Alexander von Humboldt
Sieben Bände
Herausgegeben von
Hanno Beck
BAND VII/2
Entwurf einer physischen Weltbeschreibung
Teilband 2
Herausgegeben und kommentiert von Hanno Beck
in Verbindung mit Wolf-Dieter Grün, Sabine Melzer-Grün,
Detlef Haberland, Paulgünther Kautenburger †, Eva Michels-Schwarz,
Uwe Schwarz und Fabienne Orazie Vallino
Forschungsunternehmen der Humboldt-Gesellschaft, Nr. 40
Mit Förderung der Academia Cosmologica Nova
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2., durchgesehene Auflage 2008
©2008 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
1. Auflage 1987–1997
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder
der WBG ermöglicht.
Satz: Janß GmbH, Pfungstadt
Umschlag- und Schubergestaltung: Peter Lohse, Büttelborn
Abbildungen auf dem Schuber: Humboldt-Portrait von F. G. Weitsch 1806,
Foto: Hanno Beck; Weltkarte aus dem Berghausatlas, V. Abteilung, Pflanzen-Geographie;
„Plan du Port de Veracruz“ von A. v. Humboldt, Foto: Hanno Beck
Umschlagabbildungen: Details aus den Karten und Illustrationen des Berghausatlas
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-darmstadt.de
ISBN 978-3-534-19691-3
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF):978-3-534-73941-7
eBook (epub): 978-3-534-73942-4
A. Textteil
Zweiter Band
1. Anregungsmittel zum Naturstudium
Reflex der Außenwelt auf die Einbildungskraft: Dichterische Naturbeschreibung – Landschaftsmalerei – Kultur exotischer Gewächse, den physiognomischen Charakter der Pflanzendecke auf der Erdoberfläche bezeichnend
I. Naturbeschreibung – Naturgefühl nach Verschiedenheit der Zeiten und der Völkerstämme
II. Landschaftsmalerei in ihrem Einfluß auf die Belebung des Naturstudiums – Graphische Darstellung der Physiognomik der Gewächse – Charakteristik ihrer Gestaltung unter verschiedenen Zonen
III. Kultur von Tropengewächsen – Kontrastierende Zusammenstellung der Pflanzengestalten – Eindruck des physiognomischen Charakters der Vegetation, soweit Pflanzungen diesen Eindruck hervorbringen können
2. Geschichte der physischen Weltanschauung
Hauptmomente der allmählichen Entwicklung und Erweiterung des Begriffs vom Kosmos als einem Naturganzen.
Hauptmomente einer Geschichte der physischen Weltanschauung
I. Das Mittelmeer als Ausgangspunkt für die Darstellung der Verhältnisse, welche die allmähliche Erweiterung der Idee des Kosmos begründet haben – Anreihung dieser Darstellung an die früheste Kultur der Hellenen – Versuche ferner Schiffahrt gegen Nordost (Argonauten), gegen Süden (Ophir), gegen Westen (Coläus von Samos)
II. Feldzüge der Makedonier unter Alexander dem Großen – Umgestaltung der Weltverhältnisse – Verschmelzung des Westens mit dem Osten – Das Griechentum fördert die Völkervermischung vom Nil bis zum Euphrat, dem Jaxartes [Syr-darja] und Indus – Plötzliche Erweiterung der Weltansicht durch eigene Beobachtung der Natur wie durch den Verkehr mit altkultivierten, gewerbetreibenden Völkern
III. Zunahme der Weltanschauung unter den Ptolemäern – Museum im Serapeum – Eigentümlicher Charakter der wissenschaftlichen Richtung in dieser Zeitepoche – Enzyklopädische Gelehrsamkeit – Verallgemeinerung der Naturansichten in den Erd- und Himmelsräumen
IV. Römische Weltherrschaft – Einfluß eines großen Staatsverbands auf die kosmischen Ansichten – Fortschritte der Erdkunde durch Landhandel – Strabo und Ptolemäus – Anfänge der mathematischen Optik und des chemischen Wissens – Versuche einer physischen Weltbeschreibung durch Plinius – Die Entstehung des Christentums erzeugt und begünstigt das Gefühl von der Einheit des Menschengeschlechts
V. Einfall der Araber – Geistige Bildsamkeit dieses Teils des semitischen Volksstammes – Einfluß eines fremdartigen Elements auf den Entwicklungsgang europäischer Kultur – Eigentümlichkeit des Nationalcharakters der Araber – Hang zum Verkehr mit der Natur und ihren Kräften – Arzneimittellehre und Chemie – Erweiterung der Physischen Erdkunde im Innern der Kontinente, der Astronomie und der mathematischen Wissenschaften
VI. Zeit der ozeanischen Entdeckungen – Eröffnung der westlichen Hemisphäre – Begebenheiten und Erweiterung wissenschaftlicher Kenntnisse, welche die ozeanischen Entdeckungen vorbereitet haben – Colum – bus, Sebastian Cabot und Gama – Amerika und das Stille Meer – Cabrillo, Sebastian Vizcaino, Mendaña und Quirós – Die reichste Fülle des Materials zur Begründung der Physischen Erdbeschreibung wird den westlichen Völkern Europas dargeboten
VII. Große Entdeckungen in den Himmelsräumen durch Anwendung des Fernrohrs – Hauptepoche der Sternkunde und Mathematik von Galilei und Kepler bis Newton und Leibniz – Gesetze der Planetenbewegung und allgemeine Gravitationstheorie
VIII. Rückblick auf die Reihenfolge der durchlaufenen Perioden – Einfluß äußerer Ereignisse auf die sich entwickelnde Erkenntnis des Weltganzen – Vielseitigkeit und innigere Verkettung der wissenschaftlichen Bestrebungen in der neuesten Zeit – Die Geschichte der physischen Wissenschaften schmilzt allmählich mit der Geschichte des Kosmos zusammen
B. Kommentar
Zu dieser Ausgabe des Kosmos
1. Kosmos-Probleme
2. Zur Bibliographie der Kosmos – Ausgaben
3. physique du monde = Physik der Welt = Kosmos-Idee Humboldts? Zu den Begriffen und Humboldts späteren Rückschreibungen seines Kosmos-Planes
4. Zur Entstehungsgeschichte des Kosmos-Werkes
5. Zur Kennzeichnung der Kosmos-Ausgaben
a) Die Originalausgabe
b) Zur „verbesserten“ oder der Ausgabe des „kleinen Kosmos“
c) Bernhard v. Cottas Jubiläums-Ausgabe des Kosmos zum 100. Geburtstag A. v. Humboldts 1869 (1870/74)
d) Der einbändige deutsch – amerikanische Kosmos 1869
e) Der Kosmos in der Ausgabe der ›Gesammelten Werke von Alexander von Humboldt‹ (1889)
6. Die Atlanten
a) Der im Auftrag A. v. Humboldts von Heinrich Berghaus bearbeitete Atlas zum später Kosmos genannten Werk
b) Zum Werbetext für den ›Physikalischen Atlas‹ und seiner wissenschaftstheoretischen Konsequenz
c) Traugott Brommes Atlas zu Humboldts Kosmos
7. Zur Erläuterung des Kosmos-Textes
a) Hinweise zu Lektüre und Verständnis des Werkes
b) Zum Kosmos-Kommentar des 19. Jahrhunderts
c) Gestalt dieser Ausgabe und Hinweise auf die Bearbeitung des Kosmos-Textes
d) Zur Erläuterung des Werkes
8. Zur Wirkungsgeschichte
Dank des Herausgebers
Entwurf
einer physischen Weltbeschreibung
von
Alexander von Humboldt.
