Der Kampf gegen die Erderwärmung ist die größte Herausforderung der Menschheit im 21. Jahrhundert. In einer solchen Situation ist es unterlassene Hilfeleistung, eines der stärksten Instrumente zur CO2-Vermeidung zu zerstören – die Kernenergie. Doch genau das hat Deutschland vor. Der Atomausstieg treibt unser Land in ein Dilemma zwischen Klimaziel und Versorgungssicherheit. Solange wir keine Stromspeichertechnologien haben, müssen Deutschlands launische Erneuerbare Energien mit einem fossilen Kraftwerkspark abgesichert werden. Das treibt die Energiekosten nach oben und bringt uns in fatale Abhängigkeiten, insbesondere von Russland.
Anna Veronika Wendland hat viele Jahre vor Ort in Atomanlagen über Reaktorsicherheit und nukleare Arbeit geforscht. Sie denkt die Energiewende neu und zeigt, wie man sie auf einer klugen Kombination von Erneuerbaren und Kernenergie aufbauen könnte. So können Klima-, Naturschutz und Versorgungssicherheit miteinander vereinbart werden. Die Autorin präsentiert gesichertes Wissen über die Risiken von Kernkraftwerken und Atommüll und leuchtet die kulturellen Hintergründe des deutschen Energie-Sonderwegs aus.
»Dieses fachkundige und doch gut verständliche Buch eröffnet neue Perspektiven auf die Atomkraft. Ein vielseitiger Beitrag für die deutsche Klima- und Energiedebatte. Auch Atomkraftgegner sollten es lesen.«
Rainer Moormann, Nuklearwissenschaftler, Deutscher Whistleblower-Preis 2011 für die Aufdeckung von Sicherheitsproblemen beim Kugelhaufenreaktor
Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin in Marburg. Für ihre Habilitationsschrift über die Kerntechnische Moderne hat sie viele Jahre in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland geforscht. Wendland bloggt bei salonkolumnisten.com über Energie- und Klimafragen und ist eine viel gefragte Gesprächspartnerin in der aktuellen Klimadebatte. Wendland war als Osteuropa-Expertin jahrelang Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht. Der Partei gehörte sie nie an. Trotzdem entschied sich die Stiftung für ihr Engagement – bis ihre Berufung im Frühjahr 2021 ohne Angaben von Gründen für beendet erklärt wurde.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Burkard Miltenberger
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2880-5
quadriga-verlag.de
luebbe.de
lesejury.de
The problem is not people being uneducated.
The problem is that people are educated just enough to believe what they have been taught;
and not educated enough to question anything from what they have been taught.
Richard Feynman
Dies ist ein Buch über Strom und gegen den Strom. Es plädiert aus Gründen des Klimaschutzes und der Versorgungssicherheit für die Nutzung der Kernenergie – in einem Land, das gerade dabei ist, den Atomausstieg zu vollenden. Falls sich die neue Bundesregierung nicht besinnt und ein Moratorium beschließt, wird am 1. Januar 2023 kein einziges Kernkraftwerk mehr am Netz sein. »Der Drops ist gelutscht«, versichern einem die meisten, wenn auch aus verschiedenen Erfahrungshintergründen und Motiven. Fachleute, die in der Atomindustrie arbeiten, sagen es leise und resignativ: Sie wissen, wie viele vollendete Tatsachen bereits geschaffen wurden, und dass ihre Konzernoberen längst andere Pläne haben. Regierung und Erneuerbare-Energien-Industrie meinen damit: Um Himmels willen! Bloß jetzt keine Zweifel an der Energiewende säen! Bloß kein Geld von den Erneuerbaren abziehen! Bloß nicht noch mal diese Kontroverse!
Doch genau das habe ich vor. Ich möchte in diesem Buch Zweifel säen, aber nicht in der Weise, die vielleicht die Grünen oder die Umweltorganisationen befürchten. Meine Zweifel sollen Früchte tragen. Ich möchte die Energiewende neu denken, damit sie fit ist für die Bewältigung der sich immer weiter zuspitzenden Klima- und Energiekrise. Ich habe kein Interesse am Schlechtreden der Erneuerbaren Energien, aber ich habe auch keines am Gesundbeten von offensichtlichen Schwächen.
Elektromobilität, Photovoltaik (PV), Windkraft, Geothermie und Wasserkraft sind heute bewährter Teil unseres Alltags und gehören zur Welt der Zukunft. Doch sind Illusionen über Erneuerbare Energien (EE) der Risikofaktor Nummer 1 unserer Energiewende. Ich möchte hinterfragen, was bislang über Kernenergie und Erneuerbare gedacht und wie über sie diskutiert wurde. Mein Beweggrund ist ein doppelter: Erstens ist die Kernenergie – wie die Erneuerbaren – für den Klimaschutz kurz- und mittelfristig unverzichtbar. Zweitens möchte ich dazu einladen, diese Technologie mit anderen Augen zu sehen, als Sie sie wahrscheinlich bislang gesehen haben. Ich habe diesen Blickwechsel selber vollzogen, denn ich bin eine ehemalige Atomkraftgegnerin, die in einem langen Lern- und Forschungsprozess ihre alten Überzeugungen ablegte.
Der Kampf gegen die Erderwärmung ist die größte Herausforderung der Menschheit im 21. Jahrhundert. Der neueste Bericht des Weltklimarates IPCC, der Assessment Report Nr. 6 (AR6) von 2021, belegt mit noch größerer Sicherheit als sein Vorgänger von 2014 den Zusammenhang von menschgemachtem Treibhausgas-Ausstoß, Klimaerwärmung und extremen Umweltveränderungen1. Seit 2018 war ein beträchtlicher Teil der Schuljugend mit Fridays for Future auf den Straßen. Eine Abfolge von Dürresommern und zuletzt die Flutkatastrophe vom Juli 2021 ließen den Klimawandel »unten« ankommen, im Bewusstsein der Bevölkerung – und auch buchstäblich an den niedrigsten Punkten unserer westdeutschen Flusstäler, wo die Wassermassen Häuser fortspülten und Menschen in den Tod rissen.
