äolische Sedimente herangewehten Sandmassen fest, ehe sich in späteren Entwicklungsstadien flächendeckend Zwergsträucher ansiedeln und der Standort zur verheideten Braundüne wird. Zum natürlichen Grasland im weitesten Sinne rechnen manche Vegetationskundler allerdings die aus Schilf und verschiedenen Grasartigen bestehenden ausgedehnten Röhrichtgürtel an Stillgewässern. Sie bleiben in der nachfolgenden Darstellung unberücksichtigt.
Bevor wir nun in die besonderen Profildaten, Entstehungsweisen und Erlebnisangebote von Weiden und Wiesen einsteigen, wäre ihr besonderes Bedingungsgefüge zu betrachten, und dazu müssen wir ein wenig Umschau halten in der mitteleuropäischen Vegetationsgeschichte seit den letzten Eis- bzw. Kaltzeiten.
1.11 Dünen – obwohl in ihren frühen Entwicklungsstadien klar von Gräsern dominiert – gehören vegetationskundlich nicht zum Grasland.
|17|In allem, was die Natur hervorbringt, ist etwas Bewundernswertes.
Aristoteles (384 – 322 v. Chr.)
In den heutigen Debatten zum Klimawandel, die um so hitziger geführt werden, je weniger die Diskutanten von den beteiligten komplexen Sachverhalten verstehen, übersieht man leicht und ziemlich regelmäßig, dass ein stetiger und wie auch immer bedingter Wandel der wichtigsten Klimaeckdaten während aller Phasen der Erdgeschichte ein völlig normales, bis heute keineswegs prognostizierbares und schon gar nicht vom Menschen (ausschließlich) verursachtes Geschehen war. Allein die Darstellung der Jahresdurchschnittstemperaturen für die jüngsten Abschnitte der Erdgeschichte, in denen von anthropogenen Effekten wie etwa dem (zusätzlichen) Treibhauseffekt überhaupt noch keine Rede sein kann, erinnert durchweg an die ziemlich erratischen Schwankungen aktueller Börsennotierungen. Es trifft nach derzeitiger gesicherter Erkenntnis auch keineswegs vorbehaltlos zu, dass sich klimatische Veränderungen früher langsam und fast unmerklich ankündigten, heute dagegen eher mit kurzfristigen Effekten überraschen. Schon mit den bekannten Dansgard-Oeschger-Zyklen vor etwa 22.000 – 32.000 Jahren sind bemerkenswert kurzzeitig einsetzende bzw. geradezu abrupte und erhebliche Temperaturschwankungen mit Perioden zwischen 500 und 2000 Jahren dokumentiert, ohne dass dafür bislang ein einigermaßen befriedigendes, geschweige denn vollständiges Erklärungsmodell verfügbar wäre. Benannt sind diese Ereignisfolgen nach zwei bedeutenden Klimaforschern, dem Dänen Willi Dansgard (1922 – 2011) und dem Schweizer Hans Oeschger (1927 – 1998). Der Wandel des Klimas ist in der Natur etwas durchaus Beständiges und gar nichts Ungewöhnliches. Panikmache ist überhaupt nicht angesagt.
Nach geochronologischen Kriterien leben wir gegenwärtig im jüngsten Abschnitt des Quartärs, nämlich im Holozän bzw. in der Nacheiszeit, die fallweise auch Postglazial oder Alluvium genannt wird (vgl. Abb. 2.1). Ihr ging mit Beginn vor etwas mehr als 2 Mio. Jahren das phasenreiche Eiszeitalter (Pleistozän, früher Diluvium genannt) voraus. Tatsächlich lässt sich die gesamte quartärzeitliche Klimageschichte in eine bemerkenswert etappenreiche Folge von einzelnen Eiszeiten (Glazialen) gliedern, deren einzelne Abschnitte jedoch umso unschärfer abzugrenzen oder zu parallelisieren sind, je weiter sie zurückliegen. |18|Innerhalb der Eiszeiten unterscheidet man üblicherweise Stadiale (= Zeiten besonders harscher Temperaturbedingungen mit sinkenden Durchschnittswerten) und Interstadiale (= Phasen mit deutlichem Temperaturanstieg). Grundsätzlich davon zu trennen sind die Interglaziale, wie man die gewöhnlich eingeschalteten längeren Warmzeiten zwischen den einzelnen Eiszeiten nennt. Unsere geologische Gegenwart stellt eine solche Warmzeit dar. Ob sie irgendwann wieder in ein neues Glazial einmünden wird, ist im Blick auf die zurückliegenden Ereignisse durchaus nicht nur des frühen Quartärs sehr wahrscheinlich, wenngleich nicht mit genauem Eintrittsdatum vorhersagbar.
