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Karin Schneider-Ferber

Aufstand der Pfeffersäcke
Bürgerkämpfe im Mittelalter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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INHALT

Bürger im Aufruhr

Die „wehrhafte Jungfrau“ am Rhein:
Köln und seine rebellische Bürgerschaft

Aufstand der „Pfeffersäcke“:
Leipzig und sein Ringen gegen die wettinischen Landesherrn

Das Spiel zwischen Katz und Maus:
Worms zwischen Kaiser- und Bischofsmacht

Kampf den „Großkopferten“:
Erfurts aufmüpfiger Handwerkerstand

Experimente mit der „Basisdemokratie“:
Augsburg und der Zunftaufstand 1368

Blutige Gegenwehr:
Die Kölner Weberschlacht

Bürger gegen Bürger:
Braunschweigs Konflikt mit der Hanse

Gemeinsam gegen Fürstenmacht:
Ulm und der Schwäbische Städtebund

Aufschrei der Entrechteten:
Wismar und die städtischen Unterschichten

Kampf um religiöse Selbstbestimmung:
Die Täufer in Münster

Literaturverzeichnis

BÜRGER IM AUFRUHR

 

Woche für Woche demonstrierten sie friedlich – für den Erhalt ihres alten Bahnhofs und gegen die Abholzung der Bäume im Schlossgarten. An den Montagsdemonstrationen gegen den neuen Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ nahmen ab November 2009 anfangs einige Tausend, später sogar einige Zehntausend Bürger teil, unter ihnen viele, die sich noch nie zuvor an Protestaktionen beteiligt hatten. Doch am 30. September 2010 eskalierte die Lage in der baden-württembergischen Landeshauptstadt. Mit Schlagstöcken, Pfefferspray und Wasserwerfern ging ein Großaufgebot der Polizei gegen die demonstrierenden Bürger vor, die den Abriss der ersten 25 Bäume verhindern wollten. Am Ende gab es 114 Verletzte, 16 Menschen mussten ins Krankenhaus gebracht werden, vier Menschen erlitten schwere Augenverletzungen. Einen Tag später, am 1. Oktober 2010, demonstrierten 100.000 aufgebrachte Bürger gegen das geplante Großprojekt.

„Wutbürger“ wurden sie genannt, die Menschen, die nicht nur in Stuttgart, sondern überall in der Bundesrepublik gegen derartige Großprojekte aufstanden und gegen Entscheidungen der politisch Verantwortlichen rebellierten. Sie misstrauten der Obrigkeit, forderten mehr Transparenz und mehr Teilhabe, sie wollten mitreden und mitentscheiden und nicht vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Das Wort traf die politische Stimmung, die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte „Wutbürger“ zum „Wort des Jahres 2010“. Es dokumentiere „ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über Wahlentscheidungen hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben“, hieß es in der Begründung der Jury.

Ein neuer gesellschaftlicher Trend? Von wegen. Zornerfüllt und waffenklirrend, lärmend und gewaltbereit – so standen aufgebrachte Bürger schon in den mittelalterlichen Städten vor ihrer Obrigkeit. Ein Bannerlauf mitten im Zentrum der Stadt verhieß auch damals nichts Gutes, vor allem nicht für diejenigen, die an den Schalthebeln der Macht saßen: für Ratsherren, Bischöfe und Landesherren. Vor nichts fürchtete sich die Obrigkeit mehr als vor „Auflauf“, „Sammlung“, „Unmut“ und „Zwietracht“ unter der Stadtbevölkerung, wie das zeitgenössische Vokabular dafür lautete. Denn dann drohte in jedem Fall Ungemach: Vom Ämterverlust bis hin zum Todesurteil konnte die Palette der „Bestrafung“ durch den Volkszorn reichen. Der mittelalterliche Stadtbürger gab keine pflegeleichte Klientel für die Regierenden ab. Nach einer ungefähren Schätzung kam es zwischen 1301 und 1550 in über 100 Städten des Reiches zu rund 210 Bürgerunruhen.

So vielfältig der Verlauf der Aufstände, so unterschiedlich fielen ihre Beweggründe aus. Zu meckern gab es jedenfalls in einer hoch- und spätmittelalterlichen Stadt nicht weniger als heute: Ungerechte Steuerlasten, Geldverschwendung und Amtsmissbrauch, Krieg- und Fehdeführung zum Nachteil der Stadt, willkürliche Rechtsprechung, mangelnde Kontrolle der Entscheidungsgremien, so lauteten die Vorwürfe. Die Rezepte dagegen klingen überraschend modern: mehr Bürgerbeteiligung in der Politik, mehr Transparenz in Steuer- und Finanzverwaltung, stärkere Kontrolle der Regierung. Ging es in einer frühen Phase der Stadtentwicklung noch darum, den Einfluss der geistlichen oder weltlichen Stadtherren einzudämmen und die kommunale Selbstverwaltung zu stärken, regte sich ab dem 14. Jahrhundert zunehmend die innerstädtische Opposition der Handwerker und Gewerbetreibenden, die sich gegen die Herrschaft der Ratsgeschlechter einen Platz an der Sonne reservieren wollten.

Dabei entwickelten die Bürger ein recht beachtliches Repertoire an Konflikt- und Schlichtungsritualen. Dem bewaffneten Auflauf vor dem Rathaus folgte in der Regel die Bildung eines Ausschusses der Bürgergemeinde, der die Beschwerden der Obrigkeit vortrug und die Übergabe der Insignien der Macht – Siegel, Stadtkasse, Torschlüssel, Sturmglocke, Stadtbanner und Rechtsbuch – verlangte. Konnten sich die Streitenden gütlich einigen, kam es zu einem Kompromiss, einer Neufassung der Stadtverfassung, der schriftlich niedergelegt und beeidet, zuweilen auch an jährlich zu wiederholenden Schwörtagen bekräftigt wurde. Ließ sich eine friedliche Einigung nicht erzielen, drohten die Aufstände jedoch rasch in blutige Aktionen umzukippen. Der Bürger in Waffen, dessen vornehmste Bürgerpflicht der Schutz und die Verteidigung der Stadt war, bedeutete eine ständige Bedrohung für die Mächtigen. Der Harnisch war rasch angelegt, Spieß und Schwert schnell ergriffen und das Zunftbanner aus dem Zunfthaus geholt, wenn es darum ging, den Rat das Fürchten zu lehren.