Mit Nachdruck wird sofortiges und effizientes Handeln gefordert, um die Erwärmung der Erdatmosphäre auf 1,5 bis 2 Grad zu begrenzen. So steht es im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015, das auch Deutschland unterzeichnet hat. In seinem Bericht von 2014 beschrieb der Klimarat die Mittel, die dafür sorgen, dass CO₂ erst gar nicht entsteht oder dass in der Atmosphäre befindliches Kohlenstoffdioxid wieder gebunden wird. Viele sind es nicht: Erneuerbare Energien, technische Kohlendioxid-Abscheidung und Aufbewahrung in Gesteinskavernen, CO₂-Bindung in Wäldern durch Wiederaufforstung – und die Nutzung der Kernenergie.
Um das Klimaziel zu erreichen, müssen Industriestaaten alle diese Instrumente nutzen. Deutschland ist ein etablierter Industriestaat und steht beim Ausstoß von Treibhausgasen auf Platz sechs der Negativ-Weltrangliste – hinter China, den USA, Indien, Russland und Japan. Wenn wir auch nur 2,4 Prozent des globalen Gesamtausstoßes auf uns vereinen, so stoßen wir doch pro Kopf immer noch 60 Prozent mehr Treibhausgase aus als die Chinesen. Unser Land steht daher besonders in der Pflicht. Darüber sind sich Politiker und ein Großteil der Bevölkerung auch einig. In einer solchen Situation halte ich es für unterlassene Hilfeleistung, eines der stärksten Instrumente zur Reduzierung von CO₂-Ausstoß zu zerstören, das wir haben und das wir technisch seit Jahrzehnten beherrschen. Der deutsche Atomausstieg hat aber genau dies bewirkt.
Wenn sich auch die meisten Menschen inzwischen bewusst sind, dass mehr gegen den Klimawandel getan werden muss, so besteht doch noch viel Uneinigkeit darüber, wie denn der Weg zur Austreibung des Haupttäters CO₂ aus unserer Volkswirtschaft aussehen sollte. Experten nennen diesen Prozess »Dekarbonisierung«. Dekarbonisierung besagt, dass alle Prozesse, die heute mit kohlenwasserstoffbasierter Energie versorgt werden, das heißt mit Kohle, Öl und Erdgas, in Zukunft mit Strom betrieben werden sollen, der aus sauberen Quellen stammt. Das bedeutet, dass für die Stromversorgung von Elektroautos, Industrie, digitalen Infrastrukturen, Beleuchtung und Beheizung unserer Häuser kein weiteres CO₂ produziert werden darf.
Es gibt nur eine Handvoll Industrieregionen auf dieser Erde, die ihre Elektrizitätswirtschaft sehr erfolgreich »dekarbonisiert« haben. Zu diesen Regionen und Ländern gehören Schweden, Frankreich, Teile von Kanada und die Schweiz. Was haben sie gemeinsam? Sie alle nutzen entweder Wasserkraft oder Atomkraft – oder beides. Nur diese beiden Erzeuger sind – neben der Biomasseenergie, die aber aus ökologischen Gründen eine untergeordnete Rolle spielt – in der Lage, wetter- und zeitunabhängig sehr große Mengen Strom unterbrechungsfrei und CO₂-arm zu produzieren. Die Schweizer haben dafür ein schönes Fachwort erfunden: »Bandenergie«.
Leider besitzt Deutschland keine großen Wasserkraftreserven. Aber noch besitzt es Kernenergie. Diese hat laut Weltklimarat dieselbe Klimabilanz wie die Windkraft: 12 Gramm CO₂ pro Kilowattstunde; neuere Studien sehen die Kernenergie sogar noch günstiger, bei rund maximal 6,4 Gramm CO₂ pro Kilowattstunde.2 Aber sie ist, anders als Wind- oder Solarenergie, nicht von Wetter, Tages- und Jahreszeit abhängig. Fachleute bezeichnen die Leistung, die von Wasser-, Kern- und Kohlekraftwerken bereitgestellt wird, daher auch als »gesicherte Leistung«, was bedeutet, dass diese Stromproduktion aus eigener Kraft planbar und den Bedarfen gemäß einsetzbar ist.
Solarenergie und Windkraft, die das Rückgrat der deutschen Erneuerbaren-Wirtschaft bilden, nennt man – je nach Einstellung – »intermittierend«, »volatil« oder »variabel«. Diese unterschiedlichen Begriffe bedeuten, dass diese Formen von Stromerzeugung, anders als Wasserkraft und Biomasse-Kraftwerke, unregelmäßig einspeisen. Doch wenn man ein Stromnetz wie in Deutschland vorwiegend auf Sonne und Wind aufbaut, sind ein Backup-Kraftwerkspark oder Stromspeicher erforderlich, um das Netz unter gleichbleibender Spannung und Frequenz zu halten. Erst mit Speichern würden auch Wind- und Sonnenenergie zu gesicherter Leistung. Gesicherte Leistung aus Kernenergie hingegen benötigt keine zusätzlichen Vorkehrungen. Die Wartungsstillstände von Kernkraftwerken können über Jahre im Voraus geplant werden, und wetterbedingte Abschaltungen, etwa bei Extremwetter-Ereignissen, sind bei Kernkraftwerken sehr selten. Ihre Kombination aus CO₂-Armut und Autonomie macht die Atomkraft zu einem besonders wertvollen Instrument in der Werkzeugkiste, ähnlich der Wasserkraft. Kernenergie ist überdies, anders als häufig behauptet wird, ein guter und flexibler Partner für variable Erneuerbare Energien – warum, das werden wir uns später noch genauer anschauen.
Diese Technik steht nun auf dem Spiel. Noch ist Deutschland ein Kernenergieland: mit Atomanlagen – davon drei noch laufenden Kernkraftwerken. Wir haben Atomtechnikerinnen und -techniker, die in diesen Anlagen arbeiten; wir haben Know-how, Expertengremien und eine schlagkräftig aufgestellte, fachlich versierte Atomaufsicht. Deutschland steht heute am Scheideweg: Entweder wir wickeln diese Industrie komplett ab und sind bald nur noch Rückbau-Experten, Abrissunternehmer und Atomstrom-Importeure – oder wir halten im Lichte der Klimakrise und der Energiekostenexplosion einen Moment inne und überdenken die bisherige Politik.
