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Maurice-Ruben Hayoun

Leo Baeck

Repräsentant des liberalen Judentums

Aus dem Französischen von
Alexandra Maria Linder

 

 

 

 

 

 

 

 

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Impressum

 

 

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Inhalt

Danksagungen

Einleitung
Das Jahrhundert nach Moses Mendelssohn (1729–1786)

Allgemeines

Moses Mendelssohn

Der Niedergang der jüdischen Tradition in Europa

Mendelssohns Auffassung vom Judentum

Das Erbe Mendelssohns

Samuel Holdheim (1806–1860), heterodoxer Rabbiner und Gegner des Talmuds

Samson-Raphael Hirsch, ein Meister der Neuorthodoxie

Die verschiedenen orthodoxen, historischen und Reformströmungen des deutschen Judentums

Der seltsame Weg des David Friedländer (1750–1832)

Der 200. Geburtstag Moses Mendelssohns: eine Hommage von Leo Baeck

Teil I
Von Lissa nach Oppeln und Düsseldorf (1873 bis 1911)

Kapitel 1
Die Ursprünge

Allgemeines

Lissa, Leszno, ein wichtiges Zentrum für Talmudstudien

Der Vater von Leo Baeck: Samuel Baeck (1834–1912)

Das Johann-Amos-Comenius-Gymnasium in Lissa

Kapitel 2
Die Lehrjahre im Jüdisch-Theologischen Seminar Breslau

Allgemeines

Die Wissenschaft des Judentums: vom Manifest Immanuel Wohlwills (1823) bis zum abtrünnigen Eduard Gans

Die Einrichtung und religiöse Ausrichtung des Jüdisch-Theologischen Seminars von Breslau

Der Eindruck, den Heinrich Grätz (1817–1891) auf Leo Baeck hinterlassen hat

Kapitel 3
Berliner Studien (1893 bis 1897) – zwischen Wilhelm Dilthey und Abraham Geiger

Vorbemerkungen: Bruch mit dem väterlichen Erbe?

Die Ideen Wilhelm Diltheys (1833–1911) und ihr Einfluss auf Leo Baeck

Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums von Berlin

Abraham Geiger, spiritus rector der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums

Die Berufung Abraham Geigers nach Berlin

Geigers Auffassung von der Wissenschaft des Judentums

Die Aufgabe der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums

Die Dissertation über die Anfänge des Einflusses Spinozas in Deutschland

Charakteristische Eigenschaften Spinozas

Die jüdische Erziehung Spinozas in Amsterdam

Kapitel 4
Eine brillante Karriere als geistlicher Leiter – vom schlesischen Marktflecken in die deutschen Metropolen

Allgemeines

Erste Anstellung als Rabbiner in Oppeln

Die Stellung des Talmuds und des mündlichen Gesetzes

In Düsseldorf

Den christlichen Bekehrungseifer eindämmen

Radikale protestantische Kritik am Katholizismus: Rückkehr zum Judentum?

Die Geschichte Israels und die Neufassung der Tradition durch König Josia, Jesus

Das Judentum und der interreligiöse Dialog

Ein glühender Kämpfer für den jüdischen Glauben

Teil II
In Berlin (1912 bis 1933)

Kapitel 5
Eine gefährliche und instabile Welt – von Wilhelm II. zur Weimarer Republik

Allgemeines

Die ersten Jahre in Berlin: Ende 1912

Der große Krieg – als Feldgeistlicher an der Ost- und Westfront

In der Weimarer Republik

Die Suche nach Wahrheit, Sozialethik und ewigem Frieden

Die Konfrontation mit dem entstehenden Christentum

Ein geistlicher Leiter in einer instabilen Welt

Wie die wachsenden Gefahren abwenden?

Anhang: Die Aphorismen Leo Baecks

Kapitel 6
Im Rabbineramt unumstritten

Allgemeines

Leopold Stein (1810–1883), liberaler Rabbiner und Anhänger gemäßigter Reformen

Professor an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin

Der geschätzte Rabbiner

Leo Baeck und die zionistischen Organisationen in Deutschland

Die Großloge Bne Briss (B’nai B’rith)

Teil III
Die dunklen Jahre (1933 bis 1945)

Kapitel 7
Wachsende Bedrohung – unter der Gewaltherrschaft Hitlers

Allgemeines

Sich langsam der Gefahr bewusst werden: der Schock der Nürnberger Rassengesetze

Die „Reichskristallnacht“ und das Attentat auf Ernst von Rath

Von der Reichsvertretung der Deutschen Juden zur Reichsvereinigung der Juden in Deutschland

Die Kritik an der Reichsvereinigung (1939 bis 1945)

Das Schicksal der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums im Krieg

Kapitel 8
Im Lager Theresienstadt (1943 bis 1945) – geistlicher Widerstand

Allgemeines

Das Leben in Theresienstadt, geschildert von Hans Günther Adler

Geistlicher Widerstand in der Bedrängnis: Vorträge und Seelsorge

Die moralische Stellung Leo Baecks im Lager von Theresienstadt

Die Vorlesung über Geschichtsschreibung am 15. Juni 1944

Die Befreiung des Lagers: Leo Baeck und die Sorge um andere

Teil IV
Die Hoffnung auf Erneuerung und das Werk des Erbauers (1945 bis 1956)

Kapitel 9
Eine Welt aus Ruinen wieder aufbauen

Allgemeines

Nazideutschland: ein ausschließlich von Verbrechern bewohntes Land?

Die Entwicklung und Bewahrung des intellektuellen und spirituellen Erbes des deutschen Judentums

Eine Hymne an die vergangene Größe der deutschen Geistesgeschichte

Das Judentum von morgen zeitgemäß wieder aufbauen

Der wieder aufgenommene Dialog mit dem Christentum, mit Europa und mit dem neuen Deutschland

Doch wer war Jesus? Debatten um eine historische Gestalt

Kapitel 10
Das Werk Baecks: zwischen Philosophie und Theologie

Dieses Volk oder der Sinn jüdischer Existenz

Die Bildung der jüdischen Identität

Ethik und Geschichte

Die Bibel und Gottes Wort

Die jüdische Geschichte, ein Rätsel

Die Entwicklung des Glaubens Israels

Israel und die anderen

Europa und die Aufklärung

 

Schluss

 

Anmerkungen

Bibliographie

Verzeichnis der Eigennamen

 

Danksagungen

Eine Biographie, die einer deutsch-jüdischen Persönlichkeit vom Format eines Leo Baeck gewidmet ist, ist für mich ein wirkliches Erlebnis.