2.1 Vereinfachte geologische Übersicht zur Gliederung der Nacheiszeit: Mit B. P. bezeichnet man die Jahre vor der Gegenwart (before present).
2.2 Angeschwemmtes eemzeitliches Torfstück an einer nordfriesischen Insel
Für unsere Zwecke erscheint es gleichermaßen sinnvoll und ausreichend, lediglich die jüngeren Abschnitte des Holozäns etwas eingehender zu betrachten, weil sie für die Entstehung von Weiden und Wiesen von besonderem Belang sind. Die (vorerst) letzte Eiszeit bezeichnet man nach ihren charakteristischen Ablagerungen in den Sedimentschüttungen zweier ausgewählter Flüsse aus dem räumlichen Umfeld je eines der beiden europäischen Vereisungszentren als Würm-/Weichsel-Glazial. Ihr ging die bisher vorletzte Warmzeit, das Riß-/Würm-Interglazial, voraus, das man nach einem niederländischen Fluss bei Amersfoort auch als Eem-Warmzeit oder einfach als Eem bezeichnet. Sie dauerte etwa von 130.000 – 115.000 vor der Gegenwart und umfasst mit ihren rund 15.000 Jahren Dauer damit einen in etwa genauso langen Zeitraum, wie er uns heute von der letzten Eis- oder Kaltzeit trennt.
Anhand von zahlreichen Pollenprofilen aus eemzeitlichen Mooren (am Boden der südlichen Nordsee lagern beispielsweise Torfe aus Mooren dieser Zeitstellung und werden nach Stürmen nicht selten als bröselige Massen auf den Strand geworfen) sowie von subfossilen Makroresten wie Samen, Früchten, |19|Blättern oder anderen Großresten lässt sich die Vegetation dieser vorletzten Warmzeit erstaunlich genau rekonstruieren. Ein in Sachen Wildpflanzen mit einer gewissen Formenkenntnis ausgestatteter Mensch aus dem 21. Jahrhundert hätte beispielsweise mit den Artdiagnosen der Gehölze in den eemzeitlichen Wäldern des damaligen Mitteleuropas bestimmt keine großen Probleme gehabt: Vertraute Gestalten wie Birken und Hainbuchen sowie Wald-Kiefern hätte er zu Beginn des Eems wahrnehmen können, später gefolgt von Eichen, Ulmen, Hasel, Erle und Eibe. Auch wären ihm Weiden und Wacholder aufgefallen, dazu Sanddorn sowie Stechpalme, hier und da auch Rotbuche, Sommer-Linde und Tataren-Ahorn. Lediglich die damalige Säugetierfauna wäre ihm doch recht ungewohnt erschienen: In zuverlässig eemzeitlich datierbaren Ablagerungen, darunter auch in Höhlensedimenten, finden sich mengenweise Knochen, die eine für die damalige Zeit äußerst typische Waldfauna zeigen: Recht häufig waren etwa Waldelefant, Braunbär, Merck’sches Nashorn, Elch und Riesenhirsch. Überaus erwähnenswert erscheint übrigens das betont wärmebedürftige und im Eem in unseren Breiten sogar bis zu den Britischen Inseln verbreitete Flusspferd. Die damals schon vorkommenden Arten Rothirsch, Damhirsch, Reh und Wildschwein sind dagegen auch in unserer heutigen Landschaft (noch oder wieder) vertreten. Einer der für Nordwesteuropa wichtigsten eemzeitlichen Fundhorizonte befindet sich interessanterweise direkt unter dem Trafalgar Square in London.
