Ulrich H.J. Körtner

Einführung in die theologische Hermeneutik

 

 

 

 

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ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-534-15740-2
© 2006 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.
Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim
Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach
eBook ISBN 978-3-534-70914-4 (epub)
Als epub veröffentlicht 2010.

 

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Theologie als hermeneutische Wissenschaft

1. Was ist Hermeneutik?

a) Die Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist

b) Philosophische Hermeneutik und hermeneutische Philosophie

c) Nicht-hermeneutische Interpretationstheorien

2. Theologie als Interpretationspraxis

a) Das hermeneutische Problem in der Theologie und ihren Einzeldisziplinen

b) Glauben – Verstehen – Deuten

c) Auslegung und Interpretation des Evangeliums

d) Hermeneutische Theologie oder theologische Hermeneutik?

3. Hermeneutik kontextueller Theologien

a) Kontextuelle Theologien

b) Befreiungstheologische Hermeneutik

c) Feministisch-theologische Hermeneutik

d) Vielfalt und Verbindlichkeit

4. Grenzen des Verstehens

a) Die Wut des Verstehens

b) Das Andere und das Fremde in der Theologie

c) Hermeneutik des Unverständnisses und Sünde im Verstehen

II. Positionen hermeneutischer Theologie

1. Rudolf Bultmann

a) Glauben und Verstehen

b) Konsequente Exegese

c) Entmythologisierung und existentiale Interpretation

2. Hermeneutische Theologie nach Bultmann

a) Hermeneutische Theologie

b) Die „neue Hermeneutik“

c) Die Frage nach dem historischen Jesus

d) Katholische Konzeptionen hermeneutischer Theologie: Karl Rahner und Eugen Biser

3. Ernst Fuchs

a) Marburger Hermeneutik

b) Sprachereignis und existentiale Interpretation

c) Kerygma und historischer Jesus

4. Gerhard Ebeling

a) Erfahrung und Leben

b) Fundamentalunterscheidungen

c) Wort und Glaube

5. Paul Ricœur

a) Ricœurs Bultmann-Kritik

b) Philosophische und theologische Hermeneutik

III. Biblische Hermeneutik

1. Hermeneutik und Exegese

a) Begriff und Aufgabe biblischer Hermeneutik

b) Methoden der Bibelauslegung

2. Schriftauslegung und literarische Hermeneutik

a) Hören, Lesen und Verstehen

b) Oralität und Literalität in der Geschichte des Christentums

c) Literarische Hermeneutik

d) Die Autonomie des Textes

3. Biblischer Kanon und Hermeneutik des Buches

a) Heilige Schriften

b) Kanon und kanonische Schriftauslegung

c) Christliche und jüdische Bibel

4. Schrift und Tradition

a) Die Kirche(n) als Auslegungsgemeinschaft

b) Schrift und Tradition im ökumenischen Dialog

5. Reformatorisches Schriftprinzip

a) Sola Scriptura?