„Gesellschaftliche Elite ärgert sich häufiger“, lautete das überraschende Ergebnis einer Langzeitstudie der Freien Universität Berlin und des sozio-ökonomischen Panels (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, die im Oktober 2012 veröffentlicht wurde. Demnach ärgerte sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite des Landes weitaus stärker als andere gesellschaftliche Gruppen wie z.B. Arbeitslose. Ärger, so die Analyse der Wissenschaftler, würde in mittleren und hohen Bildungsschichten häufiger empfunden als in sogenannten bildungsfernen Schichten. Dieser Befund könnte praktisch wortgleich auf die mittelalterliche Gesellschaft übertragen werden. Denn auch hier ärgerten sich die wohlhabenden Schichten weitaus stärker als das große Heer der Stadtarmen, das allein mit Existenznöten beschäftigt war. Bei den Stadtunruhen handelte es sich keineswegs um soziale Revolutionen, die grundlegende Änderungen der Besitzverhältnisse und einen völligen Umsturz der Verfassungsordnung angestrebt hätten, sondern um ein heftiges Aufbegehren wohlhabender Kaufleute- und Handwerkerkreise, die unter Beibehaltung der traditionellen Stadtverfassung mehr Mitsprache im Stadtregiment forderten. Ihnen ging es um die Pfründen der Macht, nicht um eine neue Gesellschaftsordnung. So treten als handelnde Akteure nicht etwa Angehörige der Unterschichten hervor, sondern reiche Händler und Handwerker aus der Mittel- und Oberschicht. Ihre Namen sind längst vergessen, sofern sie die mittelalterlichen Chronisten überhaupt überlieferten. Trotzdem verdankt die Nachwelt ihnen eine gehörige Portion dessen, was man heute als Zivilcourage umschreiben würde: Ein mutiges Eintreten für die eigenen Belange, ein offenes Widerwort den Mächtigen gegenüber, ein wacher Sinn für Ungerechtigkeiten, ein streitbares Auftreten in der Sache bei gleichzeitiger Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft.

So keimten in den Städten neue Tugenden, die der feudalen Welt eigentlich entgegengesetzt waren. Persönliche Freiheit statt Leibeigenschaft, Mitbestimmung statt vasallischer Unterordnung, Aufstiegsmöglichkeit durch Reichtum statt geburtsständischer Hierarchie. Kein Wunder, wenn selbst Könige und Kaiser das gewachsene Selbstbewusstsein der Städte und ihrer Bewohner fürchteten. Insbesondere, wenn sich Städte zusammenschlossen und gemeinsame Ziele verfolgten – wie bei den Städtebünden und der Hanse der Fall –, konnten sie zu einem bedeutenden politischen Faktor neben Kaiser und Fürsten aufsteigen. Die Städte ließen sich nicht mehr so leicht überstimmen, sie verschafften sich mit ihrer Wirtschaftskraft und ihren Söldnerheeren Gehör. Als eigenständige politische Gebilde überlebten manche Reichsstädte bis ins 19. Jahrhundert.

Neun Städte – zehn Ereignisse. Exemplarisch für die vielen Aufstände in deutschen Städten des Mittelalters sind in diesem Buch zehn Bürgerunruhen vorgestellt, die in Verlauf und Ergebnis ganz unterschiedlich ausfallen, aber das volle Potenzial des widerborstigen Bürgers aufzeigen. Ob in Köln, in Worms, in Erfurt oder Augsburg – die Bürger auf den Barrikaden kämpften für ihre Rechte und lieferten damit das Urbild aller Wutbürger.

Die „wehrhafte Jungfrau“ am Rhein
Köln und seine rebellische Bürgerschaft


 

 

 

EIN OSTERFEST OHNE FRIEDEN

Im Bischofshof zu Köln hatte sich im April des Jahres 1074 eine illustre Gesellschaft versammelt. Das festliche Abendmahl, das Erzbischof Anno II. von Köln zu Ehren seines langjährigen Freundes, des Bischofs von Münster, in seiner Residenz ausrichtete, hätte der krönende Abschluss der gemeinsam gefeierten Ostertage werden sollen. Ein Galadiner vom Feinsten mit edlen Speisen und wertvollen Weinen, sorgenfrei und ungestört. Doch das prunkvolle Fest endete jäh im Desaster: Plötzlich sah sich der Erzbischof einem Ausbruch des Volkszorns ausgesetzt, mit dem er nie und nimmer gerechnet hätte. Aufgebrachte Kölner Bürger stürmten den Hof: „Als nun nach dem Mittag, als sich der Tag schon zum Abend wendete, zum Zorn – wie Öl zum Feuer – die Trunkenheit hinzukam, stürzen sie aus allen Teilen der Stadt zum Hof des Bischofs und greifen ihn, der an einem belebten Platz mit dem Bischof von Münster speist, an, schleudern Geschosse, werfen Steine, töten einige, die ihm beistehen, schlagen und verwunden die übrigen und treiben sie in die Flucht“, berichtet der zeitgenössische Chronist Lampert von Hersfeld über das unerhörte Geschehen.