2.3 Ähnlich wie die heutigen küstennahen Zwergstrauchheiden muss man sich die von Zwergsträuchern geprägten eiszeitlichen Tundrengebiete in Mitteleuropa vorstellen.
Die fossilen Dokumente zeichnen mithin für das Eem-Interglazial mit seinem durchaus freundlichen Klima ein von den gegenwärtig erlebbaren Wäldern, zumindest hinsichtlich der Gehölzarten, nicht grundverschiedenes Bild. Dieser Landschaftsgesamteindruck änderte sich indessen radikal mit dem Beginn der letzten Eiszeit. Im Gebiet der alpinen Vereisung nennt man sie Würm-Glazial, im Wirkbereich der nordischen Glaziation Weichsel-Eiszeit. In Nordamerika kam es zeitgleich ebenfalls zu ausgedehnten Vergletscherungen; hier heißt die entsprechende Epoche Wisconsin-Glazial. Fachleute untergliedern dieses letzte Glazial in zahlreiche und zeitlich recht gut aufgelöste Stadiale und Interstadiale, deren überregionale zeitliche Verknüpfung dagegen immer noch nicht zufriedenstellend gelungen ist und insofern zum Verdruss aller fortbesteht, die klar strukturierte Tabellen schätzen. Die Aufgabe der Korrelation bleibt somit vorerst eine dringliche Herausforderung an die Quartärgeologie. Für den Alpenraum meinte man übrigens zu Beginn der Eiszeitenforschung gar vier Glaziale und drei Interglaziale erkannt zu haben, in Norddeutschland dagegen nur drei Glaziale mit zwei Interglazialen, was das Verständnis anfänglich zugegebenermaßen arg strapazierte. Dieses allzu |20|einfache Schema ist längst einer reichlich komplexen bis unübersichtlichen Folge von Kalt- und Warmzeiten gewichen. Ein gewisser Konsens besteht indessen heute darüber, dass die Würm-/Weichsel-Eiszeit vor rund 112.000 Jahren einsetzte und rund 100.000 Jahre lang andauerte.
Die Stadiale der Würm-/Weichsel-Eiszeit veränderten das Vegetationsbild (nicht nur) in Mitteleuropa grundlegend: Die im Vergleich zu heute deutlich niedrigeren Jahresdurchschnittstemperaturen, im Verbund mit der nordischen und alpinen Vereisung, verdrängten in unseren Gebieten weitflächig die gesamte Gehölzvegetation. Der eemzeitlich noch so artenreiche und kaum aufgelichtete Wald war jetzt schlicht dahin. Seine Wuchsplätze nahm nunmehr eine baumlose Pflanzendecke ein, die in ihrem Aussehen den heutigen arktischen Tundren bzw. kontinentalen Kältesteppen ähnelte. Weil in diesem Zeitraum bei deutlich gefallenem Meeresspiegel (etwas mehr als 100 m im Vergleich zu heute) die Wassertemperaturen in den europäischen Randmeeren recht tief lagen, konnte nicht so viel Wasser verdunsten wie zuvor – das Klima im gesamten Europa wurde daher zunehmend trockener. Bislang wenig berücksichtigt und noch weniger bekannt, aber enorm folgenreich ist die stark abweichende Luftdruckverteilung während des letzten Glazials: Die Hochdruckgebiete befanden sich damals regulär über dem skandinavischen, zuletzt bis etwa 3000 m mächtigen Eisschild. Sie führten zu andauernden kalten Fallwinden aus nordöstlicher Richtung, die in den überstrichenen Gebieten ebenfalls anhaltende Trockenheit mit sich brachten. Kein Wunder also, dass sich die vorher (nämlich eemzeitlich) in bemerkenswerter Üppigkeit bestehende Zone der laubwerfenden Wälder fast überall komplett auflöste. Im eisfreien Bereich zwischen der nordischen und der alpinen Vereisung – in Deutschland ungefähr zu umreißen mit dem etwa 400 km breiten Mittelgebirgsgürtel zwischen Donau und Ruhr – sah es damals etwa so aus wie in der heutigen nordischen Tundra: Nur eine niedrigwüchsige Vegetation mit Zwergsträuchern vor allem aus der Familie der Heidekrautgewächse konnte neben wenigen anderen Verwandtschaftsgruppen bestehen, wobei zwischen den ostmitteleuropäischen Gebieten und dem Westen bzw. Nordwesten deutliche Unterschiede bestanden.
