Identity X

Frank Maria Reifenberg

Identity X

Wer ist Boston Coleman?

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Frank Maria Reifenberg

Frank Maria Reifenberg, 1962 geboren, ist gelernter Buchhändler, lebt und arbeitet heute als freier Autor und Sprecher in Köln. Er verfasst vorwiegend Kinder- und Jugendbücher sowie Drehbücher für Film und Fernsehen und engagiert sich seit Jahren in der Leseförderung von Jungen.

Über das Buch

Boston hält sich für ziemlich durchschnittlich. Er ist 14, spielt Fußball und ist weder besonders gut noch besonders schlecht in der Schule. Doch dann taucht ein fremder Junge auf, der sein Zwilling sein könnte. Noch bevor Boston mehr über ihn erfahren kann, überschlagen sich die Ereignisse: Eine Spezialeinheit des FBI steht vor der Tür, um ihn zu verhaften. Er soll sich ein Sturmgewehr besorgt und einen Geldtransporter überfallen haben. Die Beweise sind erdrückend, es gibt sogar ein Video, das Boston zeigt. Aber wie kann das sein, wenn er doch zum Tatzeitpunkt 150 Meilen entfernt in einem Sommercamp war? Mit 200 Zeugen? Hat sein Doppelgänger etwas damit zu tun? Und was will er ausgerechnet von Boston?

 

 

Von Frank Maria Reifenberg ist bei dtv außerdem lieferbar:

 

Lenny unter Geistern

Impressum

Von Frank Maria Reifenberg ist bei dtv außerdem lieferbar:

Lenny unter Geistern

Originalausgabe

© 2022 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur GmbH

unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com

Lektorat: Katja Korintenberg

 

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eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-44056-1 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74077-7

ISBN (epub) 9783423440561

I.

Tonbandprotokoll

Asservaten-Nr.: KXCV|13–534v

Aufnahmegerät: Revox A77 MKIV (Baujahr 1978)

Transkription: Lucas Butler (lb)

Wenn dir an einem ganz normalen Samstag plötzlich und ohne Vorwarnung ein Polizeikommando den Inhalt einer ganzen Waffenkammer unter die Nase hält, ist eines klar: Dein Leben ändert sich gerade. Ob das gut oder schlecht ist, weißt du in diesem Augenblick noch nicht, jedenfalls solange keiner den Abzug gedrückt hat. Ich weiß es leider bis heute nicht. Dass ich noch lebe, könnte ein Hinweis auf einen guten Verlauf sein, aber überleben ist nicht alles.

Du willst wissen, wer ich bin? Das wüsste ich auch gerne. Ich könnte mir einen Namen geben, irgendetwas Unauffälliges: Jack oder Mike oder Matthew oder wie man 2009 seinen Sohn im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten nannte. Aber ich bin Boston Coleman. Falls dir jemand etwas anderes sagt, glaube ihm nicht.

[starke Windgeräusche, aufschlagender Fensterladen]

Scheiße, dieses verdammte Haus ist eine verdammte Bruchbude.

[Unterbrechung]

Okay, kann weitergehen.

Ich wurde von meinen Adoptiveltern vor knapp vierzehn Jahren (genauer gesagt am 8. Dezember 2009) an einer Bushaltestelle in Lumber City im Bundesstaat Georgia gefunden, ungefähr dort, wo die Church Street in den Golden Isles Parkway mündet.

Du musst dir jetzt im Augenblick diesen Ort nicht merken, aber es könnte dir helfen, wenn dir später vielleicht mal ein paar ziemlich fiese Typen damit drohen, dir einen Finger nach dem anderen zu brechen, weil sie von dir wissen wollen, wo ich zu finden bin.

Und du kannst dir schon einmal abschminken, dass du dich aus dieser Sache heraushalten könntest. Anfangs dachte ich auch noch, dass ich das könnte. Aber weder du noch ich entscheiden das. Das hat einen ganz einfachen Grund: Es geht um die Rettung der Welt und da verpisst man sich nicht einfach mal so.

Wenn du auf diese Tonbänder gestoßen bist und dazu auch noch ein Abspielgerät hast, mit dem du sie anhören kannst, bist du entweder von der Polizei oder ein Freak, der auf alten analogen Audiokram steht, wie der Typ, dem diese verschissene Hütte am Ende der Welt gehört. Na ja, eigentlich ist es ein richtiges Haus mit immerhin acht Zimmern, einer separaten Werkstatt und einer Scheune.

Ich bin jedenfalls froh, dass ich hier dieses Gerät gefunden habe. Wenigstens kann ich jetzt meine Version der Geschichte erzählen. Also falls ich nicht vorher erfriere oder mich ein Grizzlybär auf seine Frühstücksbestellung setzt. Wenn ich nicht jahrelang bei den Boyscouts gelernt hätte, wäre ich sicher schon am Ende.