Die Bundesregierung hat nach Fukushima 2011 überhastet den Atomausstieg beschlossen – über die Beweggründe wird noch zu berichten sein. Die damalige 180-Grad-Wende der an sich kernenergiefreundlichen Kanzlerin Angela Merkel hat uns um ein riesiges Potenzial zur CO₂-Einsparung gebracht. Das ist kein Ruhmesblatt – und deswegen redet man lieber nicht davon. Gerne preist man die deutsche Energiewende als Vorbild für die Welt: Deutschland sonnt sich in seiner Rolle als Vorreiter bei der Durchsetzung der Sonnen- und Windenergie im Massenmarkt. Tatsächlich hat Deutschland mit seiner Förderpolitik unter ungeheuren nationalen Anstrengungen den globalen Durchbruch der Solarenergie initiiert, ohne Zweifel ein Verdienst. Aber viele führende Politiker und Aktivisten von Nicht-Regierungs-Organisationen schweigen zur Kehrseite dieser Entwicklung, dem Abbau der Kernenergie. Vor dem ersten Atomausstiegsbeschluss unter Rot-Grün im Jahr 2000 betrug in Deutschland der Anteil an CO₂-armer Stromversorgung rund 30 Prozent – sie beruhte größtenteils auf Kernenergie. Hätten wir also ab 2000 auf diesem Sockel bereits existierender klimafreundlicher und zuverlässiger Stromversorgung die Erneuerbaren aufgebaut, stünden wir heute nicht vor der bangen Frage, ob wir unsere Klimaziele erreichen und ob wir überhaupt noch genug erschwinglichen Strom haben werden.
Kernenergie ist so klimafreundlich wie Windkraft und so zuverlässig wie Kohlekraft. Trotzdem war sie bis vor Kurzem ein Tabu in unseren Klimadiskussionen. Es konnten mehrere kluge und beredte Menschen eine Stunde lang in einer Talkshow Maßnahmen für die Eindämmung des Klimawandels hin und her diskutieren, ohne ein einziges Mal das Wort »Atomkraft« in den Mund zu nehmen. Die Atomkraft erschien so unzeitgemäß, so abgehakt, dass viele sie als Klima-Maßnahme schlicht nicht mehr auf dem Schirm hatten. Doch jetzt geht das nicht mehr: Das Gespenst der Energiekrise geht wieder um in Europa, und die EU-Kommission verkündete zum Neujahrstag 2022, die Kernenergie in ihre »Taxonomie« zur Förderung von Investitionen in klimafreundliche Technologien aufzunehmen. Seitdem ist sie auch in Deutschland wieder im Gespräch.
Doch die meisten deutschen Politiker und erst recht die Umweltorganisationen spulen in Talks und Stellungnahmen einen Text ab, der sich anhört, als hätten alle ihn bei denselben Stichwortgebern einstudiert: Sie verbitten sich die Diskussion. Es solle und dürfe nicht mehr über Dinge diskutiert werden, die vorbei seien. Kernenergie sei teuer und gefährlich. Sie stehe der Entfaltung und Finanzierung der Erneuerbaren im Wege, und neue Kraftwerke würden zu langsam errichtet werden, um überhaupt noch in den Klimakampf eingreifen zu können. Warum aber Kohle und Gas, die weiterlaufen dürfen, dieser Entfaltung nicht im Wege stehen – diesen Widerspruch möchte keiner erklären, oder er wird als notwendiges Übel dargestellt: Wir bräuchten die Fossilen noch ein Weilchen, um das Stromnetz abzusichern. Daher war Protest der Umweltbewegung gegen das Erdgas in der EU-Taxonomie weit verhaltener als der gegen die Atomkraft. Verschwiegen wird, dass dieses Weilchen voraussichtlich sehr lange dauern wird.
Die deutsche Wissenschaft hat sich bereits seit 2011 dieser Stimmung anverwandelt: Keine maßgebliche deutschsprachige Energiestudie berücksichtigt Entwicklungspfade unter Einschluss der Kernenergie, und sei es nur, um einen Vergleichsmaßstab zu haben. Oder einen Plan B für eine Welt, in der Demokratie Macht auf Zeit ist und in der die Merkel-Entscheidung auch wieder revidiert werden könnte. Es ist, als hätten die deutschen Wissenschaftler nach dem Ausstiegsbeschluss diese Option aus ihrem Denken herausoperiert. Das ist erklärbar durch die Auftrags- und Förderstrukturen unserer Wissenschaft, und zu einem gewissen Teil auch durch die anti-nuklearen Überzeugungen vieler Akteure in unserem Wissenschaftsbetrieb. Wer in einem Institut zur Erforschung und Entwicklung der Photovoltaik arbeitet, wird nicht den Antrieb haben, sich mit der Rolle der Kernenergie in einem klimaneutralen Energiesystem zu befassen. Und für Grundlagenforschung zur Kerntechnik gibt es immer weniger Fördergeld vom Staat.
Wenn man aber die Parole »ausschließlich Erneuerbare« in ein Denksystem oder ein Studiendesign einspeist, kommt auch nur »ausschließlich Erneuerbare« wieder heraus. Diese Verengung der Randbedingungen hat fatale Folgen, denn sie hat zu Scheinplausibilitäten und trügerischen Gewissheiten unserer Entscheider geführt. »Wie die Studien zeigen«, heißt es, sei eine Vollversorgung unserer Volkswirtschaft mit Erneuerbaren Energien möglich. Je nach Positionierung sprechen diese Studien von 2030, 2045 oder 2050 als Zeitpunkten der Vollendung. Doch ein Blick auf die Vorannahmen und das Kleingedruckte verrät jede Menge Widersprüche. Viele der Studien operieren nach einer Opa-wird-Olympiasieger-Logik. »Wenn Opa die 100 Meter unter 10 Sekunden läuft, kann er die Goldmedaille gewinnen.« Dieser Satz ist, seiner inneren Logik nach, eine wahre Aussage. Die Frage ist nur: Wie trainiert Opa, um zu dieser Leistung in der Lage zu sein?
Ähnlich verhält es sich mit Argumentationen von der »technischen Möglichkeit« einer Vollversorgung durch Erneuerbare. In ihrer internen Logik sind sie schlüssig, aber die Voraussetzungen dafür sind kaum herstellbar. Der Friedhof der Technikgeschichte ist voller Grabsteine, auf denen steht: »Technisch war es möglich«. Wie ich in diesem Buch zeigen werde, müssen Technologien – vor allem solche komplexen, großtechnischen Systeme wie unsere Stromversorgung – nicht nur technisch möglich sein. Sie müssen auch funktionieren, ohne die Gesellschaft, die sie installiert, wirtschaftlich zu ruinieren und sozial zu entzweien.