Zweiter Band.
Stuttgart und Augsburg.
J. G. Cotta’scher Verlag.
1847.
Wir treten aus dem Kreise der Objekte in den Kreis der Empfindungen. Die Hauptresultate der Beobachtung, wie sie, von der Phantasie entblößt, der reinen Objektivität wissenschaftlicher Naturbeschreibung angehören, sind eng aneinander gereiht im ersten Band dieses Werks unter der Form eines Naturgemäldes aufgestellt worden. Jetzt betrachten wir den Reflex des durch die äußeren Sinne empfangenen Bildes auf das Gefühl und die dichterisch gestimmte Einbildungskraft. Es eröffnet sich uns eine innere Welt. Wir durchforschen sie, nicht um in diesem Buch von der Natur zu ergründen – wie es von der Philosophie der Kunst gefordert wird –, was in der Möglichkeit ästhetischer Wirkungen dem Wesen der Gemütskräfte und den mannigfaltigen Richtungen geistiger Tätigkeit zukommt, sondern vielmehr um die Quelle lebendiger Anschauung als Mittel zur Erhöhung eines reinen Naturgefühls zu schildern; um den Ursachen nachzuspüren, welche besonders in der neueren Zeit durch Belebung der Einbildungskraft so mächtig auf die Liebe zum Naturstudium und auf den Hang zu fernen Reisen gewirkt haben.
Die Anregungsmittel sind, wie wir schon früher bemerkt haben1, von dreierlei Art: ästhetische Behandlung von Naturszenen in belebten Schilderungen der Tier- und Pflanzenwelt, ein sehr moderner Zweig der Literatur; Landschaftsmalerei, besonders insofern sie angefangen hat, die Physiognomik der Gewächse aufzufassen; mehr verbreitete Kultur von Tropengewächsen und kontrastierende Zusammenstellung exotischer Formen. Jedes der hier bezeichneten Anregungsmittel könnte schon seiner historischen Beziehungen wegen der Gegenstand vielumfassender Erörterung werden; aber nach dem Geist und dem Zweck meiner Schrift scheint es geeigneter, nur wenige leitende Ideen zu entwickeln, daran zu erinnern, wie die Naturwelt in verschiedenen Zeitepochen und bei verschiedenen Volksstämmen so ganz anders auf die Gedanken- und Empfindungswelt eingewirkt hat, wie in einem Zustand allgemeiner Kultur das ernste Wissen und die zarteren Anregungen der Phantasie sich gegenseitig zu durchdringen streben. Um die Natur in ihrer ganzen erhabenen Größe zu schildern, darf man nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen; die Natur muß auch dargestellt werden, wie sie sich im Inneren des Menschen abspiegelt, wie sie durch diesen Reflex bald das Nebelland physischer Mythen mit anmutigen Gestalten füllt, bald den edlen Keim darstellender Kunsttätigkeit entfaltet.
Indem wir uns hier auf die einfache Betrachtung der Anregungsmittel zum wissenschaftlichen Naturstudium beschränken, erinnern wir zuerst an die mehrfach sich wiederholende Erfahrung, daß oft sinnliche Eindrücke und zufällig scheinende Umstände in jungen Gemütern die ganze Richtung eines Menschenlebens bestimmen. Kindliche Freude an der Form von Ländern und eingeschlossenen Meeren2, wie sie auf Karten dargestellt sind, der Hang nach dem Anblick der südlichen Sternbilder, dessen unser Himmelsgewölbe entbehrt3, Abbildungen von Palmen und libanotischen Zedern in einer Bilderbibel können den früheren Trieb nach Reisen in ferne Länder in die Seele pflanzen. Wäre es mir erlaubt, eigene Erinnerungen anzurufen, mich selbst zu befragen, was einer unvertilgbaren Sehnsucht nach der Tropengegend den ersten Anstoß gab, so müßte ich nennen: Georg Forsters Schilderung der Südseeinseln, Gemälde von Hodges, die Ganges-Ufer darstellend, im Haus von Warren Hastings zu Londen, einen kolossalen Drachenbaum in einem alten Turm des Botanischen Gartens bei Berlin. Die Gegenstände, welche wir hier beispielsweise aufzählen, gehörten den drei Klassen von Anregungsmitteln an, die wir früher bezeichneten: der Naturbeschreibung, wie sie einer begeisterten Anschauung des Erdenlebens entquillt; der darstellenden Kunst als Landschaftsmalerei und der unmittelbaren objektiven Betrachtung charakteristischer Naturformen. Diese Anregungsmittel üben aber ihre Macht nur da aus, wo der Zustand moderner Kultur und ein eigentümlicher Gang der Geistesentwicklung unter Begünstigung ursprünglicher Anlagen die Gemüter für Natureindrücke empfänglicher gemacht hat.
Es ist oftmals ausgesprochen worden, daß die Freude an der Natur, wenn auch dem Altertum nicht fremd, doch in ihm als Ausdruck des Gefühls sparsamer und minder lebhaft gewesen sei denn in der neueren Zeit. „Wenn man sich “, sagt Schiller4 in seinen Betrachtungen über die naive und sentimentalische Dichtung, „der schönen Natur erinnert, welche die alten Griechen umgab, wenn man nachdenkt, wie vertraut dieses Volk unter seinem glücklichen Himmel mit der freien Natur leben konnte, wie sehr viel näher seine Vorstellungsart, seine Empfindungsweise, seine Sitten der einfältigen Natur lagen und welch ein treuer Abdruck derselben seine Dichterwerke sind, so muß die Bemerkung befremden, daß man so wenig Spuren von dem sentimentalischen Interesse, mit welchem wir Neueren an Naturszenen und Naturcharakteren hängen können, bei denselben antrifft. Der Grieche ist zwar im höchsten Grade genau, treu, umständlich in Beschreibung derselben, aber mit nicht mehrerem Herzensanteil, als er es in der Beschreibung eines Gewandes, eines Schildes, einer Rüstung ist. Die Natur scheint mehr seinen Verstand als sein moralisches Gefühl zu interessieren; er hängt nicht mit Innigkeit und süßer Wehmut an derselben wie die Neueren.“ So viel Wahres und Vortreffliches auch im einzelnen in diesen Äußerungen liegt, so können sie doch keineswegs auf das ganze Altertum ausgedehnt werden. Auch dürfen wir es wohl eine beschränkte Ansicht nennen, unter dem Altertum, wenn dasselbe der neueren Zeit entgegengesetzt werden soll, immer nur ausschließlich die hellenische und römische Welt zu verstehen. Tiefes Naturgefühl spricht sich in den ältesten Dichtungen der Hebräer und Inder aus, also bei Volksstämmen sehr verschiedener, semitischer und indogermanischer Abkunft.