„Den Erzbischof konnten die Seinen aus dem Heerhaufen der Feinde und unter der Wolke der Geschosse mit Müh und Not unversehrt in die Kirche des heiligen Petrus fortreißen, und sie festigten die Türen nicht nur durch Riegel und Balken, sondern auch durch herbeigewälzte große Felsen“, so Lampert von Hersfeld über den weiteren Verlauf des Tumults. Das hatte es noch nie gegeben: Der Erzbischof als Gefangener im eigenen Dom, die städtische Einwohnerschaft im Aufstand gegen den Stadtherrn! Aber es kam noch schlimmer: Während sich Anno im Dom verschanzte, tobte draußen der Volkszorn. Wütend und brüllend, so Lampert in seinen Annalen weiter, stürmten die Kölner den Bischofspalast, brachen die Türen auf, verwüsteten den Weinkeller, plünderten die Schatzkammern und die Kapelle des Erzbischofs, raubten dabei liturgische Gewänder und Altargefäße. Doch nach Lamperts Einschätzung war es nicht die Gier, die das Volk zu dieser Zerstörungswut trieb, sondern sein „unbeugsamer Hass“ auf den Erzbischof und dessen Stadtregiment. Als der Mob einen Unbeteiligten aufgriff, „der sich vor Furcht in der Ecke verbirgt“, kam es zu einem Fall von Lynchjustiz. „Im Glauben, es sei der Erzbischof, töten sie ihn, nicht ohne sich zu beglückwünschen, dass sie endlich der frechen Rede ein Ende gesetzt hätten.“ Nachdem sie ihren Irrtum bemerkt hatten, stürmten die Aufrührer zum Dom und „strengen sich mit größter Mühe an, die Mauern zu zerbrechen, und drohen auch, falls der Erzbischof ihnen nicht schnellstens ausgeliefert werde, Feuer anzulegen“.

Der in vielen Details durch den Benediktinermönch Lampert von Hersfeld überlieferte Aufstand zeigte unverkennbar politische Züge, auch wenn es sich um eine spontane Erhebung handelte. Keine wütende Soldateska stürmte den Kölner Domhof, keine beutegierige Horde Mittelloser plünderte die bischöflichen Gemächer, sondern aufgebrachte Kölner Kaufleute und Handwerker, die sich am selbstherrlichen Auftreten des Erzbischofs stießen und seine in ihren Augen ungerechtfertigten Forderungen zurückwiesen. Die „frechen Reden“ des Erzbischofs und sein unerträgliches Benehmen waren zum Auslöser für die Rebellion geworden. Wenige Stunden zuvor hatte Anno auf der Suche nach einer passenden Rückfahrtmöglichkeit für seinen Gast, Bischof Friedrich von Münster, ein Kölner Kaufmannsschiff beschlagnahmen lassen, das gerade im Rheinhafen für eine Handelsfahrt fertig gemacht worden war. Kurzerhand schickte der Erzbischof seine Knechte aus, um die Waren des Schiffes auszuladen und die Räumlichkeiten für den bischöflichen Freund vorzubereiten. Doch die Kaufmannsgehilfen, die die Fracht bewachten, weigerten sich standhaft, das Feld zu räumen, und informierten schließlich den erwachsenen Sohn des Kaufmanns. Dieser eilte mit einer Schar junger Leute herbei und vertrieb Annos Knechte in einem wilden Handgemenge, selbst den herbeigeeilten Stadtvogt, einen der höchsten erzbischöflichen Amtsträger, schlug er in die Flucht. Die Auseinandersetzung drohte schon in einen Straßenkampf zu entarten, als es den vom Erzbischof gesandten Vermittlern in letzter Minute gelang, die Gemüter zu beruhigen. Allerdings nur für kurze Zeit.

Annos unmäßiger Zorn und seine wüsten Racheandrohungen provozierten das erneute Aufflammen des Aufstands am frühen Abend, das in dem beispiellosen Gewaltausbruch im Hof der bischöflichen Residenz endete. Dass es den Kölnern gezielt um die Person des Erzbischofs ging, machten sie klar, als sie die Auslieferung Annos vor dem Dom forderten. „Als jene, die sich im Innern befanden, sahen, dass der Sinn des Volkes hartnäckig auf seinen (Annos) Tod zielte, und die Leute nicht nur von Trunkenheit, die mit der Zeit zu vergehen pflegt, sondern auch von unbeugsamem Hass und fanatischer Wut getrieben wurden, rieten sie ihm, er möge in Verkleidung sein Heil in der Flucht aus der Kirche und die Belagerer zu täuschen suchen“, berichtet Lampert weiter. Ausgerechnet der Kölner Erzbischof, einer der mächtigsten Männer im Reich, sah sich plötzlich in die Verliererrolle gedrängt. In einer waghalsigen Nacht-und-Nebel-Aktion floh er dann tatsächlich unerkannt aus der Kirche in den Schlafsaal des Domstiftes und von dort über einen Innenhof in das Haus eines Kanonikers, das direkt an der Stadtmauer lag. Hier rettete er sich durch eine kleine Hintertür, die kurz zuvor dort in die Mauer gebrochen worden war, ins Freie, wo einige Unterstützer schon mit Pferden auf ihn warteten. Verschämt stahl sich der Stadtherr so aus seiner eigenen Stadt.

Die Auseinandersetzung zwischen dem namenlosen Kölner Kaufmannssohn und dem mächtigen Erzbischof Anno bedeutete im 11. Jahrhundert mehr als nur einen handfesten Skandal. Noch nie war der Machtanspruch eines Stadtherrn vonseiten der Beherrschten so direkt und handgreiflich infrage gestellt worden. Der fromme Lampert von Hersfeld, der um 1078 seine Annalen zu schreiben begann, missbilligte das Vorgehen der Städter als groben Unfug, der sich gegen die göttliche Ordnung richte. Andere Autoren der Epoche wie der Abt Guibert von Nogent oder der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux, die größte moralische Autorität seiner Zeit, taten es ihm nach und verurteilten ebenfalls mit harschen Worten die frühen kommunalen Bewegungen, in denen sie nur Aufruhr und Gottlosigkeit sahen. Den überwiegend aus adligen Kreisen stammenden geistlichen Autoren erschienen die Veränderungen im Sozialgefüge, die sich im 11. Jahrhundert abzuzeichnen begannen, als unerhörte Neuerungen, die die althergebrachte Weltordnung ins Wanken brachten.