Zur maximalen Vereisung in der Würm-/Weichsel-Eiszeit kam es interessanterweise erst in ihrem Endabschnitt um etwa 20.000 Jahre vor der Gegenwart. |21|Die Durchschnittstemperaturen lagen in dieser Phase um ca. 12 °C tiefer als heute, und in den Alpen war die Schneegrenze gar um 1400 m gesunken. Dennoch war die Ausdehnung des Eises dieser Glaziation deutlich geringer als in der vorangegangenen Riß-/Mindel-Eiszeit, wie man beispielsweise an der charakteristischen Moränenverteilung in Norddeutschland (mit erheblichen geomorphologischen bzw. landschaftlichen Unterschieden zwischen Jung- und Altmoränenland) ablesen kann.
Gegen Ende der Würm-/Weichsel-Eiszeit setzt nun recht unvermittelt, und in seinen letztlich auslösenden Ursachen immer noch weitgehend unverstanden, ein ziemlich rascher Anstieg der jährlichen bzw. monatlichen Durchschnittstemperaturen ein. Innerhalb von nur etwa 3000 Jahren zerfiel daher unaufhaltsam das weite Netzwerk der nach Norden gerichteten Gletschereisströme aus den großen Alpentälern. Die Gletscher zogen sich dabei nicht einfach zurück, wie man in manchen Schilderungen mitunter lesen kann, sondern sie schmolzen kontinuierlich weg, denn es unterblieb nach und nach die Nachlieferung des abfließenden Eises aus den Höhengebieten, die man in der Glaziologie auch Nährgebiete nennt. Die Eisrandlagen wurden unter dem Zwang der nunmehr höheren Durchschnittstemperaturen immer mehr zu Zehrgebieten. Hier und da blieben einzelne größere Gletscherfragmente als isolierte Toteisblöcke zurück – ihr Schmelzwasser sammelte sich in zuvor per kräftig nagendem Eisschurf ausgehobelten Becken und Senken zu den malerisch anmutenden Seenplatten inmitten der heute angenehm gewellten Hügellandschaft im Küstenhinterland von Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern bzw. in das lebhaft glaziogen überprägte Voralpenland zwischen Bodensee und Wiener Becken, wo sich ebenfalls zahlreiche und letztlich aus der Eiszeit herrührende Stillgewässer finden (Abb. 2.4).
Das Abschmelzen der ungleich massiveren nordischen Inlandeismasse dauerte übrigens ungleich länger als das Schrumpfen der alpinen Vereisung und kam hier erst vor etwa 9000 Jahren vor der Gegenwart zum vorläufigen Abschluss, was erhebliche Auswirkungen auf die überaus spannende jüngere Entwicklung von Ost- und Nordsee hatte. Von Wiesen und/oder Weiden konnte in diesen Frühphasen des Postglazials indessen überhaupt noch keine Rede sein.
Ihr spezifischer Beitrag zur Landschaftsgestaltung und zu den kalenderblattreifen Ferienlandschaftsbildern konnte erst deutlich später stattfinden.