Nach meiner Übersetzung seiner drei Hauptwerke, die zwischen 1992 und 2007 vor allem bei Armand Colin, Bayard und den PUF erschienen sind, musste einfach eine biographische Bearbeitung folgen. Dies wurde durch Armand Colin in Angriff genommen, und ich muss daher gleich zu Beginn dem liebenswürdigen Verlagsleiter, Herrn Jean-Christophe Tamisier, große Anerkennung zollen, denn er hat dieses Projekt mit Begeisterung und Wohlwollen auf- und angenommen. An ihn richtet sich mein aufrichtiger Dank. Diese Danksagungen wären jedoch nicht vollständig ohne die Nennung von Frau Corinne Ergasse, die meinen Text gelesen und den Index vorbereitet hat. Ich bin sehr gerührt über das Engagement, mit dem sie sich um dieses Werk gekümmert hat.

Meiner Familie, die mich immer unterstützt hat, verdanke ich unglaublich viel: vor allem Danielle, aber auch meiner Schwester Raymonde und unseren Töchtern Laura-Sarah und Clara-Lise, die sich über Jahre mit stoischer Ruhe alles über Leo Baeck angehört haben, ohne ihre gute Laune zu verlieren – meistens jedenfalls.

Ohne meine ehemaligen deutschen Studenten der Universität Heidelberg, meine Studenten der Universität Genf und vor allem ohne meinen Freund Joseph Rueff hätte ich dieses Projekt niemals zu einem guten Ende führen können.

Außerdem grüße ich zwei Freunde, die für zwei Institutionen in Deutschland tätig sind: Herrn Professor Dr. Harald Braun, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, und Herrn Dr. Ulrich Bopp, der mir sehr geholfen hat, als er die Robert Bosch-Stiftung in Stuttgart leitete. Die Hilfe, die sie mir großzügig gewährt haben, werde ich nie vergessen.

Sehr herzlich danken möchte ich auch meinem Freund, Herrn Elie Chetrit, der mir sofort geantwortet hat, als ich ihn bei der Herausgabe des allerersten Werkes von Leo Baeck, seines philosophischen Testaments, um Hilfe bat: Dieses Volk. Jüdische Existenz.

Erinnern möchte ich hier außerdem an zwei hochgeschätzte, verstorbene Freunde, die an meinen Forschungen immer großes Interesse gezeigt haben: Leon Levy (sel. A.) und Irene Vera Steiner (sel. A.). Wenn dieses Werk erscheinen wird, verdanken wir das auch diesen beiden Menschen.

M.-R. H.

Einleitung

Das Jahrhundert nach Moses Mendelssohn (1729–1786)

Allgemeines

Leo Baeck (1873–1956) wurde ein knappes Jahrhundert nach dem Tod des Mannes geboren, der einhellig als Begründer des Judentums in Preußen und später in Deutschland und Europa angesehen wird. Damit ist er der Vater des modernen Judentums, der Denker, der der Tradition der Vorfahren treu geblieben ist, ohne sich dem außergewöhnlich fruchtbaren Beitrag der europäischen Kultur zu verschließen.

Leo Baeck, dessen Leben wir hier nachverfolgen und dessen Werke wir vorstellen werden, ist also auch ein Erbe des Mendelssohn’schen Judentums. Seine schulische Erziehung erfolgte gemäß der Erziehungsreform, die von dieser Galionsfigur der Berliner Aufklärung initiiert worden war, und er musste sich mehrere Male in seinem Leben mit dem intellektuellen und spirituellen Vermächtnis seines berühmten Vorläufers auseinandersetzen, in der Hoffnung, den Juden dabei zu helfen, sich bestmöglich in ihre europäische Umgebung zu integrieren.

Mendelssohn befand sich an einem Scheideweg, als er die jüdische Identität oder, wie man in Deutschland zu sagen pflegte, das Wesen des Judentums definierte. Diese Problematik war auch mitten im Herzen und im Werk von Leo Baeck verankert.

Auch wenn es im Leben und Denken dieser beiden bedeutenden deutsch-jüdischen Gestalten bemerkenswerte Unterschiede gibt, so sind sie doch in vielen grundlegenden Punkten einig, darunter besonders in der Notwendigkeit für das Judentum, sich der Kultur der sie umgebenden Welt zu öffnen, weil es bei dieser kulturellen Konfrontation nichts zu befürchten gebe. Später wird, wie wir noch sehen werden, ein tiefgründiger Philosoph wie Hermann Cohen (1842–1918), der Baeck sehr inspiriert hat, sagen, dass das Judentum eine Kulturreligion sei, das heißt eine harmonische Verbindung aus beidem, Kultur und Religion.

Zu Beginn hatten weder Mendelssohn noch Baeck die Bestimmung, eine solch große Gemeinschaft zu einem Wendepunkt ihrer Existenz zu führen: Sollte man das Spiel der Emanzipation, das nach Jahrzehnten der Ausflüchte von den preußischen Autoritäten offen angeboten wurde, naiv mitspielen, jedoch ohne Hoffnung, auf diese Weise die bürgerlichen Rechte, die Staatsangehörigkeit oder die vollständige Integration zu erreichen? Oder sollte man ganz im Gegenteil dem Beispiel Heinrich Heines folgen, der empfahl, „den Talmud über Bord zu werfen“, um sich in die europäische Ethnie und Kultur zu versenken? Und schließlich zu verschwinden … Es ist bekannt, dass dieser Schriftsteller und Dichter seine Entscheidungen nie bis zum Ende geführt hat. In jungen Jahren war er Mitglied der Bewegung, die sich für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum einsetzte, auf seinem Sterbebett bereute er bitterlich, dass er der Religion seiner Väter abgeschworen hatte, um Christ zu werden.

In der Debatte standen sich eine janusköpfige Emanzipation mit einem sichtbaren lächelnden Gesicht sowie einem verborgenen Fratzengesicht und eine jüdische Orthodoxie gegenüber, die man genauso gut eine „Stereodoxie“ nennen könnte, da sie sich nämlich hermetisch in ihren Positionen verschanzte und sich weigerte, auch nur eine Handbreit Terrain aufzugeben, auch nur die leiseste Konzession an die Moderne zu machen. Viele Male musste Leo Baeck sich fragen, wer in diesem manichäischen Schema, in dem das Denken dazu verdammt war, zwischen zwei antinomischen Kategorien hin- und herzuschwanken, Recht hatte. Wie wir im Verlauf des Buches sehen werden, hat Baeck einen ganz eigenen Weg gewählt, den der goldenen Mitte, der von seinem mittelalterlichen Vorgänger Moses Maimonides so eloquent empfohlen worden war.

Wenn man das intellektuelle Bemühen Baecks analysiert, mit dem er das Judentum seiner Zeit bereinigen, regenerieren und lebendig halten wollte, würde man sagen, dass es zwei Modelle gab: die beiden Moses-Modelle, eines aus dem 12. Jahrhundert n. Chr., welches Aristoteles wieder aufnahm, und eines Ende des 18. Jahrhunderts, das für ein subtiles, von der Natur her eigentlich instabiles Gleichgewicht zwischen der Treue zur jüdischen Identität und dem machtvollen und verlockenden Reiz der kulturellen Reichtümer Europas optierte. Sein ganzes Leben lang sann Baeck darüber nach, er, der jeden Morgen gemeinsam mit seinem Vater, einem für seine Zeit sehr aufgeklärten Rabbiner, sein tägliches Gebet verrichtete, eine Seite des Talmuds studierte und sich zum Abschluss in einen Text von Aischylos oder Sophokles versenkte, die er im Original las.