b) Historisch-kritische und erfahrungsbezogene Zugänge zur Bibel

c) Die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn und ihre Kritik

d) Reformatorisches Schriftprinzip und leserorientierte Texttheorien

IV. Hermeneutik der Geschichte des Christentums

1. Geschichte und Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens

a) Historismus und „neue Hermeneutik“

b) Der Begriff der Geschichtlichkeit

2. Historische und narrative Theologie

a) Geschichte und Wort Gottes bei Karl Barth

b) Neuere Positionen zum theologischen Charakter der Kirchengeschichtsschreibung

c) Geschichte und Geschichten

3. „Story“ als Rohmaterial der Theologie

a) Narrative Theologie

b) Die Kirche als Subjekt und Objekt erzählter Geschichte

4. Zur Konstitution einer erzählbaren Kirchengeschichte

a) Profanität und Gottesbezug von Geschichte

b) Das hermeneutische Problem der Rede vom Handeln Gottes

V. Hermeneutik in der Systematischen Theologie

1. Historische und Systematische Theologie

a) Das Problem des Historismus in der Systematischen Theologie

b) Normativität und Zukunftsbezug dogmatischer Aussagen

2. Dogmatik als soteriologische Deutung der Wirklichkeit

a) Erlösungsbedürftigkeit und Erlösungswirklichkeit

b) Soteriologische Deutung der Wirklichkeit bei Paul Tillich und Gerhard Ebeling

3. Dogmatische Hermeneutik

a) Dogma und Dogmatik

b) Dogmenhermeneutik und Dogmenkritik

c) Dogmatische und metaphorische Sprache

d) Hermeneutische und analytische Methode in der Systematischen Theologie

VI. Hermeneutik in der theologischen Ethik

1. Hermeneutische Ethik

a) Ethik als selbstreflexive Theorie der Moral

b) Analytische Ethik und Theorie der Moral

c) Deskriptiv-hermeneutische Ethik

2. Ethische Wahrnehmung

a) Wahrnehmen und Verstehen

b) Ethik und Anthropologie

c) Christologie als Schule der Wahrnehmung

3. Hermeneutik und Gebotsethik

a) Gebot und Gesetz

b) Gesetz und Evangelium

c) Interpretationen und Interpretamente des Gebotes

VII. Praktisch-theologische Hermeneutik

1. Praktische Theologie als hermeneutische Theorie christlicher Praxis

a) Das hermeneutische Problem in der Geschichte der Praktischen Theologie

b) Neue Entwicklungen in der Predigtlehre

c) Die hermeneutische Frage in der Seelsorge

2. Praktische Theologie als Kunst der Wahrnehmung

a) Wahrnehmen und Annehmen

b) Die Wahrnehmung der Wahrnehmung

3. Praktische Theologie als Religionshermeneutik

a) „Gelebte Religion“ als Programmbegriff Praktischer Theologie

b) Lebensgeschichtliche Sinndeutung

c) Defizite einer praktisch-theologischen Religionshermeneutik

VIII. Ökumenische Hermeneutik

1. Hermeneutische Probleme ökumenischer Theologie

a) Ökumenische Theologie

b) Einheit und Vielfalt der Kirchen

2. Hermeneutik der Einheit?

a) Das Dokument „A Treasure in Earthen Vessels“

b) Zur Kritik der „Hermeneutik für die Einheit“

3. Ökumenische Differenzhermeneutik

a) Konsensökumene und „differenzierter Konsens“

b) Vom Konsens- zum Differenzmodell

c) Grundzüge einer ökumenischen Differenzhermeneutik

d) Konfessionen, Sprachspiele und Lebensformen

Epilog: Die hermeneutische Frage in der Theologie

Literatur

Register

1. Namen

2. Sachen

Vorwort

Die Geschichte der Hermeneutik ist aufs engste mit der Geschichte christlicher Theologie verwoben. Bedeutende Vertreter der modernen Hermeneutik wie Wilhelm Dilthey, Hans-Georg Gadamer und Odo Marquard vertreten die Ansicht, daß die Hermeneutik als wissenschaftliche Theorie als Reaktion auf die theologischen Streitigkeiten der Reformationszeit um die richtige Bibelauslegung entstanden ist. Die Auslegung der Bibel als Heiliger Schrift stand und steht freilich von Beginn des Christentums an im Zentrum der Theologie und ihrer Disziplinen. Da die gedankliche Rechenschaft des christlichen Glaubens als Schriftauslegung vollzogen wird, spielt die biblische Hermeneutik eine theologische Schlüsselrolle. Über Gegenstand, Probleme und Konzeptionen biblischer Hermeneutik informiert das bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erschienene vorzügliche Lehrbuch von Manfred Oeming (Biblische Hermeneutik. Eine Einführung, Darmstadt 1998). Theologische Hermeneutik ist freilich mehr als biblische Hermeneutik, nämlich eine Hermeneutik des christlichen Glaubens und seiner Lebenspraxis. Hermeneutische Theologie im umfassenden Sinne des Wortes ist die Interpretationspraxis einer soteriologischen Deutung der Wirklichkeit, welche deren Erlösungsbedürftigkeit im Lichte der biblisch bezeugten Erlösungswirklichkeit zur Sprache bringt.

Das vorliegende Lehrbuch führt in die Grundlagen theologischer Hermeneutik ein und gibt sodann einen Überblick über die hermeneutischen Fragestellungen in den einzelnen theologischen Disziplinen. Grundlegend ist dabei ein Verständnis von Theologie als hermeneutischer Wissenschaft. Im Unterschied zur Diskussionslage in der Mitte des 20. Jahrhunderts wird jedoch ein Begriff von Hermeneutik und hermeneutischer Theologie entwickelt, der die Alternativen von Hermeneutik und Semiotik bzw. von Hermeneutik und Linguistik zu überwinden versucht.