Überdies gibt es eine aktuelle Herausforderung für jeden CO₂-armen Technologiepfad: Er muss ökologisch vertretbar sein. Er darf also nicht bestehende ökologische Probleme lösen und neue, viel größere aufwerfen. Auch hier entstehen bei den Erneuerbaren jetzt, wo sie in eine großindustrielle Phase gehen, viele unterschätzte Probleme. Etliche ihrer Technologien kollidieren mit den Schutzzielen des Landschafts-, Natur- und Artenschutzes, und ihr Ressourcenhunger ist ungeheuer groß. Viele Menschen denken bei solchen Worten sofort an den Atommüll: Hat die Kernenergie nicht auch einst mit großen Versprechungen von sauberem Strom angefangen, und sind wir nicht am Ende auf einem ungelösten Entsorgungsproblem sitzengeblieben? Richtig, der Atomabfall gilt als klassisches Beispiel für einen solchen Pferdefuß einer eigentlich guten Technologie. Ich werde daher mit besonderer Sorgfalt auf das Abfallproblem eingehen und darlegen, warum der Atommüll im Vergleich zu den Herausforderungen der Klimakrise eine vergleichsweise handhabbare Herausforderung ist.
Nach diesem kleinen Exkurs zur gesellschaftlichen Haltung rund um Energie in Deutschland lässt sich Folgendes feststellen: Die Kernenergie ist Gegenstand einer Nicht-Diskussion. Selbst in letzter Zeit, seit die Debatte um die Kernenergie wieder aufflammt, versuchen Interessengruppen, diese Diskussion für überflüssig zu erklären und sie abzuwürgen. Erneuerbare Energien sind von einem Mittel für mehr Umwelt- und Klimaschutz zu einem eifersüchtig verteidigten Selbstzweck geworden – und zu einer Großindustrie, die gerade im Bereich der Ökologie immer mehr Fragen aufwirft.
Der deutsche Atomausstieg ist eine Heilige Kuh: Ihn infrage zu stellen bedeute, einen gesellschaftlichen Konflikt wieder zu entzünden, den man doch so schön befriedet habe. Ein häufig gehörtes und nie hinterfragtes Argument ist auch, ein Wiedereinstieg in die Kernenergie gefährde den gesellschaftlichen Konsens zur Endlagerfindung. Besonders Anti-Atom-Vereinigungen wie BUND, Greenpeace und Ausgestrahlt stellen sich auf diese Position und haben in der Vergangenheit einiges in Bewegung gesetzt, um dies zur selbsterfüllenden Prophezeiung zu machen. Auch der deutsche Zweig der Fridays-for-Future-Bewegung hat die Erneuerbaren Energien zum allein selig machenden Pfad ausgerufen. Die jungen Demonstranten rufen zwar »Follow the science« und zitieren allenthalben die Publikationen des Weltklimarats, aber über seine Aussage zur Atomkraft schweigen die Klimaaktivisten. Bedauerlicherweise haben auch die »Scientists for Future«, die eigentlich mit dem Versprechen angetreten waren, die jugendlichen Aktivisten der Klimabewegung mit wissenschaftlichen Fakten zu versorgen, nichts anderes zu sagen. Das schmälert ihre Glaubwürdigkeit und schadet ihrem Anliegen.
Die jüngste Energiekrise hat uns kalt erwischt. Viele Faktoren kamen diesen Winter zusammen: der steigende Brennstoffhunger einer sich nach der Corona-Krise erholenden Weltwirtschaft und die damit zusammenhängenden Verknappungen am Erdgasmarkt, aber auch die Energiepolitik des russischen Präsidenten Putin, der Gaspreise und -lieferungen von politischem Wohlverhalten abhängig macht oder sie für Machtdemonstrationen einsetzt. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Buches waren die Gasspeicher in Deutschland auf einem historischen Tiefstand. Schon gibt es Befürchtungen, es könne für einige Gaskraftwerke nicht reichen. Sollte es in Osteuropa zum Schlimmsten kommen, zu einer weiteren militärischen Intervention Russlands in der Ukraine, wäre dies das sichere Ende sowohl für die jetzigen Gaslieferungen durch das ukrainische Pipeline-Netz als auch für die noch gar nicht in Betrieb genommene NordStream2-Röhre. Deutschland müsste sich auf Gasknappheit gefasst machen. Die neue CO₂-Bepreisung, die dem Klimaschutz dient, leert zusätzlich die Taschen all jener Menschen, die aus vielerlei Gründen nicht selbst entscheiden können, aufs Auto zu verzichten oder umweltfreundlicher zu heizen.
Doch jede Regierung weiß, dass Blackouts ihr schwer schaden würden. Daher wird auch eine Regierung mit grüner Beteiligung eher das Klimaziel opfern als die Versorgungssicherheit. Zur Not werden Kohlekraftwerke weiter betrieben, die eigentlich schon abgeschaltet werden sollten. Wenn alle Stricke reißen, wird also der Kohleausstieg nicht so schnell kommen wie im Koalitionsvertrag vereinbart. Doch auch noch eine andere Form des Steckenbleibens in der fossilen Welt droht uns.
Es gibt momentan nämlich einen Gewinner dieser deutschen Verhältnisse: Das ist, trotz der Knappheit dieses Winters, die Erdgas-Industrie, die sich für die Zeit nach dem Ende von Kohle und Atom längst als Energiewende’s best friend positioniert hat. Gazprom und andere Lieferanten freuen sich darauf, mit Erdgas die Lücken aufzufüllen, wenn die Erneuerbaren nicht liefern. Dieses Backup durch Gaskraft ist zwar nur ungefähr halb so dreckig wie die Kohlekraft, doch liegen seine Emissionen immer noch um das Dreißig- bis Hundertfache höher als die von Kernkraftwerken. Aufgrund undichter Stellen in der Gewinnungs- und Transportkette, durch die das hochwirksame Treibhausgas Methan entweicht, trägt Erdgas ebenfalls stark zum Klimawandel bei. Elektrolysebasierte Wasserstoff-Stromspeicher oder Batteriespeicher, die dieses Problem lösen könnten, wird es noch auf lange Zeit nicht in der Form geben, dass Großstädte und Stahlwerke sicher mit Energie versorgt werden können; derzeit würden die Speicher vielleicht für ein paar Kleinstädte reichen. Die Bundesregierung setzt daher nun auf Erdgas als »Brückentechnologie« und setzt sich bei der EU für die Begünstigung von Erdgas ein. Aber diese Brücke könnte sehr lang werden, und klimafreundlich ist sie nicht.
