Philipp Richter
Ein systematischer Kommentar
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Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim
Satz: SatzWeise, Föhren
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ISBN 978-3-534-26258-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-73789-5
eBook (epub): 978-3-534-73790-1
Vorbemerkung
Einleitung: Zum Vorgehen des Kommentars
1. Vorrede und Erster Abschnitt
1.1 Kants Erklärung der Methode. [387–392]
1.2 Der gute Wille als das einzige Gute. [393–396]
1.3 Der Begriff der Pflicht (1. Satz). [397–399]
1.4 Der Begriff der Pflicht (2. und 3. Satz). [400–405]
2. Zweiter Abschnitt
2.1 Moralskepsis und Popularphilosophie. [406–412]
2.2 Die rationale Struktur des Willens (Imperative). [413–419]
2.3 Die Formel des kategorischen Imperativs. [420–424]
2.4 Person als Zweck an sich selbst. [425–431]
2.5 Ein systematisches Reich der Zwecke. [431–434]
2.6 Würde als transzendentaler Wert an sich selbst. [435–445]
3. Dritter Abschnitt
3.1 Der Titel des Dritten Abschnitts. [446]
3.2 Der Begriff der Freiheit. [446–447]
3.3 Freiheit als notwendige Voraussetzung. [447–450]
3.4 Verdacht eines Zirkels im Beweis. [450]
3.5 Ding an sich und Erscheinung. [450–453]
3.6 Die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs. [453–455]
3.7 Die Grenze der praktischen Philosophie. [455]
3.8 Freiheit im theoretischen Verstande. [455]
3.9 Dialektik der spekulativen Vernunft. [455–457]
3.10 Auflösung des Scheinwiderspruchs. [457–458]
3.11 Die Unerklärbarkeit von Freiheit. [459–461]
3.12 Der vernünftige Glaube. [461–463]
Anhang. Kurzzusammenfassung der Argumentation der GMS
Anmerkungen
Verwendete Abkürzungen
Literatur
Dieser Kommentar zu Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ist für all diejenigen gedacht, die nicht auf eine Inhaltsangabe vertrauen, sondern eine selbständige Auseinandersetzung mit Kants Text versuchen wollen. Es empfiehlt sich daher, die Grundlegung immer griffbereit zu haben, um das eigene Verständnis und die Erläuterungen des Kommentars direkt am Text überprüfen zu können.
Das Vorgehen des Kommentars ist systematisch und nicht philosophiegeschichtlich; es wird auf historische Ausführungen zur Text- und Rezeptionsgeschichte der Kantischen Schrift sowie auf ein Referat philosophischer Positionen und Diskussionshintergründe des 18. Jahrhunderts weitgehend verzichtet.1 Vielmehr wird Kant möglichst direkt als philosophischer Gesprächspartner angesprochen, der eine klare Fragestellung formuliert und im Zuge ihrer Beantwortung Argumente vorbringt. Es geht darum, die einzelnen Schritte der Argumentation sowie ihren Gesamtzusammenhang möglichst transparent zu machen.2 Aus diesem Grund soll der Text – dem principle of charity folgend – stark gemacht werden, immer mit dem Zweck, Kants Gedanken so kohärent wie möglich zu verstehen. Die textanalytische Darstellung ist dabei freilich nicht standpunktlos, sondern geht von einer „methodischen Kontinuität“3 der theoretischen und praktischen Philosophie Kants aus (mehr dazu in der Einleitung). Der Kommentar will also schwere Textpassagen oder scheinbare Lücken der Argumentation nicht vorschnell als dogmatisch-spekulative Setzungen im Sinne einer „vorkritischen Metaphysik“4 abtun.
Sicherlich ist Kants kurze Abhandlung von 1785 an inhaltlicher Tiefe und methodischer Stringenz kaum zu überbieten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – gilt Kants Moralphilosophie vielen prominenten Kritikern als weltfremder Formalismus (Hegel) oder gefühlloser Rigorismus der Pflicht um der Pflicht willen (Schopenhauer). Tatsächlich scheint ein flüchtiger Blick in die Grundlegung auch Anlass zu solchen Vorwürfen zu geben. Wer aber genauer hinschaut und versucht, die Grundlegung in erster Linie immanent zu kritisieren, erkennt, dass Kant ausgehend vom moralischen Urteil des Alltagsverstandes terminologisch strenge Unterscheidungen für dessen rationale Klärung vorschlägt – in begrifflicher Hinsicht ist Kants Vorgehen also in der Tat rigoros. Darauf muss man sich freilich einlassen bei einem Text, der explizit nicht allzu gefällig und zugänglich formuliert wurde, um keine vorschnelle „Parteilichkeit“ für sein Anliegen, das absolute Moralprinzip zu explizieren, hervorzurufen. Was letztlich dazu führen würde, die Argumente der Grundlegung nicht mehr „ohne alle Rücksicht“ kritisch zu prüfen, sondern nur noch als Dogmen zu rezipieren (AA IV, 392)5.
Und in der Tat ist die Diskussion der Grundlegung noch heute in vollem Gange. Viele Fragen der Interpretation gerade zentraler Stellen des Textes sind alles andere als einmütig geklärt. Vor allem der Dritte Abschnitt der Grundlegung verweigert sich scheinbar einer klaren Deutung – vielen Interpreten gilt er als „dunkel“: Wie z.B. rechtfertigt („deduziert“) Kant die Vorstellung eines unbedingten Sollens? Ist diese Deduktion des kategorischen Imperativs erfolgreich? Weshalb ist die Unerklärbarkeit von Freiheit dabei kein Problem, sondern eher ein Vorteil für die Kantische Argumentation? Und gleiten Kants Ausführungen nicht doch in den Bereich metaphysischer Spekulationen ab, wenn er von einem „eigentlichen Selbst“ des Menschen oder einer Sinnen- und Verstandeswelt spricht? Angesichts derartiger Fragen wird der Kommentar auch auf widerstreitende oder alternative Interpretationen der Grundlegung Bezug nehmen müssen.6
Ich möchte vor allem Prof. Christoph Hubig danken, der mich motiviert und unterstützt hat, das Projekt eines Kommentars zur Grundlegung in die Tat umzusetzen. Darüber hinaus danke ich den Darmstädter Kollegen sehr herzlich für Diskussion und Kritik, allen voran Dr. Michael Nerurkar und Dr. Jan Müller.