Doch kannte das Jahrhundert nach Mendelssohn noch weitere große Gestalten des Judentums, von denen eine bedeutender war als die andere. Es sind diese Persönlichkeiten, diese Denker und Philosophen, große Gelehrte, die wir in Erinnerung rufen, um das breite Spektrum darzulegen, das Leo Baeck durchlaufen hat und das von Moses Mendelssohn bis zu Martin Buber (gest. 1965) reichte.

Moses Mendelssohn

Das erfolgreiche Integrationsmodell von Mendelssohn (aber nicht das seiner eigenen Kinder) ist immer noch einzigartig. Um zum Geheimnis dieses großen, den Praktiken seiner jüdischen Ahnen treu gebliebenen Philosophen zu gelangen, genügt es, ihm selbst das Wort zu erteilen. Er hat uns einen kleinen autobiographischen Abriss hinterlassen: 1774 auf Anfrage des Bibliothekars Jakob Spieß (gest. 1814) und 1782 in seiner Einleitung zu den Vindiciae Judaeorum (1656) des Amsterdamer Rabbiners Menasse ben Israel, die der Schüler und Freund Mendelssohns, der Arzt Marcus Herz, aus dem Englischen übersetzt hatte. Mendelssohn schreibt:

Ich bin im Jahre 1729 zu Dessau geboren. Mein Vater war daselbst Schulmeister und Zehngebotschreiber, oder Sopher. Unter Rabbi Fränkel, der damals in Dessau Oberrabbiner war, studierte ich den Talmud. Nachdem sich dieser gelehrte Rabbi, durch seinen Commentar über den hierosolymitanischen Talmud, bei der jüdischen Nation großen Ruhm erworben, ward er etwa im Jahre 1743 nach Berlin berufen, wohin ich ihm noch in demselben Jahre folgte. Allhier gewann ich durch den Umgang mit dem nachherigen Doctor der Arzneigelartheit, Herrn Aron Gumpertz (der vor einigen Jahren zu Hamburg verstorben), Geschmack an den Wissenschaften, dazu ich auch von demselben einige Anleitung erhielt. Ich ward hierauf in dem Hause eines reichen Juden Informator, hernach Buchhalter, und endlich Aufseher über desselben seidene Waaren-Manufactur, welches ich noch auf diese Stunde bin. In meinem drei und dreißigsten Jahr habe ich geheirathet, und seitdem sieben Kinder gezeugt, davon fünfe am Leben. Übrigens bin ich nie auf einer Universität gewesen, habe auch in meinem Leben kein Collegium lesen hören. Dieses war eine der größten Schwierigkeiten, die ich übernommen hatte, indem ich alles durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen mußte. In der That trieb ich es zu weit, und habe mir endlich durch Unmäßigkeit im Studiren seit drei Jahren eine Nervenschwäche zugezogen, die mich zu aller gelehrten Beschäftigung schlechterdings unfähig macht.

(Moses Mendelssohn an Johann Jacob Spieß, 1. März 1774)

In diesen wenigen Zeilen ist alles gesagt: über die bescheidenen Anfänge, wie er mit 14 Jahren sein Elternhaus verlässt, die unter Leitung eines bedeutenden Rabbiners absolvierten Studien und das Betreiben „profaner“ Wissenschaften aus eigenen Mitteln, wie ein echter Selfmademan. Diese nüchterne Beschreibung macht die zutiefst moralische Einstellung des großen Philosophen sichtbar: Er widmet den Menschen, denen er alles verdankt, eine Hommage: dem Mann, der ihm vertraute und ihn in seine Dienste nahm, dem großen Rabbiner Fränkel nämlich, der ihn nach Berlin holte; ohne diesen Schritt wäre er in seinem Heimatstädtchen Dessau dahinvegetiert. Außerdem Dr. Aron Gumpertz, der ihn lehrte, über die vier Ellen des Talmuds und des Midrasch hinauszugehen. Das ist bis auf wenige Details der Lebenslauf, dem Baeck ein Jahrhundert später folgen würde.

Was war Mendelssohn tatsächlich anderes als ein Maimonides, der sich mit der Leibniz-Wolff-Schule identifizierte und Spinoza mit kritischem Blick gelesen hatte? Diese maimonidische Nachfolge wurde durch den jüdischen Denker von Berlin weiter vorangetrieben, selbst nachdem er zur Galionsfigur der Aufklärung geworden war. Das persönliche Schicksal der beiden Moses zeigt einige Ähnlichkeiten. Während Mendelssohn weder die Persönlichkeit noch das kritische Werk des berühmten Amsterdamer Glasschleifers Spinoza literarisch aufnahm, widmete Baeck ihm seine Doktorarbeit und analysierte seinen Einfluss auf die deutsche Philosophie sehr genau.

Die beiden Moses, Maimonides und Mendelssohn, waren ständig sozio-religiösem Druck ausgesetzt und mussten Angriffe und Verleumdungen der Außenwelt oder aus den eigenen jüdischen Reihen überstehen. Nach seinem Aufenthalt in Fes, wo er wie ein Kryptojude gelebt hatte, wurde Maimonides angeklagt, zum Islam konvertiert zu sein. Was Mendelssohn angeht, so wurde er öffentlich von Johann Kaspar Lavater, einem enthusiastischen Züricher Diakon, angegriffen. Dieser forderte ihn auf, das zu tun, was ihm seine Courage, intellektuelle Redlichkeit und Liebe zur Wahrheit gebieten würden, nämlich das Judentum zu verlassen.

Maimonides schrieb den Führer der Verwirrten, um seine Religion gegen den neu-aristotelischen Sturm seiner Zeit zu verteidigen, Mendelssohn fühlte die Notwendigkeit, sein Werk Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum zu schreiben, um dem Europa der Aufklärung zu zeigen, dass die Religion Israels entgegen den antisemitischen Vorurteilen eben nicht exklusiv sei. Man neigt ein wenig dazu, das zu vergessen, doch das erste bedeutende Werk des jungen Rabbiners Leo Baeck, Wesen des Judentums (1905), wollte eine Antwort sein auf das provozierende Buch des protestantischen Theologen Adolf von Harnack (1851–1930) mit dem Titel Wesen des Christentums (1900). Man entdeckt damit bei den drei jüdischen Denkern Maimonides, Mendelssohn und Baeck eine Art Schicksalsgemeinschaft.

Der Weise aus Fostat und der Philosoph aus Berlin haben versucht, das Judentum ihrer jeweiligen Zeit zu „modernisieren“, beide stießen auf beträchtlichen Widerstand, der ihrer Reputation ein wenig schadete. Beide waren sozusagen „Außenseiter“: Sie waren keine Rabbiner, sie standen keiner jüdischen Gemeinde vor, waren keine Professoren (jedenfalls was Mendelssohn betrifft). Dennoch unternahmen beide große Anstrengungen, das zeitgenössische Judentum zu stärken.