Mein Dank gilt den Mitarbeitern am Institut für Systematische Theologie der Universität Wien, Herrn stud. theol. Bernhard Petri-Hasenöhrl, Herrn Dr. theol. Andreas Klein und Herrn Mag. theol. Martin Fischer, die das Manuskript korrekturgelesen haben und bei den Registern behilflich waren.

 

Wien, im März 2006

Ulrich H. J. Körtner

I. Theologie als hermeneutische Wissenschaft

1. Was ist Hermeneutik?

a) Die Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist

Hermeneutik ist die Lehre vom Verstehen. Etwas verstehen aber bedeutet, daß man es als Antwort auf eine Frage versteht (26: 375ff.; 41: 118). Solange man die Frage nicht kennt und versteht, bleibt das, was man zu verstehen versucht, unverstanden. Hermeneutik ist notwendig, weil sich das Verstehen nicht von selbst versteht. Vielen Dingen begegnen wir von Haus aus mit Verständnislosigkeit. Und auch das Mißverstehen ergibt sich meist von selbst, wohingegen das Verstehen eigens gewollt und gesucht werden muß, wie Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) treffend bemerkt hat (47: 86).

Sinn und Bedeutung

Verstehen heißt, den Sinn von etwas zu erfassen. Sinn und Bedeutung sind grundlegende Kategorien jeder Hermeneutik. Das Bedürfnis nach Sinn ist anthropologisch elementar. Es geht über das Verstehen einzelner Äußerungen oder Erscheinungen hinaus. Der Sinn, den es im Einzelfall zu erfassen oder zu entdecken gilt, verweist stets auf einen größeren Sinnzusammenhang.

Mit Gottlob Frege (1848 – 1925) läßt sich zwischen Sinn und Bedeutung unterscheiden (25). Demnach ist der Sinn eines sprachlichen Zeichens seine semantische Funktion innerhalb eines Satzes, seine Bedeutung dagegen der durch das Zeichen bezeichnete Gegenstand bzw. sein Referent. So haben die Wörter „Morgenstern und Abendstern“ unterschiedlichen Sinn, aber ein und dieselbe Bedeutung, nämlich den Planeten Venus. Kompliziert wird das Verhältnis von Sinn und Bedeutung allerdings dadurch, daß sprachliche Zeichen stets auf andere sprachliche Zeichen verweisen, niemals auf Dinge an sich. Schließlich ist auch „Venus“ wieder nur ein sprachliches Zeichen und ebenso das zur näheren Erläuterung verwendete Wort „Planet“. Insofern bleibt die Rede vom Sinn einer sprachlichen Äußerung und ihre Unterscheidung von der Bedeutung mehrdeutig. Die Frage nach dem Sinn bzw. der Bedeutung von „Sinn“ und „Bedeutung“ ist daher selbst ein Grundproblem jeder Hermeneutik.

Alles Verstehen enthält sowohl ein rezeptiv-passives als auch ein konstruktiv-aktives Element. Den Sinn erfassen heißt, etwas zunächst Unverstandenes oder Unverständliches zu deuten. Ihre Bedeutung gewinnen die Dinge dadurch, daß sie ihnen zugesprochen wird, indem sie von jemandem gedeutet werden. Sinn und Bedeutung bestehen also nicht an sich, sondern stets für jemanden. Verstehen heißt, daß etwas von jemandem als etwas verstanden wird. Die Frage nach demjenigen, der zu verstehen sucht, ist darum ein fester Bestandteil der hermeneutischen Frage nach Sinn und Bedeutung. Etwas verstehen heißt immer auch, sich selbst in einer bestimmten Weise verstehen.

Frage und Antwort

Wer verstehen will, muß fragen. Auch wer sich sicher ist, etwas oder jemanden verstanden zu haben, kann dies nur überprüfen, indem er nachfragt. Insofern steht am Anfang jeder Hermeneutik die Frage. Die Fähigkeit zu fragen ist Voraussetzung jedes Verstehens, und Hermeneutik ist eine Anleitung in der Kunst des Fragens. Das Fragen aber ist, einmal begonnen, unabschließbar. Fragen werden mit Rückfragen und Gegenfragen beantwortet. Auch gibt es eine Geschichte der Frage und des Fragens (61: 15).

Daß alles Fragen in einer historischen Perspektive stattfindet, gilt nun auch für die Hermeneutik selbst. Das Frage-Antwort-Schema ist nicht nur das entscheidende methodische Instrumentarium für die Kunst des Verstehens, sondern es läßt sich auch auf die Hermeneutik selbst anwenden. Wie es eine Geschichte des Fragens gibt, so auch eine Problemgeschichte der Hermeneutik, in deren Verlauf die Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, manche Veränderungen erfahren hat.