Stuttgart, im März 2013
„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwänglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“1
Mit dieser berühmten Reflexion beschließt Kant seine Kritik der praktischen Vernunft. Für die hier vorzulegende Kommentierung der Grundlegung ist die Verortung des moralischen Gesetzes – um dessen Auffindung und Entwicklung es Kant in der Grundlegung geht – ebenfalls ein guter Anhaltspunkt für das Vorgehen der Interpretation. Was also bedeutet Kants Rede von einem moralischen Gesetz „in mir“? Inwiefern hat selbst die „gemeine Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurteilung […] [dieses] gedachte Prinzip jederzeit vor Augen“ (AA IV, 402)? Wie kann der moralische Mensch ein nicht expliziertes Prinzip „zum Richtmaße [aller] Beurteilung brauch[en]“ (AA IV, 403)?
Zunächst verweist Kant damit auf ein analytisches Vorgehen der Untersuchung: „Es wäre […] leicht zu zeigen, wie [die gemeine Vernunft] mit diesem Kompasse [bzw. dem Prinzip] in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig oder pflichtwidrig sei, wenn man, ohne sie im mindesten etwas Neues zu lehren, sie nur, wie Sokrates es tat, auf ihr eigenes Prinzip aufmerksam machte“ (AA IV, 404). In der Grundlegung soll also analog zur maieutischen Dialogführung des Sokrates vorgegangen werden; dabei geht es um ein kritisches Ausreizen derjenigen Vorstellungen, die ganz selbstverständlich als wahr oder gut anerkannt sind. Durch gezieltes Fragen lenkt der Sokrates der platonischen Dialoge seinen Gegenüber zur Einsicht in die zugrunde liegenden Voraussetzungen der von diesem erhobenen Wissensansprüche. Der sokratische Schüler wird demnach weder von einer äußeren Autorität belehrt, noch erfährt er etwas vollkommen Neues. Vielmehr lernt er etwas über sich selbst, d.h. über seine eigene Art des Denkens, Fürwahrhaltens und Urteilens. Insofern kann metaphorisch gesagt werden, dass die erworbene Einsicht bereits im Dialogpartner des Sokrates vorhanden gewesen sei, da dieser sie selbständig – sozusagen aus sich selbst heraus – entwickeln konnte.
Dieses Vorgehen greift Kant auf; allerdings bezieht er die Verortung des moralischen Gesetzes („in mir“) auf den subjektiven Aspekt des moralischen Handelns, wobei „subjektiv“ jedoch nichts bloß individuell Eigentümliches bezeichnen soll. Kants oben zitierte Erklärung zum Ort des moralischen Gesetzes kann also in erster Annäherung so aufgefasst werden, dass der prinzipielle Maßstab des Guten dem Handeln des praktisch-vernünftigen Subjekts in noch zu klärender Weise immanent ist.
Wie die oben zitierten Ausführungen Kants sowie deren Analogie zur sokratischen Maieutik nahe legen, scheint das moralische Gesetz dem vernünftigen Menschen immer schon bekannt. Mit Heidegger lässt sich sagen, Kant spreche hier im Modus des apriorischen Perfekt, d.h. das moralische Gesetz ist in keinem empirisch-zeitlichen, sondern in einem logischen Sinne ‚immer schon‘ in maßgebender Verwendung.2 Kants Argumentation nähert sich dem moralischen Gesetz über das, was modern als das „gewöhnliche moralische Bewusstsein“ (Common Sense) angesprochen wird.3 Das ist freilich noch unscharf und bedarf weiterer Klärung; was hier zunächst durch eine Charakterisierung der Methode der Grundlegung erreicht werden kann.
Kants Argumentation, der es um die Explikation dessen, was im einzigen und eigentlichen Sinne „gut“ genannt werden kann, geht, bewegt sich zwischen zwei methodischen Extremen, die wie folgt typisiert werden können. Der eine Argumentationstyp mag großen oder einzigen Wert darauf legen, das bereits in einer Gemeinschaft als moralisch richtig anerkannte Verhalten zu fundieren; es geht also darum, die bestehende Auffassung dessen, was moralisch sei, zu rechtfertigen. Dieses Vorgehen führt allerdings in den Relativismus, da das moralische Verhalten, das als Ausgangsbasis der Verallgemeinerung dient, selbst willkürlich bestimmt ist; obschon dies freilich unter der Behauptung geschehen mag, dies gelte nun mal allen Mitgliedern der Gemeinschaft unzweifelhaft als gut und richtig. Dabei wird jedoch nicht bedacht, dass eine andere Ausgangsbasis der Verallgemeinerung zu einem anderen Prinzip des Guten führen würde – und zwar insofern als die verallgemeinernde Sammlung moralisch guter Verhaltensweisen eben schon eine Bestimmung dessen, was gut ist, voraussetzt. Andernfalls ließen sich die aufgesammelten Fälle nicht als solche bestimmen und von den verwerflichen unterscheiden. Ein solcher Begründungsanspruch kommt also über eine zirkuläre Bestimmung des Guten nicht hinaus.
Dagegen tritt der andere Argumentationstyp im Sinne einer Korrektur des moralischen Common Sense auf; hier würde ein gleichsam übersinnliches Vermögen des Philosophen unterstellt, der eben besser als alle Welt wüsste, was moralisch ist. Dieser Argumentationstyp kann als ideologischer Dogmatismus bezeichnet werden, da die Bestimmung des Guten unabhängig vom gängigen Moralverständnis gesetzt und vorgeschrieben würde.
Kants Argumentation bewegt sich zwischen diesen beiden Extremen, insofern sie das moralische Gesetz auffinden und festsetzen soll (vgl. AA IV, 392). Das gesuchte Prinzip ist also einerseits schon vorhanden, da es entdeckt werden soll, wobei der Relativismus willkürlicher Vorannahmen zu vermeiden ist. Andererseits wird das moralische Gesetz im Zuge einer Setzung allererst normiert, was jedoch nicht im Sinne eines weltfremden Dogmatismus geschehen darf.
Was demnach innerhalb der Grundlegung als „moralische Intuition“ o.ä. bezeichnet werden kann, darf also weder auf einen z.B. kulturrelativen Wissensbestand (Relativismus) – gleich einem Katalog zeitgenössischer Meinungen über das moralisch Gute –, noch auf eine übersinnlich-prophetische Gabe (Dogmatismus) reduziert werden. Vielmehr handelt es sich um die antrainierte Fähigkeit, die praktische Urteilskraft heißen mag, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Dieses Vermögen wird freilich vor allem durch Erziehung ausgebildet (AA IV, 391), sodass seine beispielhaften Anwendungen in Einzelfällen, was ihren Inhalt betrifft durchaus als kultur-und gemeinschaftsrelativ zu bezeichnen sind. Dass dieses Vermögen aber die Kategorien des Guten und Schlechten überhaupt zur Verfügung hat, ist dessen Voraussetzung und kann selbst nicht nur kulturrelativ erworben sein; denn das Erwerben der Unterscheidungsfähigkeit von guten und bösen Taten im Einzelnen, setzt die apriorische Bekanntschaft mit ebendiesem allgemeinen Unterschied vor der Bewertung von Einzelfällen voraus. Kant befragt also die „moralische Intuition“ auf das maßgebende Prinzip, anhand dessen gängiger Weise zwischen „gut“ und „schlecht“ unterschieden wird.