Wir können auf die Sinnesart der alten Völker nur aus den Äußerungen der Naturgefühle schließen, welche in den Überbleibseln ihrer Literatur ausgesprochen sind; wir müssen daher diesen Äußerungen um so sorgfältiger nachspüren und sie um so vorsichtiger beurteilen, als sie sich unter den großen Formen der lyrischen und epischen Dichtung nur sparsam darbieten. Im hellenischen Altertum, im Blütenalter der Menschheit, finden wir allerdings den zartesten Ausdruck tiefer Naturempfindung den dichterischen Darstellungen menschlicher Leidenschaft, einer der Sagengeschichte entnommenen Handlung beigemischt; aber das eigentlich Naturbeschreibende zeigt sich dann nur als ein Beiwerk, weil in der griechischen Kunstbildung sich alles gleichsam im Kreis der Menschheit bewegt.
Beschreibung der Natur in ihrer gestaltenreichen Mannigfaltigkeit, Naturdichtung als ein abgesonderter Zweig der Literatur war den Griechen völlig fremd. Auch die Landschaft erscheint bei ihnen nur als Hintergrund eines Gemäldes, vor dem menschliche Gestalten sich bewegen. Leidenschaften in Taten ausbrechend fesselten fast allein den Sinn. Ein bewegtes öffentliches Volksleben zog ab von der dumpfen, schwärmerischen Versenkung in das stille Treiben der Natur; ja den physischen Erscheinungen wurde immer eine Beziehung auf die Menschheit5 beigelegt, sei es in den Verhältnissen der äußeren Gestaltung oder der inneren anregenden Tatkraft. Fast nur solche Beziehungen machten die Naturbetrachtung würdig, unter der sinnigen Form des Gleichnisses, als abgesonderte kleine Gemälde voll objektiver Lebendigkeit in das Gebiet der Dichtung gezogen zu werden.
Zu Delphi wurden Frühlings-Päane6 gesungen, wahrscheinlich bestimmt, die Freude des Menschen nach der überstandenen Not des Winters auszudrücken. Eine naturbeschreibende Darstellung des Winters ist den Werken und Tagen7 des Hesiodus (vielleicht von der fremden Hand eines späteren ionischen Rhapsoden?) eingewebt. In edler Einfachheit, aber in nüchtern didaktischer Form gibt dies Gedicht Anweisungen zum Feldbau, Erwerbs- und Arbeitsregeln, ethische Mahnungen zu tadellosem Wandel. Es erhebt sich ebenfalls zu mehr lyrischem Schwung nur, wenn der Sänger das Elend des Menschengeschlechts oder die schöne allegorische Mythe des Epimetheus und der Pandora in ein anthropomorphisches Gewand einhüllt. Auch in der ›Theogonie‹ des Hesiodus, die aus sehr verschiedenen uralten Elementen zusammengesetzt ist, finden sich mehrfach, z.B. bei Aufzählung der Nereiden8, Naturschilderungen des neptunischen Reichs unter bedeutsamen Namen mythischer Personen versteckt. Die böotische Sängerschule und überhaupt die ganze alte Dichtkunst wenden sich den Erscheinungen der Außenwelt zu, um sie menschenartig zu personifizieren.
Ist, wie soeben bemerkt, Naturbeschreibung, sei sie Darstellung des Reichtums und der Üppigkeit tropischer Vegetation, sei sie lebensfrische Schilderung der Sitten der Tiere, gleichsam nur in der neuesten Zeit ein abgesonderter Zweig der Literatur geworden, so ist es nicht, als habe da, wo so viel Sinnlichkeit atmet, die Empfänglichkeit für das Naturschöne gemangelt,9 als müsse man da, wo die schaffende Kraft der Hellenen in der Poesie und der bildenden Kunst unnachahmliche Meisterwerke erzeugte, den lebensfrischen Ausdruck einer anschauenden Dichternatur vermissen. Was wir nach dieser Richtung hin im Gefühl unserer modernen Sinnesart in jenen Regionen der antiken Welt nur zu sparsam auffinden, bezeugt in seiner Negation weniger den Mangel der Empfänglichkeit als den eines regen Bedürfnisses, das Gefühl des Naturschönen durch Worte zu offenbaren. Minder der unbelebten Erscheinungswelt als dem handelnden Leben und der inneren, spontanen Anregung der Gefühle zugewandt, waren die frühesten und auch die edelsten Richtungen des dichterischen Geistes episch und lyrisch. In diesen Kunstformen aber können Naturschilderungen sich nur wie zufällig beigemischt finden. Sie erscheinen nicht als gesonderte Erzeugnisse der Phantasie. Je mehr der Einfluß der Alten Welt verhallte, je mehr ihre Blüten dahinwelkten, ergoß sich die Rhetorik in die beschreibende wie in die belehrende, didaktische Poesie. Diese war ernst, großartig und schmucklos in ihrer ältesten philosophischen, halb priesterlichen Form als Naturgedicht des Empedokles; sie verlor allmählich durch die Rhetorik von ihrer Einfachheit und früheren Würde.
Möge es uns erlaubt sein, um das allgemein Gesagte zu erläutern, hier bei einzelnen Beispielen zu verweilen. Wie der Charakter des Epos es erheischt, finden sich in den Homerischen Gesängen immer nur als Beiwerk die anmutigsten Szenen des Naturlebens. „Der Hirt freut sich der Windstille der Nacht, des reinen Äthers und des Sternenglanzes am Himmelsgewölbe; er vernimmt aus der Ferne das Toben des plötzlich angeschwollenen, Eichenstämme und trüben Schlamm fortreißenden Waldstroms.“10 Mit der großartigen Schilderung der Waldeinsamkeit des Parnassos und seiner dunklen, dichtbelaubten Felstäler konstrastieren die heiter lieblichen Bilder des quellenreichen Pappelhains in der Phäaken-Insel Scheria, und vor allem das Land der Zyklopen: „Wo schwellend von saftreichem, wogenden Gras die Auen den ungepflegten Rebenhügel umgrenzen.“11 Pindaros besingt in einem Frühlings-Dithyrambus, den er zu Athen hat aufführen lassen, „die mit neuen Blüten bedeckte Erde, wenn in der Argeischen Nemea der sich zuerst entwickelnde Sprößling des Palmbaums dem Seher den anbrechenden, duftenden Frühling verkündigt“; er besingt den Ätna: „die Säule des Himmels, Nährerin dauernden Schnees“; aber eilend wendet er sich ab von der toten Natur und ihren Schauern, um Hieron von Syracus zu feiern und die siegreichen Kämpfe der Hellenen gegen das mächtige Volk der Perser.