Begriff und Anfänge der Hermeneutik

Der Begriff der Hermeneutik stammt von dem griechischen Ausdruck hermeneutiké (téchne). Der früheste Beleg findet sich bei Platon (Epin. 975c 4 – 8). Der hermeneffls ist der Dolmetscher, und hermenefflein heißt im Griechischen sowohl „deuten“, als auch „mitteilen“ und „erklären“. Erst im weiteren Verlauf der Geschichte der Hermeneutik sind das Problem des Verstehens und sein Begriff in das Zentrum der Hermeneutik gerückt. Ursprünglich geht es um die Kunst des Deutens, welche aus zunächst sinnlosen Zeichen ein sinnvolles Ganzes entwirft. Bei Platon steht die Hermeneutik daher neben der Mantik, d. h. in der Nähe zum Deuten der Zeichen der Götter oder zur Traumdeutung. Sodann bezeichnet die Kunst der Hermeneutik die Fähigkeit des Übersetzens von einer Sprache in eine andere, schließlich die Auslegung oder Interpretation sprachlicher Äußerungen. Faßt man die Befunde zusammen, so bedeutet Hermeneutik in der Antike soviel wie „das Mitteilungsvermögen der Sprache, den sprachlichen Ausdruck und schließlich auch die Aussage“ (68: 111).

Erst bei Schleiermacher, dem Begründer der modernen Hermeneutik, rückt der Begriff des Verstehens ins Zentrum. Wie die Dialektik in seinem System der Wissenschaften die Kunstlehre des Sichverständigens ist, so die Hermeneutik die Kunstlehre des Verstehens, welches, wie schon gesagt wurde, sich nicht von selbst ergibt, sondern eigens gewollt und gesucht werden muß. Schleiermachers Schüler August Boeckh (1785 – 1867) verstand unter Hermeneutik die Methode vornehmlich der philologischen Wissenschaften, wogegen Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) in der Hermeneutik umfassender die Grundlage der Geisteswissenschaften überhaupt sah und den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften auf den Unterschied zwischen Erklären und Verstehen zurückführte. Wie man schon hier leicht erkennt, haben sich im Verlauf der Geschichte der Hermeneutik Begriffe und Aspekte des Verstehens verselbständigt und sind teilweise in einen Gegensatz getreten, die ursprünglich zusammen gesehen wurden. So gibt es heute Theorien der Interpretation und des Deutens, die sich dezidiert als antihermeneutische Theorien verstehen und die zeitweilige Dominanz der Hermeneutik Martin Heideggers (1889 – 1976) und Hans-Georg Gadamers (1900 – 2002) in den Geisteswissenschaften, die inzwischen geschwunden ist, kritisieren und ablehnen.

Über die Anfänge der modernen Hermeneutik als Wissenschaft vom Verstehen oder vom Interpretieren, d. h. über die Frage nach der Frage, auf die die moderne Hermeneutik die Antwort ist, herrschen zwei unterschiedliche Ansichten. Nach der ersten Auffassung entstand die Hermeneutik als eigene Theorie als Reaktion auf die theologischen Streitigkeiten der Reformationszeit, die im Kern ein Streit um die richtige Bibelauslegung waren, und die mit ihnen verbundene Konfessionalisierung und Pluralisierung des Christentums. Die hermeneutische Wissenschaft, so notierte Dilthey, habe erst mit dem Protestantismus begonnen (68: 112). Dem steht eine zweite Auffassung gegenüber, wonach die wissenschaftliche Hermeneutik im Zusammenhang mit wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen am Ende des 16. Jahrhunderts, konkret mit der Abkehr von der aristotelisch-scholastischen Methode entstanden ist.

Grundprobleme der Hermeneutik

Historisch betrachtet konzentriert sich die hermeneutische Wissenschaft zunächst auf die Interpretation von Texten. Hermeneutik ist so verstanden die Kunst des Lesens. Odo Marquard deutet die Entwicklung der Hermeneutik seit der Aufklärung als Reaktion auf den konfessionellen Bürgerkrieg (41: 127ff.). Eine singularisierende Hermeneutik, die stets nur eine einzige Auslegung eines Bibeltextes für möglich hielt, wurde durch eine pluralisierende Hermeneutik abgelöst, wonach zwar nicht jede beliebige Textinterpretation, gleichwohl aber unterschiedliche Auslegungen legitim sein können. An die Stelle des absoluten, einsinnigen Textes trat der literarische, mehrsinnige Text. Textauslegung, nicht nur die Exegese biblischer Texte, wird zum unendlichen, prinzipiell unabschließbaren und vielstimmigen Gespräch.