Das Interesse an diesem Prinzip ist im Übrigen kein rein theoretisches (AA IV, 389), vielmehr geht es der Grundlegung um die Begründung und Explikation der Möglichkeit einer moralisch reflektierten Lebensform, die durch beständige Aufmerksamkeit auf das moralische Gesetz (AA IV, 404) die eigene Lebensorientierung unaufhörlich ideologie- und relativismuskritisch befragen kann. Die Grundlegung grenzt sich daher von einer Ethik der verallgemeinerten Üblichkeiten („populäre Ethik“) ab, die bei Pseudo-Begründungen des ohnehin schon Anerkannten stehen bleibt und methodisch gesehen relativistisch ist. Vielmehr hält Kant an den „transtheoretischen Zielen“ der praktischen Philosophie fest (AA IV, 389f.); ähnlich der antiken Lebensformphilosophie geht es auch dem Verfasser der Grundlegung letztlich darum, den Adressaten seiner Überlegungen – salopp gesagt – ‚besser‘ zu machen.4 Dabei erweist sich gerade Kants Ethik-Argumentation als prinzipiell offen für die seit der Moderne augenscheinlich gegebene Pluralität von Lebensentwürfen und Werten, da sie deren Vielfalt im Konzept der reflexiven Maximen-Prüfung erhält und eben gerade keine inhaltliche Orientierung – im Sinne einer Ausrichtung des Lebens auf lohnenswerte oder löbliche Ziele – vorschreibt; was z.B. von Hegel als weltfremder Formalismus denunziert wurde. Aufforderungen zu einem asketischen Leben in rigoroser Pflicht-Erfüllung sind entgegen dem gängigen Vorurteil nirgends im Text zu finden – obschon Kant in argumentativer Hinsicht rigoros verfährt, vollkommen in dem Bewusstsein, so nicht den „Geschmack des Publikums“ zu treffen (AA IV, 388; vgl. 409). Im Gegensatz zu einer späteren Popularisierung geht es Kant aber gerade darum, die Plausibilisierung seiner Argumentation soweit wie möglich von deren begrifflicher Strenge und Stringenz zu unterscheiden. Demnach arbeitet er bewusst mit wenig inhaltlichen Beispielen der Anwendung des Moralprinzips, „weil die Leichtigkeit im Gebrauche […] eine gewisse Parteilichkeit erweckt, es nicht für sich selbst, ohne alle Rücksicht auf die Folge, nach aller Strenge zu untersuchen und zu wägen“ (AA IV, 398).
Kants Vorgehen ist dabei auch in der Grundlegung das der transzendentalen Reflexion, deren Funktion im Amphibolie-Kapitel (B 316ff.) der Kritik der reinen Vernunft thematisiert wird. Die hier nun in praktischer Absicht vorgenommene transzendentale Reflexion ist gerade darauf bedacht, den handelnden Umgang mit der alltäglichen Welt nicht zu Gunsten einer besser verstandenen Wirklichkeit aufzuheben und zu verwerfen; andernfalls wäre Kant in der Tat als Dogmatiker zu bezeichnen. Demnach ist die Fähigkeit, moralisch zu urteilen und zu handeln, für die Kantische Argumentation eine Tatsache. Diese Tatsache ist gleichsam der ‚Anker‘ der transzendentalen Reflexion, der ein Abgleiten der Reflexion ins „Überschwängliche“ (AA V, 161), prinzipiell Unbegründbare, verhindern soll. Die transzendental-praktische Reflexion5 der Grundlegung ist somit keine Wesensanalyse, deren Resultat ja in der Tat eine besser verstandene Wirklichkeit (das wesentliche Sein) jenseits des alltäglichen Sittenverfalls (der bloße Schein) behaupten würde.6 Es wird für die Argumentation zudem kein gegenüber der Welt isoliertes Subjekt vorausgesetzt, das dann ohne Rücksicht auf die Bedingungen innerweltlicher Moralität nach dem Geschmack des pietistisch erzogenen Kant auf die vorgeblich eigentliche Moralität hin normiert würde. Gerade das wäre ja nichts anderes als metaphysische Ontologie (bzw. Ideologie), der zu folgen mancher sicher bereit wäre, ohne dass dabei allerdings weiter nach dem Grund der Auszeichnung gerade dieser Ordnung des Seins vor anderen gefragt würde. Kant geht es aber gerade hier um Klarheit: Was kann ohne Einschränkung „gut“ genannt werden, wohingegen alles andere nur im Verhältnis zu diesem Prinzip bzw. daran Maß nehmend als relativ gut gelten darf? In der Tat wendet sich Kants dabei dem allgemeinen Begriff des vernünftig Handelnden zu, aber nicht so, dass hier ein verdinglichtes Subjekt auf seine wesentliche Vernünftigkeit befragt würde, die sich womöglich nirgends innerweltlich ausweisen ließe. Die transzendental-praktische Argumentation betrachtet das „Subjekt“ gerade nicht von einem externen Standpunkt als ausgezeichnetes Objekt unter Objekten. Vielmehr wird das Handeln in subjektiv-notwendige und objektiv-beiläufige Momente unterschieden. Die subjektiven Momente sind dabei Ergebnisse der Selbstbeschreibung des Handelnden, wohingegen die objektiven Momente des Vollzugs auch fehlen oder anders sein könnten, ohne die Selbstbeschreibung zu beeinflussen. Die transzendental-praktische Reflexion geht dabei der Subjektivität auf den Grund: Was ist notwendig an der Selbstbeschreibung des Subjekts, insofern es als handelndes auftritt? Der Argumentation geht es also nicht um die dogmatische Setzung eines neuen Moralprinzips: „Wer wollte […] auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst erfinden? Gleich als ob vor ihm die Welt, in dem, was Pflicht sei, unwissend, oder in durchgängigem Irrtum gewesen wäre“ (AA V, 8, FN 1), erklärt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft.
Um das Spezifische dieses Zugriffs zu verdeutlichen, wird der Kommentar sich zweier Termini bedienen, die in Analogie zur Begrifflichkeit der Kritik der reinen Vernunft entwickelt werden können. Es handelt sich um Kants Unterscheidung einer Rede „im empirischen Verstande“ von einer „im transzendentalen Verstande“ – es geht dabei um die Anzeige der jeweiligen Hinsicht auf das Erkenntnisvermögen. Die in der Kritik der reinen Vernunft wenig explizierte Unterscheidung soll im Folgenden zunächst dargestellt werden.