Das Lehnssystem mit seinen vielfältigen, auf persönlichen Abhängigkeiten beruhenden Bindungen hatte der Gesellschaft bislang einen Rahmen gegeben, in dem jedes Individuum seinen festgefügten Platz einnahm. Der schollengebundene Bauer fügte sich unter die Herrschaft seines Grundherrn, der Grundbesitzer stand in Abhängigkeit zu seinem Lehnsherrn, selbst der vornehmste Vasall beugte vor dem König die Knie. Doch mit der günstigen demografischen Entwicklung des Früh- und Hochmittelalters und dem dadurch bedingten Anwachsen der Städte schoben sich die von Handel und Handwerk lebenden Städter wie ein Fremdköper unter die altbewährte feudale Ordnung. Die vielfältigen Belastungen an Abgaben, Frondiensten und Ehebeschränkungen, die in der ländlichen Grundherrschaft noch Sinn machten, verloren innerhalb der Stadtmauern an Bedeutung und wurden vielfach nur noch als drückende Ungerechtigkeit empfunden. Für einen aus eigener Kraft zu Wohlstand gekommenen Händler oder Handwerker waren Formen der persönlichen Abhängigkeit nur mehr schwer erträglich und er tat, was „Wutbürger“ zu allen Zeiten taten: Er ging auf die Barrikaden.

DAS „HEILIGE KÖLN“ UND SEINE MÄCHTIGEN STADTHERREN

Bis dato waren die Erzbischöfe von Köln die unbestrittenen Herren der blühenden Handelsstadt am Rhein gewesen. In der alten Römerstadt, in der das städtische Leben auch in den wirren Zeiten der Völkerwanderung nie ganz erloschen war, hatte sich schon in spätantiker Zeit eine christliche Gemeinde etabliert, der seit dem 4. Jahrhundert ein Bischof vorstand. Nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft am Rhein und der Entstehung des fränkischen Reiches unter den Dynastien der Merowinger und Karolinger wuchsen Köln vor allem durch die Eroberungspolitik Karls des Großen neue administrative Aufgaben zu. Die im eroberten und frisch missionierten Sachsenland gegründeten Bistümer Bremen, Münster, Minden und Osnabrück wurden zusammen mit den älteren Diözesen von Lüttich und Utrecht der Kölner Kirche unterstellt. Schon damals führte Bischof Hildebold, der enge Vertraute Karls des Großen und Leiter der Hofkapelle, den Ehrentitel „archiepiscopus“ (Erzbischof). Ein großer karolingischer Dom, 870 geweiht, kündete vom gewachsenen Einfluss der Kölner Kirche.

Im 10. Jahrhundert wurde diese Stellung noch einmal gestärkt, als die ottonischen Könige dazu übergingen, zur Verwaltung ihres Reiches zunehmend die hochrangigen Reichsbischöfe heranzuziehen. So ernannte Otto der Große seinen Bruder Brun, der 953 von Klerus und Volk zum neuen Erzbischof von Köln gewählt worden war, gleichzeitig zum Herzog von Lothringen und übertrug ihm eine Fülle von Herrschaftsrechten, die dieser in seiner Doppelfunktion als Herzog und Erzbischof, in den Quellen als „archidux“ umschrieben, ausübte. Im Auftrag seines Bruders nahm Brun königliche Hoheitsrechte wie das Markt-, Zoll- und Befestigungsrecht, die Münzhoheit und die hohe Gerichtsbarkeit in Köln wahr. Mit dieser Machtfülle bestimmte der Stadtherr das Leben der Bewohner in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Doch Brun war in der Bevölkerung beliebt, er unterstützte Handel und Handwerk, sorgte für eine Trockenlegung des sumpfigen Geländes am Rhein, erbaute eine neue Pfalz, ließ den alten Dom erweitern und gründete eine Reihe von Stiften und Klöstern wie das Benediktinerkloster Sankt Pantaleon vor den Mauern der Stadt. Seine Verdienste um die wachsende Gemeinde waren unbestritten, als er 965 von der Bevölkerung tief betrauert verstarb. Mit den unter seinen Nachfolgern gegründeten Kirchen wuchs die Stadt allmählich zur „Sancta Colonia“, zum „heiligen Köln“ heran, das von Dichtern gerühmt und gefeiert wurde. Köln sei „die schönste Stadt, die entstanden jemals in deutschen Landen“, reimte der unbekannte Verfasser des Annoliedes Ende des 11. Jahrhunderts. Um das Jahr 1000 dürften bereits etwa 10.000 Menschen in der Stadt am Rhein gewohnt haben.

Bei der Ausübung ihrer Herrschaftsrechte stützten sich die Erzbischöfe auf unfreie Dienstleute, die Ministerialen. Den Vorsitz im Hochgericht führte der hochadlige Burggraf oder sein Stellvertreter, der Greve, die bei ihrer Tätigkeit von Schöffen unterstützt wurden, die aus der Kölner Bürgerschaft stammten. Der Stadtvogt, ebenfalls ein erzbischöflicher Ministeriale, nahm Funktionen im Gerichts- und Polizeiwesen wahr. Daneben gab es eine Reihe weiterer Dienstmannen, die im Auftrag des Stadtherrn Zölle einzogen, die Markt- und Gewerbeaufsicht führten und die Einkünfte verwalteten. Besonders einflussreich unter ihnen waren die Münzerhausgenossen, die die Aufsicht über die Münzprägung übernahmen. So wichtig die Tätigkeiten der Ministerialen für das Funktionieren des Stadtlebens auch waren, sie selbst blieben persönlich unfrei und ihrem Herrn und Meister, dem Erzbischof, zu Abgaben und Diensten verpflichtet. Auch die übrigen Stadtbewohner standen in vielfältigen Abhängigkeiten zu irgendeinem Grundherren, der entweder der Bischof in der Stadt oder auch ein außerhalb der Stadt lebender weltlicher oder geistlicher Großer oder eine kirchliche Institution sein konnte. Die persönlichen Dienstleistungen, die dem Herrn geschuldet waren, konnten je nach Grad der Unfreiheit höchst unterschiedlich ausfallen und im günstigsten Fall durch Geldzahlungen ersetzt werden, was den Status der Zensualität begründete. Doch gerade die vielen, mit der Unfreiheit einhergehenden Abgaben, zu denen ein jährlich zu leistender Kopfzins, diverse Heiratsgebühren, hohe Todfallabgaben und Beschränkungen im Erbrecht gehörten, empfanden die Menschen als drückende Belastung. Vor allem in wachsenden Handelsstädten wie Köln reifte ein neues Selbstbewusstsein der Stadtbewohner heran.