Im Gefolge Diltheys, Heideggers und Gadamers ist das Verständnis von Hermeneutik erheblich ausgeweitet worden. Gegenstand des Verstehens sind demnach nicht nur Texte, auch nicht nur mündliche sprachliche Äußerungen, sondern die Welt als ganze und die menschliche Existenz innerhalb derselben. Wenn schon das Modell des Lesens bemüht wird, ist von der Lesbarkeit der Welt die Rede (9). Die Welt aber wird in der Neuzeit als eine geschichtlich gewordene und sich fortlaufend verändernde verstanden. So antwortet die Hermeneutik insgesamt auf das Problem der Geschichte. Nach Michel Foucault (1926 – 1984) vollzog sich in der Zeit um 1800 ein Paradigmenwechsel „von der Ordnung zur Geschichte“ (23: 272). Dieser Paradigmenwechsel bedeutet nicht nur in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, sondern auch innerhalb der Bibelexegese eine Zäsur (92). Im modernen Sinne ist das hermeneutische Problem der Geschichte mit dem Problem des Historismus verknüpft, der schlußendlich auch zu einer radikalen Historisierung christlicher Dogmatik bzw. der Systematischen Theologie geführt hat (413). In der Auseinandersetzung mit dem Historismus ist schließlich die begriffliche Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichtlichkeit (Heidegger) aufgekommen. Nach der scheinbaren Gewißheit, in der das 19. Jahrhundert seine Arbeit betrieb, um zu „erkennen, was wirklich gewesen“ ist (Leopold v. Ranke, William Wrede), erfolgte unter dem Einfluß der Dialektischen Theologie auch in der Theologie der Perspektivenwechsel von der objektivierenden Darstellung der Geschichte zur in der Geschichtlichkeit des Menschen angeeigneten Geschichte. Für die historische Theologie wie für die Geschichtswissenschaft insgesamt stellt sich in der gegenwärtigen Situation allerdings die Aufgabe, die erkenntnistheoretischen Grundlagen der historischen Arbeit einer grundsätzlichen Überprüfung zu unterziehen.

Parallel zur neueren Entwicklung innerhalb der Geschichtswissenschaft wurde der Universalitätsanspruch der Hermeneutik in den vergangenen Jahrzehnten in Zweifel gezogen. Ihre metaphysischen bzw. erkenntnistheoretischen Prämissen wurden „dekonstruiert, ihr scheinbar allmächtiges Auslegungssubjekt wurde strukturalistisch domestiziert und die Sinnstiftung des Verstehens rezeptionsästhetisch überholt“ (88: 7). Dennoch hat sich die hermeneutische Fragestellung in den Geisteswissenschaften durchgehalten. Freilich werden nicht einfach jene Fragen wiederholt, auf welche die Hermeneutik im 19. und 20. Jahrhundert die Antwort zu sein schien, sondern es rücken zum Teil neue Fragen an die Stelle der alten. Was heutige Entwürfe zur Hermeneutik kennzeichnet, ist ihre kulturwissenschaftliche Ausrichtung. Stärker als die Hermeneutik Heideggers, aber auch Gadamers, berücksichtigen sie die soziale und kulturelle Einbettung von Verstehensprozessen. Dabei fällt allerdings auf, daß die neue hermeneutische Frage so neu wiederum doch nicht ist, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil in der Wiederaufnahme von Fragen besteht, die bereits der Historismus gestellt hat. Was sich unter dem Vorzeichen einer kulturwissenschaftlichen Erneuerung der Hermeneutik beobachten läßt, ist über weite Strecken der Versuch eines erneuerten und reflektierten Historismus (92: 17). Darin aber kommt die Geschichtlichkeit nicht nur als Problem der Hermeneutik, sondern als Kennzeichen ihrer selbst zum Vorschein.