Zunächst sei in Erinnerung gerufen, dass das Vokabular der Kritischen Philosophie Kants nur der Wortähnlichkeit nach Bezug zur alltagspsychologischen Beschreibung aufweist. Die Termini Kants dienen keiner Erklärung psychischer Vorgänge. Die Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft hat kein primäres Interesse am erfahrungsmäßigen Erkennen im Sinne eines beschreibbaren Vorgangs. Als Beispiel für ein derartiges Missverständnis lässt sich Gerhard Vollmers Versuch einer „Evolutionären Erkenntnistheorie“ anführen, die ausdrücklich Defizite der Kantischen Argumentation beheben will.7 Vollmer will wie Kant nach den Bedingungen des sicheren Erkennens (der Welt) fragen, versteht die erkennende Beziehung zur Welt allerdings von vornherein als eine kausale zwischen zwei Objekten, wobei sich seine theoretischen Einsichten dementsprechend in der Rekonstruktion einer Stufenfolge dieses mechanischen Vorgangs erschöpfen – intentionales Vokabular wird dabei trotz eines unterstellten Blicks von nirgendwo ganz unkritisch verwendet. Aber um die vernünftige Subjektivität und ihre Befähigung zur Intentionalität geht es gerade, wenn Kant nach Erkenntnis fragt.8 Die Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft betrifft die begrifflichen Voraussetzungen der Begründbarkeit von Erkenntnis, es geht um eine Auseinandersetzung des erkennenden Subjekts mit sich selbst unter Verwendung immer weiter geschärfter Ausdrücke zur Klärung des Erkennens, seiner Möglichkeiten und Grenzen.
„Ich nenne alle Vorstellung rein (im transzendentalen Verstande), in denen nichts, was zur Empfindung gehört angetroffen wird“ (A 20/B 34).9 „Empfindung“ ist hierbei „die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden“ (A 19/B 33), d.h. es besteht eine Wirkungsbeziehung zwischen dem objektiven Gegenstand und der subjektiven Fähigkeit, diesen vorzustellen (‚vor sich zu haben‘). Diese Beziehung kommt im Empfinden dadurch zustande, dass der unmittelbare Gegenstandskontakt (Anschauung bzw. Anschauen) in einer Affektion10 besteht, d.h. im Erleiden eines Widerstandes gegen das subjektive Denken. Eine Vorstellung, in der nichts, „was zur Empfindung gehört, angetroffen wird“, dürfte demnach keinen affektiv-unwillkürlichen Gegenstandsbezug im eben explizierten Sinne aufweisen. Aber nur so ist doch – „uns Menschen wenigstens“ (A 19/B 33) – die Beziehung auf etwas außer unserem Denken möglich. Aber sind solche „reinen“ Vorstellungen, die keinerlei Bezug zur Erfahrung, d.h. keine gegenstandsbezüglichen Merkmale aufweisen, überhaupt denkbar? „Rein“ im Sinne von „abstrakt“ scheidet hier aus, da die abstrakten Vorstellungen eben nur von ihrer Konkretion in der Erfahrung absehen, diese aber nicht aufheben können. Obwohl es in der Tat zunächst abwegig erscheinen mag, macht die Rede von solch „reinen“ Vorstellungen dennoch Sinn, aber eben nur im transzendentalen Verstande. Einen reinen Gegenstandskontakt gibt es nicht, dann nämlich würde der Gegenstand intellektual angeschaut, d.h. über die Regel seiner Identifikation allererst gesetzt und verlöre damit seine ihn konstituierende Eigenständigkeit, die nach Kant einzig die Rezeptivität der Sinnlichkeit garantiert. Wenn nun ein empfindungsloser Bezug zum Gegenstand nicht sinnvoll denkbar ist, so kann doch relativ zum Gegenstandsbezug bzw. zum Erkennen das daran Empfindungslose, „das worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, und in gewisse Form gestellt werden können“ (A 20/B 34), als „reine“ Vorstellung angesprochen werden. Wenn also gefragt wird: Gibt es solche reinen Vorstellungen? Lassen sie sich wie Dinge erkennen?, dann ist das zu verneinen, insofern diese Frage „im empirischen Verstande“ formuliert ist. Im empirischen Verstande, wo es einzig um die Erkenntnis von Gegenständen und Sachverhalten geht, sind die angesprochenen reinen Vorstellungen (bzw. transzendentalen Formen) tatsächlich absurd und völlig unbegreiflich, da es sich um reine Gegenstände handeln müsste, d.h. um solche, die identifiziert und zugleich nicht identifiziert werden müssten. „Reine“ Vorstellungen im transzendentalen Verstande sind dagegen indirekt gegenstandsbezüglich,11 d.h. es handelt sich um keine übersinnlichen Gegenstände (Dinge an sich), sondern um das begrifflich reine Moment an der Gegenstandsbeziehung.
Weiter verdeutlichen lässt sich diese Hinsichtsunterscheidung am Beispiel der mehrstufigen Verwendungsweise der Begriffe „Ding an sich“ und „Erscheinung“. Kant weist in der transzendentalen Ästhetik (B 33ff.) darauf hin, dass Raum und Zeit als Formen des Erkennens zwar ihren Ort in der erkennenden Subjektivität hätten, damit aber nicht die individuell-subjektive Beliebigkeit verschiedener Vorlieben für Farben und Geschmäcker gemeint sei (vgl. A 29/B 45): „Denn in diesem Falle gilt das, was ursprünglich selbst nur Erscheinung ist, z.B. die Rose, im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst, welches doch jedem Auge in Ansehung der Farbe anders erscheinen kann“ (ebd.).12 Wenn es also um das direkte Erkennen von Gegenständen geht, dann ist die Rose ein eigenständiges Ding, aber ihre Farbe ist abhängig von der jeweiligen Disposition des Betrachters. Dagegen ist dieselbe Rose im transzendentalen Verstande – gemäß dem „transzendentalen Begriff der Erscheinungen im Raume“ (A 30/B 45) – kein Ding an sich selbst, sondern eine Erscheinung, d.h. ein Ding relativ zur Subjektivität und insofern gerade nicht eigenständig. Die Betonung der Hinsichtsunterscheidung soll in der transzendentalen Ästhetik helfen, die vorschnelle Annahme zweier Klassen von Entitäten – hier Erscheinungen, dort Dinge an sich – zu vermeiden. Im empirischen Verstande wird also die Perspektive des direkten Gegenstandsbezugs (Erfahrungsurteil) eingenommen, während im transzendentalen Verstande nach der Art dieser üblichen Gegenstandsbeziehung gefragt wird. Die beiden unterschiedlichen Zugriffsweisen auf das Erkennen sind dabei jeweils von Interessen geleitet: Entweder richtet sich das Interesse auf die Gegenstände, von denen es Erkenntnis gewinnen will, oder das Interesse ist reflexiv und gilt der Art des Erkennens, um dessen Zulänglichkeit zu prüfen und zu rechtfertigen.