Bereits im 10. Jahrhundert gehörte Köln zu einem der bedeutendsten Marktorte im Reich. Der Rhein als Wasserstraße ermöglichte den Warenaustausch von der Schweiz bis zur Nordsee und darüber hinaus bis nach England. Dazu kamen Kontakte nach Brabant, Flandern, Dänemark und in den Osten des Reiches. Zu den beliebtesten Handelsprodukten zählten der Wein, den die Kölner Händler aus rheinischen und elsässischen Anbaugebieten bezogen, sowie die wegen ihrer Qualität allseits geschätzten „Luxusprodukte“ Metallwaren, Seidenstoffe, Glas, Töpfereien und Goldschmiedearbeiten. Aus dem Norden, allen voran aus England, bezog man wiederum Wolle zur Tuchproduktion, Rohmetalle, Häute und Felle. Daneben fanden viele Waren des alltäglichen Bedarfs ihren Weg in den Kölner Hafen, darunter Korn, Käse, Fische, Bienenwachs, Textilien oder Pelze, wie eine Auflistung des Koblenzer Zolltarifs aus der Zeit Annos II. beweist. In den Kölner Werkstätten blühten die Gewerbe, die sich immer stärker zu differenzieren begannen. Vor allem die Tuchproduzenten und die Waffenschmiede belebten das Wirtschaftsleben. Für ihren expandierenden Handel hatten die Kölner mit viel Mühe direkt am Rheinufer einen neuen Hafen angelegt und den alten, von den Römern benutzten, in einem Altwasser hinter der Insel vor Groß Sankt Martin gelegenen Hafen zugeschüttet. Das neu gewonnene Gelände hatten sie als Bauplatz für ein neues Handwerkerviertel verwendet und mit Wall und Graben gesichert.

Seitdem brummte das „Export-Import-Geschäft“ stärker denn je und begründete den wirtschaftlichen Aufstieg so mancher Kölner Familie. Lampert von Hersfeld nennt in seinem Bericht über den Aufstand von 1074 den geschädigten Handelsherrn einen „sehr reichen Kaufmann“, seinen Sohn einen „bei den ersten Leuten in der Stadt“ beliebten und geschätzten Mitbürger. Als Führer des Aufruhrs macht Lampert die „primores“ der Stadt aus, die Vornehmen und Großen, die das Volk zum Mitmachen animiert und schließlich vor den Bischofspalast geführt hätten. Für die wohlhabenderen Schichten waren die Übergriffe des erzbischöflichen Stadtherrn, die dieser wohl lediglich als Wahrnehmung der ihm zustehenden grundherrlichen Rechte interpretierte, unerträglich geworden. Allerdings hatten sie in ihrem Kampf um persönliche Freiheit einen Mann vor sich, der zu den einflussreichsten Persönlichkeiten seiner Zeit zählte und keinerlei Bereitschaft zeigte, angestammte Herrenrechte einfach abzugeben.

STADTHERR MIT „CHEFALLÜREN“: ANNO II. VON KÖLN

Anno II., der 1056 von Kaiser Heinrich III. auf den Kölner Erzstuhl berufen wurde, fühlte sich ganz in der Tradition seiner Vorgänger als unumschränkter Stadtherr. Als Sohn eines unbedeutenden Rittergeschlechts aus Schwaben hatte er sich im Dienst der Kirche nach oben gearbeitet, war zunächst Mitglied des Bamberger Domstifts, bevor er 1054 zum Propst des kaiserlichen Lieblingsstiftes Sankt Simon und Juda in Goslar geholt und in die Hofkapelle, dem üblichen Sprungbrett für ein hochrangiges Kirchenamt, aufgenommen wurde. Schon zwei Jahre später schaffte er es auf die seit dem Tod Hermanns II. vakante Stelle des Kölner Erzbischofs. In der Ausübung seines Hirtenamtes ließ es Anno nicht an Tatkraft missen. Er gründete die Kanonikerstifte Sankt Maria ad Gradus und Sankt Georg sowie die Pfarrkirche Sankt Jakob, kümmerte sich um die Renovierung und Verschönerung zahlreicher bestehender Kirchen und baute gegenüber den lothringischen Pfalzgrafen zügig seine Machtbasis im Kölner Umland aus. Der Pfalzgraf Heinrich überließ dem Erzbischof schließlich „aus Sühne“ den oberhalb der Siegmündung gelegenen Siegberg, wo Anno das bedeutende Kloster Siegburg gründete und mit Mönchen aus dem Umkreis des Reformklosters Gorze besiedelte.

In die hohe Reichspolitik griff Anno während der Zeit der Minderjährigkeit König Heinrichs IV. ein. Er tat dies in einer außergewöhnlich aggressiven Art und Weise: Als Haupt einer oppositionellen Gruppe lockte er 1062 den erst 11-jährigen Heinrich IV. bei Kaiserswerth auf ein im Rhein ankerndes Schiff und entführte den Minderjährigen kurzerhand nach Köln.

Mit diesem „Putsch“ beendete er die Regentschaft der Kaiserwitwe Agnes und ihres Beraterkreises, die durch ihre Politik ein Papstschisma hervorgerufen hatte. Anno wirkte auf ein Ende der strittigen Papstwahl hin, indem er dem Reformpapst Alexander II. die nötige Anerkennung im Reichsepiskopat verschaffte und den vom kaiserlichen Hof favorisierten Kandidaten, Honorius II., fallen ließ. So sinnvoll diese Maßnahme im Rahmen der Reichspolitik auch gewesen sein mag, das brutale Vorgehen von Kaiserswerth warf ein schlechtes Licht auf den Charakter des skrupellosen Kirchenfürsten.