Moment, kurze Pause. Ich lege ein Stück Holz in den Kamin nach, weil der nicht ausgehen sollte. Ich habe heute Morgen mein letztes Streichholz verbraucht und ich weiß sehr gut, wie mühselig es ist, mit einem Hölzchen und ein bisschen trockenem Gras ein Feuer entfachen zu müssen. Das habe ich in unseren Camps immer gehasst, aber wer weiß, vielleicht werde ich jetzt Sleepy-Josh, der unsere Pfadfinder-Gruppe leitet, doch noch dankbar sein.

[Unterbrechung]

Ich wurde also an diesem Dezembertag vor knapp 14 Jahren gefunden, in einem Wäschekorb. Sie hatten mich in einen Hoodie der Boston Red Sox gehüllt und mit einer rosafarbenen Wolldecke zugedeckt. Den Boden des Wäschekorbs hatte jemand mit drei uralten Ausgaben einer Zeitung gepolstert.

Die Decke war sehr kuschelig und roch nach einem teuren Parfüm, weshalb meine Adoptiveltern davon ausgingen, dass ich aus ganz guten Verhältnissen stammen musste. Ohne das rosafarbene Wolldeckchen wäre ich ziemlich bald erfroren, weil das Thermometer in Lumber City um diese Jahreszeit selten über zwei oder drei Grad Celsius steigt.

Die Decke, den Hoodie und die Zeitungen haben meine Eltern aufbewahrt. Sie liegen, seit ich denken kann, in einem Karton verpackt unter meinem Bett.

Archie und Liz Coleman, meine Adoptiveltern, hatten damals gerade ihre wenigen Habseligkeiten in einen Umzugswagen gepackt und waren auf dem Weg nach Waco, wo sie ganz neu anfangen wollten. Ich hatte ein riesiges Glück, dass mich die Frau mit dem teuren Parfüm nicht einen Tag vorher oder ein paar Stunden später an diese Bushaltestelle gelegt hat.

Die Colemans sind die absolut tollsten Adoptiveltern, die das Schicksal dir aussuchen kann. Sie sind besser als die meisten echten Eltern, jedenfalls von denen, die ich so kenne.

Bevor das hier alles passierte, ging meine Herkunft auf biologische Eltern, die mich loswerden wollten, ein Kapuzenshirt einer Baseball-Mannschaft und eine kuschelige Wolldecke zurück.

Der Ort Waco, in den mich meine neuen Eltern mitnahmen, ist das Waco in Nebraska, nicht das in Texas, das einigen wegen eines Massakers vor ein paar Jahrzehnten bekannt ist.

Mein Waco ist ein verschlafenes Nest. Sleepy-Josh Miles, der Sheriff, war selbst überrascht, dass ein fünfzehnköpfiges Kommando das Haus einer (bis zu diesem Tag) völlig harmlosen Familie über die hintere Veranda stürmte. Es war eine Spezialeinheit, die schnell begriffen hatte, dass von dieser Seite her der Überraschungseffekt am größten sein würde. Ausgerechnet mich für so gefährlich zu halten, dass man einen Überraschungseffekt brauchte, ist eigentlich lustig. Ich bin der schlechteste Torwart des Mittleren Westens und auch sonst so durchschnittlich wie eine Scheibe Weißbrot.

Im Garten gibt es zudem einen alten Hühnerstall, der einem Eindringling ausreichend Sichtschutz bieten würde. Im Sommer hilft auch noch eine Heckenrose. Eigentlich kann man sich völlig ungesehen bis zur Veranda bewegen und dort an einem der Pfosten hinaufklettern und in mein Zimmer steigen. Jedenfalls, wenn das Fenster offen steht. Und das tut es zu dieser Jahreszeit meistens.

Ich lag also im ersten Stock auf meinem Bett, ein lauer Wind blies die Gardine ab und zu herein und brachte den schweren Duft der Heckenrose mit. Vermutlich war die hintere Verandatür nicht abgeschlossen.

Vielleicht hätte ich etwas gemerkt, wenn meine Eltern zu Hause gewesen wären und ein Schrei von Mom die Truppe verraten hätte. Aber was hätte das schon geändert? Ich wäre nach unten gegangen, um nachzuschauen, ob wieder einmal eine der Ratten, die sich gerne unter dem Haus einnisten, einen Vorstoß in die Küche gewagt hatte. Normalerweise verpasse ich den Biestern eins mit meiner Zwille.