Viele Befürworter der Erneuerbaren Energien sehen dieses Problem sehr wohl. Sie rufen deshalb zur Flucht nach vorne und propagieren, gigantische Überkapazitäten aufzubauen: Wenn an einem Flautetag 30.000 Windräder nur fünf Prozent ihrer Nennleistung abrufen – gemeint ist die maximale Leistung, welche die Anlagen bei gutem Wind erbringen können – müsse man eben zwanzigmal mehr Windräder bauen, damit immer genug Windstrom im Netz sei. Wenn der Wind zu stark wehe, müsse man die Anlagen halt abregeln. Doch diese Rechnung geht aus vielerlei Gründen nicht auf. Einer der maßgeblichen ist die gigantische Materialschlacht, auf die sich unser Land einlassen würde, und das Risiko für die Betreiber, keine Gewinne mehr zu machen, weil die besten Standorte längst belegt sind. Auch wird der Strombedarf unserer voll-elektrischen Zukunft so hoch sein, dass man mit einem solchen »Overbuild« keine Probleme löst. Von dem, was die Erneuerbaren so beliebt macht, würde nichts mehr übrigbleiben: vom Eindruck ihrer Leichtigkeit, Harmlosigkeit und Verträglichkeit mit Ökosystemen und Kulturlandschaften.
Das sind, kurz gefasst, die Gründe, warum es in Deutschland um den Klimaschutz gar nicht gut bestellt ist: Man will raus aus Kohle und Gas, aber man kann nicht, da die hierzulande nutzbaren erneuerbaren Energien nicht optimal gerüstet sind für die Bedarfe eines Industrielandes. Eine Alternative gibt es nicht mehr, weil die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung laut Atomgesetz Paragraf 7 ab dem 1. Januar 2023 verboten ist. Das Haus brennt, aber die Hochleistungspumpe wird verschrottet, während man sich mit der Eimerkette abmüht.
Es wird also Zeit für eine offene Diskussion über die Kernkraft – und hoffentlich für eine Umkehr. Neuere Umfragen3 seit dem Sommer 2021 belegen, dass in Deutschland Offenheit dafür besteht und sich die Stimmung gewandelt hat: Immer mehr Menschen, vor allem die jüngeren, interessieren sich unabhängig von ihrer Parteipräferenz für die Kernkraft als Klimaschutzmaßnahme. Auch ihnen will ich dieses Buch an die Hand geben.
Dieses Buch ist auch ein Plädoyer für eine andere Sicht auf die Kernenergie – oder die »Atomkraft«, wie viele Menschen sagen. Dass schon die Wortwahl – »Kern« vs. »Atom« – eine Markierung ist, die tiefe Gräben zwischen Menschengruppen und ihren Positionen zieht, ist eine typisch deutsche Geschichte. Als die Kernenergie in die Weltgeschichte eintrat, tat sie das in Gestalt der »Atombomben« genannten nuklearen Sprengkörper von Hiroshima und Nagasaki. Daher verbreitete sich, von den USA ausgehend, die Bezeichung »Atomenergie«. Die Physik geht dabei differenzierter zu Werke: Während ihre Subdisziplin Atomphysik sich das gesamte Atom inklusive der Vorgänge in der Atomhülle anschaut, stehen im Mittelpunkt der Kernphysik der Atomkern, seine Bestandteile und die schwachen und starken Wechselwirkungen zwischen ihnen. Die Bindungsenergie dieser Kernbestandteile ist es, die bei einer Spaltung sehr schwerer, instabiler Atomkerne durch Neutronenbeschuss in einer »kritischen Masse« spaltbaren Materials, zumeist Uran oder Plutonium, freigesetzt und in Wärme umgesetzt wird. Es ist also tatsächlich keine »Atomkraft«, sondern korrekt bezeichnet »Kernenergie«, die in einem Brennelement durch Kernspaltung frei wird und das Kühlmittel eines Reaktors erhitzt.
Doch in Deutschland wurden die politischen Fronten seit den 1970er-Jahren auch durch die Benennungen markiert. Während die Atomgegner zwischen Atombombe und Atomkraftwerk (AKW) nur graduelle Unterschiede sahen – wie die meisten meinten, sei das AKW eine Art Atombombe mit Zeitzünder –, bestanden die Fachleute auf der korrekten Bezeichnung und sprachen von Kernenergie. Das handelte ihnen von der Gegnerseite den Vorwurf ein, sie wollten die garstigen »Atome« von Hiroshima verbergen und durch harmlos-nussige, gesund klingende »Kerne« ersetzen.
In Osteuropa, wo ich lange in Kernkraftwerken geforscht habe, heißen diese ganz offizell »Atomkraftwerk«: auf russisch zum Beispiel Átomnaja elektrostáncija. Russen und Ukrainer haben nämlich die deutschen Nomenklaturkriege nicht mitgemacht. Atomingenieure nennen sich dort stolz Átomschtschiki. Und da ich »meine« Kerntechnik tatsächlich zuerst in Osteuropa gelernt habe, auf einer riesigen Anlage in der Ukraine mit vier Blöcken, werde ich mich über die deutschen Gepflogenheiten hinwegsetzen, schon allein aus Gründen der Abwechslung. Sie werden von mir also mitunter »AKW« hören und »Atomkraft«, aber auch »Kernenergie« und »Kernkraftwerk«. Denn ich bin der Meinung, dass wir uns über sprachliche und politische Gräben hinweg über diese Form der Stromerzeugung werden verständigen müssen, und das können wir am besten durch die Benennung von Fakten und nicht durch Kämpfe über Bezeichnungen.
Im Übrigen wissen wir ja, dass »Atom« eigentlich das »Unteilbare« heißt, was der Benutzung des Begriffs in den exakten Wissenschaften keinen Abbruch getan hat, genau wie wir wissen, dass das Automobil trotz seines Namens ganz und gar nicht von alleine fährt. Dennoch verwenden wir diese Begriffe, weil wir uns darüber verständigt haben, was wir damit meinen. Natürlich können sich auch die »erneuerbaren« oder »regenerativen« Energien nicht aus sich heraus neu erschaffen. Denn das wäre ein Verstoß gegen den ersten Hauptsatz der Thermodynamik, den Energieerhaltungssatz, demzufolge Energie nur gewandelt werden kann, aber nie erneuert, erzeugt, erschaffen oder verschwendet. Die Energie geht lediglich irgendwo hin, wo wir sie nicht nutzen können, aber sie verschwindet nicht. Regenerative Energiequellen heißen so, weil sie sich aus nach menschlichem Ermessen unbegrenzt verfügbaren Ressourcen speisen: der Sonneneinstrahlung oder dem Wind, der nichts weiter ist als eine Kraft, welche durch Temperatur- und Druckunterschiede in Luftmassen wirkt. Auch die Windenergie geht also auf die Energie der Sonne zurück, und da die Sonnenenergie der Kernfusion in unserem Zentralgestirn entstammt, ernten letztlich auch Windkraftanlagen und Photovoltaik-Module die Energie aus nuklearen Prozessen.