Vergessen wir nicht, daß die griechische Landschaft den eigentümlichen Reiz einer innigeren Verschmelzung des Starren und Flüssigen, des mit Pflanzen geschmückten oder malerisch felsigen, luftgefärbten Ufers und des wellenschlagenden, lichtwechselnden, klangvollen Meers darbietet. Wenn anderen Völkern Meer und Land, das Erd- und Seeleben wie zwei getrennte Sphären der Natur erschienen sind, so wurde dagegen den Hellenen, und nicht etwa bloß den Inselbewohnern, sondern auch den Stämmen des südlichen Festlands, fast überall gleichzeitig der Anblick dessen, was im Kontakt und durch Wechselwirkung der Elemente dem Naturbild seinen Reichtum und seine erhabene Größe verleiht. Wie hätten auch jene sinnigen, glücklich gestimmten Völker nicht angeregt werden sollen von der Gestalt waldbegrenzter Felsrippen an den tiefeingeschnittenen Ufern des Mittelmeers, von dem stillen, nach Jahreszeiten und Tagesstunden wechselnden Verkehr der Erdfläche mit den unteren Schichten des Luftkreises, von der Verteilung der vegetabilischen Gestalten? Wie sollte in dem Zeitalter, wo die dichterische Stimmung die höchste war, sich nicht jegliche Art lebendiger sinnlicher Regung des Gemüts in idealische Anschauung auflösen? Der Grieche dachte sich die Pflanzenwelt in mehrfacher mythischer Beziehung mit den Heroen und Göttern. Diese rächten strafend eine Verletzung geheiligter Bäume und Kräuter. Die Einbildungskraft belebte gleichsam die vegetabilischen Gestalten; aber die Formen der Dichtungsarten, auf welche bei der Eigentümlichkeit griechischer Geistesentwicklung das Altertum sich beschränkte, gestatteten dem naturbeschreibenden Teil nur eine mäßige Entfaltung.
Einzeln bricht indes selbst bei den Tragikern mitten im Gewühl aufgeregter Leidenschaft und wehmütiger Gefühle ein tiefer Natursinn in begeisterte Schilderungen der Landschaft aus. Wenn Ödipus sich dem Hain der Eumeniden naht, singt der Chor „den edeln Ruhesitz des glanzvollen Kolonos, wo die melodische Nachtigall gern einkehrt und in helltönenden Lauten klagt“; er singt „die grünende Nacht der Efeu-Gebüsche, die von himmlischem Tau getränkten Narzissen, den goldstrahlenden Krokos und den unvertilgbaren, stets selber sich wiedererzeugenden Ölbaum“.12 Indem Sophokles seinen Geburtsort, den Gau von Kolonos, zu verherrlichen strebt, stellt er die hohe Gestalt des schicksalverfolgten, herumirrenden Königs an die schlummerlosen Gewässer des Kephissos, von heiteren Bildern sanft umgeben. Die Ruhe der Natur vermehrt den Eindruck des Schmerzes, welchen die hehre Gestalt des Erblindeten, das Opfer verhängnisvoller Leidenschaft, hervorruft. Auch Euripides13 gefällt sich in der malerischen Beschreibung von „Messeniens und Lakoniens Triften, die unter dem ewig milden Himmel durch tausend Quellenbrunnen genährt, vom schönen Pamisos durchströmt werden“.
Die bukolische Dichtung, in den Gefilden von Sizilien entstanden und zum Dramatischen volkstümlich hingeneigt, führt mit Recht den Namen einer Übergangsform. Sie schildert im kleinen Hirten-Epos mehr den Naturmenschen als die Landschaft. So erscheint sie in ihrer anmutigsten Vollendung in Theokrit. Ein weiches elegisches Element ist übrigens dem Idyll eigen, gleichsam als wäre es „aus der Sehnsucht nach einem verlorenen Ideal“ entstanden, als sei immerdar in der Brust des Menschen dem tiefen Naturgefühl eine gewisse Wehmut beigemischt.
Wie nun mit dem freien Volksleben die Poesie in Hellas erstarb, wurde diese beschreibend, didaktisch eine Trägerin des Wissens. Sternkunde, Erdbeschreibung, Jagd und Fischfang treten auf in der alexandrinischen Zeit als Gegenstände der Dichtkunst, oft geziert durch eine sehr vorzügliche metrische Technik. Die Gestalten und Sitten der Tierwelt werden mit Anmut und oft mit einer Genauigkeit geschildert, daß die neuere klassifizierende Naturkunde Gattungen und selbst Arten in den Beschreibungen erkennen kann. Es fehlt aber allen diesen Dichtungsarten das innere Leben, eine begeisterte Anschauung der Natur, das, wodurch die Außenwelt dem angeregten Dichter fast unbewußt ein Gegenstand der Phantasie wird. Das Übermaß des beschreibenden Elements findet sich in den durch kunstreichen Versbau ausgezeichneten 48 Gesängen der ›Dionysiaca‹ des Ägypters Nonnus. Der Dichter gefällt sich in der Darstellung großer Naturumwälzungen, er läßt durch ein vom Blitz entzündetes Waldufer, im Flußbett des Hydaspes, selbst die Fische verbrennen; er lehrt, wie aufsteigende Dämpfe den meteorologischen Prozeß des Gewitters und eines elektrischen Regens erzeugen. Zur romantischen Poesie hingeneigt, ist Nonnus von Panopolis wundersam ungleich, bald begeistert und anregend, bald langweilig und wortreich.
Mehr Naturgefühl und Zartheit der Empfindung offenbaren sich in einzelnen Teilen der griechischen Blumenlese (›Anthologie‹), welche auf so verschiedenen Wegen und aus verschiedenen Zeiten zu uns gelangt ist. In der anmutigen Übersetzung von Jacobs ist alles, was das Tier- und Pflanzenleben betrifft, in einer Abteilung vereinigt. Es sind kleine Bilder, meist nur Anspielungen auf individuelle Formen. Die Platane, welche „in ihrem Gezweig die mostschwellende Traube ernährt“ und aus Kleinasien über die Insel des Diomedes erst unter Dionysius dem Älteren bis zu den Ufern des sizilischen Anapus vordrang, wird vielleicht nur zu oft besungen; doch scheint im ganzen der antike Sinn in diesen Liedern und Epigrammen mehr der Tier- als der Pflanzenwelt zugewandt. Eine edle und zugleich etwas größere Komposition ist das Frühlingsidyllium des Meleager von Gadara in Cölesyrien [Mittelsyrien zwischen Libanon und Antilibanon]14.