Zur Geschichtlichkeit aller Wirklichkeit wie der Hermeneutik selbst gehört ihre „Herkömmlichkeit“ (41: 122ff.). Menschliche Existenz ist stets geprägt durch Traditionen. Niemand fängt sein Leben an einem historischen Nullpunkt an. Das Vergangene ist nicht abgeschlossene Vergangenheit, sondern prägt die jeweilige Gegenwart, selbst dort, wo man sich von der Vergangenheit lossagt. Aufklärung und Moderne sind zwar mit dem Anspruch angetreten, die Autorität von Traditionen einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Die Distanzierung von Herkömmlichkeiten gelingt freilich nur begrenzt. Da sich nicht alles gleichzeitig in Frage stellen läßt, müssen die Menschen und die Gesellschaft stets auch in gewissen Üblichkeiten bzw. Konventionen leben. Leben heißt anknüpfen. Das gilt auch für die Hermeneutik.

Letztlich kann man sagen, daß die Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist, in der Endlichkeit von Mensch und Welt besteht. Endlichkeit meint freilich nicht nur Sterblichkeit, sondern auch „Geburtlichkeit“ (Hannah Ahrendt). Der Mensch existiert nicht nur im Bewußtsein seines unausweichlichen Todes, sondern er tritt mit seiner Geburt in die geschichtlich verfaßte Welt. Daß der Mensch geboren wird, heißt, daß er sich selbst nicht hervorgebracht, sondern eine von ihm unbeeinflußbare Herkunft hat. Insofern ist Geburtlichkeit der Inbegriff dessen, was Marquard als Herkömmlichkeit bezeichnet. Zwar kann ein Mensch mit seiner Herkunft und Vergangenheit brechen. Aber selbst noch im radikalen Widerspruch zur eigenen Herkunft muß sich ein Mensch auf diese beziehen. Hermeneutik als Antwort auf die Endlichkeit bedeutet also nicht nur die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit, sondern auch mit der Geburtlichkeit des Menschen.

Theologie und Hermeneutik

Die Grundbewegung aller Hermeneutik, so sagten wir, ist die Frage. Wer fragt, geht freilich davon aus, daß es grundsätzlich Antworten geben muß. Nach Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) geht die Antwort der Frage voraus. „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen“ (57: 114). Inwiefern alles Fragen von den Antworten abhängig ist oder umgekehrt die Antworten von den Fragen gehört zu den grundlegenden Problemen jeder Hermeneutik. Das Problem des hermeneutischen Zirkels von Frage und Antwort ist auch für die Theologie essentiell, weil sich damit das Problem der sogenannten Gottesfrage, die Frage nach dem Ursprung von Religion, der Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis und dem Verständnis von Offenbarung verbindet.

Es war insbesondere der evangelische Theologe Karl Barth (1886 – 1968), der streng offenbarungstheologisch argumentiert und jeden Anknüpfungspunkt der göttlichen Offenbarung im Menschen bestritten hat. Der hermeneutischen Theologie im Anschluß an Rudolf Bultmann (1884 – 1976) stand er dementsprechend äußerst reserviert bis ablehnend gegenüber (126). Barth wurde und wird freilich von verschiedener Seite seine Neoorthodoxie (Paul Tillich), sein Offenbarungspositivismus (Dietrich Bonhoeffer) oder sein vermeintlicher Antimodernismus (Trutz Rendtorff) vorgeworfen.

Die Kontroverse um Barth und seine Theologie kann an dieser Stelle nicht im Detail nachgezeichnet werden. Barths Kritik an der philosophischen Hermeneutik und der von ihr beeinflußten hermeneutischen Theologie macht jedoch auf eine Grundfrage im Verhältnis von Theologie und Hermeneutik aufmerksam, nämlich auf das Problem des Skepsis. Odo Marquard vertritt die These, „der Kern der Hermeneutik sei Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis sei Hermeneutik“ (41: 117). Dem steht die These Martin Luthers gegenüber, der Heilige Geist, der die Menschen nach Joh 16,13 in alle Wahrheit leitet, sei kein Skeptiker (WA 18, 605, 32 – 34). Nach Luther und der ihm folgenden evangelischen Theologie ist Glaube unbedingte Gewißheit. Wie aber soll auf dem Boden der Skepsis Gewißheit entstehen können? Bezeichnenderweise wird die erste Frage in der Bibel von der Schlange gestellt, die Adam und Eva zur Sünde verführt: „Sollte Gott gesagt haben …?“ (Gen 3,1). Sind die Skepsis und ihre Fragen nicht immer ein Zeichen von Unglauben? Oder läßt sich das Verhältnis von Glaube und Skepsis und damit von Theologie und Hermeneutik differenzierter bestimmen (303)? Das ist die Frage, auf die die theologische Hermeneutik im 20. Jahrhundert eine Antwort zu geben versucht hat.