In einem Kernkraftwerk – hier erkläre ich es am Beispiel einer Anlage mit Druckwasserreaktor, wie sie in Isar-2, Neckarwestheim oder Grohnde steht – wird Energie über sehr viele Stufen gewandelt. Einen Teil davon können wir tatsächlich nicht nutzen, denn er fällt als Abwärme in den vielen Prozessstufen an, die durchlaufen werden müssen. Die Bindungsenergie schwerer Atomkerne wird zur kinetischen Energie ihrer bei der Kernspaltung auseinanderfliegenden Bestandteile. Diese wird durch Wechselwirkung mit anderer Materie im Brennelement in Bremswärme gewandelt. Die Wärme wird ans Kühlmittel übertragen, das an den Brennstabhüllen vorbeistreicht – wenn man da von Streichen reden kann, es geht immerhin um rund 20 Tonnen Wasser pro Sekunde, die durch solch einen vier Meter hohen und zwei Meter breiten Reaktorkern gepumpt werden.
Das Wasser steht unter fast 160 bar Druck und verlässt den Reaktor mit einer Temperatur von rund 330 Grad Celsius. Weil es unter hohem Druck steht, siedet es nicht. Vier »Loops« oder Kühlschleifen kühlen den Reaktorkern. Das heiße Wasser kommt aus dem Reaktor, strömt durch eine Hauptkühlmittelleitung von 80 Zentimetern Durchmesser in einen Dampferzeuger und wird in dessen Inneren wiederum auf Tausende von Heizrohren verteilt. In ihnen wird die Wärme des Reaktorkreislaufs ans Speisewasser übergeben, das die Heizrohre umspült. Dann verlässt das Kühlmittel den Dampferzeuger wieder, ungefähr um 30 Grad kühler. Eine Hauptkühlmittelpumpe befördert es zurück in den Reaktor, und der ganze Kreisbetrieb geht von vorne los. Solche Pumpen sind zwölf Meter hoch, jede nimmt fünf Megawatt elektrische Leistung auf und ist ungeheuer laut – ein tiefes Brüllen, das sich aber, wenn man im Reaktorgebäude durch die Treppenhäuser der vier Loops läuft, nur durch ein sanftes Vibrieren der Treppengeländer bemerkbar macht. Die Türen zum Sperrbereich sind gut isoliert, dicke Betonwände trennen ihn von den begehbaren Teilen des Allerheiligsten. Nur die Wärme, die im Gebäude steht, zeigt uns an, welche Energiemengen hinter diesen Türen umgesetzt werden.
In den Dampferzeugern wird Speisewasser durch die Wärmezufuhr erhitzt und zu Frischdampf verwandelt. Der Dampf hat etwa 66 bar Druck, was immer noch rund zehnmal mehr ist als der Druck in unseren Wasserleitungen. Er gelangt über große Rohrleitungen ins Maschinenhaus zur Turbine. Wenn man draußen im Hof unter diesen Frischdampfleitungen steht, lässt sich lediglich ein dumpfes Rauschen und das Zwitschern der Federhalterungen der Leitungen vernehmen. In der Turbine trifft der Frischdampf auf Hindernisse in Form von Turbinenschaufeln und versetzt diese in Rotation. Das bringt wiederum einen auf derselben Welle angekuppelten vierpoligen Magneten in einer Drahtspule zum Drehen – diese Maschine ist der Generator. Sie läuft mit 25 Umdrehungen pro Sekunde, was in der Spule unsere Wechselspannung von 50 Hertz erzeugt. Kurz gesagt, die Bindungsenergie der Uranatome, die rund 60 Meter vom Maschinenhaus entfernt im Reaktor gespalten werden, ist nun in elektrische Energie umgewandelt. Am Ende liegen hinter dem Generator 27,5 Kilovolt Ausgangsspannung an, die über fette Kupferschienen in isolierten Röhren nach draußen geführt wird und von den Maschinentransformatoren aufs Level unseres Landesnetzes hochgespannt wird, 400 Kilovolt. Fertig ist die CO₂-arme Stromversorgung unserer Industrie, unserer Büros, unseres Alltagslebens, unserer Kultur – und demnächst unserer Elektroautos und unserer Wärmepumpen für die Hausheizung. Das ist der Strom, um den sich alles dreht beim Klimaschutz, und wir werden viel davon brauchen – sehr viel.
Manche behaupten, ein Atomkraftwerk sei eine sehr umständliche und riskante Art, um »einfach nur Wasser heiß zu machen«. Allerdings beherrscht ein Atomkraftwerk diesen Wasser-Dampf-Prozess in solchen Dimensionen unter einem solch minimalen Materialeinsatz, dass das Ergebnis jede Form von Erneuerbarer Energie, die Wasserkraft großer Talsperren einmal ausgenommen, in den Schatten stellt. Aus einem Kilogramm Uran-235 kann man rund acht Millionen Kilowattstunden Strom erzeugen, während dieselbe Menge Steinkohle nur rund zweieinhalb Kilowattstunden Strom erbringt. Diese Energiedichte ist das ökologische Geheimnis der Atomkraft. Ein AKW produziert seinen Strom auf einem Bruchteil der Fläche, welche Erneuerbare für dieselbe Menge an Stromproduktion benötigen. Stromerzeugung auf kleinem Raum bedeutet auch: Viele Flächen könnten freibleiben, um dort der Natur ihren Lauf zu lassen.