Ohne identisch zu sein, sind ihre jeweiligen Auffassungen vom Judentum nicht weit voneinander entfernt. Mendelssohn unterschied im Wesentlichen drei Elemente im Schoß des Judentums: ein lehrmäßiges Element, das sich mehr oder weniger an die Naturreligion angeglichen hatte, eine Offenbarung, deren Inhalt ausschließlich gesetzgebend war (und in keiner Weise ein Korpus philosophischer Vorstellungen), und schließlich das durch die Geschichte übertragene Erbe. Dieser Wille, zu zeigen, dass die wesentlichen Doktrinen des Judentums nichts der Offenbarung verdanken, verrät eine solide Neigung Mendelssohns zur Autonomie der menschlichen Vernunft. Die genannte Dreiteilung des Judentums ist leicht zu verstehen: Die ewigen Wahrheiten, wie man es im 18. Jahrhundert nannte, konnten sich nicht auf die Offenbarung gründen, auf dieses einzigartige Ereignis, das nur einer kleinen Gruppe von Menschen vorbehalten war und damit den Universalcharakter einschränkt. Nur Positivgesetze oder religiöse Vorschriften (Mitzwot) könnten Gegenstand einer Offenbarung sein, und schließlich könnten Wunder die ewigen Wahrheiten weder auf- noch entwerten. Leo Baeck trat in die Fußstapfen eines berühmten Vorgängers, als er zeigte, dass das Judentum keine Dogmen kennt.

Diesem universalistischen Zugang zum Judentum gab Mendelssohn wesentliche Bedeutung, und zwar aus folgendem Grund: Auf diese Weise mussten die Heiden, die sich aus purer menschlicher Vernunft zum Monotheismus bekehrten, das Recht auf die zukünftige Welt haben, mit anderen Worten: auf die ewige Glückseligkeit, ein Leben im Jenseits. Eine andere Unterteilung der fundamentalen Inhalte des Judentums hätte es Mendelssohn nicht erlaubt, seine universalistischen Ideale aufrechtzuerhalten. Vernunft oder Rationalität war ein unantastbares Prinzip des Jahrhunderts der Aufklärung. Auch ist erkennbar, dass Mendelssohn am Ende seines Lebens den Rückgriff auf eine klassische Philosophie mehr und mehr aufgab, um sich an eine Philosophie des gesunden Menschenverstandes zu halten, die sich weitestgehend auf die Vernunft stützte.

Bei Maimonides begegnet man fast demselben Glauben an den konzeptuellen Zugang zur Religion: der fundamentalen Einheit zwischen Offenbarung und Vernunft, zwischen religiöser Tradition und philosophischer Spekulation, und der Überzeugung, dass das Ergebnis dieser polaren Spannung für den Menschen auf der Suche nach Wahrheit nur gewinnbringend sein könne.

Die Maskilim, die jüdischen Anhänger der Aufklärung, vor allem diejenigen, die das hebräische Journal Ha-Meassef gründeten (1784), entwarfen das Bild eines Maimonides, der in dieser Form lediglich in ihrer erfinderischen Einbildung existierte. Dieser Wille, Maimonides in den Dienst der Haskala zu stellen, indem man eine direkte Linie zu ihrem eigenen zeitgenössischen Helden Mendelssohn zog, wurde von einer Typologie begleitet, die die beiden Moses einander gleichstellen wollte, den von Córdoba und den von Dessau/Berlin. Wenn man glaubt, den Einfluss eines Philosophen auf einen anderen identifiziert zu haben, muss man sich zunächst vergewissern, dass diejenigen, die diesen Einfluss sehen wollen, nicht das, was sie in ihrer Quelle finden wollen, einfach übertragen: Was über Maimonides im Verlauf des 14. Jahrhunderts vermutet wurde – wo der entstehende jüdische Averroismus in ihm einen Schüler des Averroes (gest. 1198) sehen wollte, der seinen wahren Namen verbarg –, geschah vielleicht am Ende des 18. Jahrhunderts erneut, als die Maskilim im Verfasser des Buches Führer der Verwirrten einen Anhänger der Säkularisierung sehen wollten. In den Zeitungsspalten von Ha-Meassef (1785, S. 81), konnte man den berühmten Satz aus jener Zeit lesen: „Von Moses [Maimonides] zu Moses [Mendelssohn] hat es keinen ebenbürtigen Moses gegeben.“

Diese Ähnlichkeit zwischen Maimonides und Mendelssohn, die von den jüdischen Anhängern der Aufklärung so geduldig gestrickt worden war, wurde von Leo Baeck als offensichtlich vorhanden betrachtet. Sie ist Teil seiner Postulate: Inspiriert durch die Bildung eines deutschen Juden schöpfte Leo Baeck aus Mendelssohn genauso viel wie aus Maimonides, der der breiten und tiefgehenden Reform des jüdischen Erziehungswesens als Bürge diente.

Doch wie alle reformatorischen und innovativen Denker konnten auch Maimonides und Mendelssohn nie im Namen des gesamten Judentums ihrer Zeit sprechen. In der hebräischen Korrespondenz von Mendelssohn finden wir einen Briefwechsel mit zwei bekannten ultra-konservativen Rabbinern seiner Zeit: Jacob Emden (1697–1776) und Jonathan Eibeschütz (1690–1764). Diese beiden Gelehrten bemühten sich, die alte Tradition vollständig zu bewahren, während Mendelssohn mit jeder Faser seines Körpers danach strebte, eine neue Welt entstehen zu lassen, in der das Judentum, seiner authentischen Tradition treu, sich mit dem Geist der Zeit versöhnen und dort seinen Platz finden würde. Im Grunde ist dies das gleiche Dilemma, das Leo Baeck seinerzeit erlebte, dessen größter Verdienst, wie wir noch zeigen werden, es war, die unterschiedlichen, teilweise einander entgegengesetzten Strömungen des zeitgenössischen Judentums zum gemeinsamen Wirken zu bringen. Es reichte nicht aus, um die Gefahren, die dem Judentum während der nationalsozialistischen Diktatur auflauerten, vollständig zu bannen, sollte sie jedoch etwas verringern.

Der Niedergang der jüdischen Tradition in Europa

Leo Baeck wusste, dass die jüdische Tradition bei ihrer ersten Konfrontation mit der europäischen Kultur einige Jahrzehnte vor Mendelssohns Geburt einen beginnenden historischen Niedergang erlebte: Zwischen 1700 und 1750 – dem Jahr, in dem Mendelssohn seine hebräische Zeitschrift Kohelet Musar (Der Sittenprediger) gründete – waren die Würfel gefallen. Die darauf folgenden Jahre bestätigten diese Tendenz: Die traditionellen Studien und Positionen, die von den Rabbinern und Leitern der Talmud-Akademien besetzt wurden, waren im Niedergang begriffen. Im Allgemeinen optierten die zeitgenössischen Zeugnisse der Maskilim und jüdischen Philosophen entschlossen für die Moderne und gegen die Antike.