Das Begriffspaar der objektstufigen Perspektive (im empirischen Verstande) und der subjekt-reflexiven Perspektive (im transzendentalen Verstande) soll nun auf die Grundlegung übertragen werden. Dort wird bekanntlich nicht nach dem sicheren Erkennen, sondern nach dem moralisch guten Handeln gefragt. Der Perspektive „im empirischen Verstande“ entspricht im Bereich der praktischen Philosophie das routinemäßige Verhalten und moralische Urteilen nach gemeinschaftlichen Regeln; dabei kommt zunächst eine nicht transzendental reflektierte Urteilskraft zur Anwendung. Diese Perspektive, in der die vorgefundenen und geringfügig selbst modifizierten Handlungsregeln nicht kritisiert werden, kann analog zum Terminus der Kritik der reinen Vernunft hier „im pragmatischen Verstande“ heißen. Dagegen kann die subjekt-reflexive Perspektive „im transzendental-praktischen Verstande“ genannt werden. Hier wird das moralische Urteilen und Verhalten auf seine zugrunde liegenden Voraussetzungen befragt.
Eingangs tat sich die Frage auf, wie der moralische Mensch ein nicht expliziertes Prinzip immer schon „zum Richtmaße [aller] Beurteilung brauch[en]“ könne (AA IV, 403)? Nun lässt sich sagen, dass das Prinzip („Sittengesetz“) bereits im Handlungsvollzug im pragmatischen Verstande ‚wirkt‘, jedoch sein Einfluss auf die Reflexion der moralischen Grundeinstellungen des Einzelnen nur kontingent und unsicher ist (AA IV, 405), da es noch nicht expliziert wurde. D.h. aber, dass es im transzendental-praktischen Verstande überhaupt nicht wirkt, da die „Gemäßheit“ der moralischen Einstellung zum Prinzip „nur sehr zufällig und misslich“ sein kann (AA IV, 390). Die „gemeine Menschenvernunft“ (AA IV, 403) hat also mehrere Quasi-Prinzipien zur Beurteilung des Moralischen vor sich, dabei begreift sie das eigentliche Prinzip aber nicht als das entscheidende. Wenn also „moralische Erkenntnis“ (ebd.), obschon „sehr zufällig und misslich“, stattfindet, dann nur, wenn das Urteil bzw. das Verhalten dem Prinzip der Moralität beiläufig gemäß ist.
Die Vorrede der Grundlegung beginnt mit der Verortung der Ethik innerhalb der Disziplinen der Philosophie: „Die alte griechische Philosophie teilte sich in drei Wissenschaften: Die Physik, die Ethik und die Logik“ (AA IV, 387). Da Unterscheidungen grundsätzlich zweckrelativ und nicht schlichtweg gegeben sind, muss auch die vorgelegte Bestimmung der philosophischen Disziplinen begründet werden. Daher erklärt Kant, diese (antike) Einteilung sei völlig angemessen, nichts sei zu verbessern, „als nur das Prinzip derselben hinzuzutun. Erstens um die Vollständigkeit der Einteilung und zweitens um die notwendigen Unterabteilungen richtig bestimmen zu können“ (AA IV, 387). Es muss also eine Begründung der Einteilung nachgeliefert werden, indem die jeweilige differentia specifica herausgestellt wird. Worauf beruht also die Unterscheidung der philosophischen Disziplinen? Da es sich um eine analytische Einteilung nach Gattung und Art handelt, muss diese zweistufig stattfinden, da Arten vollständig disjunktiv unterschieden sein müssen und hier drei Begriffe zu differenzieren sind. Ein Prinzip der Einteilung ist nötig, da sonst die systematisch erforderte Vollständigkeit und Lückenlosigkeit nicht sichergestellt ist.
Es folgt daher zunächst eine Unterscheidung der Vernunfterkenntnis in materiale und formale, wobei Erkenntnis als urteilende Beziehung zu Gegenständen gefasst wird. Jene betrachte „irgendein Objekt“, diese dagegen beschäftige sich reflexiv mit den „allgemeinen Regeln des Denkens überhaupt, ohne Unterschied der Objekte“ (AA IV, 387). Die „formale“ Philosophie wird Logik genannt, d.h. dass sie als Strukturwissenschaft vom konkreten Gegenstandsbezug absieht und insofern abstrakt ist. Die „materiale“ Philosophie hat es dagegen mit „bestimmten Gegenständen und den Gesetzen zu [tun], denen sie unterworfen sind“ (ebd.). Die erste differentia specifica wäre also als Merkmal der Gegenstandsbezüglichkeit rekonstruiert.
Zur näheren Bestimmung der materialen Vernunfterkenntnis folgt der ersten vollständigen Disjunktion eine weitere. Die materiale Philosophie habe es mit konkreten Gegenständen und deren Gesetzmäßigkeiten zu tun: „Diese sind entweder Gesetze der Natur oder der Freiheit“ (AA IV, 387). Die Wissenschaft von bestimmten Dingen der Natur und deren Gesetzmäßigkeiten ist die Physik (bzw. die Naturlehre). Wenn dagegen Handlungen, deren Zusammenhänge, Normen und ihre „Prüfsteine“ (Gesetze der Freiheit) thematisiert werden, wird die Wissenschaft der Ethik (bzw. die Sittenlehre) bemüht. Diese zweite vollständige Disjunktion beruht auf der Unterscheidung einer Kausalität der Natur und einer Kausalität aus Freiheit, also auf der jeweiligen Art des gesetzmäßigen Zusammenhangs der Gegenstände.