Nur damit das klar ist: Ich bin vielleicht durchschnittlich und ein schlechter Torwart, aber ein Feigling bin ich nicht. Aber Gott sei Dank, kam dann sowieso alles ganz anders.

Eine Profi-Zwille wie meine hätte von dem Einsatzkommando als Waffe eingestuft werden können, was zur Folge gehabt hätte, dass dreizehn Männer und zwei Frauen in Kampfanzügen ihre wirklich fetten Wummen auf mich abgefeuert hätten. Das klingt vielleicht übertrieben, aber mindestens einer hätte garantiert den finalen Rettungsschuss abgegeben. Da bin ich mir sicher.

Schließlich hielten sie mich für einen bis unter die Zähne bewaffneten Verrückten oder besser gesagt: für einen durchschnittlich scheinenden, aber in Wahrheit brandgefährlichen Jungen, der einen Amoklauf vorbereitet. Um genau zu sein, war die Tat angeblich für den 6. August 2022 geplant. Das ist natürlich Quatsch. Nichts war geplant, jedenfalls nicht von mir.

Ich sage es noch einmal in aller Deutlichkeit: Ich habe absolut nichts damit zu tun.

Wenn jemand ohne Plan ist, dann ich. Celia sagt das. Meine Lehrer sagen das. Liz und Archie sagen das auch, wobei sie mich prinzipiell in Schutz nehmen. Familie hält erst einmal zusammen, immer. So sehen sie das, und ich bin froh darüber.

Special Agent Rosalind Casey, die später in den Verhören den Good Cop spielte, lag mit allem falsch, was sie mir vorwarf, auch wenn die Beweise, die sie mir vorlegte, so eindeutig waren, dass ich selbst schon anfing, den ganzen Mist zu glauben.

Ich gebe zu, dass wahrscheinlich jeder potenzielle Amokläufer alles abstreiten würde. Und genau dafür hielten sie mich. Nirgendwo auf der Welt ist es cool, wenn du mit einem Amokschützen verwechselt wirst, aber ganz besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika solltest du keinen Cop auf so eine Idee bringen.

Klar ist, dass sie mich eigentlich in Anwesenheit meiner Eltern verhaften wollten und wahnsinnig schlau taten. Aber dass die ausnahmsweise mal früher aus dem Haus gehen würden, wussten sie dann doch nicht.

Samstags öffnen meine Eltern im ziemlich überschaubaren Zentrum von York ihren Coffeeshop mit köstlichen veganen Frühstücksangeboten und Snacks später als wochentags. Aber an diesem Samstag vor dem großen Schulfest mussten noch die Kuchen gebacken werden, die dann die anderen Moms als ihre eigenen ausgeben würden. Ja, genau das Schulfest, das ich beabsichtigte in die Luft zu jagen, wenn man Special Agent Rosalind Casey und ein paar weiteren Leuten bei der Bundespolizei glauben wollte.

Federal Bureau of Investigation (FBI)
Außenstelle Omaha

4411 South 121st Court

Omaha, NE 68137–2112

Nebraska|USA

 

Samstag, 6. August 2022|10:00 Uhr

Rosalind Casey war hundemüde und gleichzeitig hellwach. Für die Vorbereitung dieses Zugriffs hatten sie kaum Zeit gehabt. Die entscheidenden Hinweise hatten sie erst vor wenigen Tagen erhalten. Danach brauchte es immerhin vier Tage, um die Zielperson zu identifizieren und sicherzustellen, dass die Beweise gegen den Jungen absolut wasserdicht waren. Vier Tage. Da konnte viel passieren, viel durchsickern und vielleicht ging die Bombe dann am dritten Tag hoch und kostete fünfzig oder mehr Menschen das Leben.

Um Punkt 6:30 Uhr war der Zugriff erfolgt und es war ihnen gleich der erste Stein in den Weg gerollt: Die Eltern des Jungen hatten das Haus an diesem Tag aus irgendeinem Grund früher verlassen.

So ein Fehler durfte nicht passieren. Außerdem machte es Rosalind nervös, dass sie nicht herausfinden konnten, wer ihnen die Filme der Überwachungskameras zugeschickt hatte.

Anonym zugespielte Beweismittel bargen immer ein Risiko. Man konnte mittlerweile in jedem App-Store Programme downloaden und mit dem Smartphone die Miene seines ärgsten Feinds ins Gesicht eines Warzenschweins übertragen und es sah aus, als sei das Warzenschwein genau mit diesem Gesicht zur Welt gekommen. Einen Film täuschend echt zu manipulieren, war etwas schwieriger, aber für halbwegs fitte Leute an der Tastatur auch kein echtes Problem.