Schon des alten Rufs der Gegend wegen muß ich die Schilderung des Waldtals von Tempe erwähnen, welche Aelian15 wahrscheinlich nach dem Vorbild des Dicäarchus entworfen hat. Es ist das Ausführlichste, was uns von Naturbeschreibungen aus den griechischen Prosaiken erhalten ist, topographisch freilich, aber doch auch malerisch zugleich; denn das schattige Tal wird belebt durch den pythischen Aufzug (theoria), „welcher vom heiligen Lorbeer die sühnenden Zweige bricht“. In der späten byzantinischen Zeit, seit dem Ende des 4. Jahrhunderts, sehen wir landschaftliche Schilderungen schon häufiger in die Romane der griechischen Prosaiker eingewebt. Durch die Schilderungen zeichnet sich der Schäferroman des Longus16 aus, in welchem aber doch zarte Lebensbilder den Ausdruck der Naturgefühle weit übertreffen.
Es war nicht der Zweck dieser Blätter, mehr zu liefern, als was durch spezielle Erinnerung an einzelne Kunstformen die allgemeinen Betrachtungen über die dichterische Auffassung der Außenwelt zu erläutern vermag. Ich würde schon den Blütenkreis des hellenischen Altertums verlassen, wenn in einem Werk, dem ich gewagt, den Namen ›Kosmos‹ vorzusetzen, mit Stillschweigen die Naturschilderung übergangen werden dürfte, mit der das Pseudo-Aristotelische Buch vom Kosmos (oder von der Weltordnung) anhebt. Es zeigt uns dieselbe „den Erdball mit üppigem Pflanzenwuchs geschmückt, reich bewässert und (als das Preiswürdigste) von denkenden Wesen bewohnt“.17 Die rhetorische Färbung eines so reichen Naturbildes, der konzisen und rein wissenschaftlichen Darstellungsweise des Stagiriten völlig unähnlich, ist selbst als eines der vielen Zeichen der Unechtheit jener Schrift ›Über den Kosmos‹ erkannt worden. Mag sie immerhin dem Aupulejus18 oder dem Chrysippus19 oder wem sonst zugehören! Die naturbeschreibende Stelle, die wir als aristotelisch entbehren, wird uns gleichsam durch eine andere, echte ersetzt, welche Cicero uns erhalten hat. Aus einem verlorenen Werk des Aristoteles führt dieser in wörtlicher Übertragung20 folgendes an: „Wenn es Wesen gäbe, die in den Tiefen der Erde immerfort in Wohnungen lebten, welche mit Statuen und Gemälden und allem dem verziert wären, was die für glücklich Gehaltenen in reicher Fülle besitzen; wenn dann diese Wesen Kunde erhielten vom Walten und der Macht der Götter und durch die geöffneten Erdspalten aus jenen verborgenen Sitzen herausträten an die Orte, die wir bewohnen, wenn sie urplötzlich Erde und Meer und das Himmelsgewölbe erblickten, den Umfang der Wolken und die Kraft der Winde erkennten, die Sonne bewunderten in ihrer Größe, Schönheit und lichtausströmenden Wirkung, wenn sie endlich, sobald die einbrechende Nacht die Erde in Finsternis hüllt, den Sternenhimmel, den lichtwechselnden Mond, den Auf- und Untergang der Gestirne und ihren von Ewigkeit her geordneten unveränderlichen Lauf erblickten, so würden sie wahrscheinlich aussprechen, es gebe Götter und so große Dinge seien ihr Werk.“ Man hat mit Recht gesagt, daß diese Worte allein schon hinreichen, Ciceros Ausspruch über „den goldenen Strom der Aristotelischen Rede“ zu bewähren21, daß in ihnen etwas von der begeisternden Kraft des Platonischen Genius weht. Ein solcher Beweis für das Dasein himmlischer Mächte aus der Schönheit und unendlichen Größe der Werke der Schöpfung steht im Altertum sehr vereinzelt da.
Was wir, ich sage nicht, in der Empfänglichkeit des griechischen Volkes, sondern in den Richtungen seiner literarischen Produktivität vermissen, ist noch sparsamer bei den Römern zu finden. Eine Nation, die nach alter sikulischer Sitte dem Feldbau und dem Landleben vorzugsweise zugetan war, hätte zu anderen Hoffnungen berechtigt; aber neben so vielen Anlagen zur praktischen Tätigkeit war der Volkscharakter der Römer in seinem kalten Ernst, in seiner abgemessenen, nüchternen Verständigkeit, sinnlich weniger erregbar, der alltäglichen Wirklichkeit mehr als einer idealisierenden dichterischen Naturanschauung hingegeben. Diese Unterschiede des inneren Lebens der Römer und der griechischen Stämme spiegeln sich ab in der Literatur als dem geistigen Ausdruck alles Volkssinnes. Zu ihnen gesellt sich noch trotz der Verwandtschaft in der Abstammung die anerkannte Verschiedenheit im organischen Bau der beiden Sprachen. Der Sprache des alten Latium wird mindere Bildsamkeit, eine beschränktere Wortfügung, „eine mehr realistische Tendenz“ als idealische Beweglichkeit zugeschrieben. Dazu konnte im Augusteischen Zeitalter der entfremdende Hang, griechischen Vorbildern nachzustreben, den Ergießungen heimischer Gemütlichkeit und eines freien Naturgefühls hinderlich werden; aber von Vaterlandsliebe getragen, wußten kräftige Geister durch schöpferische Individualität, durch Erhabenheit der Ideen wie durch zarte Anmut der Darstellung jene Hindernisse zu überwinden.