2.4 In den europäischen Hochgebirgen regiert ab einer gewissen Höhe immer noch die Eiszeit. Im Voralpenland beherrschen dagegen landschaftstypische Grünlandbereiche das Bild.
|23|Wohl ist alles in der Natur Wechsel, aber hinter dem Wechsel steht ein Ewiges.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Schon in den meist recht lange andauernden Interglazialen des Pleistozäns folgte auf das stabile Ende eines Glazials eine alsbald einsetzende Wiederbewaldung – jedoch nur durch solche Gehölzarten, die bei ihren Ausweichmanövern in klimatisch günstigere Rückzugsräume (vor allem östlich und westlich des Alpenbogens) aus ökologischen Gründen nicht auf der Strecke geblieben waren. Dies gelang tatsächlich nur relativ wenigen Arten.
Folglich hat jede längere pleistozäne Vereisungsperiode in Mitteleuropa bedeutende Streckenverluste bzw. Artensterben verursacht.
Solche Verluste lassen sich bereits aus dem direkten heutigen Vergleich folgern: Eigentlich ist es doch sehr erstaunlich, dass in Mitteleuropa von Natur aus nicht einmal 50 verschiedene Baumarten vorkommen. Ihnen stehen zwar mehr als 100 heimische Straucharten an der Seite, doch ist der einheimische Gehölzartenbestand damit vergleichsweise recht bescheiden. In diesen Defiziten zeigen sich eben die direkten Folgen der verschiedenen Eiszeiten der letzten Jahrhunderttausende. In Nordamerika und ebenso in Ostasien ist in heute klimatisch weitgehend vergleichbaren Gebieten ein ungleich umfangreicheres Artenspektrum zu erleben.
Diese Unterschiede haben einen einfachen Grund, und der liegt in der Geologie bzw. Landschaftsmorphologie: Viele Artengruppen haben in Europa die eiszeitliche Klimaverschlechterung deswegen nicht überleben können, weil ihnen hier die ziemlich geradlinig ostwestlich verlaufenden und erst im Tertiär aufgefalteten Hochgebirge (Karpaten, Alpen und Pyrenäen) ein erfolgreiches Entkommen in weiter südlicher gelegene Ausweichquartiere schlicht versperrten. In Nordamerika und ebenso in Ostasien verlaufen die großen jungen Faltengebirge dagegen allesamt in Nord-Süd-Richtung. Hier konnten die wärmebedürftigen Arten nach der Klimaverschlechterung in ihren nördlichen Arealteilen viel eher geeignete und weiter südlich gelegene Ausweichgebiete erreichen, dort auch tatsächlich überleben und in den jeweiligen Postglazialen auch wieder nordwärts zurückwandern. Für Mitteleuropa brachten die Eiszeiten daher eine gewaltige Artenverarmung, was sich, im Vergleich zu anderen Gebietsfloren, beispielhaft auch in konkrete Zahlen fassen lässt: In Mitteleuropa sind heute von Natur aus nur noch vier Ahorn-Arten heimisch, im klimatisch vergleichbaren Nordamerika gleicher Breitenlage dagegen mehr als zwei Dutzend. Die in Europa waldbildenden Gehölze verteilen sich gar nur auf knapp zwei Dutzend verschiedene Arten. In Nordamerika oder Ostasien kommen im gleichen Klimagebiet jedoch mehrere hundert Gehölzarten vor. Wie die heimische Gehölzflora vor der Würm-/Weichsel-Eiszeit auch bei uns ausgesehen hat, zeigt ein Blick in große Arboreten und Parkanlagen: Sie bestehen zu großen Anteilen aus Anleihen von anderen Kontinenten und haben gleichsam zur Kompensation der eiszeitlichen Verluste in unseren Parks und Gärten eine neue Heimat gefunden, womit die ursprünglich erlebbare Gehölzvielfalt zumindest in Umrissen wieder aufgestockt ist.
Die folgende Aussage ist fast trivial: Gehölze sind nun einmal ortsfest wachsende und mit ihrem Standort buchstäblich lebenslang verwurzelte Pflanzen. Wie also hat man sich eine eiszeitliche Aus- sowie |24|