Nach Fukushima haben sich die Menschen in Deutschland – genauer gesagt, die von ihnen gewählten Abgeordneten – gegen diese Art von Stromerzeugung entschieden. Mit dem Bundestagsbeschluss vom Juni 2011 wurde der endgültige Atomausstieg bis Ende 2022 besiegelt. Ich halte das für einen der schwersten Fehler in der deutschen Infrastruktur- und Industriepolitik der letzten Jahrzehnte. Aber jeder Fehler, der von Menschen verantwortet wird, kann auch von Menschen korrigiert werden. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit, und demokratische Entscheidungen können auch demokratisch geändert werden, wenn eine geänderte Lage dies verlangt. Gesellschaften sind lernende Kollektive, die ihre Vorstellungen revidieren können. Homosexualität ist eine Straftat? Heute absurd. Frauen dürfen nur mit Einverständnis ihres Ehemannes ein Konto eröffnen? Wo sind wir denn! Kernenergie muss weg, denn sie ist gefährlich, teuer und spaltet die Gesellschaft? Womöglich werden wir bald auch darüber sagen: Das war einmal.
Immer mehr Menschen wagen sich an diesen Gedanken. Doch sie müssen gegen eine Mauer von Vorurteilen ankämpfen. Gegen sie sprechen über Generationen erlernte und von machtvollen Institutionen weitergegebene Erzählungen: die Diskurse und die Images der Kernkraft, die sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt haben. Ich werde sie in diesem Buch kritisch prüfen und wenn notwendig gegen den Strich bürsten. Die deutsche Kernenergie, die nie einen für die Umgebung gefährlichen Unfall erlitt, ist nicht an ihrer Technik gescheitert, sondern an ihren Diskursen. So, wie die Menschen und vor allem ihre Vordenker in Medien, Kirchen, Schule, Wissenschaft und Politik über Kernenergie denken und sprechen, so, wie sie sie sehen – so werden sie auch über sie entscheiden. Und deswegen werde ich mich auch damit befassen, warum die Menschen die Kernenergie so sehen, wie sie sie sehen.
Ich nehme Sie mit in die Vorgeschichte des Atomausstiegs, in die erbitterte deutsche Atomkontroverse, die Schlachten auf den Atombaustellen. Ich betrachte die Narrative der Atomindustrie und die Gegenerzählungen der Anti-AKW-Bewegung. Ich werde versuchen, die Frage zu beantworten, warum die deutsche Industrie fast keinen Widerstand gegen den Atomausstieg leistete. Ich nehme Sie mit in »verbotene Zonen«, die Sie nie betreten werden: die Sperrzone von Tschernobyl, aber auch die Kontrollbereiche deutscher Kernkraftwerke. Es sind Welten, die Sie nicht kennen, obwohl sie die ganze Zeit vor Ihrer Nase standen: die Orte des normalisierten Atoms. Ich habe im Inneren der Kernkraftwerke gearbeitet, geforscht und gelernt. Es ist eine Welt, die aus Sicherheitserwägungen von der normalen Welt abgeschottet wurde. Genau deswegen erschien sie fremd und feindlich. Die Abschottung gebar jene Bilder der unnahbaren Atomkraft, die in unseren Köpfen stecken.
Mit dem Rückbau der deutschen Anlagen wird auch ein bedeutendes Kapitel deutscher Industriegeschichte beendet. Die meisten heutigen Politiker und die Umweltverbände möchten diese Atomgeschichte möglichst schnell vergessen machen. Erinnert wird als »Hinterlassenschaft der Atomkraft« nur noch an den Atommüll, der noch kein Endlager, aber seine ganz eigene Mythisierungsgeschichte hinter sich hat. Nicht erinnert wird an die durch die Atomkraft verhinderten Millionen von Tonnen an CO₂- und Luftschadstoff-Emissionen. Derartige Erinnerungen, auch die Erinnerungen der Atomarbeiter, sind nicht erwünscht, oder präziser ausgedrückt: Kaum jemand kommt auf die Idee, dass auch diese Erinnerungen wertvoll sein könnten. Während grüne Archive jedes Flugblatt der Anti-AKW-Bewegung liebevoll aufbewahren und die Geschichtswissenschaft schon viele Publikationen zur Geschichte dieser Bewegung hervorgebracht hat, gibt es keinerlei Initiativen, keine Geschichtswerkstatt, die an das technisch-industrielle Erbe der deutschen Kernenergie anders erinnern will als an einen Haufen Müll. Die nukleare Arbeiterklasse hat keine Historiker.
Das fällt besonders dann auf, wenn man die Atomkraft mit einer anderen deutschen Energieindustrie vergleicht, der Kohleindustrie. Die Kohleverstromung hat in Deutschland Zigtausende von Opfern durch Luftverschmutzung gekostet4, von den Arbeitsunfällen, Ewigkeitslasten und dem CO₂-Ausstoß, die sie den kommenden Generationen beschert hat, ganz abgesehen. Man kann also mit Fug und Recht sagen, hier handelt es sich um eine problematische Industrie. Dennoch wurde sie in hohen Ehren verabschiedet, mit Ministerreden und Grönemeyer-Konzert und einer großen Feier, bei der die letzte Lore Kohle unter Beifall, Abschiedstränen und Steigerlied ans Tageslicht gebracht wurde. Auch hat der Bergbau einen würdigen Erinnerungsort: das Deutsche Bergbaumuseum in Bochum mit seinem charakteristischen Industriedenkmal, dem großen Fördergerüst, das ursprünglich in der Dortmunder Schachtanlage Germania zum Einsatz kam. Hier kann man nicht nur in ein Anschauungsbergwerk einfahren, sondern auch in der Veranstaltungsserie »Frag den Kumpel« ehemaligen Bergleuten zuhören, die ihre Arbeit erklären. Die deutsche Kohle war ein Killer, aber sie stiftete proletarische Identitäten. Dafür wurde sie geliebt. Die deutsche Kerntechnik hingegen war nie ein Killer – identitätsstiftend wirkte sie nur bei ihren Gegnern.
Die Atomgegnerschaft gehört so unverbrüchlich zur Biografie vieler Politikerinnen und Politiker, dass ihnen allein deswegen ein Abbruch des Projekts Atomausstieg unmöglich erscheint. Sie sehen sich nun als Sieger der Geschichte. Die damalige Staatssekretärin im Umweltministerium, Rita Schwarzelühr-Sutter, sagte auf der »Fachkonferenz Teilgebiete« zur Endlagersuche, sie freue sich als ehemalige Aktivistin der Anti-AKW-Bewegung auf das Ende der Atomkraft in ihrem Land. Über das Ende der Kohleindustrie ist kein vergleichbarer Jubel überliefert, weder von Schwarzelühr-Sutter noch von ihrer damaligen Chefin, der ehemaligen Umweltministerin Svenja Schulze, die ihre Karriere einst in der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie begonnen hatte. Ob sich die beiden je gefragt haben, was passiert wäre, hätte man anstatt der deutschen Kernkraftwerke damals lauter Kohlekraftwerke gebaut? Was ist da schiefgelaufen, dass die Wahrnehmungen so krass unterschiedlich verteilt sind? Auch diese Fragen werde ich beantworten.