Mit List und Tücke hatte er den jungen Salierspross nach einem festlichen Mahl auf das Schiff gelockt, das extra prächtig ausgestattet worden war, um das Interesse des Jungen zu wecken. Als Heinrich an Bord war, legte das Schiff plötzlich ab, was bei diesem zu einer Panikreaktion führte: Er sprang beherzt ins kalte Wasser und wäre um ein Haar ertrunken, wenn ihn nicht Graf Ekbert von Braunschweig gerettet hätte. Gegen seinen Willen wurde der jugendliche König nach Köln gebracht, seine Mutter sah er erst zweieinhalb Jahre später wieder. Heinrich hat dem Erzbischof diesen Gewaltakt nie verziehen. Das Verhältnis der beiden blieb zeitlebens schlecht, am Tag seiner Mündigkeit zog der Salier gar das Schwert gegen seinen verhassten „Vormund“. An der Spitze der Reichsregierung konnte sich Anno indes nicht lange halten. Seine eigennützige Personalpolitik, mit der er Verwandte und Vertraute auf Schlüsselpositionen hievte, weckte den Neid anderer Großer. Mächtige Kollegen wie die Erzbischöfe Siegfried von Mainz und Adalbert von Hamburg-Bremen mischten sich in die Regierungsgeschäfte ein und drängten Anno allmählich zur Seite. Zu einer stabilen Regierung kam es daher bis zur Volljährigkeit Heinrichs IV. nicht – Streit, Neid und Missgunst prägten die Atmosphäre am Salierhof.

So mag man gerne glauben, was die Kölner an ihrem Erzbischof besonders störte: Sein Hochmut, sein herrisches Durchgreifen, seine strenge Behandlung Untergebener, sein mangelnder Respekt gegenüber auch wohlhabenden Städtern, die er spüren ließ, dass sie für ihn nur gewöhnliche Unfreie waren. „Er war gewiss ein Mann, in dem Tugenden aller Art blühten“, urteilte Lampert, der Anno wohlwollend gegenüberstand, über ihn. „Doch ein Fehler wurde bei so großen Tugenden gleichsam wie ein kleines Muttermal an einem sehr schönen Körper sichtbar, weil er, wenn der Zorn aufflammte, die Zunge nicht hinreichend zügeln konnte, sondern ohne Ansehen der Person gegen jedermann Beschimpfungen und bitterste Scheltworte herausschleuderte.“ Dieses ungezügelte Benehmen ließ sich in einer Zeit, in der Autoritäten zunehmend hinterfragt wurden, nicht mehr ohne Weiteres aufrechterhalten. Der aufkommende Investiturstreit, das Ringen zwischen Papst und König um die Besetzung der wichtigen Bischofsstühle im Reich stellte die grundsätzliche Frage nach der Legitimität jeder Macht. Welche Rechte standen dem König, welche dem Papst und seinen Bischöfen zu? Was tun mit einem König, der seinen Pflichten zur Friedenswahrung und Konsensbildung nicht nachkam? Wer durfte ihn wann und unter welchen Bedingungen absetzen? Und entsprach die Verquickung von geistlichen und weltlichen Kompetenzen, wie sie sich im Reichsepiskopat längst eingebürgert hatte, überhaupt dem Idealbild einer „reinen“, von weltlicher Verstrickung freien Kirche?

Diese Fragen begannen die Menschen des 11. Jahrhunderts immer lauter zu diskutieren. An größeren Orten, auf Straßen und Marktplätzen kam es zu einem allmählichen Meinungs- und Informationsaustausch, der zur Bildung einer ersten, bescheidenen „Öffentlichkeit“ führte. Die tief greifende Auseinandersetzung zwischen Papsttum und Königtum forderte auch die Bevölkerung zur Stellungnahme heraus – für oder gegen den König, für oder gegen die Reformpartei innerhalb des Klerus. Welche Konsequenzen die politische Parteinahme einer Bürgerschaft nach sich ziehen konnte, zeigte das Beispiel der Stadt Worms im Jahr 1073: Als Heinrich IV. wegen seiner Territorialpolitik einen Aufstand in Sachsen provoziert hatte und die deutschen Fürsten kurz davor standen, einen Gegenkönig zu wählen, da bezogen die Wormser die Position des Königs und öffneten dem fliehenden Salier die Tore, während sie ihren Bischof Adalbert, einen erklärten Gegner Heinrichs, mitsamt seinen Kriegsleuten aus der Stadt trieben. Mit großem Gepränge zogen die Wormser dann Heinrich IV. entgegen, um ihn in die Rheinstadt zu holen. „Bereitwillig geloben sie ihm Beistand, schwören ihm Treue, erbieten sich, jeder nach besten Kräften aus seinem eigenen Vermögen zu den Kosten der Kriegführung beizutragen, und versichern ihm zeit ihres Lebens treu ergeben für seine Ehre kämpfen zu wollen“, berichtet Lampert von Hersfeld.

Der bedrängte König konnte die Hilfe gut gebrauchen. Vom gut befestigten Worms aus, das mitten in salischem Hausbesitz lag, reorganisierte der König seine militärischen Kräfte und gewann seinen politischen Handlungsspielraum wieder. Großzügig bedankte sich Heinrich bei den Einwohnern am 18. Januar 1074 mit einem Privileg für ihre Hilfe. Er gewährte allen Wormsern, darunter auch den Juden, die Befreiung von Zollabgaben an den königlichen Zollstädten Frankfurt a. M., Boppard, Hammerstein, Dortmund, Goslar und Enger. Es war das erste Privileg, das ein König für die Bürger einer Stadt im Reich überhaupt ausstellte. Ausdrücklich lobte der Herrscher das Verhalten der Wormser, ihre unverbrüchliche Treue dem Königtum gegenüber, „obschon wir weder durch einen mündlichen noch durch einen schriftlichen Befehl, weder durch uns selbst noch durch einen Boten oder durch irgendeine Stimme zu dieser so ausgezeichneten Tat den Anlass gegeben haben“, wie das Privileg hervorhob. Allen anderen Städtern wurde das Verhalten der Wormser als beispielhaft empfohlen und der daraus gezogene Nutzen – die wirtschaftlichen Erleichterungen – als lockendes Angebot vor Augen gestellt. Selbstständiges politisches Handeln lohnt sich, so die Botschaft, die Treue zum König allemal, auch wenn sie sich wie im Falle Worms gegen den eigenen geistlichen Stadtherrn wandte. Obwohl dem Bischof untertänig, hatten die Wormser dem König aus eigenem Antrieb einen Treueid geleistet, was dieser ganz offensichtlich billigte.