Dennoch kann man auf einige Erklärungen Bezug nehmen, die sich die Sache der alten Tradition zu eigen machten; so zum Beispiel der berühmte Talmud-Gelehrte Jonathan Eibeschütz, der sich (Ja‘arot devasch I, 48b) bitter über die Laienvorsitzenden der Gemeinschaft beklagte, die nichts als eigene Ehrenämter anstreben und eifersüchtig über ihre Privilegien wachen würden. Wenn man es gegenüber einem Rabbiner oder einem traditionellen Gelehrten an Respekt mangeln ließe, würden keinerlei Sanktionen gegen den Schuldigen ergriffen; wenn es sich aber nur um einen Gemeindeleiter handele, ginge man so weit, über die Zuwiderhandelnden den Bann auszusprechen.

Auch Jacob Emden (in Scha’are Schamajim, 76a) stigmatisierte den Willen der Juden seiner Zeit, sich gesellschaftlich an ihre christliche Umgebung anzupassen: Vor allem die Frauen rivalisierten mit ihren christlichen Nachbarinnen in Bezug auf Mode und Eleganz. Sogar die jüdischen Dienerinnen würden sich beteiligen. Jesaja 3,16 paraphrasierend, ruft er aus: „Ich fühle mich von den Töchtern Zions abgestoßen, die mit aufgerichtetem Halse gehen …“. Der Notar Nicolas von Bonn notierte, dass die Juden lernten, die deutsche Schrift zu lesen und zu schreiben, um ihre Kaufverträge besser aufsetzen zu können. Bis dahin hatten sie ihre Buchhaltung in hebräische Schriftzeichen transkribiert. Diese Mutation vollzog sich auf Kosten der traditionellen Bildung: Um für ihren Unterhalt zu sorgen, waren die wenig darüber erfreuten Familienväter gezwungen, ihre Söhne im Alter von dreizehn Jahren, wenn sie religiös als volljährig galten, arbeiten zu lassen – manchmal sogar noch früher. Dies beraubte die Talmudschulen ihres inständig ersehnten Nachwuchses. In seinen Erinnerungen lobt Jacob Emden eine seiner Ehefrauen, die sich um die religiöse Erziehung ihrer Kinder sehr gut kümmern würde. Doch alle jüdischen Familienmütter am Ende des 17. und Beginn des 18. Jahrhunderts waren nicht die Tochter oder Ehefrau eines Rabbiners!

Eibeschütz beklagt, dass man den Kindern – auch den Mädchen! – Französisch, Italienisch und Deutsch beibringe, sogar das Tanzen, aber nicht eine einzige Stunde für den Talmud fände, der damit in Gefahr geriete, außer Gebrauch zu kommen. Man könne, so fügt er hinzu, sich nicht damit zufriedengeben zu beten, ohne zu begreifen, was man da rezitiere. Auch könne man die Bildung der Kinder nicht unfähigen und inkompetenten Menschen anvertrauen. Selbst Mendelssohn beklagte sich bei einem seiner galizischen Schüler, Herz Homberg, über die Inkompetenz der traditionellen Lehrer, und vertraute die Erziehung seines ältesten Sohnes Joseph anderen Menschen an. Joseph war übrigens der einzige Sohn, der der jüdischen Tradition treu blieb.

Der Niedergang der Tradition betraf auch tiefste Bereiche der menschlichen Existenz: War es bei den Juden üblich gewesen, sich mit ungefähr achtzehn Jahren zu verheiraten, so geriet diese Praxis nach und nach außer Gebrauch. In einer seiner ersten Predigten in Hamburg kurz nach seiner Wahl prangerte Jonathan Eibeschütz das Verhalten jener an, die ihre Heirat abwarten würden, bis sie große Ersparnisse angehäuft hätten, um ihre Kinder ernähren zu können. Mendelssohn, der den fortschrittlichsten Flügel des Judentums seiner Zeit repräsentierte, nahm sich erst mit 33 Jahren eine Frau, und Naftali Herz Wessely, sein treuer Mitarbeiter und Lieblingsschüler, wartete sogar bis zu seinem 45. Lebensjahr.

Doch weder Emden noch Eibeschütz waren erbitterte Gegner der weltlichen Wissenschaften. Sie waren lediglich alarmiert über deren Entwicklung zum Schaden der traditionellen Fächer. Eibeschütz zitiert in seinen Schriften bestimmte astronomische Werke, bedient sich bei den Deisten, die es verstehen, die biblischen Wunder anzufechten, und interessiert sich für Neuheiten seiner Zeit. Was Emden angeht, so hinderte ihn die Tatsache, dass er den Führer der Verwirrten von Maimonides heftig bekämpfte, nicht daran, sich dessen Vokabular anzueignen und sich gelegentlich in der Sprache der mittelalterlichen hebräischen Übersetzer auszudrücken, der Tibboniden.

Was in den Erläuterungen dieser beiden Rabbiner auffällt, ist ein Satz, der sich mit kleinen unterschiedlichen Details bei beiden findet: „Lihiot me’orab ‘im habiriot bei Emden (mit den Kreaturen vermischt sein, d.h. mit den anderen Menschen); „Lihiot nivla’ im habiriot“ bei Eibeschütz (unter den Kreaturen eingeschlossen sein). Hier ist hervorzuheben, dass keiner von beiden Gojim, Nichtjuden, oder Ummot, Nationen, verwendet. Sie betrachten die Menschheit als eine einzige, unteilbare Einheit.

Mendelssohn hat zeit seines Lebens einen zweifachen Kampf geführt: gegen die Intoleranz der christlichen Welt und gegen die genauso heftige Intoleranz, auf die man inmitten der gegenüber jeglicher Neuerung oder Reform misstrauischen jüdischen Gemeinschaften traf.

Bei Erscheinen seiner kommentierten Übersetzung des Pentateuchs, des Bi’ur, musste Mendelssohn sehr verletzende Schmähungen ertragen. So konnte er die Heftigkeit mancher rabbinischer Reaktionen ermessen, die dem neuen Geist besonders feindlich gegenüberstanden: Das „Verbrechen“ von Mendelssohn und seinen Mitarbeitern war es, den Söhnen des Ghettos das Erlernen der deutschen Sprache und die Fähigkeit, die Bibel korrekt in diese Sprache zu übersetzen, zu empfehlen.

Am 19. März 1782 vollendete er sein berühmtes Vorwort zum Text des Rabbiners Menasse ben Israel für die Wiederzulassung der Juden in England. Es ist ein flammendes Plädoyer für Toleranz, auch unter den Juden selbst.