Die ungeheure Energiedichte der Kerntechnik hat den Menschen vor Augen geführt, dass sie die Naturkräfte nicht nur zum eigenen Nutzen bändigen, sondern auch die Mittel zu ihrer eigenen globalen Vernichtung in der Hand halten kann. Sie lernten ansatzweise zu begreifen, dass heutiges Handeln noch in geologischen Zeiträumen nachweisbar sein wird. Heute erlebt die Welt im Lichte der Klimakrise einen ähnlichen Moment. Diese beiden Erfahrungen haben Forscherinnen und Forscher veranlasst, von einem neuen Erdzeitalter zu sprechen, dem Anthropozän, dem Menschen-Zeitalter: Menschliche Hinterlassenschaften, auch und vor allem die radioaktiven, werden jetzt zu Leitsedimenten einer neuen geologischen Schicht in der Erdkruste. Ich werde versuchen, diese beiden Erfahrungen – die Kerntechnik und die Klimakrise – auf eine andere Weise zusammenzubringen. Denn ich bin überzeugt, dass die Kernenergie in der Klimakrise eine Rolle zu spielen hat – eine mahnende. Und eine konstruktive.
Ich möchte meine Leserinnen und Leser einladen, ihren Blick zu schärfen über eine Technologie, zu der schon alles gesagt schien, sie anders kennenzulernen. Dieses Buch ist ein Plädoyer, keine Laudatio. Es geht nicht darum, das lichte Bild einer prometheischen Technik aus der Klamottenkiste der 1960er-Jahre zu holen und gegen die Schreckensbilder der Atomkritiker zu setzen. Vielmehr ist mein Anliegen, die Kerntechnik mit ihren Versprechungen und Erfüllungen, Höhen und Tiefen, Monströsitäten und Menschlichkeiten so darzustellen, dass eine rationale Abwägung möglich erscheint: eine nochmalige Überlegung, ob wir im Lichte einer neuen Herausforderung nicht doch noch einmal neu über diese Technologie nachdenken sollten.
Zu dieser Überlegung hat mich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser Technologie gebracht, die mich über lange Jahre als Beobachterin in verschiedene kerntechnische Anlagen geführt hat. Denn ich bin durch beide Welten gewandert: erst als junge Anti-Atom- und Friedens-Kämpferin an den Zäunen der AKW-Betriebsgelände und Atomraketendepots, in Polizeigewahrsam und vor Gericht; dann als Studentin in der Sowjetunion, mit dem Unglücksreaktor von Tschernobyl vor der Haustür; viele Jahre später dann als Wissenschaftlerin, die die Welt innerhalb der Zäune betrat. Ich habe über viele Jahre hinweg als Technikhistorikerin die Mensch-Maschine-Beziehungen der Kerntechnik und die Geschichte und Gegenwart der Reaktorsicherheit erforscht.
Viele von Ihnen sind wahrscheinlich atomkraftskeptisch. Ich kann Sie gut verstehen, denn das war ich auch einmal. Daher nehme ich Sie im folgenden Kapitel 2 erst einmal mit auf meinen eigenen Weg: Ich schildere, wie ich von einer ziemlich radikalen Atomkraftgegnerin zur Kernenergie-Forscherin wurde. Danach wenden wir uns den Problemen unserer Gegenwart zu. Kapitel 3 skizziert, was mit der real existierenden Energiewende falschläuft und warum es dazu kam. Kapitel 4 zeigt Lösungsvorschläge und Szenarien unter Einschluss der Kernenergie auf. Dazu muss man wissen, welche Entwicklungspotenziale und -pfade in der Kernenergietechnik für die Bewältigung der Klimakrise realistisch sind. Daher diskutiere ich die verschiedenen möglichen Strategien von Laufzeitverlängerung über den Neubau von heute am Markt verfügbaren Kernkraftwerken (KKW) bis hin zum nuklearen Neustart mit fortschrittlichen Reaktorgenerationen und ihre Kosten.
Doch wie wir alle wissen, gibt es immense Vorbehalte in Teilen der Bevölkerung und der Politik gegen die Kernenergie. Diese werden von schlagkräftigen Organisationen kanalisiert und in Erzählungen verpackt, gegen die in den vergangenen Jahrzehnten kein Kraut gewachsen schien. In den Kapiteln 5 und 6 setze ich mich daher mit den wichtigsten Argumenten der Atomgegner auseinander, die ja auch mal meine eigenen waren: Sie sei zu gefährlich, aus militärischen Motiven geboren und produziere ewig problematischen Müll. Aus welchem Erfahrungsraum sind diese Argumente entstanden? Sind sie wissenschaftlich hieb- und stichfest? Ich werde in diesen Kapiteln auf Grundlage des aktuellen Forschungsstands zeigen, was die wahren Lehren aus Tschernobyl und Fukushima sind, warum man vor Niedrigstrahlung aus dem KKW-Betrieb keine Krebsangst haben muss, wie die Sicherheitskultur in unseren Anlagen aussieht, wie Profis in der Kerntechnik mit Strahlung umgehen, wie man Kernkraftwerke versichert, warum ein Leistungskernreaktor nicht der direkte Weg zur Atombombe ist, und warum auch das Atommüllproblem lösbar ist.
Doch technische Lösungen funktionieren nicht ohne Akzeptanz, und Akzeptanz wird immer sozial und kulturell produziert – als Ergebnis von Kommunikation und Deutung. Daher skizziere ich im Schlusskapitel 7, was die grundlegende Voraussetzung für eine deutsche Klimastrategie mit Kernenergie wäre: Das ist ein Kulturwandel. Ein Wandel weg von der in Deutschland über mehrere Generationen eingeübten Leitkultur der Atomangst, hin zu einer Kultur der nuklearen Gelassenheit: einem kritischen, aufgeklärten, aber auch unaufgeregten Verhältnis zur Kerntechnik; einer wissenschaftsbasierten Haltung zur Energieversorgung, die ohne Nullsummenspiele und Bashing-Attitüde auskommt, egal ob wir von Erneuerbaren oder von Kernenergie sprechen. Ich biete Ihnen also an, was Fridays for Future fordert: Follow the Science.