Der Erfolg der Wormser Bürger sprach sich rasch herum, nicht zuletzt in Köln, wo man nach den Aussagen Lamperts „das schlechte Beispiel nachahmte“ und die Ergebenheit dem König gegenüber „durch eine rühmenswerte Tat beweisen wollte“. Nach der überstürzten Flucht Annos schickten die aufständischen Kölner einige junge Männer zum König, um ihn aufzufordern, so rasch wie möglich zu kommen und die „herrenlose“ Stadt zu seinem eigenen Vorteil in Besitz zu nehmen. So zeigte sich der Kölner Aufstand eingebettet in die politische Situation seiner Zeit.

DER RÄDELSFÜHRER

Der Mut war ihm nicht abzusprechen, jenem namenlosen Kölner Kaufmannssohn, der die Machtprobe mit dem mächtigen Erzbischof wagte. Jung, kühn, kraftvoll sei er gewesen, sagt Lampert über ihn aus, „wegen seiner Verwandtschaft wie wegen seiner Verdienste bei den ersten Leuten in der Stadt sehr beliebt und geschätzt“. Kein Angehöriger der Unterschichten, sondern ein allseits wegen seiner Fähigkeit beliebter Mitbürger trat hier hervor, ein informierter und politisch handelnder Kopf. Als sich die Lage am Hafenkai einigermaßen beruhigt hatte, war es dieser junge Mann, der „in seinem wilden Wesen und ermutigt durch den ersten Erfolg“ die Situation zuspitzte. Mit aufrüttelnden Reden lief er durch die Stadt, klagte lauthals über die Unerträglichkeit und Strenge des Stadtherrn, der schon oft „ungerechte Befehle gegeben, Unschuldigen oft das Ihre weggenommen habe und noch angesehene Bürger mit den unverschämtesten Worten angegangen“ sei. Bei seinen Zuhörern musste der Redner nicht lange um Zustimmung bitten, er traf auf offene Ohren, überall diskutierte und debattierte man über die erlittenen Ungerechtigkeiten, schließlich erörterte man auch die „hervorragende und berühmte Tat der Wormser, die ihren Bischof aus der Stadt vertrieben hatten, als der sich unerträglich zu verhalten begonnen hatte“, berichtet Lampert. Es war die Stimmung, aus der Revolutionen geschmiedet werden: „Die Führenden fassen törichte Pläne, das ungezügelte Volk tobt süchtig nach neuen Dingen und ruft in der ganzen Stadt, vom Geist des Teufels besessen, nach Waffen.“ Die Kölner stellten die Machtfrage und waren sich einig – der tyrannische Bischof muss weg.

Mit den Waffen in der Hand eilten die Bürger zum Bischofshof, wo es dann zu den geschilderten Ausschreitungen kam. Die Belagerung des Doms nahm militärische Züge an, mit Belagerungsmaschinen rückte man den festen Mauern zu Leibe. Nachdem bekannt wurde, dass der Erzbischof nach Neuss geflohen sei, brach sich die angestaute Wut in erneuten Gewaltexzessen Bahn und forderte zwei weitere Todesopfer, ein Mann wurde am Stadttor aufgehängt, eine Frau von der Mauer gestürzt. Schon debattierten die aufgebrachten Revolutionäre, ob sie auch die Mönche von Sankt Pantaleon wegen ihrer neumodischen Mönchsregel vertreiben oder die Vorsteherin des Cäcilienstifts, eine Nichte Annos, umbringen sollten, da machte sich gerade noch die Erkenntnis breit, dass es Wichtigeres zu tun gab. Der Erzbischof würde vermutlich nicht kampflos seine Stadt preisgeben, was die Organisation der Verteidigung der Stadt notwendig machte. Rasch verteilten die Bürger Wachtposten auf den Wehrmauern und schickten Boten zum König um Hilfe. Drei Tage der Unsicherheit gingen ins Land, bis den Kölnern vor Augen stand, was ihnen blühte: Anno rückte mit Heeresmacht vor die Tore der Stadt. Im Gegensatz zu seinen Kontrahenten war es ihm gelungen, seine militärische Schlagkraft zu reaktivieren. Auf dem Land hatte der Erzbischof viele Anhänger unter den Bauern, die sich entsetzt zeigten über das „gottlose“ Treiben in der Stadt und ihm ihre Unterstützung anboten. Eine große, bewaffnete Menschenmenge strömte aus dem Umland herbei, um den Bischof in seine angestammten Rechte wieder einzuführen.

In Köln dagegen kam das von den Bürgern angestrebte Bündnis mit dem König nicht zustande. Alleingelassen, mussten sie ihre Kapitulation anbieten. Nachdem Anno ein Hochamt in der vor den Mauern der Stadt liegenden Kirche Sankt Georg gefeiert hatte, nahm er das Bußritual der verängstigten Bürgerschaft an. Barfuß und in wollenem Büßerhemd zogen ihm die Kölner entgegen. Doch beileibe nicht alle. Über 600 der reichsten Kaufleute flohen in der Nacht vor der Rückkehr des Erzbischofs heimlich aus der Stadt, um beim König um Vermittlung in diesem Konflikt zu bitten. Derweil hatte Anno alle Hände voll zu tun, die überkochenden Emotionen in den Griff zu bekommen. Die ihm treu ergebenen Bauern lechzten nach Rache wie nach Beute. Nur mit Mühe konnte er den größten Teil der bewaffneten Menge überreden, nach Hause zurückzukehren. Trotzdem kam es zu wilden Plünderungen, als der Erzbischof mit dem Rest seiner Kriegsknechte in Köln einzog. Häuser wurden gestürmt, Wertsachen gestohlen, Gefangene in Fesseln geschlagen.