»Bist du ganz sicher, dass es kein Deepfake ist?«, hatte Rosalind am Mittwoch zuvor den Spezialisten zur Aufspürung von gefälschten Video- und Audiodateien mindestens fünfmal gefragt.

Richie hatte fünfmal dieselbe Antwort gegeben: »So sicher, wie man sich sein kann in unserer Branche.«

Die Echtheit der Daten, die angeblich vom Laptop des Jungen stammten, konnte Richie nicht garantieren. Dafür brauchten sie das Laptop.

Richie war einer der Besten auf seinem Gebiet. Er hatte mit knapp zwanzig Jahren als milchgesichtiger Trainee in der Außenstelle von Omaha begonnen und sich seitdem nie wieder von dort wegbewegt – außer zum Schlafen. Angenommen hatte das FBI ihn damals nur, weil er sich vorher in den Server des Büros gehackt hatte, was alle für unmöglich gehalten hatten.

Seit diesem Tag saß er im zweiten Tiefkeller der South 121st Street, holte sich mittags seinen Chickenburger im Buffalo Wings & Rings um die Ecke und starrte auf seine fünf Monitore, sein Tablet und seine drei Smartphones. Meistens auf alles gleichzeitig.

Nun saß dieser Junge aus Waco im Verhörraum auf einem der abgewetzten Stühle aus grünem Plastik, auf denen einem schon nach einer Viertelstunde die durchgeschwitzte Hose am Hintern klebte. Ganz besonders, wenn einen kurz zuvor ein SWAT-Team mit vorgehaltenen Waffen aus seinem Zimmer geholt hatte.

Rosalind blätterte noch einmal in der Akte: Als Geburtsdatum war der 8. Dezember 2009 eingetragen, aber da der Junge ein Findelkind war, konnte man davon ausgehen, dass er vielleicht auch ein paar Tage vorher auf die Welt gekommen war. Archibald und Elizabeth Coleman hatten ihn gefunden und adoptiert. Er ging derzeit auf die York High School, durchschnittlicher Schüler, aktiver Boyscout, Fußballspieler, Ferienjob in der Küche des Seniorentreffs. So weit, so unauffällig. Außer einer Zwille keine Waffen im Haus, in dem sie so ziemlich alles einmal umgedreht hatten.

Ohne die Eltern oder einen Anwalt durften sie den Jungen nicht befragen. Sie konnten sonst anschließend nichts davon als Beweis verwenden, der Fall wäre für die Staatsanwaltschaft vielleicht schon verloren, bevor er überhaupt aufgenommen worden war.

Andererseits musste sie den Vorteil, ihn überrumpelt zu haben, nutzen. Wenn er sich allzu lange an die neue Situation gewöhnen konnte, legte er sich vielleicht eine Verteidigungsstrategie zurecht.

Er hatte die ganze Zeit zusammengesunken dagesessen, jetzt hob er den Kopf und schaute direkt in die Kamera, über die Rosalind ihn beobachtete. Die Agentin drückte eine Taste auf dem Pult vor ihr und zoomte das Gesicht ihres Verdächtigen heran.

Durchschnitt.

Völlig harmlos.

Ein amerikanischer Teenager der unteren Mittelschicht.

Ein potenzieller Massenmörder.

Wirklich?

Rosalind Casey beschlich ein ungutes Gefühl.

Ihr Partner betrat den abgedunkelten Raum. Peter Gionelli, von allen nur Gio genannt, schob eine intensive Duftmarke vor sich her: süßliches Rasierwasser und Zwiebeln, von beidem zu viel.

»Das ist also der kleine Mistkerl?«, fragte Gionelli.

Rosalind nickte. »Haben wir das Laptop?«

»Schon bei Richie abgeliefert. Das Material ist drauf, er muss es nur ordnungsgemäß sichern, sonst heißt es am Ende, wir hätten ihm was untergeschoben«, sagte Gionelli.

»Dann beginnen wir mit den Videos.« Rosalinds Magen knurrte. Es war mittlerweile kurz nach zehn Uhr. Sie hatte am Mittag zuvor die letzte Mahlzeit zu sich genommen.

»Den mache ich dir in zehn Minuten weich«, sagte ihr Kollege.

»Solange er keine Verletzungen davonträgt, soll mir das recht sein«, murmelte Rosalind.

Gionelli hatte bereits die Hand um den Knauf der Tür gelegt, die zu einem Zwischenraum führte. Von dort aus konnte man durch eine zweite Tür das eigentliche Verhörzimmer betreten. Die Türen blockierten sich gegenseitig. Solange die eine nicht ins Schloss gefallen war, ließ sich die andere nicht öffnen. Diese Schleuse gehörte zu den vielen Sicherheitsmaßnahmen, die es im gesamten Gebäude gab.