Reichlich mit poetischem Genius ausgestattet ist das begeisterte Naturgedicht des Lucretius. Es umfaßt den ganzen Kosmos; dem Empedokles und Parmenides verwandt, erhöht die archaistische Diktion den Ernst der Darstellung. Die Poesie ist hier tief mit der Philosophie verwachsen, ohne deshalb in die „Frostigkeit“ der Komposition zu verfallen, welche, gegen die phantasiereiche Naturansicht Platos abstechend, schon von dem Rhetor Menander in dem über die ›Physischen Hymnen‹ gefällten Urteil so bitter getadelt wird22. Mein Bruder hat mit viel Scharfsinn die auffallenden Analogien und Verschiedenheiten entwickelt, welche aus der Verwachsung metaphysischer Abstraktionen mit der Poesie in den alten griechischen Lehrgedichten, in dem des Lucretius und in der Episode Bhagavad-Gita, aus dem indischen Epos Mahabharata23, entstanden sind. Das große physische Weltgemälde des römischen Dichters kontrastiert in seiner erkaltenden Atomistik und seinen oft wilden geognostischen Träumen mit seiner lebensfrischen Schilderung vom Übergang des Menschengeschlechts aus dem Dickicht der Wälder zum Feldbau, zur Beherrschung der Naturkräfte, zur erhöhten Kultur des Geistes und also auch der Sprache, zur bürgerlichen Gesittung.24
Wenn bei einem Staatsmann in einem bewegten und vielbeschäftigten Leben, in einem durch politische Leidenschaft aufgeregten Gemüt, lebendiges Naturgefühl und Liebe zu ländlicher Einsamkeit sich erhalten, so liegt die Quelle davon in den Tiefen eines großen und edlen Charakters. Ciceros eigene Schriften bezeugen die Wahrheit dieser Behauptung. Allerdings ist, wie allgemein bekannt, im Buch ›Von den Gesetzen‹ und in dem ›Vom Redner‹ manches dem Phädrus des Plato25 nachgebildet; das italische Naturbild hat aber darum nichts von seiner Individualität verloren. Plato preist in allgemeinen Zügen den „dunklen Schatten der hochbelaubten Platane, die Kräuterfülle in vollem Duft der Blüten; die Lüfte, welche süß und sommerlich im Chor der Zikaden wehen“. In Ciceros kleinem Naturbild ist, wie noch neuerlichst ein sinniger Forscher26 bemerkt hat, alles so dargestellt, wie man es heute noch in der wirklichen Landschaft wiederfindet. Den Liris sehen wir von hohen Pappeln beschattet; man erkennt, wenn man vom steilen Berg hinter der alten Burg von Arpinum gegen Osten hinabsteigt, den Eichenhain am Bach Fibrenus wie die Insel, jetzt Isola di Carnello genannt, welche durch die Teilung des Flüßchens entsteht und in die Cicero sich zurückzog, um, wie er sagt, „seinen Meditationen nachzuhängen, zu lesen oder zu schreiben“. Arpinum am Volskischen Gebirge war des großen Staatsmanns Geburtssitz, und die herrliche Umgebung hat gewiß auf seine Stimmung im Knabenalter gewirkt. Dem Menschen unbewußt, gesellt sich früh, was die umgebende, mehr oder minder anregende Natur in der Seele abspiegelt, zu dem, was tief und frei in den ursprünglichen Anlagen, in den inneren geistigen Kräften gewurzelt ist.
Mitten unter den verhängnisvollen Stürmen des Jahres 708 (nach Erbauung der Stadt) fand Cicero Trost in seinen Villen, abwechselnd in Tusculum, in Arpinum, bei Cumä und Antium. „Nichts ist erfreulicher“, schreibt er27 an Atticus, „als diese Einsamkeit; nichts anmutiger als dieser Landsitz, als das nahe Ufer und der Blick auf das Meer. – In der Einöde der Insel Astura, an der Mündung des gleichnamigen Flusses, am Ufer des Tyrrhenischen Meers stört mich kein Mensch; und wenn ich mich früh Morgens in einem dichten und rauhen Wald verborgen halte, verlasse ich denselben vor Abend nicht. Nächst meinem Atticus ist mir nichts so lieb wie die Einsamkeit; in ihr pflege ich meinen Verkehr mit den Wissenschaften, doch wird dieser oft durch Tränen unterbrochen. Ich kämpfe (als Vater) dagegen an, so viel ich es vermag; aber noch bin ich solch einem Kampf nicht gewachsen.“ Man hat mehrfach bemerkt, daß in diesen Briefen und in denen des jüngeren Plinius Anklänge moderner Sentimentalität nicht zu verkennen seien. Ich finde darin nur Anklänge dieser Gemütlichkeit, die in jedem Zeitalter, bei jedem Volksstamm aus der schmerzlich beklommenen Brust emporsteigen.
Die Kenntnis der großen Dichterwerke des Virgil, des Horatius und des Tibullus ist mit der allgemeinen Verbreitung der römischen Literatur so innigst verwebt, daß es überflüssig wäre, hier bei einzelnen Zeugnissen des zarten und immer regen Naturgefühls, das einige dieser Werke belebt, zu verweilen. In Virgils Nationalepos konnte nach der Natur dieser Dichtung die Beschreibung des Landschaftlichen allerdings nur als Beiwerk erscheinen und einen sehr kleinen Raum einnehmen. Individuelle Auffassung bestimmter Lokalitäten28 bemerkt man nicht, wohl aber in mildem Farbenton ein inniges Verständnis der Natur. Wo ist das sanfte Spiel der Meereswogen, wo die Ruhe der Nacht glücklicher beschrieben? Wie kontrastieren mit diesen heiteren Bildern die kräftigen Darstellungen des einbrechenden Ungewitters im ersten Buch vom Landbau, der Meerfahrt und Landung bei den Strophaden, des Felsensturzes oder des flammensprühenden Ätna in der Aeneis!29 Von Ovidius hätten wir als Frucht seines langen Aufenthalts in den Ebenen von Tomi (in Unter-Mösien) eine dichterische Naturbeschreibung der Steppen erwarten können, deren keine aus dem Altertum auf uns gekommen ist. Der Verbannte sah freilich nicht die Art von Steppen, welche im Sommer mit vier bis sechs Fuß hohen saftreichen Kräutern dicht bedeckt sind und bei jedem Windhauch das anmutige Bild bewegter Blütenwellen darbieten; der Verbannungsort des Ovidius war ein ödes sumpfreiches Steppenland und der gebrochene Geist des unmännlich Klagenden war mit Erinnerungen an die Genüsse der geselligen Welt, an die politischen Ereignisse in Rom, nicht mit der Anschauung der ihn umgebenden skythischen Einöde erfüllt. Als Ersatz hat uns der hochbegabte, jeder lebensfrischen Darstellung so mächtige Dichter neben den, freilich nur zu oft wiederholten, allgemeinen Schilderungen von Höhlen, Quellen und „stillen Mondnächten“ eine überaus individualisierte, auch geognostisch wichtige Beschreibung des vulkanischen Ausbruchs bei Methone, zwischen Epidaurus und Trözen, gegeben. Es ist dieser Beschreibung schon an einem anderen Ort, im Naturgemälde30, gedacht. Ovidius zeigt uns, „wie durch der eingezwängten Dämpfe Kraft der Boden gleich einer luftgefüllten Blase, gleich dem Fell des zweigehörnten Bocks anschwillt und sich als ein Hügel erhebt“.
Am meisten ist zu bedauern, daß Tibullus keine große naturbeschreibende Komposition von individuellem Charakter hat hinterlassen können. Unter den Dichtern des Augusteischen Zeitalters gehört er zu den wenigen, die, der alexandrinischen Gelehrsamkeit glücklicherweise fremd, der Einsamkeit und dem Landleben ergeben, gefühlvoll und darum einfach, aus eigener Quelle schöpften. Elegien31 müssen freilich als Sittenbilder betrachtet werden, in welchen die Landschaft den Hintergrund bildet; aber die ›Feldweihe‹ und die 6. Elegie des ersten Buches lehren, was von Horazens und Messalas Freund zu erwarten gewesen wäre.