Da für die Logik nur abstrakte Zusammenhänge beliebiger Objekte, d.h. Strukturen, von Interesse sind, kann diese keinen „empirischen Teil“ haben, „d.i. einen solchen, da die allgemeinen und notwendigen Gesetze des Denkens auf Gründen beruhten, die von der Erfahrung hergenommen wären“ (AA IV, 387). Was dagegen die materialen Philosophien der Physik und Ethik betrifft, so lassen sich diese jeweils weiter nach der Art des wissenschaftlichen Zugriffs auf die Gesetzmäßigkeiten ihres Gegenstandsbereichs unterscheiden. Während die material-empirische Philosophie „auf Gründen der Erfahrung fußt“, ermittelt die material-reine Philosophie Gesetze aus „Prinzipien a priori“ (AA IV, 388). Die Physik muss der „Natur als einem Gegenstande der Erfahrung“ und die Ethik dem „Willen des Menschen sofern er durch die Natur affiziert wird, ihre Gesetze bestimmen“ (AA IV, 387). Der Begriff der Natur drückt hier die Gesamtheit der gesetzmäßig zusammenwirkenden Objekte aus, die der Subjektivität gegenüber stehen.1 Die material-empirische Physik erhebt faktische Gesetzmäßigkeiten und klassifiziert Naturphänomene, dagegen bestimmt die material-empirische Ethik die Gesetze des „Willen[s] des Menschen, sofern er von der Natur affiziert wird“ (ebd.).D.h., hier wird der Mensch als sich verhaltendes Wesen beschrieben (als Objekt), dessen Tätigkeit sich nur graduell vom Wirken mechanischer Dinge unterscheidet, insofern eine höhere Komplexität vorliegt. Während die Physik Naturnotwendigkeiten experimentell prüfen und reproduzieren kann, müssen in Anbetracht des Menschen als sich verhaltendem Wesen die Gesetzmäßigkeiten als solche bestimmt werden, „nach denen alles geschehen soll, aber doch auch mit Erwägung der Bedingungen, unter denen es öfters nicht geschieht“ (AA IV, 387f.).
Es liegt hier nun eine methodische Dreiteilung der Wissenschaften gemäß ihres Zugriffs auf Gegenstände vor: Die „bloß formale“ Logik ist von der material-empirischen Philosophie einerseits und von der material-reinen Philosophie andererseits zu unterscheiden; letztere nennt Kant „Metaphysik“ (AA IV, 388). Es wird deutlich, dass die Metaphysik, obwohl sie als „reine Philosophie“ angesprochen wird, doch keine bloße Strukturwissenschaft im Sinne der Logik ist. Während empirische Erkenntnis bzw. Wissenschaft es direkt mit Gegenständen und ihren Eigenschaften zu tun hat, funktioniert die Wissenschaft der Logik über ein gedankliches Aufheben der gegenständlichen Elemente des Denkens. Dagegen hat es die Metaphysik mit „bestimmten Gegenständen des Verstandes“ zu tun (ebd.), obwohl sie keinen direkten Gegenstandskontakt hat. Hier muss das Prädikat „rein“ näher bestimmt werden.
Zur „reinen Philosophie“ zählt Kant Logik und Metaphysik, diese sind aber anhand ihres Gegenstandsbezugs zu unterscheiden. Die Logik ist rein im Sinne von abstrakt-rein, sie ist abstrahierende Strukturwissenschaft. „Metaphysik“2 hat es dagegen indirekt mit Gegenständen zu tun, sie bezieht sich auf Gegenstände in der Erkenntnisweise, die Kant als „transzendental“ bezeichnet: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt“ (A 11f.). Insofern nach der Kritik der reinen Vernunft nur der empirisch vermittelte Gegenstandsbezug möglich ist, muss sich die transzendental-reine Metaphysik, wie sie genannt werden kann, auf mögliche empirische Gegenstände beziehen. D.h. in theoretischer Hinsicht (Physik) auf identifizierbare Dinge und Sachverhalte sowie in praktischer Absicht (Ethik) auf das vorgefundene, als sittlich richtig beurteilbare Verhalten. Die Logik hat es also nicht mit Gegenständen zu tun, dagegen weist die transzendental-reine Metaphysik ein eigentümliches Verhältnis zu Gegenständen auf.3 Da transzendental-reine Erkenntnis selbst keinen originären Weltbezug herstellt, sonst wäre sie in der Tat ein übersinnliches Vermögen, muss sie sich über den vorauszusetzenden gegebenen Gegenstandsbezug der empirischen Erkenntnis bzw. des moralischen Handelns in der Welt auf Gegenstände beziehen und sich daran bewahrheiten.
Der gegebenen Einteilung folgend, muss es also eine Metaphysik der Natur und eine der Sitten geben. Die Physik hat daher einen empirischen (z.B. Experimentalphysik, Botanik, Astronomie), aber auch einen rationalen Teil (Metaphysik der Natur), der in der Kritik der reinen Vernunft prinzipiell entwickelt wurde. Der empirische Teil der Ethik bestünde hingegen vor allem aus „praktischer Anthropologie“ (AA IV, 388). Insgesamt sind damit alle Wissenschaften angesprochen, die menschliches Verhalten dessen Institutionen (Sitten, Gesetze) empirisch oder hermeneutisch erfassen. Darunter fallen nach heutigem Verständnis z.B. Soziologie und Verhaltenspsychologie. Dagegen nennt Kant den rationalen Teil der Ethik „Moral“. Der Kant’schen Terminologie nach ist also „ethisch“ bzw. „sittlich“ als objektstufiges Prädikat für Handlungsweisen zu begreifen, die in irgendeinem gemeinschaftlichen Kontext als lobenswert anerkannt sind (aufgrund von Tradition, Konvention etc.). Die transzendental-reine Moral wird dagegen gefasst als das Fragen nach der Begründung von Handlungsregeln überhaupt.4
Kant schlägt nun vor, in den beiden materialen Philosophie-Bereichen (Ethik und Physik) den empirischen vom rationalen Teil streng zu trennen: „So frage ich hier doch nur, ob nicht die Natur der Wissenschaft es erfordere, den empirischen von dem rationalen Teil jederzeit sorgfältig abzusondern“ (AA IV, 388)? Diese Absonderung soll die Argumentation von jeglicher Vermischung mit plausiblen Volksweisheiten oder religiösen Dogmen freihalten. Mit diesem Vorschlag wendet sich Kant zum einen gegen populäre Ethik-Konzepte, die „das Empirische mit dem Rationalen, dem Geschmack des Publikums gemäß“ vermengen (AA IV, 388), also das bereits als sittlich anerkannte Verhalten zum allgemeinen Prinzip erheben (sog. „Selbstdenker“). Methodisch gesehen wird hier das induktiv verallgemeinernde Verfahren des Empirismus als unzureichend abgewiesen. Zum anderen sollen axiomatisch-rationalistische Konzepte (sog. „Grübler“) als unzureichend verworfen werden, die die analytische Methode der Logik unreflektiert auch im Bereich der gegenstandsbezogenen Philosophie anwenden, ohne dessen hinzutretende Bedingungen zu thematisieren. Hierzu zählen vor allem sittliche Vorgaben, die mit der dogmatischen Autorität eines allmächtigen und ‚übersinnlichen‘ Wesens gestützt werden. Die geforderte strenge Bereichsunterscheidung wird von Kant also problemorientiert eingeführt und steht unter dem Zweck, eine streng argumentierende Moralphilosophie dem ethischen Relativismus bzw. einer bloß plausiblen Populärphilosophie sowie einer rationalistischen Dogmatik entgegen zu stellen. Es geht also in methodischer Hinsicht darum, den Rahmen des sinnvollen Argumentierens abzustecken.