»Warte«, hielt Rosalind ihren Partner zurück.

»Was denn?«, fragte Gionelli ungeduldig, aber eigentlich wusste er, dass Rosalind ihm die Sache nicht überlassen würde. Er zog die Hand zurück.

»Ich mache das selbst. Du kennst den Ärger, den wir kriegen können, wenn wir ihn ohne eine Betreuungsperson befragen.« Rosalind schnappte sich die Akte des Jungen und schob Gionelli zur Seite.

Beim Betreten des Raums zeigte der Junge keinerlei Reaktion.

Rosalind hatte in ihren Jahren beim FBI eine Unzahl solcher und ähnlicher Gestalten auf diesen Plastikstühlen sitzen sehen. Menschen jeden Geschlechts, jeden Alters, aller Hautfarben. Bitterarme, reiche, harmlose, verzweifelte, eiskalte und echt miese Typen waren darunter gewesen. Viele, die sie gerne in den Knast gebracht hätte, die aber leider unschuldig waren.

Herausfinden, ob jemand schuldig war oder nicht, das sollte eigentlich ihre Aufgabe sein. Als junge Anwärterin hatte sie das noch geglaubt, aber dann war ihr schnell klargemacht worden, was sie wirklich tun sollte: jemandem die Tat nachweisen. Hieb- und stichfest. Egal, ob er sie begangen hatte oder nicht. Klar, im Idealfall sollte es den Richtigen treffen. Aber in erster Linie ging es darum, dem Staatsanwalt eine geschlossene Beweiskette vorzulegen, in der auch die ausgebufftesten Anwälte in ihren teuren Anzügen keine Lücke fanden.

In den Serien auf Netflix wussten die Ermittler meistens schon beim Betreten des Verhörraums, wer etwas auf dem Kerbholz hatte oder ein schmutziges kleines Geheimnis hütete, das vielleicht nichts mit dem Fall zu tun hatte. Das war Quatsch.

Dieser Kerl hier konnte alles sein: ein harmloser Bengel oder der Typ, der plante, seine Schule zum Schauplatz eines Massakers zu machen. Ein mieser Spanner, der seinen Mitschülerinnen heimlich die Smartphone-Kamera unter die Röcke hielt. Oder Mamas Liebling, der sonntags das Frühstück für die Familie machte.

In seiner Jogginghose und dem schmuddeligen blauen T-Shirt erinnerte er Rosalind an ihren Jüngsten. Er trug weiß-blau gestreifte Badeschlappen und links eine ehemals weiße Sportsocke. Der rechte Fuß steckte nackt in der Schlappe. Die Füße eines Jungen, nicht die eines Mannes. Irgendwie konnte man das unterscheiden.

Er blickte auf. »Ich sage kein Wort ohne meine Eltern.«

Rosalind lächelte. Er hatte auch diese Netflix-Serien geschaut.

»Ich bin Agent Rosalind Casey und ich habe dich nach nichts gefragt.« Sie nahm den zweiten Stuhl, drehte ihn und setzte sich rittlings darauf, stützte die Unterarme auf die Lehne. »Ich zeige dir einfach nur ein paar Filme, dann kannst du dich schon einmal darauf einstellen, was auf dich zukommt. Du bist nicht dumm, Junge. Stimmt’s? Ich habe in deinem Zimmer eine Menge Bücher gesehen, good boy, habe ich gedacht, so einen wünschst du dir auch, einen mit Büchern. Meine Jungs hatten immer nur Baseball im Kopf.«

»Ich spiele Fußball«, sagte er.

»Ich sag’s doch. Du bist besonders«, antwortete Rosalind und gab sich Mühe, diese Worte im ausreichenden Maße unbestimmt klingen zu lassen. Dann drückte sie die Play-Taste auf der Fernbedienung, die sie mitgebracht hatte. Sie hatte die Aufnahme bis zu der Stelle vorgespult, an der der Betrachter in den Lauf der Waffe schaut.

Tonbandprotokoll

Asservaten-Nr.: KXCV|13–534v

Aufnahmegerät: Revox A77 MKIV (Baujahr 1978)

Transkription: Lucas Butler (lb)

Ich hoffe sehr, dass jemand diese Tonbänder findet und so ein Gerät besitzt, um sie anzuhören. Eigentlich könnte es mir auch egal sein, aber ich will, dass jemand meine Version dieser Geschichte erfährt. Und dass eine ganze Menge von dem, was man sich über mich vielleicht erzählt, einfach nicht stimmt oder zumindest ganz anders war.