Aber auch Annos eigenes Strafgericht nahm sich nicht gerade kleinlich aus. Er verhängte hohe Vermögensstrafen gegen die Aufrührer, sprach den Kirchenbann über sie aus und ließ sie mit Leibesstrafen wie Auspeitschen oder Stockhieben belegen. Die Haupträdelsführer aber, darunter auch der namenlose Kaufmannssohn, wurden geblendet. Selbst der Anno wohlgesonnene Lampert berichtet nur schaudernd über das Strafgericht, das die Stadt beinahe veröden ließ. „Wo deren Straßen kaum die Mengen der Passanten fassten, zeigt sich nun selten ein Mensch. Schweigen und Schrecken lasten auf allen Orten des einstigen Vergnügens und Genusses.“ Selbst der Erzbischof musste einsehen, dass solche harschen Strafen nichts brachten und die Stadt nur wirtschaftlich schädigten. Kurz vor seinem Tod am 4. Dezember 1075 lenkte er, wie es ihm König Heinrich nahegelegt hatte, ein, söhnte sich mit den Bürgern aus, erließ ihnen ihre Strafen und erstattete ihnen ihr Vermögen zurück. Über das Schicksal des geblendeten Kaufmannssohnes ist dagegen nichts mehr zu erfahren, die Quellen hielten ihn nicht mehr für erwähnenswert.

DIE SAAT GEHT AUF

Auch wenn Kölns Bürger kurzfristig in der Auseinandersetzung mit dem Erzbischof den Kürzeren gezogen hatten, war der Aufstieg der Kommune doch nicht aufzuhalten. Am geplanten Bündnis mit dem König gegen den geistlichen Stadtherrn hielten sie fest. 1106 ergriffen sie in den Kämpfen zwischen Heinrich IV. und seinem Sohn Heinrich V. die Partei des unter ehrenrührigen Umständen entmachteten Vaters, boten ihm Zuflucht in ihrer Stadt und leisteten ihm einen Treueid. Mit Billigung Heinrichs IV. verstärkten sie daraufhin auf eigene Faust die Stadtbefestigung und bezogen einige Vorstädte in den Mauerring mit ein, obwohl die Wehrhoheit eigentlich dem Erzbischof zustand. Dadurch wuchs das Stadtgebiet auf 204 Hektar an und sprengte die Grenzen, die ihm der römische Mauergürtel bislang vorgegeben hatte. Die koordinierte und umsichtige Arbeit der Bürgergemeinde zeigte schon drei Monate später ihre Wirkung, als die Stadt einer Belagerung durch Heinrich V. standhielt. Sogar den Rhein sperrten die Kölner mit ihren Handelsschiffen, um die Belagerer vom Nachschub abzusperren. Diese höchst erfolgreichen militärischen Aktionen wären ohne organisierte und selbstständig handelnde Bürgergremien unmöglich gewesen.

Und in der Tat werden in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in den Quellen die ersten Selbstverwaltungsorgane der Stadt Köln genannt. Das Schöffenkolleg, das im erzbischöflichen Hochgericht unter Leitung des Burggrafen Recht sprach, eignete sich mehr und mehr öffentliche Aufgaben an und wuchs damit zu einer ersten „Stadtbehörde“ heran. Obwohl dem Erzbischof als eigentlichem Gerichtsherrn verpflichtet und von diesem ernannt, nahmen die Schöffen, die sowohl der Ministerialität als auch der vornehmen Bürgerschaft entstammten, doch die Interessen der wachsenden Stadtgemeinde wahr und emanzipierten sich vom Stadtherrn. Als Repräsentanten der Kommune schlossen sie 1114 gemeinsam mit dem Erzbischof und einigen niederrheinischen Großen eine „Schwureinung für die Freiheit“, die sich gegen Heinrich V. und dessen Plan richtete, das Rheinland gewaltsam zu erobern. Dafür gestand der Erzbischof seinen ausnahmsweise einmal kooperierenden Kölner Bürgern das Führen eines Stadtsiegels zu, das als ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Emanzipation der Gemeinde gesehen werden kann, stellte das Siegeln von Urkunden im Mittelalter doch einen hochbedeutenden rechtsverbindlichen Akt dar. Wer über das Siegel verfügte, entschied über die Geschicke der Stadt, konnte Rechtssicherheit schaffen und die Grundlagen des Zusammenlebens der Gemeinde bestimmen. Kein Wunder, wenn das Siegel zu einem wichtigen Element der städtischen Selbstdarstellung wurde. Dem Kölner Selbstbewusstsein entsprechend fiel das Siegel besonders groß aus, es zeigte den heiligen Petrus als obersten Stadtherrn vor den Mauern der Stadt Köln und trug die stolze Umschrift: „Heiliges Köln, durch Gottes Gnade der römischen Kirche treue Tochter“. In späteren Zeiten wurde es in einem mit 23 Schlössern gesicherten Schrank im Rathaus aufbewahrt. Um die städtischen Angelegenheiten zu besprechen, trafen sich die Schöffen im „domus civium“, dem Bürgerhaus als Vorläufer des Rathauses, das erstmals um 1135 Erwähnung findet.

In der prosperierenden Handelsstadt blieb es nicht lange beim Schöffenkolleg als einzigem Vertretungsorgan der Gesamtgemeinde. Die Stadt wuchs und mit ihr die Aufgaben, die für das Zusammenleben der Gemeinschaft wichtig waren. So entstanden bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts eine ganze Reihe weiterer Selbstverwaltungsorgane in Köln. Auf der untersten Verwaltungsebene, den Pfarrgemeinden, etablierten sich bruderschaftlich organisierte Amtleutekollegien, die für die niedere Gerichtsbarkeit und das Führen der Grundbücher, der sogenannten Schreinskarten, verantwortlich zeichneten. Sie waren die erste Anlaufstelle für die Bevölkerung, wenn es um Schuldklagen, Eigentumsübertragungen, Pfand- und Leihgeschäfte, Stiftungen und Schenkungen, die Verwaltung des Kirchenvermögens oder baupolizeiliche Fragen ging. Die Amtleute, an deren Spitze jeweils für ein Jahr zwei Meister standen, die nach Ablauf ihrer Amtszeit in die Bruderschaft der Amtleute überwechselten, entstammten der in den Kirchsprengeln ansässigen Bevölkerung, zu denen neben Schöffen auch reiche Kaufleute und angesehene Bürger zählten. Sie tagten in eigenen sogenannten Geburhäusern, wo sie den Neuzugezogenen den Bürgereid abnahmen, und organisierten im Kriegsfall auch die Verteidigung einzelner Abschnitte der Stadtmauern.