Ach! Meine Brüder! Ihr habt das drückende Joch der Intoleranz bisher allzuhart gefühlt, und vielleicht eine Art von Genugthuung darinn zu finden geglaubt, wenn euch die Macht eingeräumet würde, euern Untergebenen ein gleichhartes Joch aufzudrücken. Die Rache suchet ihren Gegenstand, und wenn sie anders nichts anhaben kann; so nagt sie ihr eigenes Fleisch. Vielleicht auch ließet ihr euch durch das allgemeine Beispiel verführen. Alle Völker der Erde schienen bisher von dem Wahne bethört zu seyn, daß sich Religion nur durch eiserne Macht erhalten; Lehren der Seligkeit nur durch unseeliges Verfolgen ausbreiten, und der wahre Begriff von Gott, der nach unser aller Geständniß, die Liebe ist, nur durch die Wirkung des Hasses mittheilen lassen. Ihr ließet euch vielleicht verleiten eben dasselbe zu glauben, und die Macht zu verfolgen war das euch wichtigste Vorrecht, das eure Verfolger euch einräumen konnten. Danket dem Gotte eurer Väter, dancket dem Gotte, der die Liebe und die Barmhertzigkeit selbst ist, daß jeder Wahn sich nach und nach zu verlieren scheinet. Die Nationen dulden und ertragen sich einander, und lassen auch gegen euch Liebe und Verschonung blicken, die unter dem Beystande desjenigen, der die Herzen der Menschen lenkt, bis zur wahren Bruderliebe anwachsen kann. O meine Brüder! Folget dem Beyspiel der Liebe, so wie ihr bisher dem Beyspiele des Hasses gefolgt seyd! Ahmet die Tugend der Nation nach, deren Untugend ihr bisher nachahmen zu müssen geglaubt. Wollet ihr gehegt, geduldet und von andern verschonet seyn; so heget und duldet und verschonet euch unter einander! Liebet; so werdet ihr geliebet werden!

1860, achtzig Jahre nach Veröffentlichung dieser unsterblichen Sätze, dichtete Moritz Rappaport aus Leipzig folgende Zeilen als Hommage an Mendelssohn:

„In Nacht und Stumpfsinn war das Volk versunken,

In’s Grab der Ahnen zog es sich zurück,

Da naht ein Moses mit den Geistesfunken

Als Flammensäule dem erstaunten Blick.

Er zieht voran ihm mit den milden Strahlen,

Und Israel folgt treu der lichten Spur,

und führt es durch das Meer uralter Qualen

In das gelobte Land hin der Kultur.

[…]

Nur mußt du selber kraftvoll dich erheben,

Und wirken, wie’s der Mann aus Dessau that;

Nach echter Bildung sei dein höchstes Streben,

Doch pfleg’ auch treu die alte, heil’ge Saat.

Erheb’ dich zu des Daseins klaren Höhen,

So wahrst du schön des todten Meisters Ruhm!

Und Hand in Hand, sich stets ergänzend, gehen

Die neue Zeit – das alte Judentum!“1

Es wird schwer sein, einen noch mehr lobenden schriftlichen Beleg zu finden: Das Gründungsereignis der Geschichte Israels dient dazu, die emanzipatorische und zivilisatorische Tätigkeit Mendelssohns zu rühmen. Das gelobte Land der Kultur – eine echte Spiritualisierung des alten Versprechens an den Patriarchen Abraham.

Mendelssohns Auffassung vom Judentum

Welche Auffassung vom Judentum vertrat Mendelssohn? Zu Beginn des zweiten Teils des Werkes Jerusalem unterstrich Mendelssohn, dass weder Kirche noch Staat sich das Bannrecht anmaßen dürften. Das Judentum selbst, so sagt er, habe keine Glaubensartikel, sondern eine einfache, geoffenbarte Gesetzgebung. Bei der Offenbarung auf dem Sinai sei es weder um eine Heilslehre noch um ein rationales Prinzip gegangen. „Man hat auf diesen Unterschied immer wenig acht gehabt; man hat übernatürliche Gesetzgebung für übernatürliche Religionsoffenbarung genommen. […] Ein anderes ist geoffenbarte Religion; ein anderes geoffenbarte Gesetzgebung.“ Andernfalls sei der Universalismus des Schöpfers unhaltbar: Wenn ein amerikanischer Indianer nur durch eine Offenbarung und nicht aus eigenen kognitiven Möglichkeiten heraus zur ewigen Glückseligkeit gelangen könne, wäre Gott nicht gerecht gewesen, da ja nur die Kinder Israels von der Theophanie hätten profitieren können. Daher hinge die Glückseligkeit von ewigen Wahrheiten ab, zu denen wir über den Umweg des Verstehens gelangen würden. Mendelssohn weist auch darauf hin, dass die Bibel nirgendwo den Glauben verlangt, sondern lediglich vorschreibt, in gewissem Sinne zu handeln. Da aber in der alten israelitischen Verfassung Staat und Religion eng miteinander verbunden seien, bedeute das Sündigen gegen das eine auch das Sündigen gegen das andere: So sei die Entheiligung des Sabbats gleichzeitig ein Verstoß gegen das Zivilgesetz.

Jedoch hätten die Juden das Recht, über die Gebote ihrer Religion nachzudenken, ohne aber die Befreiung davon anzustreben: Denn bei dem, was Gott vorgeschrieben habe, habe der Mensch nicht das Recht, es zu zerstören. Da er wusste, dass der Staat christlicher Natur und daher kaum unparteiisch sei, verlangte Mendelssohn, dass, wenn die Juden die Gesetze dieses (christlichen) Staates respektieren würden, dieser seinerseits deren eigenes Bestreben gegenüber Gott respektieren solle.

Ein Hauptanliegen Mendelssohns war es zu beweisen, dass das Judentum im Gegensatz zum Christentum keine Dogmen besitzt und deshalb niemals der Vernunft widerspricht. Es musste demgemäß eine Art Naturreligion sein, ausgestattet mit einem rationalen Substrat, zu der eine geoffenbarte, spezifische Gesetzgebung kam, die sich nur an die Kinder Israels richtete. Durch diesen „Zuschnitt“ schaffte es Mendelssohn, gegensätzliche Imperative miteinander zu versöhnen: das spezifisch Jüdische (dieser Begriff ist dem Begriff „partikularistisch“ vorzuziehen) und der Universalismus, der den Anhängern der Aufklärung so immens wichtig war. Das so genannte auserwählte Volk wollte keine Wahrheiten hinstellen, die sein Geist sich selbst erschließen konnte. Es hatte eine Reihe von spezifischen Gesetzen erhalten, durch deren Erfüllung es zur ewigen Glückseligkeit gelangte. Doch die anderen Völker, die dieses Gesetz nicht hatten, weil es ihnen nicht bestimmt war, könnten es schaffen, diese ewigen Wahrheiten zu entdecken, die ihnen den Weg zu derselben Glückseligkeit öffnen würden. Die Botschaft der Theophanie beginnt mit den Worten: „Ich bin der Ewige, dein Gott“, und nicht „das nothwendige, selbständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen Leben vergilt, nach ihrem Thun.“

Wenn die überwiegende Mehrheit der Menschen keine Offenbarung benötigt, um zur ewigen Glückseligkeit zu gelangen, wie soll man dann erklären, dass sie für die Hebräer unerlässlich ist? Genau hier zeigt sich die Brüchigkeit von Mendelssohns Argumentation, wie sie sich auch bei seinem Vorgänger Maimonides gezeigt hatte. Mendelssohn flüchtet sich in den unergründlichen Charakter der göttlichen Weisheit: Es habe der Weisheit Gottes gefallen, dieses Volk mit einer besonderen Gnade zu versehen. Wäre es nicht weiser gewesen, wie die jüdischen Averroes-Anhänger des Mittelalters zu behaupten, die Offenbarung sei so etwas wie ein Mittel, um die ungebildeten Massen zu leiten, indem ihnen „notwendige Glaubensinhalte“ gegeben werden?