Weshalb aber ist für die Argumentation Kants die anfängliche Einteilung der philosophisch-wissenschaftlichen Disziplinen nach Gegenstandsbezug, nach der Art der Gesetzmäßigkeit der Gegenstände sowie nach wissenschaftlichem Zugriff auf die Gesetzmäßigkeiten überhaupt nötig? Zum einen geht es darum, den Begriff des Gesetzes einzuführen und diesen bereichsweise in mechanische und finale Kausalgesetze zu unterscheiden. Zum anderen wird auf die Notwendigkeit verwiesen, auch im moralphilosophischen Bereich transzendental-rein zu argumentieren, da nur so die Subjektivität des Handelnden a priori auf den Begriff gebracht werden kann. Das gesuchte „Prinzip“ der antiken Einteilung der Philosophie (AA IV, 387) ist also formal gesehen ein epistemologisches. Inhaltlich betrachtet ist das Prinzip ein transzendentales: Die Disziplinen werden anhand der Modalitäten ihrer eigentümlichen Gegenstandsbezugslogik unterschieden.5
Der folgende Teil der Vorrede (AA IV, 389–392) muss demnach die Frage nach der Notwendigkeit einer transzendental-reinen Moralphilosophie beantworten: Wozu soll sie dienen? Ist diese Disziplin überhaupt erforderlich? Dass es nun eine reine Moralphilosophie geben müsse, so erklärt Kant, leuchte „von selbst aus der gemeinen Idee der Pflicht und der sittlichen Gesetze ein“ (AA IV, 389). Warum leuchtet das ein? Kant argumentiert hier zweistufig: zum einen in Bezug auf das gängige Verständnis der Begriffe „Pflicht“ und „Gesetz“ sowie zum anderen methodisch begriffsanalytisch, indem nach der logischen Funktion der beiden Begriffe gefragt wird.
Im Alltagsverstand drückt eine Pflicht die unbedingte Forderung aus, einer Anweisung auch gegen alle persönlichen Absichten nachzukommen. Pflichten, die sich an den Einzelnen richten und denen er entsprechend einer sozialen Rolle gerecht werden soll, und Gesetze, die alle Subjekte einer Gemeinschaft ansprechen, gelten gerade auch wider die eigenen Wünsche, Bedürfnisse oder Triebe. Kants Terminus „Neigung“ fasst Derartiges inbegrifflich zusammen. Insofern sind Pflichten und Gesetze „rein“, da sie eine allgemeine Forderung formulieren, die unabhängig von der individuell-neigungsmäßigen Disposition des Menschen zu erfüllen ist. Es ist jedoch festzuhalten, dass „Pflicht“ und „Gesetz“ keine abstrakt-reinen, sondern transzendental-reine Vorstellungen sind, da sie sich nicht auf rein gedankliche Strukturen, sondern auf den subjektiv-vernünftigen Aspekt des menschlichen Verhaltens, also indirekt auf gegenständlich materialisierte Geschehnisse (Zwecke) beziehen. Pflichten und Gesetze gelten also ausnahmslos und sind nicht willkürlich (je nach Neigung) außer Kraft zu setzen. Enthält eine Vorschrift situations- oder personenrelative Einschränkungen ihrer Gültigkeit, so handelt es sich dabei im engeren Sinne um kein wahres Gesetz bzw. keine Pflicht.
Was die methodische Analyse der beiden Begriffe betrifft, wird zunächst deutlich, dass es sich um keine abstrahierten Begriffe handeln kann (1). „Pflicht“ und das „sittliche Gesetz“ können keine (empirisch) abstrahierten Begriffe sein, weil die Basis der Abstraktion aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit und Kontingenz (also die sinnlich erfahrene Alltagswelt), sowie die bei jeder Abstraktion gegebenen Optionen der ‚Abstraktionsrichtung‘ (wovon soll in welcher Hinsicht abstrahiert werden?) in den (handlungs- und erkenntnistheoretischen) Relativismus führen würde. Pflichten und Gesetze sind demnach Setzungen des denkenden Subjekts und werden nicht irgendwelchen Geschehnissen der Welt ‚abgelauscht‘. Der Pflichtbegriff muss ja gerade als Maßstab der interpretativen Beurteilung sinnlich erfahrbarer Tätigkeiten als Erfüllungen von Pflichten diesen logisch voraus liegen. Dieser Maßstab kann nicht a posteriori gewonnen werden (d.h. logisch nach dem angetroffenen Gegenstand), sondern muss a priori dem zu bewertenden Tun vorhergehen, das gewissermaßen erst gemäß der Interpretation des Pflichtbegriffs als solches konstituiert wird (d.h. die besondere Eigengesetzlichkeit des Gegenstandes erschaffend). Weiter wird somit deutlich, dass „Gesetz“ und „Pflicht“ keine klassenbildenden Oberbegriffe mit empirischer Referenz sind (2).
Insofern es sich um apriorische und nicht-referentielle Vorstellungen handelt, sind die beiden Begriffe nach Kants „Stufenleiter“ der Vorstellungen der Kritik der reinen Vernunft (vgl. A 320/B 376f.) als Ideen zu bezeichnen (3). „Pflicht“ und „Gesetz“ sind zudem als Ideen (Vernunftbegriffe) zu verstehen, da „ein reiner Vernunftbegriff überhaupt durch den Begriff des Unbedingten“ (A 323/B 379) ausgedrückt ist. Pflichten und Gesetze verlangen vom Subjekt des Handelns ja gerade etwas, das unabhängig von Neigung, Situation und anderen empirischen Umständen getan werden soll.