Lucanus, der Enkel des Rhetors M. Annäus Seneca, ist diesem freilich durch rednerischen Schmuck der Diktion nur zu sehr verwandt; doch finden wir bei ihm ein vortreffliches und naturwahres Gemälde von der Zerstörung des Druidenwalds32 am jetzt baumlosen Gestade von Marseille. Die gefällten Eichenstämme erhalten sich schwebend aneinander gelehnt; entblättert lassen sie den ersten Lichtstrahl in das schauervolle, heilige Dunkel dringen. Wer lange in den Wäldern der Neuen Welt gelebt hat, fühlt, wie lebendig mit wenigen Zügen der Dichter die Üppigkeit eines Baumwuchses schildert, dessen riesenmäßige Reste noch in einigen Torfmooren von Frankreich begraben liegen33. In dem didaktischen Gedicht ›Aetna‹ des Lucilius Junior, eines Freunds des L. Annäus Seneca, sind allerdings die Ausbruchserscheinungen eines Vulkans mit Wahrheit geschildert; aber die Auffassung ist ohne Individualität, mit viel minderer, als wir schon oben34 am ›Aetna, dialogus‹ des jungen Bembo gerühmt haben.
Als endlich die Dichtkunst in ihren großen und edelsten Formen wie erschöpft dahinwelkte, seit der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, waren die poetischen Bestrebungen, vom Zauber schöpferischer Phantasie entblößt, auf die nüchternen Realitäten des Wissens und des Beschreibens gerichtet. Eine gewisse rednerische Ausbildung des Stils konnte nicht ersetzen, was an einfachem Naturgefühl und idealisierender Begeisterung abging. Als Erzeugnis dieser unfruchtbaren Zeit, in der das poetische Element nur wie ein zufälliger äußerer Schmuck des Gedankens erscheint, nennen wir das Moselgedicht des Ausonius. Im aquitanischen Gallien geboren, hatte der Dichter dem Feldzug Valentinians gegen die Alemannen beigewohnt. Die ›Mosella‹, im alten Trier gedichtet, besingt in einzelnen Stellen35 nicht ohne Anmut die schon damals rebenbepflanzten Hügel eines der schönsten Ströme unseres vaterländischen Bodens; aber die nüchterne Topographie des Landes, die Aufzählung der der Mosel zuströmenden Bäche, die Charakteristik der Fischgattungen in Gestalt, Farbe und Sitten sind Hauptgegenstände dieser ganz didaktischen Komposition.
In den römischen Prosaikern, unter denen wir schon oben einige denkwürdige Stellen des Cicero angeführt haben, sind Naturbeschreibungen ebenso selten wie in den griechischen. Nur die großen Historiker Julius Cäsar, Livius und Tacitus bieten einzelne Beispiele dar, wo sie veranlaßt sind, Schlachtfelder, Übergänge von Flüssen oder unwegsame Bergpässe zu beschreiben; da, wo sie das Bedürfnis fühlen, den Kampf der Menschen mit Naturhindernissen zu schildern. In den Annalen des Tacitus entzücken mich die Beschreibung der unglücklichen Schiffahrt des Germanicus auf der Ems (Amisia) und die großartige geographische Schilderung der Bergketten von Syrien und Palästina36. Curtius37 hat uns ein schönes Naturbild von einer waldigen Wildnis hinterlassen, die das makedonische Heer westlich von Hekatompylos im feuchten Mazenderan durchziehen mußte. Ich würde desselben hier ausführlicher erwähnen, wenn man mit einiger Sicherheit unterscheiden könnte, was ein Schriftsteller, dessen Zeitalter so ungewiß ist, aus seiner lebhaften Phantasie, was er aus historischen Quellen geschöpft hat.
Des großen enzyklopädischen Werks des älteren Plinius, dem an Reichtum des Inhalts kein anderes Werk des Altertums gleichkommt, wird späterhin, in der Geschichte der Weltanschauung, gedacht werden. Es ist, wie der Neffe (der jüngere Plinius) sich schön ausdrückt, „mannigfach wie die Natur“. Ein Erzeugnis des unwiderstehlichen Hangs zu allumfassendem, oft unfleißigem Sammeln; im Stil ungleich, bald einfach und aufzählend, bald gedankenreich, lebendig und rhetorisch geschmückt, ist die Naturgeschichte des älteren Plinius schon ihrer Form wegen an individuellen Naturschilderungen arm; aber überall, wo die Anschauung auf ein großartiges Zusammenwirken der Kräfte im Weltall, auf den wohlgeordneten Kosmos (Naturae majestas) gerichtet ist, kann eine wahre, aus dem Innern quellende Begeisterung nicht verkannt werden. Das Werk hat auf das ganze Mittelalter mächtig nachgewirkt.
Als Beweise des Naturgefühls bei den Römern würden wir gern auch die anmutig gelegenen Villen auf dem Pincius, bei Tusculum und Tibur, am Vorgebirge Misenum, bei Puteoli und Bajae anführen: wenn sie nicht, wie die des Scaurus und Mäcenas, des Lucullus und des Hadrian, mit Prachtgebäuden überfüllt gewesen wären. Tempel, Theater und Rennbahnen wechselten ab mit Vogelhäusern und Gebäuden, der Zucht von Schnecken und Haselmäusen bestimmt. Seinen, allerdings einfacheren Landsitz zu Liternum hatte der ältere Scipio festungsartig mit Türmen umgeben. Der Name eines Freundes des Augustus (Matius) ist uns aufbewahrt, weil er, Zwang und Unnatur liebend, zuerst die Sitte des Beschneidens der Bäume aufbrachte, um sie nach architektonischen und plastischen Vorbildern kunstmäßig umzuformen. Die Briefe des jüngeren Plinius liefern uns anmutige Beschreibungen zweier38 seiner zahlreichen Villen (Laurentinum und Tuscum). Wenn man auch in beiden der Baulichkeiten, von beschnittenem Buchs umgeben, mehr zusammengedrängt findet, als nach unserm Naturgefühl zu wünschen wäre, so beweisen doch diese Schilderungen wie die Nachahmung des Tals von Tempe in der tiburtinischen Villa des Hadrian, daß neben der Liebe zur Kunst, neben der ängstlichsten Sorgfalt für Behaglichkeit durch Stellung der Landhäuser nach Verhältnis zur Sonne und zu vorherrschenden Winden, auch Liebe zu freiem Genuß der Natur den römischen Stadtbewohnern nicht fremd war. Mit Freude setzen wir hinzu, daß dieser Genuß auf den Landgütern des Plinius durch den widrigen Anblick des Sklavenelends minder gestört war. Der reiche Mann war nicht bloß einer der gelehrtesten seiner Zeit, er hatte auch, was im Altertum wenigstens selten ausgedrückt ist, rein menschliche Gefühle des Mitleids für die unfreien unteren Volksklassen. Auf den Villen des jüngeren Plinius gab es keine Fesseln; der Sklave als Landbauer vererbte frei, was er sich erworben hatte.39
Vom ewigen Schnee der Alpen, wenn sie sich am Abend oder am frühen Morgen röten, von der Schönheit des blauen Gletschereises, von der großartigen Natur der schweizerischen Landschaft ist keine Schilderung aus dem Altertum auf uns gekommen, und doch gingen ununterbrochen Staatsmänner, Heerführer und in ihrem Gefolge Literaten durch Helvetien nach Gallien. Alle diese Reisenden wissen nur über die unfahrbaren scheußlichen Wege zu klagen; das Romantische der Naturszenen beschäftigte sie nie. Es ist sogar bekannt, daß Julius Cäsar, als er zu seinen Legionen nach Gallien zurückkehrte, die Zeit benutzte, um „während des Übergangs über die Alpen“ eine grammatische Schrift ›De analogia‹ anzufertigen40. Silius Italicus (er starb unter Trajan, wo die Schweiz schon sehr angebaut war) beschreibt die Alpengegend als eine schreckenerregende, vegetationslose Einöde41, während er mit Liebe alle Felsenschluchten Italiens und die buschigen Ufer des Liris (Garigliano) besingt42. Auffallend ist dabei, daß der wundersame Anblick gegliederter Basaltsäulen, wie das mittlere Frankreich, die Rheinufer und die Lombardei sie in vielfältigen Gruppen darbieten, die Römer zu keiner Beschreibung, ja nicht einmal zu einer Erwähnung angeregt hat.