Da ich nicht weiß, wem die Tonbänder in die Hände fallen, sollte ich vielleicht erklären, wie die Dinger funktionieren. Es ist ein viereckiger Kasten, ungefähr so groß wie ein PC-Gehäuse. Es gibt ein paar Knöpfe und Schalter und zwei runde Spulen. Auf einer ist das gewickelt, was dem Gerät den Namen gibt: ein ungefähr ein oder zwei Zentimeter breites Band. Wenn du das Gerät einschaltest, rotieren die Spulen und das Band wird von einer auf die andere Rolle gewickelt. In der Mitte sitzen die Tonköpfe, die aufnehmen, was du in ein Mikrofon sprichst. Zum Glück steckte in der Seitentasche des Gerätekoffers eine Bedienungsanleitung.

Eine altmodische Angelegenheit, und diese Bänder sind einigermaßen empfindlich, aber es funktioniert und klingt sogar ganz gut.

Der Typ, dem das Haus gehört, hat Tierstimmen damit aufgenommen, Vögel und Frösche und alle möglichen anderen Geräusche drüben an dem kleinen See, der jetzt aber total zugefroren ist. Echt schräg, es gibt unzählige von diesen Bändern, aber eine menschliche Stimme habe ich bisher auf keinem gefunden. Zum Glück sind darunter auch noch einige unbespielte Bänder. Sieben, um genau zu sein, die benutze ich jetzt.

Der Typ war ziemlich sicher ein komischer Kerl, na ja, vielleicht kein Verrückter, aber zumindest eigenartig. Sehr. Er hat hier allen möglichen Kram versteckt. Mangel an Streichhölzern habe ich zum Beispiel nicht mehr, die hatte er in einer Regentonne gebunkert, die hinten im Schuppen stand.

Die Tonne ist aus wirklich stabilem Plastik und hat einen luftdichten Verschluss. Es sind lauter Sachen drin, die man zum Überleben braucht, und ein Handbuch vom Katastrophenschutz. Vielleicht will er sie ja noch vergraben.

Ich glaube, der Typ ist so ein Prepper, der auf alles vorbereitet sein will. Ich bin heilfroh, weil mir die Sachen jetzt sehr helfen. Es war sogar Schokolade drin, schmeckt ein bisschen muffig, macht aber trotzdem froh, wenn du abends den Blues kriegst und heulen möchtest. Die Kurbeltaschenlampe habe ich jetzt immer bei mir.

Für das Tonband braucht man allerdings Strom und das ist ein Problem. Es gibt hier nämlich keinen richtigen Stromanschluss, nur so eine Art Akku oder eine große Batterie, die man wiederaufladen kann. Bei gutem Wetter mache ich das mit der Solaranlage, ansonsten steht in der Scheune noch ein Generator, der mit Diesel betrieben wird. Von dem wiederum habe ich aber nur ein paar Kanister gefunden (es sei denn, der Typ hat noch so ein Lager wie für die Streichhölzer). Außerdem macht das Teil ordentlich Radau und ich will nicht, dass jemand auf mich aufmerksam wird. Im Moment ist der Akku noch halb voll, weil gestern die Sonne ein paar Stunden geschienen hat. Ich muss sparsam damit umgehen.

Also, ich mache mir jetzt einen Tee und dann geht es weiter.

[Unterbrechung]

Hier ist mehr los als am Times Square in New York. Ich hatte ein seltsames Geräusch gehört, bin schnell raus, aber da war nichts zu sehen. Trotzdem hab ich gleich alles verdunkelt, sogar das Feuer im Kamin hab ich gelöscht, den Rauch sieht man sonst meilenweit. Aber alles kühlte sofort aus und der Akku verträgt auch keine Kälte. Er war schneller leer als früher mein Smartphone. Dann habe ich mich auf das Sofa mit den Felldecken verkrochen, bin eingepennt und nach meiner Dose Ravioli hatte ich keinen Bock mehr. Jetzt sind eine ganze Nacht und ein halber Tag vergangen. Draußen ist es noch kälter, aber dafür scheint die Sonne so sehr, dass ich es gewagt habe, die Solaranlage volle Pulle laufen zu lassen, um Badewasser heiß zu machen.

Also, ich war bei der Frau vom FBI stehen geblieben. Diese Agentin wirkte nicht wie so ein scharfer Hund, wie man sie aus allen möglichen Filmen kennt. Aber mir war sofort klar, dass sie es draufhat. Als sie das Video startete, schaute ich zum zweiten Mal an diesem Tag in den Lauf einer Waffe, dieses Mal nur nicht live.