Indem er zwischen diesen beiden Wahrheitskategorien unterscheidet, hat Mendelssohn wahrscheinlich eine Idee von Leibniz aufgenommen, der von „Vernunftwahrheiten“ und „Tatsachenwahrheiten“ spricht. Auch hier ist es der Status der Offenbarung, der zur Debatte steht: Ist sie historisch, mit anderen Worten: Hat sie wirklich stattgefunden? Und können wir dem Zeugnis jener glauben, die ein solches Ereignis bestätigen?

Exakt an diesem Punkt versucht Mendelssohn, den Mittelweg in der Haltung jüdischer Denker des Mittelalters zu reflektieren, von Saadya Gaon (gest. 942) bis zu Elijah Delmedigo (gest. 1493). Der erste, der aus einem arabisch-muslimischem Milieu stammte, sprach den Wundern eine apodiktische Wirksamkeit zu, die Maimonides ihnen absprach. Für den Autor des Buches Führer der Verwirrten sind die Wunder in gewisser Weise ein Teil der natürlichen Ordnung, weil sie ja vom Ursprung an in der allgemeinen Ökonomie des Universums vorgesehen waren. Diese Lösung bietet den Vorteil, Anhänger wie Gegner zu befriedigen: Erstere hielten sich an eine bestimmte Auffassung von der göttlichen Allmacht, während letztere das begreifbare Fundament und die Stabilität der Geschöpfe bewahren wollten.

Maimonides (Führer der Verwirrten III, Kap. 15) begann mit seinen Ausführungen folgendermaßen: „Das Unmögliche hat eine feste Natur und kann nicht das Werk eines Handelnden sein.“ Später, in der Renaissance, sollte Elijah Delmedigo den Wundern eine averroistische Interpretation geben: Die Wunder seien eine Art Illusion für die unwissenden Massen. Für Mendelssohn dienen die Wunder nicht dazu, die Wahrhaftigkeit dieser oder jener Lehre zu belegen: Es gebe keinen Beweis durch das Wunder. Tatsächlich ist die Position des Autors unangenehm: Was sagte man zu den von Moses und Aaron vollzogenen Wundern bei der Konfrontation mit dem Pharao? Mendelssohn lässt sich tatsächlich von Maimonides und Leibniz leiten.

Leo Baeck hat die Ideen Mendelssohns über das Judentum studiert, sowohl im orthodoxen Seminar in Breslau als auch in Berlin, in der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums von Abraham Geiger. Er hat die fundamentalen Doktrinen Mendelssohns akzeptiert, mit einer Ausnahme, nämlich den so genannten Zeremonialgesetzen.

Aus der Feder eines jüdischen Denkers mag das überraschen und erstaunen. Zeremonialgesetz ist die deutsche Übersetzung des lateinischen caeremonia, was das hebräische Hukkim (Gesetz, Statut) wiedergeben sollte. Bei seinen Recherchen zum Wesen des Judentums war Mendelssohn sichtlich in Verlegenheit: Sollte man das Judentum auf die Idee beschränken oder auch den religiösen Praktiken einen – wenn auch kleinen – Platz einräumen? Dies war das Dilemma Mendelssohns, der sich in der Folge dazu entschloss, von einer Art unauflöslichem Kern des Judentums zu sprechen, in dem die Lehre autonom und gleichzeitig von einem Gesetzeskörper untrennbar sei. Doch sollte man klar sagen, dass die gelehrten Doktrinen bei den zur Anwendung gebrachten religiösen Gesetzen aus dem Tritt kämen? Mendelssohn war davon überzeugt, ohne diesen Schritt je gegangen zu sein. Zu sagen, dass die Praxis erst an zweiter Stelle käme, wäre für weite Teile der jüdischen Gemeinschaft nicht hinnehmbar gewesen. Einige Beispiele für Zeremonialgesetze: die Beschneidung (Gen 17,9–14), der Sabbat (Ex 31,13), das Begehen von Festen, insbesondere Ostern (Ex 13,9). In den Augen vieler Juden war eine solche Auffassung inakzeptabel.

Das Erbe Mendelssohns

Ohne den Verlauf dieser Darstellung der intellektuellen Landschaft zu unterbrechen, die Leo Baeck von seiner Geburt bis 1895 begleitete, das Jahr, in dem er seine Rabbinerstudien abschloss, ist dies der richtige Augenblick, um die Reaktionen der deutsch-jüdischen Philosophen auf die Doktrin Mendelssohns Revue passieren zu lassen: Insgesamt wollten alle Denker, von Saul Ascher bis zu Franz Rosenzweig, in ihm den Archetypus des deutschen Juden und mithin ihr spirituelles Vorbild sehen. Es war keine leichte Aufgabe – ein Philosoph wie Kant sah in der jüdischen Religion nichts als einen Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, auf welche eine Staatsverfassung gegründet war.

Genau wie Abraham Geiger, der Begründer des liberalen deutschen Judentums, dessen prägende Gestalt im 20. Jahrhundert Baeck sein sollte, war auch Moritz Lazarus (1824–1903) Mendelssohn dafür dankbar, dem Judentum eine vorteilhafte Darstellung verschafft zu haben. Der Hegelianer Samuel Hirsch erkannte Mendelssohns Mut an, die Herausforderung Johann Kaspar Lavaters angenommen zu haben, stellte jedoch auch fest, dass die vom Autor des Werkes Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum befürworteten Lösungen nicht mehr aktuell seien. Franz Rosenzweigs Hommage an Mendelssohn fiel ziemlich begrenzt aus: Er habe das messianische Erbe Israels bewahrt, auch wenn seine Bewusstseinsbildung nicht weiter zurückginge als bis Dezember 1769, den Zeitpunkt der Lavater-Affäre – und da sei er bereits vierzig Jahre alt gewesen! Schließlich beklagte Rosenzweig, dass Mendelssohn sich in seiner Verteidigung des Judentums eines zeitgenössischen ideologischen Arsenals bedient habe, das sich in der Folge als wirkungslos erwiesen habe.