Demnach handelt es sich um keine objekt-referierenden (Ober-)Begriffe, sondern vielmehr um subjekt-referierende Reflexionsbegriffe (4).6 Diese Begriffe artikulieren also das reflexive Verhältnis des Subjekts zu seinem Verhalten, d.h. sie klassifizieren das Verhalten gerade nicht als etwas nur Objektives. Die Verwendung des Terminus „Reflexionsbegriff“, den Kant im Amphibolie-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft einführt, ist hier zulässig, da in der Metaphysik der Sitten auch von einer „Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe“ gesprochen wird (vgl. AA VI, §16), die analog zur logisch-theoretischen Amphibolie durch transzendental-praktische Reflexion einsichtig gemacht werden kann. Der Zweideutigkeit (Amphibolie) des Reflexionsbegriffs „Pflicht“ (bzw. hier synonym: „Gesetz“) erliegt, wer die moralische Gemeinschaft der Rechts- und Pflichtverhältnisse aufgrund der Beziehung der Menschen als „Gegenstände der Erfahrung“ (AAVI, 442) verwirklicht sieht. Die Gemeinschaft gründet sich aber auf die Fähigkeit zur „aktiven und passiven Verpflichtung“ (ebd.) und nicht auf die materialen Träger dieses Vermögens. Diese Verwechslung – im Fall einer Verpflichtung – der gedachten transzendental-reinen Person mit dem korrespondierenden, sich verhaltenden empirischen Objekt führt zu dem „Missverstande […], dass [der Mensch] seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen für Pflicht gegen diese Wesen“ hält (ebd.).7 D.h. die Aufklärung der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe ist vor allem in ideologie-kritischer Hinsicht relevant, denn mit ihr ließen sich aus dem Prinzip der Autonomie falsche Pflichten gegenüber dem „Leblosen in der Natur“ und dem „lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe“ (AA VI, 443) sowie gegenüber Gott „als ein[em] gegebene[n] Wesen“ (ebd., 444) plausibel machen.8 Biozentristische oder theologische Ethiken lassen sich jedoch aus dem Prinzip der Selbst-Verpflichtung des autonomen Subjekts nicht deduzieren, obschon auch für die Autonomie-Ethik das Verbot der Naturausbeutung und der Tierquälerei sowie das Gebot einer moralischen Religion gilt – dies aber nicht absolut, sondern nur pragmatisch-relativ zum autonomen Subjekt.
„Pflicht“ und „Gesetz“ sind also Vorstellungen, die das Subjekt in indirektem Bezug zu den Objekten der Welt, d.h. beim Umgang mit diesen, von sich selbst hat. Es handelt sich also gerade deshalb um apriorische Begriffe (5), da diese in noch zu klärender Weise, ‚Forderungen‘ des Subjekts an seinen eigenen praktischen Weltbezug ausdrücken. Diese reflexionsbegrifflichen Momente können selbstverständlich auch abstrakt, d.h. außerhalb ihres Bezugs zum Subjekt des Denkens und Handelns, vorgestellt und so zu klassenbildenden Oberbegriffen werden; z.B. in Sätzen wie „alle Gesetze der BRD sind zu achten“ oder „die Pflichten eines Soldaten sind folgende …“. Allerdings ist dabei die Rede von „Pflicht“ oder „Gesetz“ aus Kants Sicht als uneigentlich zu bezeichnen, da sich letztlich doch immer noch versteckte Bedingungen der Forderungen finden ließen; z.B. wird die Pflicht eines Soldaten realiter wohl eher mit weniger Pathos als „Gehorsam“ zu bezeichnen sein, d.h. als Pflichterfüllung aus Furcht vor Sanktionen. Demnach handelte es sich um keine unbedingten, sondern nur um hypothetische Forderungen, was den Begriffen „Pflicht“ und „Gesetz“ nur annäherungsweise gerecht wird.
Kant muss es im Folgenden darum gehen, die begriffliche Notwendigkeit beider Vorstellungen für das Gelingen moralischen Handelns aufzuzeigen, um so seinen Vorschlag einer transzendental-reine Moralphilosophie zu bewähren. Zunächst erfolgt eine inhaltliche Bestimmung des Gesetzesbegriffs, die auch als die zentrale Schlüsseldefinition der gesamten Argumentation der Grundlegung aufgefasst werden kann:
„Jedermann muss eingestehen, dass ein Gesetz, wenn es moralisch, d.i. als Grund einer Verbindlichkeit, gelten soll, absolute Notwendigkeit bei sich führen müsse.“9
Diese Definition ist so wichtig, dass Kant sie persuasiv verstärken muss (jedermann muss eingestehen): Ein Gesetz artikuliert einen absoluten Anspruch auf Verbindlichkeit; es dient als Grundlage für etwas, das immer gelten soll. Kants Formulierung „gelten soll“ zeigt, dass die Ausführung des Gebots letztlich unter kontingenten Realisierungsbedingungen steht. Welchen Bedingungen muss aber ein moralisches Gesetz genügen, wenn es einen Anspruch auf Geltung in jedem Fall (uneingeschränkte, unbedingte Gültigkeit)10 und auf die Unmöglichkeit des Andersseins (Notwendigkeit) konsequent erheben soll? Es muss „absolute Notwendigkeit bei sich führen“ (AA IV, 389). Sonst wäre die Gültigkeit des Gesetzes relativ und somit im strengen Sinne kein Gesetz, da es nicht mehr bestimmte, dass „etwas immer so gelten soll“, sondern nur, dass etwas unter einer beliebigen Bedingung gelte.
Kants Beispiel, dass „das Gebot: du sollst nicht lügen, nicht etwa bloß für Menschen gelte […] und so alle übrigen eigentlichen Sittengesetze“, sondern Gebot für alle „vernünftigen Wesen“ sei, soll verdeutlichen, dass moralische Gesetze nicht durch das Faktum der „Natur des Menschen“ (AA IV, 389) begründet werden können. Aus Erfahrung, und daher ist die „Natur“ des Menschen bekannt, können keine unbedingten Grundsätze abgeleitet werden; eine abgeleitete Vorschrift dieser Art könne zwar „praktische Regel, niemals aber moralisches Gesetz heißen“ (ebd.). Die Natur des Menschen ist Gegenstand der empirischen Ethik, die je nach Fragestellung andere Aspekte und Verallgemeinerungen herausstellt. Alle Menschenbilder gründen in der Auszeichnung eines Aspekts des Menschen als einem Objekt: „Der Mensch ist das Lebewesen, das …“ lautet die Formel möglicher Antworten auf die Wesensfrage. Die Annahme eines eigentlichen Wesens des Menschen hätte mehr oder weniger begründete moralische Gesetze zur Folge, die aber nur relativ zur Anerkennung dieses Menschenbildes und eben keine absolute Geltung hätten. Weshalb sollte das Subjekt auch all sein Handeln und Streben an gerade dieser Bestimmung seiner selbst orientieren? Im Verweis auf ein Wesen des Menschen werden derartige Fragen früher oder später dogmatisch abgebrochen.
Deshalb, so erklärt Kant, ist eine transzendental-reine Metaphysik der Sitten „unentbehrlich notwendig, nicht bloß aus einem Bewegungsgrunde der Spekulation“, d.h. um kritisch zu bestimmen, was wahr ist, sondern auch, „weil die Sitten selber allerlei Verderbnis unterworfen bleiben, so lange jener Leitfaden und oberste Norm ihrer richtigen Beurteilung fehlt“ (AA IV, 390). Also ist eine Metaphysik der Sitten auch in pädagogischpraktischer Hinsicht relevant, da nur der explizierte