Es handelte sich um ein Überwachungsvideo und jemand hielt ein Gewehr in die Kamera. Die Mündungsöffnung war wie ein schwarzer Schlund, der die Linse des Geräts verschlucken wollte. Je mehr vom Bild freigegeben wurde, desto besser konnte man erkennen, wo die Aufnahme gemacht worden war: Im Hintergrund wurden Handfeuerwaffen über die gesamte Breite einer Wand in verschlossenen Glasvitrinen präsentiert. Links war ein Regal mit Schrotflinten zu sehen, rechts die halbautomatischen Gewehre. Ein Waffenladen also.

Eine Waffe hielt ich in der Hand. Eine richtig fette Wumme.

Verdammt.

Ich.

Das ist ein schlechter Witz.

Ich hasse Waffen.

Das war im Moment jedoch nicht wichtig. Ich hatte eine erste Ahnung, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Vielleicht hatte es mit diesem Besuch vor ein paar Tagen zu tun, über den ich bisher zu niemandem ein Wort verloren hatte. Nicht einmal gegenüber Celia. Ich hielt auch jetzt den Mund. Ich würde mich nur noch tiefer in den Dreck reiten, dachte ich. Wahrscheinlich war das im Nachhinein gesehen ein Fehler.

»Das ist in York«, sagte die Agentin. »Kennst du Spoon & Hollingfield an der Lincoln Avenue? Ein Laden mit Tradition, seit 1897 am selben Ort, der Urgroßvater des jungen Hollingfield ist sage und schreibe 109 Jahre alt geworden und hat bis zu seinem letzten Tag im Laden gestanden.«

Sie hatte das Video gestoppt. Das eingefrorene Bild zeigte mich. Mit einem Mordsteil von einem Gewehr. Raff Myers aus meiner Klasse hätte wahrscheinlich sofort sagen können, um was es sich bei der Knarre handelte und ob man damit ein Nashorn zur Strecke bringen oder nur Krähen vom Himmel holen kann. Er stand auf Waffen, wie fast alle hier. Unser Haus war wahrscheinlich das einzige im ganzen County, in dem man keine Waffe finden konnte. Liz und Archie setzen ihren Namen unter jede Initiative gegen den privaten Waffenbesitz in unserem Bundesstaat.

»Mister Hollingfield junior war es sehr peinlich. Er hält sich an die Regeln und behauptet, dass er dir das AR-15 nur in die Hand gegeben hat, weil du so drum gebettelt hast.«

»Ich habe so ein Ding noch nie angefasst«, flüsterte ich.

Rosalind Casey ließ das Video weiterlaufen. »Das sieht hier aber anders aus«, sagte sie und ich musste ihr insgeheim recht geben.

Der Junge auf dem Überwachungsvideo sah aus wie – ich. Daran gab es keinen Zweifel. Ich konnte mich dabei beobachten, wie ich ein halbautomatisches Sturmgewehr bewunderte, dann damit auf die Kamera zielte und so tat, als feuere ich eine Salve auf das Gerät ab.

Eine Erklärung für das, was ich da sah, hatte ich nicht. Bevor ich etwas sagen konnte, öffnete jemand die Tür des Verhörraums.

Charlie Gibbons schob zuerst einen Aktenkoffer aus schwarzem Leder mit messingglänzenden Verschlüssen in den Raum und dann sich selbst. Charlies Kampfgewicht beträgt sicher anderthalb Zentner, weshalb er bei manchen Türen aufpassen muss, dass er nicht stecken bleibt. Hinter ihm erkannte ich meine Eltern im Dunkel des Zwischenraums.

»Halt den Mund, Bo!«, befahl Charlie mit seiner immer etwas atemlosen und gequetschten Stimme. »Ich bin der Anwalt des Jungen«, wandte er sich an die Polizistin. »Und ich muss Ihnen sicher nicht erklären, dass diese Befragung unzulässig ist.«

»Keine Befragung.« Rosalind Casey hob abwehrend die Arme und zeigte dem kleinen dicken Mann beide Handflächen. »Wir haben nur ein bisschen geplaudert.«

»Dann ist das, was Sie ihm da vorspielen, kein Beweismaterial?«, fragte Gibbons und nickte zu dem Bildschirm hinüber, auf dem ich mit einem Sturmgewehr in den Händen zu sehen war.

»Mister –« Casey stockte.

Charlie zückte eine Visitenkarte aus der Westentasche seines jetzt schon durchgeschwitzten Anzugs und reichte sie der Polizistin. Ich hatte Charlie noch nie in diesem Outfit gesehen. Wenn er morgens seinen Kaffee mit Hafermilch und Vanillesirup im Coffeeshop meiner Eltern holte, trug er immer T-Shirts, aus denen man einen Fallschirm nähen konnte, und dazu Jogginghosen. Er hätte fast mein älterer Bruder sein können, so schnell hatte er sein Jurastudium absolviert und die Lizenz als Anwalt bekommen. Sein speckiges Gesicht trug noch dazu bei, dass die Leute ihn meistens nicht ernst nahmen.