Leopold Zunz (gest. 1886) erwies dem Ahnherrn des deutschen Judentums eine begeisterte Hommage: Er sei, so schrieb er, sein spirituelles Kind, wie ein Schüler im Verhältnis zu seinem Lehrer. Die Uneigennützigkeit Mendelssohns unterstreichend, hob Zunz die Liebe hervor, die dieser Mann seinem Volk und seiner Religion unaufhörlich erwiesen habe. Zunz, der selbst eine deutsche Übersetzung der hebräischen Bibel unternahm, erkannte die Verdienste seines berühmten Vorgängers, der die intellektuelle Geschichte des Judentums revolutionierte. Er teilte die Phobie von Heinrich Grätz (1817–1891), Samson-Raphael Hirsch (1808–1888) und Mendelssohn selbst gegenüber dem Jiddischen und den polnischen Juden und lobte den Autor des Jerusalem-Buches dafür, die „östliche Barbarei“ verbannt zu haben. Er sei, so fügte er hinzu, der Wohltäter aller deutschsprachigen Juden gewesen! Nebenbei stigmatisierte Zunz die Haltung einiger Juden, die meinten, ihnen käme es nicht zu, das Andenken an diesen großen Mann zu ehren, dies wäre mehr Sache der Philosophen und Gelehrten. Ganz im Gegenteil, lautete Zunz’ Antwort, sie seien ihm doppelt zu Dank verpflichtet, als Juden und als Menschen! Zunz dachte dabei vielleicht an die zweideutige Würdigung Mendelssohns durch Leopold Löw aus dem Jahr 1826. Nachdem er daran erinnert hatte, dass nur der Sohn eines Thorarollen-Kopisten die hebräische Grammatik derart gut kennen könne wie Mendelssohn, merkte Löw an, dass er in den Bereichen der Bibelexegese und der deutschen Philosophie nicht einen einzigen neuen, eigenen Beitrag geleistet habe. In seiner Kritik an Mendelssohn zitiert er auch Bruno Bauer (1809–1882), nach dessen Aussage der Einfluss Mendelssohns auf die Juden gleich null gewesen sei.

Das an Geistesgrößen so reiche deutsche 19. Jahrhundert konnte auch einen traditionalistischen jüdischen Denker hervorbringen, der in Frankreich noch kaum bekannt ist, von einem Fachmann wie Hans-Joachim Schoeps aber als „erster jüdischer Theologe der Neuzeit“ bezeichnet wurde: Salomon Ludwig Steinheim (1789–1866), den Baeck in seinen Schriften anscheinend vollkommen vernachlässigt hat.

Dieser Mann, knapp dreißig Jahre nach dem Tod Mendelssohns geboren, sagte über letzteren, er sei nichts weiter gewesen als ein „beschnittener Heide“! Tatsächlich wollte Steinheim nicht philosophieren und war ein ausgewiesener Feind jeglicher Philosophie oder – um seinen eigenen Neologismus zu nehmen – jeglichen „Theo-Philosophems“. Weder Maimonides noch Mendelssohn, nicht einmal Samson-Raphael Hirsch fanden Gnade in seinen Augen, weil sie alle das Judentum für die Philosophen-Paläste angenehm gestalten wollten. Die einzige Quelle der Wahrheit (jedoch keinesfalls des Wissens: Er hatte Medizin studiert) sei die hebräische Bibel, und der Schlüssel zum Verständnis des Universums sei nichts anderes als die Offenbarung. Sogar Samson-Raphael Hirsch, unbestrittener Held der deutschen Neuorthodoxie, war in den Augen Steinheims im Unrecht, weil er eine sträfliche Neigung zum Hegelianismus verspürt habe. Dies war eine deutliche Anspielung auf die Neunzehn Briefe über Judentum (Altona 1836, Paris 1987), in denen Hirsch manchmal auf eine hegelianische Terminologie zurückgreift. Nach Steinheims Ansicht beinhaltete die Offenbarung die folgenden „Dogmen“: die Einheit Gottes, die Schöpfung ex nihilo, die Freiheit der Tat und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Damit ist man beim absoluten Gegenteil der Auffassung Mendelssohns, nach der das Judentum lediglich eine geoffenbarte Gesetzgebung sei und keine ewigen Wahrheiten enthalte, also nichts von dem, was Steinheim in seiner Terminologie als Dogmen bezeichnet.

Ein vielschichtiger Mann wie Ludwig Philippson (1811–1889), Direktor der einflussreichen Allgemeinen Zeitung des Judentums, den manche wegen seiner journalistischen Tätigkeit den „Pförtner der jüdischen Wissenschaft“ nannten, schrieb dazu folgendes bissiges Urteil, das jedoch nicht einer gewissen Wahrheit entbehrt: „Die Idee für frei und das Leben für gefesselt zu erklären, ist der Gipfel des Absurden!“ Eine nicht besonders nette Anspielung auf die Vorstellung Mendelssohns: Man hat das Recht zu denken, was man will, aber auch die absolute Pflicht, die göttlichen Gebote der Thora zu befolgen. Was hier zutage trete, sei eine unnatürliche Trennung zwischen Denken und Handeln.

Im Grunde hat Mendelssohn sich nur über zwei Punkte negativ geäußert: den Rückgriff aufs Jiddische und die Exkommunikation durch Rabbiner. Genügt dies, um zum Vater der Assimilationsideologie zu werden?

Der junge Leo Baeck wurde im Verlauf seiner rabbinischen und philosophischen Studien mit diesem gesamten Erbe konfrontiert. Zu Beginn des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts geboren, welches für das Schicksal der Juden in Europa so bedeutsam war, standen ihm verschiedene Wege offen. Seine hohe politische Intelligenz ließ ihn sie alle erforschen, ohne auch nur einen auszulassen.

Mendelssohn, der die Konturen dieses neuen Judentums gezeichnet hatte, eines Judentums, das in den Traditionen der Ahnen verwurzelt, über Stege jedoch auch mit der Außenwelt verbunden war, sah zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland eine mächtige Bewegung entstehen, die der Religion Israels wissenschaftliche Grundlagen geben wollte. Dieses Unternehmen wollte die Evolution des Judentums durch die Geschichte hindurch untersuchen. Die Wissenschaft des Judentums – dies war der Name, den die Bewegung sich gegeben hatte – wollte auf das Judentum dieselbe historisch-kritische Methode anwenden, wie die deutsche historiographische Schule (Leopold von Ranke, 1795–1886; Heinrich von Treitschke, 1834–1897) und die Hegelsche Philosophie es auf der Suche nach dem Grundgedanken und Wesen aller Dinge taten. Bei den jüdischen Eliten dieses Jahrhunderts war dies gleichfalls spürbar; auch sie wollten sich wissenschaftlich definieren und ihre Geschichte wissenschaftlich erfassen. Es handelte sich also um das Bemühen, sich selbst zu kennen, begleitet von einer Identitätssuche. Dies sind die beiden großen Säulen der Wissenschaft des Judentums, deren Forschungsgegenstand die Analyse des Denkens und Erlebens der Juden war.