Während die Gefühle abstarben, welche das klassische Altertum belebten und den Geist auf Handlung und Äußerung menschlicher Tatkraft, nicht auf Zustände und Beschauung der Außenwelt leiteten, gewann eine neue Sinnesart Raum. Es verbreitete sich allmählich das Christentum; und wie dieses, selbst wo es als Staatsreligion auftrat, in der großen Angelegenheit der bürgerlichen Freiheit des Menschengeschlechts für die niederen Volksklassen wohltätig wirkte, so erweiterte es auch den Blick in die freie Natur. Das Auge haftete nicht mehr an den Gestalten der olympischen Götter; der Schöpfer (so lehren es die Kirchenväter in ihrer kunstgerechten, oft dichterischen phantasiereichen Sprache) zeigt sich groß in der toten Natur wie in der lebendigen, im wilden Kampf der Elemente wie im stillen Treiben der organischen Entfaltung. Bei der allmählichen Auflösung der römischen Weltherrschaft verschwinden freilich nach und nach in den Schriften jener traurigen Zeit die schöpferische Kraft, die Einfachheit und Reinheit der Diktion; sie verschwinden zuerst in den lateinischen Ländern, später auch im griechischen Osten. Hang zur Einsamkeit, zu trübem Nachdenken, zu innerer Versenkung des Gemüts wird sichtbar; sie wirkt gleichzeitig auf die Sprache und auf die Färbung des Stils.
Wenn sich auf einmal etwas Neues in den Gefühlen der Menschen zu entwickeln scheint, so kann fast immer ein früher, tiefliegender Keim wie vereinzelt aufgespürt werden. Die Weichheit43 des Mimnermos hat man oft eine sentimentale Richtung des Gemüts genannt. Die Alte Welt ist nicht schroff von der neueren geschieden; aber Veränderungen in den religiösen Ahnungen der Menschheit, in den zartesten sittlichen Gefühlen, in der speziellen Lebensweise derer, welche Einfluß auf den Ideenkreis der Massen ausüben, machten plötzlich vorherrschend, was früher der Aufmerksamkeit entgehen mußte. Die christliche Richtung des Gemüts war die, aus der Weltordnung und aus der Schönheit der Natur die Größe und die Güte des Schöpfers zu beweisen. Eine solche Richtung, die Verherrlichung der Gottheit aus ihren Werken, veranlaßte den Hang nach Naturbeschreibungen. Die frühesten und ausführlichsten finden wir bei einem Zeitgenossen des Tertullianus und Philostratus, bei einem rhetorischen Sachwalter zu Rom, Minucius Felix, aus dem Anfang des 3. Jahrhunderts. Man folgt ihm gern im Dämmerlicht an den Strand bei Ostia, den er freilich malerischer und der Gesundheit zuträglicher schildert, als wir ihn jetzt finden. In dem religiösen Gesprach ›Octavius‹ wird der neue Glaube gegen die Einwürfe eines heidnischen Freunds mutvoll verteidigt.44
Es ist hier der Ort, aus den griechischen Kirchenvätern einige Naturschilderungen fragmentarisch einzuschalten, da sie meinen Lesern gewiß weniger bekannt sind als, was aus der römischen Literatur uns die altitalische Liebe zum Landleben überliefert hat. Ich beginne mit einem Brief Basilius’ des Großen, für den ich lange schon eine besondere Vorliebe hege. Aus Cäsarea in Kappadozien gebürtig, hatte Basilius, nicht viel über dreißig Jahre alt, dem heiteren Leben zu Athen entsagt, auch schon die christlichen Einsiedeleien in Cölesyrien [Mittelsyrien] und Oberägypten besucht, als er sich nach Art der vorchristlichen Essener [jüdische Sekte] und Therapeuten [Sekte] in eine Wildnis am armenischen Fluß Iris zurückzog. Dort war sein zweiter Bruder45 Naucratius nach fünfjährigem strengen Anachoretenleben beim Fischen ertrunken. „Ich glaube endlich“, schreibt er an Gregorius von Nazianz, „das Ende meiner Wanderungen zu finden. Die Hoffnung, mich mit Dir zu vereinigen, ich sollte sagen meine süßen Träume (denn mit Recht hat man Hoffnungen Träume des wachenden Menschen genannt), sind unerfüllt geblieben. Gott hat mich einen Ort finden lassen, wie er uns beiden oft in der Einbildungskraft vorschwebte. Was diese uns in weiter Ferne gezeigt, sehe ich jetzt vor mir. Ein hoher Berg, mit dichter Waldung bedeckt, ist gegen Norden von frischen, immerfließenden Wassern befeuchtet. Am Fuß des Bergs dehnt sich eine weite Ebene hin, fruchtbar durch die Dämpfe, die sie benetzen. Der umgebende Wald, in welchem sich vielartige Bäume zusammendrängen, schließt mich ab wie eine feste Burg. Die Einöde ist von zwei tiefen Talschluchten begrenzt. Auf der einen Seite bildet der Fluß, wo er vom Berg schäumend herabstürzt, ein schwer zu überschreitendes Hindernis, auf der anderen verschließt ein breiter Bergrücken den Eingang. Meine Hütte ist auf dem Gipfel so gelegen, daß ich die weite Ebene überschaue wie den ganzen Lauf des Iris, welcher schöner und wasserreicher ist als der Strymon bei Amphipolis. 4647