Ob Special Agent Casey das tat oder nicht, weiß ich nicht. Auf jeden Fall blieb sie ruhig, rief noch einen zweiten Cop herein, der sich als Peter Gionelli vorstellte und unangenehm roch. Die Agentin leierte alle Formalitäten herunter und spielte dann das Video noch einmal ab.

»Bist du das?«, fragte sie mich anschließend.

»Mein Mandant macht keine Aussage, bevor wir nicht wissen, um was es hier geht«, sagte Charlie.

Mandant.

Jetzt war ich ein Mandant. Kein Zeuge. Sondern einer, den man als Verdächtigen befragt. Vielleicht bald einer, den man als Täter verhört. Aber ich hatte nichts getan.

Charlie Gibbons fixierte mich mit seinem Blick. »Hast du das kapiert, Junge? Kein einziges Wort, nicht einmal einen Furz lässt du, okay? Wenn ich nicht dabei bin, schon gar nicht.«

»Es ist nicht strafbar, in einem Waffenladen so ein Ding in der Hand zu halten«, sagte Pa. Er machte ein Gesicht, als habe er in einen Haufen Hundescheiße getreten. Seine Abneigung gegen Waffen saß wirklich tief. Ich glaube, ihm wäre es lieber gewesen, ich wäre beim Klauen im Supermarkt erwischt worden als mit einem solchen Gerät, auch wenn es dreimal nicht verboten war.

»Was werfen Sie unserem Jungen eigentlich vor?«, fragte Mom.

»Das«, sagte Peter Gionelli und startete ein weiteres Video.

Federal Bureau of Investigation (FBI)
Außenstelle Omaha

4411 South 121st Court

Omaha, NE 68137–2112

Nebraska|USA

 

Samstag, 6. August 2022|11:30 Uhr

Peter Gionelli genoss solche Augenblicke, das wusste Rosalind Casey. Sein Gehabe bei Verhören nervte sie, aber gemeinsam waren sie ein gutes Team. Gerade weil er das Abziehbild eines TV-Ermittlers gab, lockte er Verdächtige oft in die Falle. Sie hatten dann das Gefühl, zu wissen, was als Nächstes passierte und wie sie darauf reagieren mussten, weil sie all das schon zigmal bei CSI New York oder sonst welchen Serien gesehen hatten. Das machte sie unvorsichtig und schon waren sie reif für die Manöver eines echten Verhörbeamten. In diesem Fall brauchte sie allerdings sowieso keine Tricks. Die Beweise waren erdrückend. Sie mussten nur irgendwelche Verfahrensfehler vermeiden, aber das gehörte zum Standard.

Die Szene, die von den Kameras im nächsten Video festgehalten worden war, stand ihnen in zwei Perspektiven zur Verfügung. Die Abholung der Tageseinnahmen in einem so großen Einkaufscenter wurde aus gutem Grund sehr genau überwacht.

Gionelli konnte zwischen den Aufnahmen der beiden Überwachungskameras hin und her schalten. Er begann mit einer Sicht vom Parkplatz auf die hintere Fassade des Supermarkts. An einer Rampe wartete einer der gepanzerten weiß-blauen Lieferwagen der Firma SePro mit dem Piktogramm eines Vorhängeschlosses in der Mitte.

Von der Straße bog ein schwarzer Pick-up auf den Parkplatz. Ein auffälliges Flammenmuster zog sich über die ganze Seite des Wagens. Er fuhr einmal durchs Bild, verschwand kurz und kehrte zurück. Nun blieb er direkt hinter dem Geldtransporter stehen. Man konnte erkennen, wie der SePro-Fahrer in seiner gesicherten Kabine einen prüfenden Blick in den Rückspiegel warf.

»Das war der erste Akt unseres kleinen Schauspiels«, sagte Gionelli. »Und der zweite folgt sogleich.«

Gionelli schaltete auf die Aufnahme der zweiten Kamera um. Sie zeigte dieselbe Szene aus der Gegensicht, vom Gebäude aus.

Der Pick-up war mit vier Personen besetzt, wie man nun gut erkennen konnte. Sie zogen sich Sturmhauben über das Gesicht, dann stiegen sie aus. Der Beifahrer hielt etwas in der Hand.

Im selben Moment verließen zwei Geldboten das Gebäude. Einer trug zwei Geldkassetten, der andere ein halbautomatisches Gewehr quer vor dem Oberkörper. Er schaute nach links und rechts, erblickte die vermummten Personen.

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